„Hamburger Fremdenblatt” vom 10.Februar 1904 |
„Kölnische Zeitung” vom 10.Februar 1904 |
Anzeige im „Hannoverschen Courier” vom 10.Febr. 1904 |
Anzeige in der: „Niederschlesischen Zeitung” vom 1.März 1904 |
„Ein bemerkenswertes Zeitdokument.”(„Niederschlesische Zeitung” vom 25.Febr. 1904) |
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„Kölnische Zeitung” vom 28.Februar 1904 „Meraner Zeitung” vom 19.Februar.1905 |
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„Hamburger Fremdenblatt” vom 13. Dezember 1903:
„Liebes-Manöver”, das neue dreiaktige Lustspiel von Kurt Kraatz und Freiherrn v. Schlicht hat am Hoftheater in Kassel einen durchschlagenden Erfolg gehabt.
Zur Zeit arbeitet Frhr. v. Schlicht an einem ernsten Offiziersroman, der Mitte Februar im Verlag Otto Janke, Berlin, als Buch erscheinen wird und den Titel „Erstklassige Menschen” führt. —
„Prager Tagblatt” vom 15.Dezember 1903:
Unsere Dichter an der Arbeit.
Das „Berl. Tgbl.” setzt seine Enquête über die augenblicklichen Arbeiten deutscher Dichter fort. Karl Hauptmann, ein Bruder Gerharts, wird im Februar kommenden Jahres ein Buch kleiner Erzählungen, „Panische Weisen”, erscheinen lassen. Außerdem ist kürzlich sein Bühnenspiel „Des Königs Harfe” erschienen. Max Kretzer arbeitet an drei Werken: an dem zweiten Teil des Romanes „Das Gesicht Christi”, ferner an einem Roman, der den Typus eines Provinzlers schildert, der nach Berlin gekommen ist, und endlich an einem Schauspiel. Auch Georg Hirschfeld ist sehr fleißig. Er hat ebenfalls drei Bücher in Arbeit: ein Drama „Nebeneinander”, einen Roman „Das grüne Band”, der schon in der „Neuen deutschen Rundschau” erschien, aber vom Dichter umgearbeitet wird und eine Novelle „Ein Requiem”. Freiherr von Schlicht, der bekannte Humorist, schreibt einen Militärroman.
„Neue Hamburger Zeitung” vom 15.Dezember 1903:
Eine Militär-Roman hat Freiherr v. Schlicht, der bekannte Humorist, unter der Feder. Er schreibt uns:
„Meine Arbeit betitelt sich „Kaste Eins” und wird im Februar erscheinen. Der Roman spielt in Offizierskreisen (allerdings nicht in einer kleinen Garnison), und ich versuche, in der Arbeit ein gänzlich wahrheitsgetreues Bild von dem Leben und Treiben unserer Offiziere in gesellschaftlicher, wie dienstlicher Hinsicht zu geben”
„Leipziger Volkszeitung” vom 11.Februar 1904:
Ein neuer Militärroman. Es ist nur natürlich, daß Beyerleins Jena oder Sedan die Unterhaltungsliteratur, die ihre Stoffe aus dem militärischen Leben nimmt, stark beeinflußt. Die Kritik des militärischen Lebens tritt auch in der Unterhaltungsliteratur stärker hervor als bisher. Ansätze dazu waren ja schon vorhanden. Neben den Schwänken und Erzählungen, die der Verherrlichung des schneidigen Leutnants dienten, gab es schon früher Werke, in denen der Glanz militärischen Wesens kritisiert wurde. Man kann z.B. Stratz nennen und den Freiherrn von Schlicht (Wolf Graf von Baudissin), der sein Talent in der Hauptsache in kleinen Erzählungen und Skizzen verzettelte. Aber diese militärische Literatur kam gegenüber der militärfrommen nicht recht auf. Das kann jetzt anders werden; es ist wenigstens bezeichnend für die Lage des Militärromans, daß das neueste Opus des Freiherrn von Schlicht, seinem ganzen Wesen nach ein Unterhaltungsroman, der „Roman aus der Offizierskaste” Erstklassige Menschen (Berlin, Otto Janke, Preis 4 Mk.) durchweg auf einen kritischen Ton gestimmt ist.
Mit Herrn von Schlicht ist es eine eigentümliche Sache. Er kann in seinen Schwänken, man denke nur an den Bunten Rock, ganz militärfromm sein, ganz im Moserschen Fahrwasser segeln, ohne freilich die liebenswürdige Frische des Vorbildes zu zeigen. Und dann kann er wieder Skizzen veröffentlichen, die in den Simplizissimus passen. Er kann ganz in den Ton der Unterhaltungsschriftstellerei verfallen und in schrecklichem Deutsch wie ein Dutzendschriftsteller schreiben. Dann aber erzählt er wieder frisch auf Grund selbständiger Beobachtung und findet seinen eigenen Ton. ähnlich zwiespältig ist auch sein neuester Roman. Es ist älteste Unterhaltungschriftstellermache, in eine verrottete Gesellschaft einen Tugendhelden zu führen, der von den Fehlern seiner Umgebung kaum etwas hat; man weiß nicht recht, wie es möglich ist, daß ein so braver, guter Mensch in so schlechte Gesellschaft geraten kann. So läßt Herrn von Schlicht einen braven Fabrikantensohn in ein feudales Offizierskorps geraten, das es ganz à la Fohrbach treibt, und ein musterhaftes Leben führen, als wäre dieser einzige bürgerliche Offizier der Garnison etwas ganz anderes als alle andern Offiziere. Das ist bequeme Manier, aber auch gefährliche Manier. Denn die schwarze Schilderung eines ganzen Offizierskorps, gegenübergestellt der Schilderung eines Musterexemplars, wirkt schließlich als Karikatur und verliert die überzeugende Kraft. Dieses Hauptresultat ist nun wieder zu bedauern, da im einzelnen sich Schlichts Beobachtungsgabe abermals bewährt. Malt er kraß, so sind die Umrisse der Schilderungen doch oft scharf und kräftig gezogen, und was einzelne Offiziere über die Lebenshaltung und Überhebung der Kaste in langen, unkünstlerischen, durchaus nicht tief dringenden Betrachtungen vortragen, ist bezeichnend für Stimmungen, die heute in der Armee mächtig geworden sind. Ein Zeichen der Zeit ist auch dieses Buch, ein Zeichen für die in immer weitere Kreise dringende Unzufriedenheit mit dem modernen Militarismus, und es wird zweifellos auch viele Leser finden, zumal seine Kritik nicht irgendwie principieller Natur ist; für den Verfasser aber beweist es aufs neue, daß er nur zu leicht seine Kraft zersplittert und an sein Schaffen zu geringe Ansprüche stellt. Namentlich ist das Deutsch, das er schreibt, nicht immer „erstklassig”; mit dem ersten Satz fängt schon das Stilelend an.
gm.
„Volksblatt (Halle)” Nr. 36 vom 12.Februar 1904
„Erstklassige Menschen” Abermals hat ein Buch die militaristische Welt in hochgradige nervöse Aufregung versetzt. In der Täglichen Rundschau poltert der General a.D. von Boguslawski gegen einen neuen Militärroman „Erstklassige Menschen”, der eben im Verlage von Otto Janke erschienen ist und den Grafen Wolf v. Baudissin (Freiherrn von Schlicht) zum Verfasser hat. Gegen Schlicht, so versichert der alte General, seien Bilse und Beyerlein wahrhafte Musterknaben und reine Unschuldsengel. Nach Schlicht bestände das Offizierkorps aus Gecken, Narren und moralischen Lumpen und die vornehme Damenwelt hätte durchgängig Verhältnisse mit jungen Leutnants. Nun sei es zwar richtig, daß Bücher wie Bebels Frau in die Köpfe junger Frauen und Mädchen Verwirrung brächten, aber „für eine solche Charakterisierung einer ganzen Klasse” sei kein Ausdruck zu finden. Doch – dieses Feld verspräche der Sensationstätigkeit immer noch eine reiche Ernte!
An den Ausführungen des alten Generals ist zweierlei interessant. Erstens einmal die Behauptung, daß Bebels Buch über die Frau in vornehmen Damenkreisen Verwirrung anrichte. Wie tief muß doch dann die vornehme Gesellschaft korrumpiert sein, wenn das Evangelium der reinsten Geschlechtsmoral dort so aufgefaßt wird, daß es sich in der Praxis zu seinem direkten Gegenteil, zu moralisch unsauberen Verhältnissen umsetzt! Aber nicht minder interessant ist, daß der „erstklassige Mensch” Boguslawski einen anderen „erstklassigen Menschen”, den Grafen und Leutnant a.D. Baudissin beschuldigt, bloß um der Geldschneiderei wegen den ganzen Stand der „erstklassigen Menschen” ganz unmenschlich verleumdet zu haben. Man mag sich aber drehen und wenden, wie man will, die Sache fällt nicht zu Gunsten der erstklassigen Menschen aus, und im besten Fall wird man abermals einen „bedauerlichen Einzelfall” konstatieren müssen. „Niemals”, sagt der „erstklassige Mensch” Boguslawski, „ist mehr Schande auf das ganze Offizierkorps gehäuft worden, als in diesem Roman, niemals sind aber auch mehr Unmöglichkeiten und Unwahrheiten (von dem „erstklassigen Menschen” Baudissin) aufeinandergepackt als hier.”
Des Jammers ist kein Ende!
„Hamburger Fremdenblatt” vom 13. Februar 1904:
Bücherschau.
Erstklassige Menschen. Roman aus der Offizierskaste von Frhrn. v. Schlicht (Wolf Graf v. Baudissin). Berlin 1904. Verlag von Otto Janke.
Das monströse Wort „erstklassig” im Titel klingt nicht gerade vertrauenerweckend, und wäre es nicht der bekannte liebenswürdige Humorist, der den Roman zeichnet, ich glaube, ich hätte des Titels wegen den Roman ungelesen bei Seite gelegt. Der Sprachgebrauch leistet sich heutzutage schon mehr Uebersprachliches, den „klassig” gibts nicht, also auch nicht „erst- und zweitklassig”. Krüppelausdrücke, die man im täglichen Leben aus Unverstand und Nachlässigkeit gebraucht, sollte man aber nicht in die Literatur einführen. Doch das nebenbei. Der Roman selbst ist leider — um im Jargon zu bleiben — nicht erstklassig, dazu ist er viel zu flüchtig niedergeschrieben. Wenn es dem Verfasser nur daran gelegen war, eine Anzahl Offizierstypen aus dem Adelsstande zu zeichnen und einige Diatriben gegen mannigfache Schwächen im Heere niederzuschreiben, so hätte es seinem Talente näher gelegen, dies in humoristischer Weise zu tun. Hierin ist er, wie seine zahlreichen kleineren und größeren Erzählungen beweisen, Meister. Dem Humoristen vergibt man gerne Fehler in der Psychologie und achtet auch nicht so sehr auf die Wahrscheinlichkeit der Erzählung. Gibt sich aber der Autor so todernst wie hier, werden auch lebhafte Bednken gegen die psychologische Entwickelung der Charaktere und den künstlerischen Aufbau der Handlung wach.
Ein bürgerlicher Leutnant Winkler wird der Verdienste seines Vaters wegen vom Kaiser in ein Garderegiment versetzt, dessen höchster Stolz es ist, nur adlige Offiziere zu besitzen. Winkler ist ein über die Maßen edler und gebildeter Mensch, die adligen Offiziere, welche ihn wieder aus dem Regiment weggraulen wollen, werden dagegen durchweg als hochnäsige und moralisch versumpfte Menschen dargestellt. Weshalb Winkler, dem infolge seines Reichtums die ganze Welt offen steht, bei seinem edlen, vergeistigten Wesen überhaupt Offizier geworden ist und jahrelang die Kränkungen seitens seiner Kameradschaft erträgt, wird uns nicht gesagt. Ein eigentlicher Konflikt ist in dem Roman nicht vorhanden, es sind nur Episoden, die nebeneinander laufen. Da ist eine als ungeheuer brav und uneigennützig geschilderte junge Schauspielerin, die Winklers Geliebte ist und durch ihre Erzählung von der Schlechtigkeit der adeligen Offiziere zum Schluß Winkler überzeugt, daß es das beste ist, den Abschied zu nehmen. Daneben läuft die Geschichte der reizenden und edel gesinnten Tochter eines pensionierten adligen Majors. Ihre Eltern und ihr nichtsnutziger Bruder-Leutnant, welcher jeden Groschen, den er in die Hände kriegt, verjeut, wollen sie als Frau an den meistbietenden Krösus verkuppeln, damit der Schwiegersohn resp. Schwager ihre Schulden bezahlt und ihren Leichtsinn fernerhin unterstützt. Als solcher Krösus ist Winkler ins Auge gefaßt, der sich auch richtig in die reizende Hildegard verliebt. Als Winkler nach mancherlei unangenehmen Erlebnissen im Regiment so weit ist, den bunten Rock auszuziehen, hält er um Hildegard an. Diese, welche ihn herzinnig wieder liebt, beichtet aber vorher die Sünden ihrer Familie. Daß Winkler sie trotzdem heiratet, daß ihren Eltern und ihrem Bruder geholfen wird, wird auf den letzten Seiten des Romans nur ganz oberfächlich erzählt, obgleich doch der Leser gerade darauf gespannt ist, wie sich Winkler mit der Tatsache abfindet, daß er faktisch geködert worden ist und wie Hildegard das Verhältnis ihres Bräutigams mit der hübschen Schauspielerin auffaßt, welche plötzlich auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Wenn trotz der mangelhaften psychologischen Vertiefung der Charaktere und des Fehlens einer gut entwickelten Handlung der Roman gern gelesen werden wird, so verdankt er dies vor allem der außerordentlich lebendigen Milieuzeichnung. Der Autor gehört dem hohen Adel an, er ist selbst Offizier gewesen und seine Schilderung des feudalen Offizierskorps, welche den Hauptinhalt der Erzählung ausmacht, muß deshalb als wahrheitsgetreu angenommen werden, obgleich sich der feinfühlige Leser dagegen sträubt, diese Offiziere und diese Verhältnisse als typisch anzusehen. Es kann gar nicht ausbleiben, daß des Autors Schilderung und die Tendenz des Romans in gewissen Kreisen scharf verurteilt werden, die polemische Tendenz liegt gar zu deutlich zu Tage. Darunter leidet der literarische und künstlerische Wert des Romans. Aber in unserer Zeit werden ja Romane nicht ihrer literarischen Bedeutung wegen, sondern meistens ihrer aktuellen und sensationellen Tendenz wegen gelesen. Es ist leicht zu prophezeien, daß diese „erstklassigen Menschen” viel gelesen und viel Staub aufwirbeln werden. Einen Wunsch kann ich trotz alledem nicht unterdrücken, möge Freiherr von Schlicht von dieser Abschweifung auf das modische sensationelle Tendenzgebiet bald zurückkehren zu den humoristischen Erzählungen, welche man mit Vergnügen und ohne bitteren Nachgeschmack lesen wird.
O. R.
„Volksblatt (Halle)” Nr. 40 vom 17.Februar 1904 (Leitartikel)
Man könnte es einem Sozialdemokraten wahrhaftig nicht verdenken, wenn er einen neuen Militär-Skandalroman mit einem gewissen Gefühl der Schadenfreude zur Hand nimmt. Wenn in einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder nicht nach ihrem Verdienste und ihrer Tüchtigkeit sondern nach ihrer Geburt und ihrem Stande bewertet, der krasse Konflikt zwischen dem äußeren Schein und dem wirklichen Sein dargetan, wenn gezeigt wird, daß ein Stand, der nach Gerichtsurteil als erster hochzuachten ist, diese widersinnige Bezeichnung nicht verdient, so darf es keinem Sozialdemokraten, als dem Vertreter eines höheren Sittlichkeits- und Gesellschaftsprinzip, verargt werden, wenn er bei diesem Akte ausgleichender Gerechtigkeit eine gewisse Genugtuung empfindet.
Liest man aber das vor kurzem erschienene Buch des Grafen Wolf Baudissin „Erstklassige Menschen”, so wechselt dieses Gefühl der Genugtuung bald mit einer Empfindung unsäglichen Ekels, oder auch mit dem Ausbruch jenes Schamgefühls, das alle Menschen für alles Menschliche verantwortlich macht. Da schildert ein hoher Aristokrat, ein gewesener Offizier und bekannter Schriftsteller seine eigenen Kreise in einer Art, daß man ausrufen möchte: Lieber sonstwo, nur nicht bei ihnen.
Und was das Entsetzlichste an diesem Buche ist, es weht kein Hauch der Befreiung, kein frischer Wind über diesen stinkenden Sümpfen. Nicht zum erstenmale sind die sittlichen Begleiterscheinungen des Militarismus von einem Kenner geschildert worden. Ehe sich noch bei uns die Beyerlein und Bilse schüchtern hervorwagten, haben in Frankreich die Descaves, Mirbeau und Anatole France in ganz anderen Tönen gesprochen; der Holländer Hermann Hejermann jun. hat in seinem „Pranger” wider den Militarismus mit dem Hammer philosophiert; der geistreiche Engländer Bernard Shaw hat ihn mit einer in Deutschland undenkbaren Kühnheit in der Lauge schiefsten Spottes ertränkt. Und ihnen allen voran der große russische Ankläger Graf Leo Tolstoi! Auch er ist ein Offizier a.D. und stand einst knietief im Schlamm, bis ihn mit relogiöser Inbrunst der Gedanke packte: „Gott, in was für eine Welt bin ich geraten!”
Graf Baudissin, Leutnant a.D. und sehr bekannter, um nicht zu sagen berühmter Militär-Belletrist, ist weder ein unerbittlicher, kalter Sammler von Aktenmaterial wie die Naturalisten, noch ein von sittlicher Bewegung erfüllter Bußprediger wie Leo Tolstoi. Jahrzehntelang hat Baudissin ganze Bände zierlicher, glatt witzelnder Militärgeschichtchen geschrieben, bis er jetzt auf einmal den Beruf zum militaristischen Sittenschilderer in sich entdeckt hat, zu dem ihm alle Kraft und aller echter Eifer fehlt. Gedankenlos, auf das grob Sensationelle zugespitzt, wälzt sich sein Buch durch unaussprechliche Gemeinheit, um schließlich mit der Lächerlichkeit zu schließen, der Offizierstand sei zwar berufen, Erzieher der deutschen Jugend zu sein, aber er sei von dieser idealen Aufgabe noch lange nicht tief genug durchdrungen.
Der Roman spielt sich ab im Garde-Infanterie-Regiment „Zitronenfalter”, eine grob verständliche Andeutung! Das Offizierkorps des R'ements, das aus lauter Adligen besteht, erfährt zu seinem Entsetzen, daß aus besonderer Gnade Seiner Majestät der Leutnant Winkler, Sohn eines wohltätigen Hosenknopffabrikanten, die adlige Reinheit seines Kreises trüben solle. Der Kommandeur hält an den Eindringling eine blödsinnig aufgeblasene Ansprache, und ein junger Leutnant, der sich später zum vollendeten Zuchthäusler entwickeln soll, vergießt Tränen über die den „Zitronenfaltern” zugefügte Schande.
Das Buch führt uns 354 Seiten lang durch eine Welt voll Suff, Verschwendung, Spiel, leichtsinniger Schuldenmacherei, gemeiner Zechprellerei, adliger Prostitution und Zuhälterei, Syphilis, Selbstmord, Roheit und Soldatenschinderei – alles bedeckt von der Schminke des Standesbewußtseins, der Adelsehre, der Beschönigung und Vertuschung. Die „bessere Welt” gegenüber dieser verrotteten Gesellschaft wird dargestellt durch den Hosenknopffabrikanten und seinen Sohn, der den Leutnantsrock auszieht, weil er sich für diese Gesellschaft zu gut fühlt. Er kehrt zur Knopffabrikation zurück, heiratet ein adliges Fräulein, nachdem er ein paar Wochen zuvor mit einer zärtlich geliebten Schauspielerin nach der Riviera gereist war und das Mädchen dann ohne jeden Grund verlassen hat.
Aus diesen dunklen Gründen führt sein Weg ins Freie! Nach allem, was in den letzten Jahren über die „Erstklassigen” bekannt geworden ist, können die Schilderungen des Grafen Baudissin – sein wirklicher Name ist Freiherr v.Schlicht – weder als ekle Lügen und Übertreibungen abgeschüttelt werden, noch ist die Hoffnung begründet, solche Gesellschaft könne in sich selbst die Kraft sittlicher Wiedergeburt finden. Tausend Anklänge an bewiesene Vorkommnisse schreien uns aus diesem Buche entgegen: „Es ist wahr! Es ist wahr!” Man erinnert sich der mit dem Militär-Reitinstitut in Hannover verbundenen Spielerprozesse, des Prozesses gegen den Klub der Harmlosen, der Äußerung des Berliner Polizeipräsident Meerscheidt von Hüllessem, die ganze Berliner Gesellschaft sei kompromittiert, wenn die Untersuchung in diesem Prozesse auf weitere Kreise erstreckt werde. In das Gedächtnis treten die Namen Mörchingen, Insterburg, Gumbinnen, Forbach, Pirna. Die zahllosen verunglückten Offiziersexistenzen tauchen vor unserem Auge auf, so daß wir schließlich gestehen müssen, das Buch Baudissins erzählt uns eigentlich nichts, was die Welt nicht bereits erfahren hat.
Ob der Roman wegen bedenklicher Anspielungen auf eine große Garnison konfisziert werden wird wie Bilses Erzählungen aus einer kleinen Garnison, oder ob sich das Buch ohne die Beschlagnahme-Reklame wird behelfen müssen – der Roman wird in der „besseren Gesellschaft” lüstern verschlungen werden und von Hand zu Hand gehen. Wie wir in Nr. 36 unseres Blattes mitteilten, hat General a.D. von Boguslawski den Roman dadurch abzutun versucht, daß er behauptete, der Zweck des Buches sei Geldschneiderei. Damit kann er nicht die Gespenster bannen, die allerorten gegen den Militarismus aufsteigen aus dunklen Tiefen und an unerwarteten Stellen.
Erst einige Wochen ists her, da malte im Reichstage der konservative Graf Limburg-Stirum die Schrecknisse der französischen Revolution an die Wand. Ihm erwiderte der unverzagte Kanzler Bülow durch die Frage: „Wo haben wir in Deutschland die verkommenen höheren Gesellschaftsschichten, die in Frankreich vor Ausbruch der Revolution zu finden waren?” Die Bülowsche Rosenmalerei wird nicht lange Stand halten können; denn wenn nicht alle Zeichen trügen, dann ist Freiherr v. Schlicht noch lange nicht der letzte, der über die sittlichen Toilettengeheimnisse der „Erstklassigen” plaudert.
Die Unnatur rächt sich. Die Persönlichkeit des Deutschen kann sich in ihrer berechtigten individuellen Eigenart in der Zwangsjacke des Offizierlebens nicht entfalten. Da ist die geistige Reaktion unausbleiblich. Man erzieht äußere Gleichförmigkeit, bezahlt diese aber mit der sittlichen Gesundheit derer, die in die Zwangsjacke gepackt werden. Schwächere Charaktere werden geistig absterben müssen, die kräftigeren Naturen werden auf Abwege getrieben, wenn sie nicht vorziehen, den bunten Rock auszuziehen. Dieser letztere Ausweg ist aber durch die Verhältnisse den meisten versperrt. Sie bleiben also bei den „Erstklassigen”, und dieselben Persönlichkeiten, die unter anderen Verhältnissen tüchtige Menschen hätten werden können, sinken zu Spielern, Trinkern, Weiberhelden oder Soldatenschindern herab. Die Natur läßt sich nicht vergewaltigen.
Bei einzelnen Personen mag das möglich sein, bei einer ganzen Klasse, die Zehntausende von Einzelwesen umfaßt, ist es auf die Dauer nicht möglich. Ein System, das den Versuch unternimmt, die Geister in eine Zwangsjacke zu pressen, wird von der Natur überwunden werden.
Nicht gegen die auf Abwege geratenen Offiziere hat sich unser Zorn zu richten, sondern gegen das System des Militarismus, das Offiziere wie Mannschaften in Maschinen verwandeln und damit die Natur vergewaltigen will, hat sich unser Ansturm zu richten. Und dieser Sturm wird so stark werden, er ist innerlich so sehr berechtigt, daß keine Gewalt, kein künstlicher Damm die schließliche Zerschmetterung des naturwidrigen Systems hindern kann.
„Dresdner Nachrichten” vom 19.Februar 1904
C.A.Pauligs Leihbibliothek erhielt u.a. folgende neue deutsche Bücher.
F. Nicolay: Ungeratene Kinder. Dr. H.Schmidt: Kulturprobleme der Gegenwart, VIII.Band. Herzogin Liselotte v. Orleans: Hof und Gesellschaft in Frankreich am Anfang des 18. Jahrhunderts. Dr. J.Lauderer: Japan, das Land der aufgehenden Sonne einst und jetzt. E.Zabel: Auf der sibirischen Bahn nach China. Dr. Paul Limann: Der Kaiser. Charakterbild Wilhelms II. L.Deutsch: Zehn Jahre in Sibirien. Dr. M.W.Meyer: Von St. Pierre bis Karlsbad. O.J.Bierbaum: Eine empfindsame Reise im Automobil. Fritz Lienhart: Thüringer Tagebücher. Dr. H.Haas: Der Vulkan. K.Laßwitz: Wirklichkeiten. A.O.v.Pozsony: Franz Liszt und Hans von Bülow. L.Barney: Erinnerungen. Sven Hedin: Im Herzen von Asien. Frhr. v.Schlicht: Erstklassige Menschen. Roman aus der Offizierskaste. Gräfin Reventlow: Ellen Olestjerna. F.Wedekind: Die Büchse der Pandora. A,Harder: Tönerne Füße. M.z.Megede: Narren. P.Michaely: Wann wird es tagen? L.v.d.Aue: ImFuchswinkel. Stendhal-Henry Beyle: Renaissance-Novellen. B.Kellermann: Yester und Li. R.Sherard: Oskar Wilde. A.v.Ohorn: Los von Rom. A.France: Crainquebille. Th.Gautier: Der Roman einer Mumie. Per Hallström: Frühling. O.v.Hartleben: Liebe kleine Mama. H.v.Zobeltitz: Gräfin Langeweile. A.Zapp: Musketier Horn. Stacpole: Der Bourgeois. O.Wilde: Das Granatapfelhaus. A.Wothe: Verfehmt. C.Alberti: Erlebtes und Erlauschtes. N.Ljeßkow: Romane und Erzählungen. S.Bauditz: Die Komödie auf Kronborg.
„Vorwärts” vom 19. Februar 1904:
Nicht aus einer kleinen Garnison, sondern aus der Großstadtwelt der Garde, von den „Citronenfaltern, wie das Garde-Infanterie-Regiment Franz Ferdinand Leopold wegen seiner gelben Achselklappen genannt wurde”, erzählt der frühere Offizier Wolf Graf von Baudissin in dem neuesten Militärroman. Die staatserhaltende Presse, allen voran der allzeit streitbare Herr v.Boguslawski, ist über diese Geschichte aus der Kaste der „erstklassigen Menschen” wild hergefallen. Das Machwerk, so rief man, sei nichts als eine gemeine Geldspekulation. Das ist gleichgültig. Wir kennen die Motive des Verfassers nicht, und haben keine Ursache, ihnen nachzuforschen. Sicher ist auch, daß der Roman litterarisch eine öde und rohe, im schlimmsten Kasernenstiel eilfertig geklexte Sudelei ist. Es ist auch wahr, daß nach dem ungestümen Erfolg von Beyerlein und Bilse die Konjunktur für naturalistische oder militär-kritische Stoffe dieser Art sehr günstig ist. Die dümmlich-schneidigen liebenswürdigen Veilchenfresser sind aus der Mode, die holden und bornierten Don Juans mit dem P-Scheitel haben alle Unwiderstehlichkeit verloren, die ulkenden Militärhumoresken sind kein Geschäft mehr, man will Wahrheit, oder doch Enthüllung von Coulissengeheimnissen, ein bißchen harte Anklage, die doch nicht in die Tiefen des Systems unerbittlich dringt; man will hinter dem romanhaft und siegreich in der Liebe taumelnden Kavaliertum die höchst brutalen Geschlechtskrankheiten, hinter der näselnden liebenswürdigen Witzboldigkeit die leere und zotige Trottelei, hinter der eleganten Bartbinden-Schönheit die läppische Litzen-Konfektion, hinter der patriotischen Ritterlichkeit den irdischen Kampf um Geld und Geltung, hinter der strammen Energie die Soldatenmißhandlungen angedeutet sehen, ohne daß doch die ganze militärische Herrlichkeit von Grund aus zerstört werde. Wenn also auch nicht zu leugnen ist, daß Wolf Graf v.Baudissin durchaus den modischen buchhändlerischen Bedürfnissen entgegen kommt, so würde die staatserhaltende Behauptung, daß er lediglich aus materiellen Motiven seinen Roman geschrieben habe, doch nur das eine beweisen, daß in die Schreckensgalerie der erstklassigen Menschen, die er schildert, noch einer mehr aufzunehmen ist, nämlich der Verfasser selbst.
Die Verdächtigung des moralischen Wertes des Verfassers aber entkräftet nicht im mindesten diese fürchterliche und bis zum Ekel gründliche Psychologie des Militarismus in seiner vornehmsten Kleidung, in den feudalen Garde-Regimentern. Wahrheit oder Lüge – das ist die einzige Frage, an der die Öffentlichkeit Interesse nehmen kann. Ist der Verfasser nicht moralisch und intellektuell vollkommen unzurechnungsfähig, so mußte er sich der Verantwortung bewußt sein, als er diese entsetzlichen Bilder entwarf. Er durfte schwerlich wagen, eine ruchlose, in ihrer litterarischen Gewissenlosigkeit doppelt abscheuliche Phantasie unmittelbar und unter derben aktuellen Andeutungen gegen eine Institution spielen zu lassen, mit der heute der widerwärtigste und gefährlichste Götzendienst getrieben wird. Er mußte sich sagen, daß er jederzeit bereit zu sein hätte, für die typische Wahrheit seiner Schilderungen den Beweis der Wahrheit anzutreten. Man braucht nicht anzunehmen, daß Wolf Graf v.Baudissin direkt nach Modellen, nach bestimmten Personen und Ereignissen gearbeitet hat, wie das der Homer von Forbach that, obwohl auch in diesem Roman z.B. der Fall Breidenbach deutlich in seinen Einzelheiten dargestelt ist. Man muß vielmehr voraussetzen, daß der Verfasser gerade unabhängig vom Persönlichen und Einzelgeschehnis eine typische Charakteristik des Gardeoffizierwesens entwerfen wollte. So vergißt er ja auch nie, wenn er irgend eine neue widerliche Eigentümlichkeit erwähnt, hinzuzufügen, das sei nicht eine Ausnahme, das thäten alle Offiziere oder 75 Prozent oder 50 Prozent. Diese 50 Prozent, das ist durchgängig der Mindestgrad von typischer Allgemeingültigkeit, die der Verfasser beansprucht. Wolf Graf v.Baudissin behauptet also, der Sache nachabsolute Wahrheit zu geben, und giebt er die Wahrheit, so wäre damit ein Streich gegen den herrschenden Militärgeist geführt, den er überhaupt nicht überwinden kann – ohne eine Reform an Haupt und Gliedern.
Beyerleins romanhafte Kritik wirkt wie eitel Marzipan, und selbst Bilses ekle Reportage von der kleinen Garnison wie mildes Orangenblütenwasser gegenüber dem Pestatem dieser Schilderung. Und diesmal ist es kein bürgerlicher Litterat, der ein paar Monate flüchtig in die Kaserne geschaut, und auch kein bürgerlicher Offizier, der nicht zu den erstklassigen Menschen gehört, auf die sich eigentlich der preußische Militarismus beschränken soll, sondern es ist selbst ein Mitglied jener Adelskaste, aus der abzustammen die Berechtigung zur Aufnahme in die allerfeudalsten Regimenter verleiht. Dieser Wolf Ernst Hugo Emil Graf Baudissin gehört zum vornehmsten Uradel; seine Verwandten wimmeln in Armee, Flotte und Verwaltung. Wir finden da zahlreiche Offiziere, Admirale, Landräte, Ehrenritter des Johanniter-Ordens. Der Mann ist demnach durchaus legitimiert, standesgemäß unterrichtet zu sein und aristokratisch zu fühlen. Und der entwirft nun Sittenbilder aus seiner Gesellschaft, daß die Personalakten eines Zuchthauses dagegen wie Tragödien edelsten Menschentums anmuten. Unter all den edlen Figuren ist niemand, der nicht – proletarisch geboren und unmündig – unverzüglich der Fürsorge-Erziehung überwiesen werden würde.
Schon das Hauptmotiv des Romans charakterisiert die geistige Höhe des feudalen Militarismus. Die Garde-Regimenter nehmen, wie bekannt, keine bürgerlichen Offiziere auf. Die letzte Rang- und Quartierliste zählt in den Garde-Regimentern von Berlin und Umgegend ausschließlich adlige Namen. Diese Exklusivität wird nun in dem Roman durchbrochen. Ein besonderer Günstling des Landesherrn, ein millionengesegneter bürgerlicher Fabrikantensohn, wird unter die feudalen Citronenfalter versetzt. Der Widerstand des adligen Offiziercorps gegen den Eindringling ist das Thema des Romans. Man sollte meinen: ein Stoff gerade ausreichend für eine karikierende Militärschnurre von 100 Druckzeilen. Aber hier wird diese Lächerlichkeit wie das ernsteste Weltproblem auf viertehalbhundert Seiten behandelt. Das Offiziercorps kennt keine höhere Aufgabe, als den Bürgerlichen zu beseitigen und mit dem Erfolg des Adels schließt der Roman: Die Zitronenfalter sind wieder unter sich.
Mit der Einweihung eines neuen überprächtigen Regimentshauses beginnt die Erzählung. Die Offiziere schwimmen in Seligkeit, daß sie nun in ihrem Kasino mit den Palasträumen der noch vornehmeren Kavallerie-Regimenter konkurrieren können. Seite 4 wird der Grundton angeschlagen:
Ein Ulanenlieutenant, der als großer Spieler allgemein bekannte Baron Gersbach, klemmte sich sein Monocle ein und musterte auch seinerseits die Tafelrunde, dann wandte er sich an seinen Nachbar:
„Wirklich standesgemäße Gesellschaft, an dem ganzen Tisch nicht ein einziger Bürgerlicher.”
„Doch – einer.”
Der Ulan klemmte sein Monocle noch fester ein, um den Mann herauszufinden.
„Wer ist es denn?”
„Der Architekt, der uns das Haus gebaut hat.”
„Ach so, der – na, der zählt doch gar nicht mit. Aber wie kommen Sie denn eigentlich dazu, den Mann einzuladen?”
„Wir haben es lange hin und her überlegt, aber es ging nicht gut anders. Der Mann hat früher als Einjähriger bei uns gedient, und aus Anhänglichkeit und aus Liebe zum Regiment hat er uns die Baupläne kostenlos angefertigt.”
In der Weise schreitet der Roman fort, Seite für Seite in wüstem Einerlei, nichts wie Sekt, Völlerei, Spiel, Schulden, Hochstapeleien, Weiber, Prostitution, Geldheiraten, wertlose Ehrenworte und Ehrenscheine, Syphilis und zur Abwechslung Soldatenmißhandlungen. Der einzige leidlich anständige und intellektuell normale Offizier ist jener einzige bürgerliche Offizier, der zum Vater – der Verfasser verbeugt sich tief vor der Tugend der Bourgeoisie – einen durch Arbeiterwohlfahrt zum Millionär gewordenen Fabrikanten hat. Und auch der ist schließlich nur anständig, weil es ihm seine Mittel erlauben und nur in so weit, als er nicht gerade, wie die anderen, moralische Verbrechen gewerbsmäßig verübt; denn auch der edle Fabrikantensohn, die Krone des Bürgertums, begibt sich unmittelbar von einer illegitimen Hochzeitsreise mit einer kleinen süßen Olga vom Theater zu dem legitimen Altar, an dem ihm das adlige Offiziersfräulein angetraut wird. Als geistig normal veranlagt darf er ebenso nur deshalb gelten, weil sein Ideenkreis sich nicht, wie der der anderen, in Betrachtungen über das blaue Blut, über die Menu-Karte von gestern und die körperlichen Geheimnisse der Frauen, der „Damen” wie der „Weiber”, erschöpft. Mit diesem bürgerlichen Offizier ist aber nun das auch für abgehärtete Leser moralisch erträgliche Menschenmaterial erledigt. Das andre ist nur Unflat, der sich mit einer cynischen Selbstverständlichkeit darbietet. Kein noch so flüchtiger höherer Gedanke irisiert auf diesem Morast, so daß man, nachdem der Ekel überwunden, fast Mitleid mit diesen Wesen empfindet, denen ein entsetzliches System den letzten Rest von Menschlichkeit und Menschenwürde auspreßt.
Da ist ein Major a.D. und seine Gattin. Bei einer militärischen Besichtigung ist er verunglückt. Mit 4000 M. Pension zieht er sich in eine kleine Stadt zurück. Sein Sohn ist Lieutenant. Der Alte wie sein Sprößling ersticken in Schulden, sie pumpen alles an und bezahlen niemand, auch den kleinen Handwerker nicht; sie wenden die schimpflichsten Ausflüchte und Vorspiegelungen an. Ihre einzige Hoffnung ist die schöne Tochter. Die soll sich mal reich verheiraten, und wäre es nur mit einem Bürgerlichen. Jahr für Jahr wird sie nach Berlin geschickt zu wohlhabenden Verwandten, einem Hauptmann bei den Citronenfaltern; alle Angelkünste werden brutal angewandt, immer vergebens. Die größte Sorge der Eltern und des Bruders ist, sie könnte verblühen, ohne daß es ihr gelänge, den Tölpel mit ihren Reizen einzufangen, der für die ganze Familie die Schulden bezahlt. Das Mädchen ist den Ihrigen noch viel zu spröde und ungeschickt. Und so schreibt ihr denn der Lieutenant Bruder u.a.:
Du weißt ja, die andren Schulden drücken nicht, aber Spielschulden sind Ehrenschulden und an unsrer Ehre dürfen wir keinen Knacks erleiden, lieber heißt es Abschied nehmen von dieser Welt. Lieber tot als ehrlos. Also, wie gesagt, Hilde, ich brauche vier braune Lappen, und Du mußt sie mir besorgen.
Und dann giebt Brüderchen seine Kuppel-Ratschläge:
Du hast in den letzten Jahren mächtig eingepackt. Als ich Dich das letzte Mal sah, bekam ich wirklich einen Schrecken. Verstehe mich recht, Du bist noch immer ein hübsches Mädel, aber im Vergleich zu früher? Na, die Hauptsache ist ja, daß Du diesem Winkler, oder wie er heißt, gefällst . . . Papa schrieb mir, er hätte aus Anlaß der frohen Nachricht sofort seinen Weinkeller komplettiert . . . Übrigens hat Tante auch berichtet, Dein zukünftiger Schwiegervater fabriziere Knöpfe. Scheußliche Vorstellung, ist das wirklich wahr? Na, die Hauptsache ist ja schließlich, daß er genügend Knöpfe hat. Halte ihn Dir nur warm, Du hast ja immer noch schöne Augen, gebrauche sie nur ordentlich, dann hast Du ihn sicher.
In dieser Familiengeschichte spiegeln sich alle unheimlichen Laster, die denkbar sind, und alle Gebrechen, die nach des Verfassers Behauptung dem militärischen System und seinen Trägern anhaften. Wolf Graf Baudissin erzählt, wie in der ganzen Armee vom untersten bis zu den hohen Offizieren eine ewige Angst herrscht, infolge irgend eines Ungefährs den Dienst verlassen zu müssen. Die Pensionierung bedeutet für den reichen Offizier den Sturz vom gesellschaftlichen Götzen zum Paria, für den armen dazu den wirtschaftlichen Zusammenbruch. In dem unablässigen Kampf um die Existenz wurzeln die furchtbarsten Erscheinungen des Systems: daß nur äußerlich alles glatt und glücklich verlaufe. Daher die Soldatenmißhandlungen, die den Unteroffizieren und Offizieren eine gute Note zwangsweise verschaffen sollen. Daher auch die Sucht, zu vertuschen: „Kein Mensch arbeitet heute mehr an der Ausbildung der Armee, jeder kämpft um seine Existenz, einem jeden droht täglich aus tausend Gründen die Verabschiedung, und lediglich um diese so weit wie möglich hinauszuschieben, werden gegen die Untergebenen aller Grade Ungerechtigkeiten begangen, die zum Himmel schreien. Über Leichen geht heutzutage der Weg zum Avancement.” (S. 202) Nur kein Skandal! Der kostet den Vorgesetzten seine Stellung. Die Technik im Augenzudrücken ist auf höchste entwickelt. Spiel und Schulden sollen nicht sein, also – sieht man sie nicht. Schließlich führt das System zur Paralyse des sittlichen und geistigen Charakters. Man lebt im wilden Taumel dahin und, wenn es nicht weiter geht, greift man zum nackten Verbrechen und zum Revolver. Aber auch das anständige Durchschnittsdasein ist von entsetzlicher schwelgerischer Öde: „Bald ist hier ein Fest, bald dort, Liebesmahl, Gästetag, Geburtstagsfeier, Gartenfest mit Damen, Regimentsjubiläum, Abschiedsessen; selbst derjenige, der solide sein will, kommt aus der Sektflasche gar nicht mehr heraus, er muß einfach mitmachen.” (Seite 223.) Natürlich werden Schulden gemacht. Der Herr Oberst weiß es, aber er sagt sich: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Und um Sachen, die mir nicht dienstlich gemeldet werden, brauche ich mich nicht zu kümmern. Ihm liegt seine eigene Zukunft und seine Karriere doch viel mehr am Herzen als die meinige. Ob ich zum Teufel gejagt werde, ist ihm ganz gleichgültig, aber wenn ich gehe, muß er vielleicht mitgehen, deshalb drückt er nicht nur beide Augen, sondern auch beide Ohren zu.” (S. 225)
Wie wird gepumpt?
„Die pumpen alle, vom Hauptmann herunter bis zum jüngsten Leutnant, und selbst der Fähnrich trinkt sich Mut und bittet den Herrn Leutnant ganz gehorsamst um zwanzig Mark. Ich kenne das. Ich habe nie einen Schuldschein erbeten, wenn ich Geld auslieh, aber man hat sie mir immer unaufgefordert gegeben, in solchen Dingen wahrt man die Form und ist immer korrekt, aber eingelöst hat kein Mensch jemals seine Papiere.” (S. 314)
Das ist nun, trotz des Ehrenscheins, nicht allzu schlimm.
Schlimmer ist die Gleichgültigkeit in der Auswahl der Personen, die angepumpt werden: Man schont nicht den Kellner und nicht den eigenen Burschen.
Bei solchem Dasein ist jede edlere Geistesbildung ausgeschlossen: „Es giebt kaum einen Stand, in dem die allgemeine Bildung so kläglich und erbärmlich ist wie bei den Leutnants, ich hätte beinahe gesagt, sie können nicht einmal richtig lesen und schreiben.” (S. 316) „Wenn sich heutzutage zwei Lieutenants des Morgens beim Dienste treffen und wenn der eine dann dem andren erzählt, daß er gestern bei dem Herrn Geheimrat eingeladen war, dann fragt der andre mit tödlicher Sicherheit zuerst: Gab's was Anständiges zu essen? Und der erste Kamerad, der sonst stolz darauf ist, wegen allgemeiner Geistesschwäche nichts auswendig lernen zu können, schnurrt das ganze lange Menu mit allen Weinsorten herunter.” (S. 205)
Doch sie sind wenigstens bei allen ihren Lastern Soldaten mit Leib und Seele? Auch darauf antwortet Wolf Graf Baudissin durch den Mund seines bürgerlichen Offiziers: „Ich gebe Dir die Versicherung, von sämtlichen Lieutenants würde wenigstens sofort die Hälfte den Abschied einreichen, wenn sie sich finanziell in einer gesicherten Lage befänden. Der beste Beweis für meine Behauptung ist wohl der, daß jeder Lieutenant eine reiche Frau sucht. Hat er die gefunden, so geht er entweder gleich, oder er bleibt nur noch so lange, wie ihm die Sache Spaß macht.” (S. 329)
Damit wären wir zu dem abstoßendsten Kapitel gekommen, der Verwilderung der Geschlechtsmoral. Die Ehe wird als bloßes Geschäft aufgefaßt. Wir haben gesehen, wie die Majorstochter verkuppelt wird, damit die Schulden ihrer Angehörigen bezahlt werden. Die Offiziere achten die Heiligkeit der Ehe nicht anders: „Wir leben lustig darauf los, wir vergeuden unser Geld und unsere Gesundheit, und wenn wir dann eines Tages am Ende sind, dann sehen wir uns auf den Bällen nach einem reichen jungen Mädchen um, das uns wieder flott macht.” (S. 124.) „Ich begreife nicht”, äußert einmal der bürgerliche Offizier, „wie reiche Eltern ihr Kind einem Offizier zur Frau geben können. Die Leute müssen sich doch sagen, daß man ihre Tochter nur des Geldes wegen nimmt.”
Da die Ehe nur ein Geschäft ist, so halten sich die Mädchen, Frauen und Männer der vornehmsten Gesellschaft anderweitig schadlos. Die Mädchen erzählen sich gegenseitig „mit wahrhaft zynischer Offenheit”, „wie sie es anstellten, um die Eltern zu täuschen und die etwaigen Folgen ihresVerkehrs zu verhindern”. (S. 118.) Von einer Dame wird der Witz kolportiert: „Wenn ich heirate, mache ich gerade meine zwölfte Hochzeitstreise.” „Die Freundinnen hatten sich halbtot lachen wollen und sie um ihr Glück bei den Männern beneidet.” (S. 120) Ja, es wird sogar ein, allerdings vereinzelter Fall behauptet, daß die Schwester eines Offiziers mit Wissen ihres Bruders sich gewerbsmäßig prostituierte, „und von dem Geld, das die Schwester sich so verdiente, trank der Lieutenant Sekt und spielte in der Gesellschaft den vornehmen Kavalier.” (S. 122) Die Offiziere ihrerseits leben nicht minder christlich-keusch. Die süße Olga vom Theater zürnt einmal gelegentlich einer Schäferstunde: „Wie kommt es denn, daß fast alle, die bei uns krank sind, es ihrem Verkehr mit den Offizieren verdanken? Wir wissen und hören ja wenig von unseren Ballettdamen, aber soviel hören wir doch, daß häufig genug Erkrankungen vorkommen und fast immer ist ein Leutnant daran schuld.” (S. 144.)
Wir sind die letzten, die der Tugendheuchelei das Wort reden wollen. Aber es ist uns kaum eine Sittenschilderung bekannt, welche den Geschlechtsverkehr so aller menschlichen Leidenschaft, poetischen Verklärung und selbstloser Hingabe entkleidet, wie dieser Roman, der in der vornehmsten Kaste spielt. Hier giebts nur Geschäft, nur gemeine Sinnlichkeit, die skrupellos auch vor dem Verbrechen nicht zurückschreckt, bewußt den Leib der Geliebten zu vergiften . . .
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Es sei genug des Eklen! In dem Roman wird auch über Heilmittel diskutiert. Sie sind kleinlich, lächerlich genug. Eine an sich ganz verständige, wenn auch nicht durchgreifende von Kaiser Friedrich während seiner kurzen Regierungszeit bereits unterschriebene, aber nicht in Kraft getretene Kabinettorder wird empfohlen, wonach Offiziere nur im Dienst Uniform tragen sollen. Oder: Nur reiche Eltern sollen ihre Söhne Offizier werden lassen. Oder: Beseitigung der Kadettenanstalten, und dergleichen mehr.
So beansprucht auch Wolf Graf Baudissin Berater und Erzieher des Militarismus zu sein, indem er sein abscheuliches Sittenbild veröffentlichte. Wir wissen nicht, ob er die reine Wahrheit, ohne Übertreibung und ohne spekulative Tendenz niederschrieb. Er hat seine Darstellung moralisch zu verantworten. Wenn aber auch nur ein kleiner Teil der Schilderung den Thatsachen entspricht, dann ist es übergenug, um das ganze System in seiner Kulturgefahr zu entblößen. Seitdem für Bilses Roman wider den Willen des Verfassers der Beweis der Wahrheit in jedem Punkt geführt wurde, haben derartige Schriftwerke den Wert von politischen Dokumenten, und es ist nicht mehr angängig, sie der heimlichen, skandalierenden Lektüre und den Leihbibliotheken zu überlassen. Rechnet man die zahllosen militär-kritischen Broschüren hinzu, die gerade jetzt jeden Tag erscheinen, so gewinnt man doch den Eindruck, als ob selbst die militärischen Kreise gegenwärtig in tiefer Gärung begriffen sind. Man ist irre geworden an der eigenen Gottähnlichkeit. Jena mahnt! . . .
Der Militarismus ist heute die stärkste und gefährlichste Macht. Er ist der Hort aller Reaktion. Er verschlingt nicht nur den Arbeitsertrag der Nation zum größten Teil, er bedeutet nicht nur eine ständige Kriegsdrohung, er soll ja auch berufen sein, die Kultur der herrschenden Gesellschaft gegen das Hunnentum des socialistischen Proletariats zu schützen. Da ist es gut, wenn die litterarischen Anwälte des herrschenden Systems zeigen, wie geartet die bewaffneten Vorkämpfer dieser von uns Barbaren bedrohten christlichen und nationalen Welt sind. Wir Vaterlandslosen aber sind doch auch patriotisch genug, um zu wünschen, daß diese militärfrommen Militärkritiker lügen, daß dieses System nicht so verwahrlost ist, wie sie behaupten. Daran freilich ist kein Zweifel: die wirklichen Übel dieses Systems können erst mit dem System selbst verschwinden. Sie wurzeln in dem unversöhnlichen Gegensatz eines aus dem Volk gebildeten Heeres, das seinem Wesen und Zweck nur ein Kastenheer, ein Werkzeug der herrschenden Gesellschaft ist. Nur die vollständige Demokratisierung des Wehrwesens wird die Laster, die allem Kastentum notwendig anhaften, beseitigen.
„Neue Hamburger Zeitung” vom 21.Februar 1904:
Militärromane.
Auf Beyerleins „Jena oder Sedan?” folgte Bilses Schundroman „Aus einer kleinen Garnison”, und, da das Böse fortzeugend muß Böses gebären, jetzt ein drittes Sensationsbuch „Erstklassige Menschen” von einem veritablen Grafen. Als Schriftsteller heißt er Freiherr v. Schlicht, sonst aber Wolf Graf zu Baudissin. Vom Freiherrn v. Schlicht kannte man bis dahin nur mehr oder weniger wirksame Militärhumoresken, neuerdings aber will er ernst genommen werden und hat denn also seine erstklassigen Menschen geschildert, die Offiziere nämlich eines Gardeinfanterieregiments mit der erdichteten Hinzufügung: Franz Ferdinand Leopold. Ein solches Regiment gibt es ja nicht, aber was tut das? Es könnte ja dieses Regiment geben, und wie eines der Berliner Garderegimenter im Volksmunde den Beinamen „Die Maikäfer” führt, so wäre die scherzhafte Bezeichnung „Die Zitronenfalter”, die der Verfasser besagtem Gardeinfanterieregiment beilegt, eigentlich auch ganz natürlich.
Mit einem Wort: Man befindet sich, wenn man dem Freiherrn v. Schlicht folgt, auf sehr realem Boden, und es sind wohl gar Porträts, die er entwirft. Aber die Aufgabe kann es selbstverständlich nicht sein, hier wie beim Bilse-Roman nach Vorbildern zu suchen. Der entscheidende Eindruck, den die „Erstklassigen Menschen” machen, ist Staunen und Erschrecken darüber, daß es in solchem Offizierkorps so minderwertige Leute geben soll, daß sie wohl gar die Mehrheit bilden sollen, daß mindestens die Hälfte so beschaffen sein soll, wie es Baudissin-Schlicht ernsthaft behauptet. Es gibt keine Abscheulichkeit, die von den „Helden” dieses argen Buches nicht begangen wird, und sie begehen ihre schlimmen Dinge beinahe naiv, ohne Gewissensbedenken, was sie subjektiv entschuldigen mag, was das Uebel aber, im Grunde genommen, beklagenswerter macht. Hochmütige Borniertheit, geistige Verkümmerung, Spielschulden, Weibergeschichten, Soldatenmißhandlungen, Kriecherei nach oben, Mißachtung des Ehrenwortes, Kuppelei, kurz, alles Entsetzliche, was den Menschen schänden kann, geschieht in diesem Roman, der allen Ernstes beansprucht, ein Spiegelbild des deutschen Offizierslebens zu sein.
Ein paar Lesefrüchte: „Es giebt kaum einen Stand, in dem die allgemeine Bildung so kläglich und erbärmlich ist, wie bei den Leutnants; ich hätte beinahe gesagt, sie können nicht einmal richtig lesen und schreiben.” — „Ich gebe dir die Versicherung, von sämtlichen Leutnants würde wenigstens sofort die Hälfte den Abschied einreichen, wenn sie sich finanziell in einer gesicherten Lage befänden. Der beste Beweis für meine Behauptung ist wohl der, daß jeder Leutnant eine reiche Frau sucht. Hat er die gefunden, so geht er entweder gleich, oder er bleibt nur noch so lange, wie ihm die Sache Spaß macht.” — „Kein Mensch arbeitet heute mehr an der Ausbildung der Armee, jeder kämpft um seine Existenz, einem jeden droht einmal aus tausend Gründen die Verabschiedung, und lediglich um diese so weit wie möglich hinauszuschieben, werden gegen die Untergebenen aller Grade Ungerechtigkeiten begangen, die zum Himmel schreien. Ueber Leichen geht heutzutage das Avancement.”
Die Militärromane sind in der Mode, und da mag es ohne die Uebertreibungen nicht abgehen, mit denen die Nachahmer ihre Vorbilder zu übertrumpfen suchen. Immer war es so, wenn sich eine Epoche mit bestimmten gesellschafts-kritischen Problemen beschäftigte, und wenn so der Anschein hervorgerufen wurde, als gebe es in der Welt nichts Wichtigeres, als gerade dies eine, jeweilig auf der Tagesordnung stehende Problem. Wird somit der ruhige Beobachter den Darstellungen gesellschaftlicher Schäden umsomehr mißtrauen, je krasser sie sich geben, wird er das Moment der Sensationsmache mit in Anschlag bringen, so bleibt doch immer die Tatsache bestehen, daß die Armee gegenwärtig der Gegenstand hundertäugiger Kritik ist, daß sie es darum ist, weil es offenbare Mißstände in ihr giebt. Die zersetzende Satire des „Simplizissimus” gegen unsere Offiziere würde wirkungslos bleiben, wenn ihr nicht ein bereitwilliges Empfinden dafür entgegenkäme, daß diese Satire trotz allem boshaften Zuviel einen Kern von furchtbar ernster Wesenheit in sich schließt. Beyerleins Roman hätte nie so großes Aufsehen erregt, wenn er seinem Gegenstande nicht mit ehrlicher Sachlichkeit gerecht geworden wäre. Dem minderwertigen Klatschbuch des Leutnants Bilse zwar hat nur der Forbacher Prozeß den Weg geebnet; andernfalls würden sich nur die Wenigsten um dies Machwerk gekümmert haben. Aber die spätere Wirkung, gleichgiltig, woher sie kam, war und ist doch stark; und dasselbe gilt jetzt von den „Erstklassigen Menschen” des Grafen Baudissin.
Die Hüter der Armee, denen so gewichtige, nationale, staatliche, auch moralische Interessen anvertraut sind, haben wahrlich Veranlassung genug, hier nach dem Rechten zu sehen. Die Frage, ob Jena oder Sedan, könnte sonst eines Tages in der unheimlichsten, nie wieder gutzumachenden Weise beantwortet werden.
„Die Zeit”, Wien, 3.Jahr, Nr. 506, vom 24.Februar 1904
Seiner königlich preußischen Majestät Garde-Infanterieregiment Franz Ferdinand Leopold ist feudal. Alle Offiziere vom besten Adel. Den letzten Bürgerlichen hat man vor vier Jahren hinausbefördert, und weil der Oberst damals rundweg erklärt hat, derartige Plebejer nicht mehr anzunehmen, ist man jetzt hübsch gemütlich unter sich. Der Zustand trägt denn auch seine goldenen Früchte. Die Beziehungen zu den nobelsten Regimentern, zur Gardekavallerie, werden immer besser, immer kameradschaftlicher. Plötzlich, wie ein Blitz vom heiteren Himmel, ein Befehl des Königs: Georg Winkler, Leutnant „von 250”, wird zu den Zitronenfaltern versetzt. Wegen ihrer gelben Achselklappen nennt man nämlich die Herren vom Garde-Infanterieregiment Zitronenfalter. Georg Winkler, ganz einfach, ohne „von”, ohne nichts. Eine nette Bescherung. Dieser Winkler ist der Sohn eines immens reichen Fabrikanten. Der Vater, Geheimer Kommerzienrat, eine Art Liebling des Königs. Seine Majestät haben ja so merkwürdige Neigungen. Herr Krupp wurde vom König Freund genannt. Und der alte Winkler, Großindustrieller, Wohltäter, Herr über vieltausend gut versorgte und menschlich gehaltene Arbeiter, wird vom König alle Augenblick ins Schloß befohlen, zu Tisch geladen, in engstem Kreis. Da ist einfach nichts zu machen. Eben als die Hiobsbotschaft eintrifft, weiht man das neue Regimentshaus bei festlicher Tafel ein. Von der Gardekavallerie sind viele Herren als Gäste erschienen, und ein Ulan faßt seine Teilnahme in die Worte: „Schade, es war so hübsch bei Ihnen.” Da hat man die Geschichte. Dieser gottver. . . Winkler wird alle besseren Kameraden vertreiben.
Aber, wie gesagt, es ist nichts dagegen zu machen. Der Gedanke, eine Deputation an den obersten Kriegsherrn zu entsenden, ihn um Rücknahme dieser entsetzlichen Maßregel zu bitten, wird rasch fallen gelassen. Seine Majestät haben diesen Herrn Winkler noch extra der Gunst des Obersten empfohlen. Regis voluntas . . . Wenigstens bei den Gardeoffizieren gibt's da keine Kritik. Nur das niederschmetternde Bewußtsein erfüllt alle: „Wir sind bürgerlich geworden.”
Dann kommt also dieser Leutnant Georg Winkler. Sieht als Zitronenfalter ganz gut aus. Hält sich tadellos im Dienst und gibt sich gesellschaftlich auch nicht die geringste Blöße. Niemandem drängt er sich auf, um keines Menschen Gunst bewirbt er sich. Ein bürgerliches Muttersöhnchen, das sich an aristokratische Rockzipfel klammert, ist das nicht. Hilft ihm freilich nur wenig, denn die Kameraden behandeln ihn mit eisiger Höflichkeit. Kein einziger Händedruck wird ihm, kein herzliches Wort. Er trägt's mit Würde. Der Oberst hat ihn zum Empfang einer Ansprache gewürdigt. Temperatur: zwei Grad unter Null. Und vor versammeltem Offizierskorps sagt er ihm: „Sie, Herr Leutnant, sind in Kreisen groß geworden, in denen das Geld die Hauptrolle spielt, in denen gewissermaßen die Ehre des einzelnen nach seinem Guthaben, das er auf der Bank hat, gemessen wird.” Winkler muß das einstecken. Dann noch die Warnung, nicht mit dem Geld zu protzen, bescheiden zu sein, sich nicht aufzuspielen.
So verheißungsvoll beginn der neue Roman des Freiherrn von Schlicht, der mit seinem wirklichen Namen Wolf Graf Baudissin heißt. Der Roman führt den Titel „Erstklassige Menschen”, und auch ohne die nähere Bezeichnung „Roman aus der Offizierskaste” merkt man, daß dieser Titel ironisch gemeint sei. Aber hören wir zunächst, wie es dem bürgerlichen Leutnant Georg Winkler unter seinen adeligen Kameraden weiter ergeht. Der junge Mann treibt also keinen Aufwand. Aber es bleibt ihm nicht lange verborgen, daß die Zitronenfalter ebensosehr über ihre Verhältnisse leben, wie er selbst unter seinen finanziellen Möglichkeiten wirtschaftet. Allzusammen bis über die Ohren verschuldet und dem Spielteufel mit Haut und Haaren verfallen. Eines Tages ist Baron Gersbach im Regimentshaus zu Gast. Ein kleines Jeu wird arrangiert. Dieser Baron Gersbach von den Garde-Ulanen besitzt keinen Kreuzer Vermögen, lebt aber großartig — vom Kartenspiel. Er ist kein Falschspieler, nur ein Glücksspieler. Rührt keine Karte an, wenn er trübe Ahnungen hat. Sagt ihm aber eine innere Stimme, daß ihm heute die Chancen günstig sind, dann setzt er sich an den grünen Tisch, kühl, überlegen, ruhig, und gewinnt. Heute erweist er den Zitronenfaltern die Ehre, sie zu plündern. Der kleine Willberg hat einen Tausendmarkschein bei sich, den er irgendwo sich erpumpt hat, um eklige Schulden zu decken. Ohne diese tausend Mark könnte er sich nicht länger „halten”. Jetzt riskiert er sie gegen Gersbach, gewinnt über zwanzig Mille, spielt weiter und läßt den letzten Pfennig bei dem Garde-Ulanen. Der kleine Willberg ist Regimentsliebling. Famoser Adel, famoser Bursch. Arm wie eine Kirchenmaus. Tut aber nichts. Tadelloses Wappen. Dieser kleine Willberg ist gegen den bürgerlichen Winkler kühl bis ans Herz hinan. Hochnäsig, exklusiv bis zur Frechheit. Das hindert ihn nicht, am nächsten Tag zu Winkler zu laufen und ihn um die leichtsinnig verspielten tausend Mark anzuzapfen. Von Rückzahlung keine Rede. Im Gegenteil. Der kleine Willberg ist von Stund ab noch hochmütiger, noch eisiger gegen Winkler. Der Kerl darf nicht glauben, daß man wegen lumpiger tausend Mark frère et cochon mit einem Bürgerlichen wird.
Der Bürgerliche hat in den Augen dieser Zitronenfalter einen sonderbaren Zweck. Kameradschaft? Anfreunden? Nicht in die Hand. Er hat zunächst Geld herzuleihen. Das ist eins. Dann wird er als gute Partie für arme Baronessen ins Auge gefaßt. Wenn er eine Schwester besitzt, und wenn diese Schwester eine ordentliche Mitgift ihr eigen nennt, dann ist man auch bereit, diese Dame „unbesehen” zu heiraten. Nacheinander treten diese netten Zumutungen an Winkler heran. Sein Kompagniechef, der adelsstolze Freiherr von Warnow, behandelt ihn dienstlich und außerdienstlich wie einen Hund. Warnow aber hat eine arme unversorgte Nichte. Baronesse Hildegard, Tochter eines pensionierten Majors, Schwester eines Leutnants mit vierzigtausend Mark Schulden. Die schöne Hildegard wird seit Jahren zur Residenz geschickt, um im Hause Warnow einen reichen Freier zu ergattern. Auf diesen reichen Freier hin machen der Herr Papa-Major und der Herr Bruder-Leutnant fleißig Schulden. Immer mit dem Hinweis auf die unmittelbar bevorstehende Verlobung Hildegards entlocken sie bei Lieferanten Waren, bei Wucherern und Freunden Bargeld. Die Sache streift ans Kriminal. Hildegard ist steinunglücklich, aber was will sie tun? Vater und Bruder bestürmen sie, sie möge sich je eher und je besser als nur möglich verkaufen. Deshalb wird der reiche junge Winkler zu Warnows geladen. Dann ist in Winklers Kompagnie der Oberleutnant Freiherr von Masemann. Der hat sich den bürgerlichen Kameraden mit unzweideutiger Arroganz stets drei Schritt vom Leib gehalten. Eines Tages sieht er Vater und Schwester Winkler im Restaurant. Das junge Mädchen mißfällt ihm nicht, und da der liebe Freiherr von Masemann seine zitronengelbe Existenz ohnehin nur mit größter Mühe balanciert, da er überlegt, daß die geborene Winkler einige Millionen schwer ist, hält er ohne weiteres beim Bruder um die Hand der Schwester an und beruft sich dabei noch auf das „freundschaftliche und echt kameradschaftliche Verhältnis”, in dem er zu Winkler gestanden. Glücksritterei, Unverschämtheit und Hohn. Für einen Zitronenfalter gerade genug. Die Schwester gibt Winkler nicht her. Wohl aber heiratet er die schöne Hildegard, die besser ist als ihre Umgebung, heiratet das liebe Mädchen, rangiert ihre Familie, schickt den Bruder Leutnant übers große Wasser und quittiert seinerseits den Dienst.
Zwei bösartige Vorfälle geben Veranlassung, daß Winkler nicht länger Offizier bleiben will. Der kleine Willberg hat wieder einmal gespielt; ist dabei dem Garde-Ulanen Gersbach in die Geierkrallen geraten und soll nun fünftausend Mark zahlen. Wozu ist denn Winkler auf der Welt? Der kleine Willberg schreibt ihm kategorisch, er brauche das Geld — Spielschuld. Und Winkler ist auch bereit, die Summe dem wartenden Kameraden zu schicken. Was liegt daran? Frech ist es ja, daß dieser kleine Willberg wiederum und als sei es das natürlichste Ding auf Erden Pump anlegt. Aber die Sache ist zu ernst, als daß es für den Retter ein Schwanken gäbe. Willberg ist in dem bekannten Dilemma: auf die Minute zahlen oder eine Kugel! Unglücklicherweise ist gerade ein kleines Theatermädel bei Winkler. Seine Geliebte. Ein gutes, gescheites Ding, die einem rücksichtslosen Verführer einst zum Opfer fiel. Wie sie hört, daß dem Willberg geholfen werden soll, bittet sie: „Nein! Hilf allen, nur dem nicht!” Und es ergibt sich, daß der kleine Willberg es war, der sie einst verführt hat, nicht nur listig verführt, auch die Gesundheit der bis dahin Makellosen hat der kleine Willberg ohne Bedenken gefährdet. Ueberhaupt: so viele von den armen Mädels, die dem Vergnügen der vornehmen jungen Herren dienen, büßen ihre Gesundheit ein. Und „fast jedesmal”, wenn so ein junges Ding sein Blut vergiftet sieht, „ist es ein junger Leutnant gewesen”, der sie wissentlich ins Unglück brachte. Georg Winkler verweigert das Geld. Nach diesen Aufklärungen ist der kleine Willberg ein Schurke. Er hilft dem Schurken nicht. Willberg schießt sich tot. Die Sache wirbelt Staub auf. Ein Lärm geht in der Presse los. Tausend Schmutzereien, die Willberg verübt hat, kommen jetzt ans Licht. Der Garde-Ulan, der gefragt wird, erklärt, die Spielschuld sei beglichen worden. Allein das ist nicht wahr. Vielmehr hat Gersbach den kleinen Willberg noch gemahnt und damit seinen Tod veranlaßt. Das bleibt freilich ein Geheimnis. Aber daß Georg Winkler ihm den Beistand weigerte, wird ruchbar, und die Kameraden werfen jetzt erst recht einen Haß auf ihn. Ihn beschuldigen sie, daß die Zitronenfalter nun kompromittiert sind. Er hätte helfen müssen, trotz alledem. Man ist in erster Linie Kamerad. Jetzt auf einmal.
Die zweite Geschichte: Soldatenmißhandlungen. Hauptmann Warnow hat den Ehrgeiz, die beste Kompagnie zu besitzen. kein Mann wird im Dienst grob angefahren. Kein Mann wird gestraft. Die Straflisten seiner Kompagnie sind leer. Es ist einfach prachtvoll. Dafür nehmen sich die Unteroffiziere jeden begriffsstutzigen oder lässigen Soldaten „einzeln” vor. Das heißt: bei geschlossenen Türen, des Nachts, werden die armen Bursche gepeitscht und gepeinigt, daß die Fetzen fliegen. Dann müssen sie auf die Bibel schwören, nichts davon zu melden. Hauptmann Warnow drückt ein Auge zu und will nichts davon wissen. Winkler deckt das Verbrechen auf, ein gigantischer Skandal in der Presse ist die Folge. Verurteilungen der Unteroffiziere. Auch Warnow wird für vier Wochen auf Festung geschickt. Seine Majestät sind wütend, die Zitronenfalter in Ungnade. Natürlich ist Winkler an allem schuld. Geprügelt wird überall, in der ganzen Armee. Das weiß jeder Mensch. Aber nur ein Bürgerlicher konnte die Sache an die große Glocke hängen. Deshalb atmet das Offizierskorps der Zitronenfalter auf, als es bekannt wird, daß Winkler seinen Abschied nimmt. Jetzt wird man wieder unter sich sein. Und in ihrer Freude werden die adeligen Herren Offiziere zu Winkler liebenswürdig. Sie lassen sich's sogar gefallen, daß er das großartige Abschiedssouper zahlt, während sonst bei solchen Anlässen das Gegenteil Tradition ist. Der Oberst hält eine Ansprache an den Scheidenden, die Regimentskapelle spielt: „Ich hatt' einen Kameraden” . . . So klingt das Buch aus.
Man hat es, als dieses Werk vor kurzem auf dem Markt erschien, nicht gleich beachtet. Verriet auch der Titel schon eine gewisse Schärfe, so blieb man doch vertrauensselig. Der Freiherr von Schlicht, Verfasser so vieler im ganzen harmloser Militärhumoresken. Was konnte denn da Schlimmes dahinterstecken? Allerdings, Freiherr von Schlicht war oft im „Simplizissimus” zu lesen, und Graf Baudissin schrieb gelegentlich Artikel, in denen er sich kein Blatt vor den Mund nahm. Aber daß der Mann mit einem Male eine Sprengbombe schleudern werde, konnte man wahrhaftig nicht ahnen.
Jetzt wird natürlich ein Rummel ohnegleichen losgehen. Ich sage ohnegleichen, denn was ist Bilse gegen den Grafen Baudissin? Ein kleiner, namenloser Leutnant, der sich seine Galle frei schreiben wollte. Ein plötzliches Pflänzchen, irgendeinem sumpfigen Boden zufällig entschossen. Aber sonst überall in Deutschland, so durfte man noch sagen, ist gesundere Erde, auf der die unvermuteten Bilses nicht gedeihen. Hier aber tritt Wolf Graf Baudissin gegen die Armee auf. Ein Graf gegen die „Kaste” adeliger Garden, ein erprobter und namhafter Schriftsteller, der schließlich mehr riskiert als das bißchen Festung. Sein Roman ist nur knapp um die Routine besser, die Baudissin vor Bilse voraus hat. Sonst ist er künstlerisch genau so wertlos. Aber er ist zusammengestückelt aus allerlei dem wirklichen Leben vom Leib gerissenen Lappen; er ist angefüllt mit Beobachtungen und Aufrichtigkeiten. Und wie zahm ist die Geschichte „Aus einer kleinen Garnison” gegen die Anklagen, die dieser neueste Militärroman erhebt!
Nach diesem Buche sind die deutschen Offiziere — denn von allen ist ja die Rede — eine Rotte von zügellosen, brutalen, geldgierigen und ausschweifenden Gesellen. Die bürgerliche Oeffentlichkeit wäre nach Baudissin einer Schar von organisierten Zechprellern ausgeliefert. Hochstaplern, die der Staat mit Seitengewehr und Vorrechten ausstattet, die er vor dem Gesetz in Schutz nimmt, die er auf das Zivil losläßt als körperliche und moralische Krankheitserreger schlimmster Art. Nach diesem Buche bildet das Offizierkorps in seiner jetzigen Gestalt eine vielfältige Infektionsgefahr für den gesunden Körper des Volkes.
An diesem Buche werden die Deutschen nicht vorbeikommen. Der feudale Garde-Ulan Gersbach sieht bei dem Einweihungsbankett im Regimentshaus einen Bürgerlichen. Es ist der Architekt, der die Pläne des Baues unentgeltlich entworfen, aus Anhänglichkeit an das Regiment, bei dem er einst gedient hat. Man mußte ihn einladen. Es ging nicht anders. und der adelsstolze Gersbach sagt, das sei die „glänzendste Art des Dankes. Der Mann wird bis an sein Lebensende von der Erinnerung dieses Abends zehren.” Weil er mit Aristokraten gespeist hat!!! Ist es wahr, daß solche Ansichten noch in der deutschen Armee existieren, ist es richtig, daß die vornehmsten deutschen Offiziere noch so tief im borniertesten Mittelalter stecken, dann wird man sehr bald für eine gründliche Abhilfe sorgen müssen, wenn die deutsche Armee nach der Schlappe von Forbach nicht eine ernsthafte Niederlage erleben soll.
M.F.
„Niederschlesische Zeitung” vom 25.Febr. 1904
Der traurige Fall Dippold hat ein geflügeltes Wort gezeitigt: Der Vater des totgequälten, armen Knaben konnte sich vor dem Bayreuther Gerichte nicht versagen, auf seine älteren Söhne als „erstklassige Menschen” hinzuweisen. Seitdem hat sich der Volksmund in scharfer Ironie dieses Ausdrucks bemächtigt. Auch der Graf Wolf v.Baudissin, der sich unter dem Namen „Freiherr v.Schlicht” durch eine Reihe netter Militärhumoresken bekanntgemacht hat, wählte ihn als Überschrift zu einem „Roman aus der Offizierskaste”, der in diesen Tagen erschienen ist. Was er bezweckt, verkünden sensationell gefärbte Verlagsanzeigen aller Welt: „Der bekannte Verfasser, selbst Aristokrat und Offizier a.D., greift die Sonderstellung des Offiziers in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben an, die Geldheiraten, Schuldenmachen und sogar sittliche Verfehlungen zur Folge hat. Der sogenannten guten Gesellschaft rechnet er den größten Teil der Schuld an bei der Züchtung dieser 'erstklassigen Menschen'. Das Buch wird besonders auch durch die Persönlichkeit des Verfassers Aufsehen erregen, es kommt in diesen Kreisen selten vor, daß jemand so scharfe Hiebe an die Standesgenossen austeilt.”
Also ein militärischer Sensationsroman, wie er nach dem Erfolge von Beyerleins „Jena und Sedan” und nach dem schlechten, aber durch die Forbacher Enthüllungen verhängnisvoll gewordenen Roman des Leutnants Bilse die buchhändlerische Spekulation reizen mußte? Aber bloße Sensation darf man von einem Autor nicht erwarten, der den geschilderten Kreisen seiner Abstammung und seiner Erziehung nach so eng verbunden ist oder doch war. Genaue Sachkenntnis wird ihm nicht abzusprechen sein, mögen auch trübe Erfahrungen seine Kritik verbittert, seine Feder vergiftet haben. Und dieser Mann gibt ein Bild des deutschen Offizierkorps, so widerwärtig und abstoßend, so voller Verwahrlosung und Gemeinheit, daß Beyerleins und gar Bilses Schilderungen dagegen ganz und gar verblassen. Ist es wahr, dann wehe Deutschland! Ist es unwahr, dann muß in manchen militärischen und aristokratischen Kreisen eine tiefe Gärung, eine verzweifelte Stimmung herrschen, wie nie zuvor!
Der Roman des Grafen Baudissin spielt in einem Garderegiment von ausschließlich adligem Charakter. In dieses Regiment soll ein bürgerlicher Millionärssohn durch die Gunst des Monarchen versetzt werden. Der Kampf des feudalen Offizierkorps gegen den Eindringling hat schließlich Erfolg. Das ist der eigentliche Inhalt des Buches, das als Kunstwerk sehr niedrig bewertet werden muß. In diesem Offizierkorps aber herrschen alle Laster und Untugenden, die man sich denken kann, von der Völlerei, Weiber-, Spiel- und Schuldenwirtschaft angefangen bis zu den Soldatenmißhandlungen. Halbwegs anständig erscheint nur der bürgerliche Offizier. Die anderen sind ungebildet: „Es gibt kaum einen Stand, in dem die allgemeine Bildung so kläglich und erbärmlich ist wie bei den Leutnants, ich hätte beinah gesagt, sie können nicht einmal richtig lesen und schreiben.” Die Ehe und Liebe in diesen Kreisen wird nur als Geschäft und niedrigste und roheste Sinnlichkeit geschildert. „Wir leben lustig drauf los, wir vergeuden unser Geld und unsere Gesundheit, und wenn wir dann eines Tages am Ende sind, dann sehen wir uns auf den Bällen nach einem reichen jungen Mädchen um, das uns wieder flott macht.” Wie die Offiziere sonst leben, lehrt der Stoßseufzer einer Theaterdame. „Wie kommt es denn, daß fast alle, die bei uns krank sind, es ihrem Verkehr mit den Offizieren verdanken? Wir wissen und hören ja wenig von unseren Ballettdamen, aber so viel hören wir doch, daß häufig genug Erkrankungen vorkommen, und fast immer ist ein Leutnant daran schuld.” Aber auch die Damen der Offizierskreise sind sittlich entartet, die Mädchen erzählen sich „mit wahrhaft zynischer Offenheit, wie sie es anstellen, um die Eltern zu täuschen und die etwaigen Folgen ihres Verkehrs zu verhindern.” Eine Dame scherzt: „Wenn ich heirate, mache ich gerade meine zwölfte Hochzeitsreise”, und „die Freundinnen hatten sich halbtot lachen wollen und sie um ihr Glück bei Männern beneidet.” Eine Majorstochter wird verkuppelt, damit ihre Angehörigen ihre Schulden bezahlen können; die Schwester eines Offiziers prostituiert sich mit Wissen ihres Bruders, und von ihrem Gelde „trank der Leutnant Sekt und spielte den vornehmen Kavalier”.
In der Armee selbst herrscht nach Graf Baudissin vom untersten bis zu den höchsten Offizieren eine ewige Angst, den Dienst unfreiwillig verlassen zu müssen und damit aus dem Glanze ins Dunkel und in wirtschaftliche Misere zu kommen. Darum die unablässige Sorge, daß wenigstens äußerlich alles gut verläuft, auch wenn dieser äußere Erfolg von Offizieren und Unteroffizieren nur durch Soldatenmißhandlungen erzwungen werden kann. „Kein Mensch arbeitet heute mehr an der Ausbildung der Armee, jeder kämpft um seine Existenz, einem jeden droht täglich aus tausend Gründen die Verabschiedung, und lediglich um diese so weit wie möglich hinauszuschieben, werden gegen die Untergebenen aller Grade Ungerechtigkeiten begangen, die zum Himmel schreien. Über Leichen geht heutzutage der Weg zum Avancement.” Die Vorgesetzten sehen nichts von Spiel und Schulden und anderen Mißständen, man vertuscht und drückt die Augen zu, damit kein Skandal entsteht, der die Stellung kosten kann. Schulden werden in Menge gemacht, aber trotz Ehrenscheins nicht eingelöst; selbst die Kellner und die eigenen Burschen werden angepumpt. Das ist nötig, um das öde, schwelgerische Leben mitzumachen: „Bald ist hier ein Fest, bald dort, Liebesmahl, Gästetag, Geburtstagsfeier, Gartenfest mit Damen, Regimentsjubiläum, Abschiedsessen, selbst derjenige, der solide sein will, kommt aus der Sektflasche gar nicht mehr heraus, er muß einfach mitmachen.”
Diese Proben werden genügen, um die Pestatmosphäre zu kennzeichnen, die diesen „Roman aus der Offizierskaste” beherrscht. Wie Zuchthäusler und Tollhäusler erscheinen uns die Gardeoffiziere des Grafen Baudissin. Ist das die Wirklichkeit? Die Gebrechen des militärischen Systems mögen zumteil richtig geschildert sein, die Personen sind offenbar Zerrbilder. Einzelne skandalöse Vorkommnisse und Erscheinungen liegen anscheinend der Schilderung zu grunde, aber sie sind in unzulässiger Weise verallgemeinert. Ein Offizierskorps mit einer derartigen Führung, wie sie hier angenommen wird, ist einfach in Wirklichkeit unmöglich. Ehe man sich entschließt, an die Wahrheit dieser „erstklassigen Menschen” zu glauben, sie für Typen der „Offizierskaste” zu halten, müssen überzeugende Beweise vorhanden sein, nicht bloße Behauptungen, die stark nach Sensationsmache schmecken.
Bei alledem bleibt der Roman des Grafen Baudissin ein bemerkenswertes Zeitdokument. Wenn ein derartiges Buch erscheinen und auf einen großen Leserkreis rechnen kann, dann muß die Strömung gegen den Militarismus mächtig angewachsen sein und auch die Offizierskreise selbst ergriffen haben, dann muß der Widerwille gegen die literarische Schönfärberei des Offizierslebens und den gesellschaftlichen Götzendienst mit der Uniform sich weiter Volkskreise bemächtigt haben. Wo sind sie hin, die Tage der Veilchenfresser, des Moserschen Leutnantstyps Reif-Reiflingen, der Winterfeldtschen Humoresken, wo dem unwiderstehlichen Schwerenöter in Uniform alle Herzen zufielen? Schwer und wuchtig wird heute die Offiziersfrage behandelt; „Fritzchen”, und „Abschied vom Regiment”, „Rosenmontag” und „Zapfenstreich”, Hans v.Kahlenbergs und Georg v.Omptedas Romane, sie alle schlagen ernste Töne an. Die Abwendung von der Schönfärberei des Lebens zur Ausgestaltung des Charakteristischen, die die Literatur schon vor Jahren vollzogen hat, wird nun auch dem Offizier gegenüber nachgeholt.
Es ist eine scharf kritische Luft, die heute den deutschen Ofiizier umweht. Deshalb ist es nur gerecht, wenn wir ein maßvolles, wohlwollendes Urteil dem Artikel der „Welt am Montag” beifügen. So hat jüngst F.v.Zobeltitz, auch ein früherer Offizier in der „Neuen Freien Presse” gegen die moderne Darstellung des Offiziers Protest erhoben; im Lustspiele würde er unterschätzt, im Drama verzeichnet, in der Karikatur geflissentlich gefälscht. „Der deutsche Offizier in seiner Gesamtheit ist ein ernster Arbeiter. Ihn ruft schon in früher Morgenstunde der Dienst, jagt ihn in die Reitbahn und auf den Exerzierplatz, von den Rekruten zum Appell, von der Instruktionsstunde zum Kriegsspiel, vom Drill in das Bureau; seine Mußestunden gehören der Vorbereitung zur Kriegsakademie und zum Generalstabe, der Winterarbeit, dem Sprachstudium und der Fachwissenschaft; seine Mußestunden gehören freilich auch der Geselligkeit, und wer da weiß, welche ungeheuren Anforderungen der Dienst heutzutage an seine Fähigkeiten stellt, der kann nur erstaunt darüber sein, mit welcher Elastizität sich unser Offizier nach des Tages Arbeit noch auf dem Parkett bewegt. Der deutsche Offizier von heute ist auch ein durch und durch gebildeter Mann. Die meisten Offiziere haben das Abiturientenexamen absolviert; das Kadettenkorps hat den Rang eines Realgymnasiums. Vorurteile hat jeder Beruf und Stand; aber lächerliche Überhebung ist höchstens in vereinzelten Ausnahmefällen zu finden. Gerade in der kleinen Garnison stehen Offizierkorps und Zivil im besten Verhältnisse zueinander.” [siehe: Niederschlesische Zeitung vom 26.Febr. 1904.]
Das sind Worte, die dem bürgerlichen Empfinden jedenfalls hundertmal mehr entsprechen, als die grelle Tendenz des Graf Baudissinschen Romanes.
Im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung mit dem Militarismus und den Zuständen im Offizierkorps, ist eine Meldung interessant, die am 14.April 1904 auch in der „Niederschlesischen Zeitung” stand, daß nämlich die Gattin von Georg v.Ompteda zusammen mit einem Offizier ihren Ehemann verlassen hat und geflüchtet ist. [zurück]
„Berliner Tageblatt” Nr. 106, Sonnabend, 27. Februar 1904
Freiherr von Schlicht.Erstklassige Menschen. Roman aus der Offizierskaste. Berlin, Otto Janke. –
General von * * *Aus einer großen Garnison. Cäsar Schmidt, Zürich.
Unangenehmer hat sich schwächlicher Nachahmungstrieb kaum je gezeigt als jetzt, wo hinter Beyerleins schönem Buch „Jena oder Sedan?” eine trübe Flutwelle militärischer Tendenzbelletristik einherströmt. Nach Beyerleins großem Rundgemälde kam Bilse, ein wohl gutgemeintes, aber in Stil und Anschauung unsauberes Buch. Nur die gerichtliche Maßregelung war ihm der Hebel zu einem Erfolge, um den unsere besten und feinsten Federn vergeblich werben. In Deutschland verboten, kam und kommt es nun heimlich aus dem Auslande in die Häuser, auf der Hintertreppe, die seiner Natur gemäß ist.
Aber das Buch scheint dem plötzlich aufgerüttelten Bedürfnis nach Kasernen- und Alkovenhautgoût noch nicht zu genügen. In täglich wachsendem Maße erhält die „kleine Garnison” Konkurrenz. Es wäre richtiger, alle diese Schreibereien mit den Anreißertiteln im Papierkorb zu begraben. Jedoch kann die Guillotine des Totschweigens ihre gewünschte Tätigkeit hier nicht mehr verrichten. Ein Teil der Presse sieht in solchen Büchern menschliche Dokumente; langatmige Artikel bauschen die kleinen Spekulationen schriftstellerischen und buchhändlerischen Erwerbssinns zu Zeichen der Zeit auf. Man muß also sprechen. Aber man muß es ohne alles Pathos tun und dem deutschen Lesepublikum schlank und rank sagen, daß diese Bücher sämtlich des Lesens nicht wert sind. Wer sich aus Büchern Kenntnis von Menschen verschaffen will, der wird sie hier nicht finden. Er wird nur maskierte Gebilde antreffen, die wie die Miniatursoldaten eines Kriegsspiels zu irgend einem außerhalb der Kunst liegenden Nutzen hierhin und dorthin dirigiert werden. Er wird zwar sehr viel sogenannten „Naturalismus” entdecken mit einer brünstigen Gier, sich in der Schilderung des Unerlaubten zu überbieten, aber er wird nirgends die Wahrheit des Lebens bemerken. Keine Seite, wo wir nicht grelle Unwahrscheinlichkeiten hören. Karikaturistisches, Pamphletistisches, schlechthin Erlogenes mischt sich mit einzelnen Wirklichkeitszügen zu einem verworrenen Bild von absoluter innerer Leere. Eitel Geflunker!
Es ist um so peinlicher, je mehr die Verfasser sich als berufene Richter brüsten. Wenn sie ein so vielspältiges, fein organisiertes, willensunfreies Wesen wie das deutsche Heer vor ihr Tribunal fordern, wäre es die höchste Pflicht, pedantisch zu objektivieren, wenn auch die Einzelerscheinung aus dem Charakter des Ganzen erklärt werden dürfte. Das hat Beyerlein getan, und vor ihm taten es die Ompteda, Kahlenberg, Stratz und andere. Aber in der Garnisonliteratur Bilseschen Kalibers herrscht ohne Beschränkung der unverhüllte Subjektivismus, dem persönliche Verärgerung oft noch einen besonders gehässigen Ton gibt. Jedes schmutzige Detail wird verallgemeinert, und aus Zufälligkeiten werden weitwirkende Schlüsse gezogen. Die größte Mehrzahl der Figuren watet im Sumpfe der Verkommenheit. Einzelne Lichtgestalten werden dagegengesetzt, in ihrer himmelblauen Fehlerlosigkeit ebenso unglaubwürdig wie jene. Alles in allem Tendenzschreiberei schlimmster Art, ein durchaus amusisches Gebaren, in dessen Anblick man nur sagen kann: „Vor Berührung wird gewarnt!”
Es ist schmerzlich, diesen Ruf auch gegenüber einem Autor tun zu müssen, dem man sonst nicht den Anspruch auf schriftstellerische Achtung versagt hat. Es ist Freiherr v.Schlicht (Wolf Graf v.Baudissin). Seine Militärhumoresken, nicht frei von allerlei Klownerien, waren doch immer kleine Genrestücke mit eigenem Leben. Es lag etwas persönliches nicht nur in der Form, sondern auch in der Art, die Kasernenwelt von dem höheren Standpunkt des spöttelnden Cynikers aus zu betrachten. Nun, da er sich in den Bilse-Strudel hat hineinreißen lassen, verlor er sein Bestes. Es ist nichts übrig geblieben als die schlechte Kopie eines schlechten Vorbildes. Wahrlich, es ist ein Ruhm, als Epigone des unreifen Jünglings aus Forbach aufzutreten!
Schlichts Roman spielt in einem vornehmen Garderegiment. Es ist durchweg adlig bis auf den einen Leutnant, der auf besonderen Wunsch des Königs dem Offizierkorps eingegliedert wird. Dieser Bürgerliche ist der Tugendbold. Alle seine Kameraden sind, wie der alte Glaßbrenner einmal sagte: „Kavaliere, die Gott nur erschaffen hat, um vom Adel zu sein.” Sie sind durchaus lasterhaft; nichts Unmenschliches ist ihnen fremd. Böswillige Schuldenmacher, Verführer, Prasser, Spieler, platzend vor Kastenstolz, von unnennbaren Krankheiten verseucht, Menschenschinder nach unten, Liebediener nach oben – das sind sie alle mit kaum bemerkbaren Nüancen. So schildert ein Aristokrat und früherer Offizier die Kameraden und Standesgenossen. Er hat scheinbaren Grund, sich sachverständig zu nennen. Aber jeder Laie gewinnt angesichts dieser Übertreibungen das Recht, ihn des Vergehens gegen den heiligen Geist der Wahrheit zu zeihen. Auch wer die ungesunde feudale Inzucht beklagt, die in unseren „Eliteregimentern” getrieben wird, auch wer den Militarismus an sich verwirft und von der höheren Kultur eines unbewaffneten Zeitalters träumt, muß sich mit Widerwillen abwenden von dieser dickbändigen Einseitigkeit, die sich mit einer einzigen Ausnahme sogar auf die Schilderung der Frauen erstreckt.
Die zweite Bereicherung der Garnisonliteratur, von der hier zu reden wäre, nennt sich „Aus einer großen Garnison”. Es genügt indessen, zu sagen, daß der Umschlag des Buches dreist der Volksausgabe Beyerleins nachgemacht ist, daß als sein Erscheinungsort London, als Kommissionsverlag Caesar Schmidt in Zürich angegeben ist. Der Autor ist durch drei Sterne und den Generalstitel bezeichnet. Der „General” schreibt etwa wie der noch unvergessene „Scharfrichter von Berlin”.
Dies alles zusammengenommen ist wohl Steckbrief genug.
Ein neuer Roman aus dem deutschen Offizierskorps.
Das deutsche Heer hat mit der sogenannten schönen Literatur entschieden Pech. Nachdem Franz Adam Beyerlein die bedenkliche Frage aufgeworfen hatte, ob das deutsche Heer nach „Jena oder Sedan” marschiere, nachdem Leutnant Bilse einen Schlüsselroman lieferte, dessen Authentifizierung ein Militärgericht erfolgreich besorgte, nachdem die „kleinen” und „großen” Garnisonen in der Kolportageliteratur wie Unkraut emporwuchern, so daß kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendein Verlag einen neuen Bilse editiert — nach all diesen Antezedenzien erscheint schon wieder ein aufsehenerregender Militärroman aus einer Feder, der man auch schon bisher viel (nach unserer Meinung freilich viel zu viel) Aufmerksamkeit schenkte. Freiherr v. Schlicht, im „bürgerlichen Leben” Wolf Graf Baudissin genannt, bringt einen ernsten Roman auf den Markt. „Erstklassige Menschen”, Verlag Otto Janke in Berlin.
Wir haben den Autor hier schon einmal vorgestellt: Ursprünglich Offizier im 2. hanseatischen Infanterieregiment Nr. 76, verließ er als Oberleutnant die Reihen des Heeres, um sich ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen. Ueber sein letztes, vor einem halben Jahre erschienenes Buch „Ein Ehrenwort” schrieben wir am 10. Dezember v.J. in „Danzers Armee-Zeitung”: „Freiherr v. Schlicht besitzt ein kleines nettes Talentchen, das für gewisse humoristische Spässe meistens ausreicht. Der Beifall, mit dem alle jene diese Spässe aufnahmen, die sich immer freuen, wenn dem Offizierskorps eins am Zeug geflickt wird, scheint ihm nun in den Kopf gestiegen zu sein, so daß er sogar ernst wird und als Reformer auftritt. Doch da wurde die Seifenblase zu groß und zersprang.”
Das schrieben wir, wie gesagt, nach dem „Ehrenwort”, einem im Grunde harmlosen Büchlein, das zeigt, wie der militärische Ehrbegriff unter Umständen zu absurden Konsequenzen führen kann. Im Vergleiche zu den nunmehr erschienenen „Erstklassigen Menschen” ist jenes Bändchen eine Kleinkinderfibel. Doch auch Beyerleins idealistische Kritik und Bilses ordinäres und hilfloses Reportertum wirken gegen die „Erstklassigen Menschen” wie Orangenblütenwasser. Dem Grafen Baudissin gebührt der Ruhm, mit seinem Werke einen Gipfelpunkt erklommen zu haben, über den hinaus kein Weg mehr denkbar ist. So viel Niedertracht, so viel Laster, Schwachsinn, so viel Dreck — man entschuldige das deutliche Wort — haben wir noch nie beisammen gesehen. Das deutsche Offizierskorps gleicht in seiner Darstellung einem Lumpengesindel, das man in den Verbrecherkneipen des dunkelsten London nicht zu finden können glaubt.
As Tendenzwerk hat damit der Autor sich allerdings selbst das Urteil gesprochen: Der Stempel der Unwahrhaftigkeit ist dieser Arbeit zu deutlich aufgedrückt. Vieles mag faul sein im deutschen Offizierskorps. Aber ein Offizierskorps, in dessen Reihen noch Kämpfer aus dem Kriege 1870/71 stehen, ein Offizierskorps, das, wo immer es noch auftrat, stets in Ehren bestand, kann auf eine solche Stufe nicht gesunken sein, wie Herr v. Schlicht es uns glauben machen will.
Der Roman spielt in Berlin, in dem — natürlich fingierten — Gardeinfanterieregiment Franz Ferdinand Leopold, das im Volksmunde wegen der gelben Achselklappen die „Zitronenfalter” genannt wird. Die Garderegimenter nehmen, wie bekannt, keine bürgerlichen Offiziere auf. Die letzte Rang- und Quartierliste zählt in den Garderegimentern von Berlin und Umgegend ausschließlich adelige Namen. Diese Exklusivität wird nun in dem Roman durchbrochen. Ein besonderer Günstling des Landesherrn, ein millionengesegneter bürgerlicher Fabrikantensohn, wird unter die feudalen Zitronenfalter versetzt. Der Widerstand des adeligen Offizierskorps gegen den Eindringling ist das Thema des Romans. Das Offizierskorps kennt keine höhere Aufgabe, als den Bürgerlichen zu beseitigen und mit dem Erfolg des Adels schließt der Roman: die Zitronenfalter sind wieder unter sich.
Mit der Einweihung eines neuen überprächtigen Regimentshauses beginnt die Erzählung. Die Offiziere schwimmen in Seligkeit, daß sie nun in ihrem Kasino mit den Palasträumen der noch vornehmeren Kavallerieregimenter konkurrieren können. Seite 4 wird der Grundton angeschlagen:
Ein Ulanenleutnant, der als großer Spieler allgemein bekannte Baron Gersbach, klemmte sich sein Monokel ein und musterte auch seinerseits die Tafelrunde, dann wandte er sich an seinen Nachbar:
„Wirklich standesgemäße Gesellschaft, an dem ganzen Tisch nicht ein einziger Bürgerlicher.”
„Doch — einer.”
Der Ulan klemmte sein Monokel noch fester ein, um den Mann herauszufinden.
„Wer ist es denn?” fragte er endlich.
„Der Architekt, der uns das Haus gebaut hat.”
„Ach so, der — na, der zählt doch gar nicht mit. Aber wie kommen Sie denn eigentlich dazu, den Mann einzuladen?”
„Wir haben es lange hin und her überlegt, aber es ging nicht gut anders, Der Mann hat früher als Einjähriger bei uns gedient und aus Anhänglichkeit und aus Liebe zum Regiment hat er uns die Baupläne kostenlos angefertigt.”
In der Weise schreitet der Roman fort. Seite für Seite in wüstem Einerlei, nichts wie Sekt, Völlerei, Spiel, Schulden, Hochstapeleien, Weiber, Prostitution, Geldheiraten, wertlose Ehrenworte und Ehrenscheine, Syphilis und zur Abwechslung Soldatenmißhandlungen. Der einzige leidlich anständige und intellektuell normale Offizier ist jener einzige bürgerliche Offizier, der zum Vater einen durch Arbeiterwohlfahrt zum Millionär gewordenen Fabrikanten hat. Und auch der ist schließlich nur anständig, weil es ihm seine Mittel erlauben, und nur insoweit, als er nicht gerade, wie die anderen, moralische Verbrechen gewerbsmäßig verübt; denn auch der edle Fabrikantensohn, die Krone des Bürgertums, begibt sich unmittelbar von einer illegitimen Hochzeitsreise mit einer kleinen süßen Olga vom Theater zu dem legitimen Altar, an dem ihm das adelige Offiziersfräulein angetraut wird. Mit diesem bürgerlcihen Offizier ist aber das auch für abgehärtete Leser moralisch erträgliche Menschenmaterial erledigt. Das andere ist nur Unflat, der sich mit einer zynischen Selbstverständlichkeit darbietet.
Da ist ein Major a. D. und seine Gattin. Bei einer militärischen Besichtigung ist er verunglückt. Mit M. 4000 Pension zieht er sich in eine kleine Stadt zurück. Sein Sohn ist Leutnant. Der Alte wie sein Sprößling ersticken in Schulden, sie pumpen alles an und bezahlen niemand, auch den kleinen Handwerker nicht; sie wenden die schimpflichsten Ausflüchte und Vorspiegelungen an. Ihre einzige Hoffnung ist die schöne Tochter. Die soll sich mal reich verheiraten, und wäre es nur mit einem Bürgerlichen. Jahr für Jahr wird sie nach Berlin geschickt zu wohlhabenden Verwandten, einem Hauptmann bei den Zitronenfaltern; alle Angelkünste werden brutal angewandt, immer vergebens. Die größte Sorge der Eltern und des Bruders ist, sie könnte verblühen, ohne daß es ihr gelänge, den Tölpel mit ihren Reizen einzufangen, der für die ganze Familie die Schulden bezahlt. Das Mädchen ist den Ihrigen noch viel zu spröde und ungeschickt. Und so gibt Brüderchen seine Kuppelratschläge:
„Du hast in den letzten Jahren mächtig eingepackt. Als ich Dich das letztemal sah, bekam ich wirklich einen Schrecken. Verstehe mich recht, Du bist noch immer ein hübsches Mädel, aber im Vergleich zu früher! Na, die Hauptsache ist ja, daß Du diesem Winkler, oder wie er heißt, gefällst . . . Papa schrieb mir, er hätte aus Anlaß der frohen Nachricht sofort seinen Weinkeller komplettiert . . . Uebrigens hat Tante auch berichtet, Dein zukünftiger Schwiegervater fabriziere Knöpfe. Scheußliche Vorstellung, ist das wirklich wahr? Na, die Hauptsache ist ja schließlich, daß er genügend Knöpfe hat. Halte ihn Dir nur warm, Du hast ja immer noch schöne Augen, gebrauche sie nur ordentlich, dann hast Du ihn sicher,”
Wolf Graf Baudissin erzählt, wie in der ganzen Armee vom untersten bis zu den hohen Offizieren eine ewige Angst herrscht, infolge irgendeines Ungefährs den Dienst verlassen zu müssen. Die Pensionierung bedeutet für den reichen Offizier den Sturz vom gesellschaftlichen Götzen zum Paria, für den armen dazu den wirtschaftlichen Zusammenbruch. In dem unablässigen Kampf um die Existenz wurzeln die furchtbarsten Erscheinungen des Systems: daß nur äußerlich alles glatt und glücklich verlaufe. Daher die Soldatenmißhandlungen, die den Unteroffizieren und Offizieren eine gute Note zwangsweise verschaffen sollen. Daher auch die Sucht, zu vertuschen: „Kein Mensch arbeitet heute mehr an der Ausbildung der Armee, jeder kämpft um seine Existenz, einem jeden droht täglich aus tausend Gründen die Verabschiedung, und lediglich um diese soweit wie möglich hinauszuschieben, werden gegen die Untergebenen aller Grade Ungerechtigkeiten begangen, die zum Himmel schreien. Ueber Leichen geht heutzutage der Weg zum Avancement.” (S. 292) Nur kein Skandal! Der kostet dem Vorgesetzten seine Stellung. Die Technik im Augenzudrücken sei aufs höchste entwickelt. Spiel und Schulden sollen nicht sein, also — man sieht sie nicht. Schließlich führt das System zur Paralyse des sittlichen und geistigen Charakters. Man lebt im wilden Taumel dahin und, wenn es nicht weiter geht, greift man zum nackten Verbrechen und zum Revolver. Aber auch das anständige Durchschnittsdasein wäre von entsetzlicher schwelgerischer Oede: „Bald ist hier ein Fest, bald dort. Liebesmahl, Gästetag, Geburtstagsfeier, Gartenfest mit Damen, Regimentsjubiläum, Abschiedsessen; selbst derjenige, der solid sein will, kommt aus der Sektflasche gar nicht mehr heraus, er muß einfach mitmachen” (S. 223) Natürlich werden Schulden gemacht. Der Herr Oberst weiß es, aber er sagt sich: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Und um Sachen, die mir nicht dienstlich gemeldet werden, brauche ich mich nicht zu kümmern. Ihm liegt seine eigene Zukunft und seine Karriere doch viel mehr am Herzen als die meinige. Ob ich zum Teufel gejagt werde, ist ihm ganz gleichgültig, aber wenn ich gehe, muß er vielleicht mitgehen, deshalb drückt er nicht nur beide Augen, sondern auch beide Ohren zu.” (S. 225)
Wie wird gepumpt?
„Die pumpen alle, vom Hauptmann herunter bis zum jüngsten Leutnant, und selbst der Fähnrich trinkt sich Mut und bittet den Herrn Leutnant ganz gehorsamst um zwanzig Mark. Ich kenne das. Ich habe nie einen Schuldschein erbeten, wenn ich Geld auslieh, aber man hat sie mir immer unaufgefordert gegeben, in solchen Dingen wahrt man die Form und ist immer korrekt, aber eingelöst hat kein Mensch jemals seine Papiere.” (S. 314)
Schlimmer sei die Gleichgiltigkeit in der Auswahl der Personen, die angepumpt werden: Man schont nicht den Kellner und nicht den eigenen Burschen.
Bei solchem Dasein sei jede edlere Geistesbildung ausgeschlossen. „Es gibt kaum einen Stand, in dem die allgemeine Bildung so kläglich und erbärmlich ist wie bei den Leutnants, ich hätte beinahe gesagt, sie können nicht einmal richtig lesen und schreiben” (S. 316) „Wenn sich heutzutage zwei Leutnants des Morgens beim Dienste treffen und wenn der eine dann dem anderen erzählt, daß er gestern bei dem Herrn Geheimrat eingeladen war, dann fragt der andere mit tödlicher Sicherheit zuerst: Gab's was Anständiges zu essen? Und der erste Kamerad, der sonst stolz darauf ist, wegen allgemeiner Geistesschwäche nichts auswendig lernen zu können, schnurrt das ganze lange Menü mit allen Weinsorten herunter.” (S.205)
Doch sie sind wenigstens bei all ihren Lastern Soldaten mit Leib und Seele? Auch darauf antwortet Wolf Graf Baudissin durch den Mund seines bürgerlichen Offiziers: „Ich gebe Dir die Versicherung, von sämtlichen Leutnants würde wenigstens sofort die Hälfte den Abschied einreichen, wenn sie sich finanziell in einer gesicherten Lage befänden. Der beste Beweis für meine Behauptung ist wohl der, daß jeder Leutnant eine reiche Frau sucht. Hat er die gefunden, so geht er entweder gleich oder er bleibt nur noch solange, wie ihm die Sache Spaß macht.” (S. 329)
Die Verwilderung der Geschlechtsmoral wird natürlich am breitesten behandelt. Die Ehe werde als bloßes Geschäft aufgefaßt. „Wir leben lustig darauf los, wir vergeuden unser Geld und unsere Gesundheit, und wenn wir dann eines Tages am Ende sind, dann sehen wir uns auf den Bällen nach einem reichen jungen Mädchen um, das uns wieder flott macht.” (S. 124) „Ich begreife nicht,” äußert einmal der bürgerliche Offizier, „wie reiche Eltern ihr Kind einem Offizier zur Frau geben können. Die Leute müssen sich doch sagen, daß man ihre Tochter nur des Geldes wegen nimmt.”
Da die Ehe nur ein Geschäft ist, so halten sich die Mädchen, Frauen und Männer der vornehmsten Gesellschaft anderweitig schadlos. Die Mädchen erzählen sich gegenseitig „mit wahrhaft zynischer Offenheit”, „wie sie es anstellten, um die Eltern zu täuschen und die etwaigen Folgen ihres Verkehres zu verhindern.” (Seite 118) Von einer Dame wird der Witz kolportiert: „Wenn ich heirate, mache ich gerade meine zwölfte Hochzeitsreise.” „Die Freundinnen hatten sich halbtot lachen wollen und sie um ihr Glück bei den Männern beneidet.” (Seite 120) Ja, es wird sogar ein, allerdings vereinzelter Fall behauptet, daß die Schwester eines Offiziers mit Wissen ihres Bruders gewerbsmäßig prostituierte, „und von dem Gelde, das die Schwester sich so verdiente, trank der Leutnant Sekt und spielte in der Gesellschaft den vornehmen Kavalier.” (Seite 122) Die Offiziere ihrerseits leben nicht minder christlich-keusch. Die süße Olga vom Theater zürnt einmal gelegentlich einer Schäferstunde: „Wie kommt es denn, daß fast alle, die bei uns krank sind, es ihrem Verkehr mit den Offizieren verdanken? Wir wissen und hören ja wenig von unseren Ballettdamen, aber soviel hören wir doch, daß häufig genug Erkrankungen vorkommen und fast immer ist ein Leutnant daran schuld.” (Seite 144)
So also sieht es im deutschen Offizierskorps aus, nach dem Zeugnis des Herrn Grafen Baudissin. Eine Kritik werden wir uns natürlich ersparen. Dieses Buch kritisiert sich wahrhaft selbst. Aber zum Schluß können wir uns doch nicht versagen, als Pointe die wenigen Zeilen herzusetzen, mit denen der Autor sein Werk in der Berliner „Zukunft” vom 27.Februar selbst anzeigt: „Den ,Erstklassigen Menschen' das Recht des Standesbewußtseins zurückzugeben, ihnen zu zeigen, daß ihre Ausnahmsstellung sie zwingen muß, in allen Stücken untadelhaft und rein zu leben: Das ist der Zweck des Buches.”
Ob wohl der Autor selbst zu glauben wagt, daß dieser Zweck durch ein solches Werk gefördert wird? Oder ob ihm nicht eher nur der eine Zweck vorschwebte,ein möglichst krasses Werk zu schreiben, um möglichst viel Aufsehen zu machen, um möglichst viele Auflagen und Tantiemen zu erzielen?
Die Antwort dürfte nicht schwer fallen.
Reichstag 49. Sitzung
Freitag, 4. März 1904, 1 Uhr.
Am Tisch des Bundesrats: v.Einem
Auf der Tagesordnung steht die zweite Beratung des Militär-Etats. Dieselbe beginnt bei den dauernden Ausgaben mit dem Titel Gehalt des Kriegsminister. . . . . .
Abg. Bebel (Soc.): . . . . Die Thätigkeit der Offiziere ist gewiß eine sehr geisttödende. /Lärm rechts.) Ich begreife es vollkommen, daß infolgedessen bei den jungen Offizieren das Bedürfnis entsteht, sich einmal auszutoben, Ausschreitungen und Allotria zu begehen, die die Armee diskreditieren müssen. Es war gewiß niemandem unangenehmer, als dem Kriegsminister, daß der Roman Bilses „Aus einer kleinen Garnison” erschien, und daß vor dem Kriegsgericht alles als wahr festgestellt wurde. Der Kriegsminister sagte, es giebt nur ein Forbach, aber die neueren Vorgänge in Pirna, wo eine Offiziersgattin sich geradezu als eine Art Messalina erwies, sowie eine Anzahl weiterer Meldungen aus verschiedenen Städten stehen dem entgegen. In seinem Roman „Erstklassige Menschen” giebt Graf Baudissin Schilderungen der Zustände eines Garde-Regiments, die, wenn sie auch nur zu einem Drittel wahr sind, eine Unmasse von Korruption, Verderbnis und Sittenlosigkeit verraten. (Anhaltende Unruhe rechts. – Rufe: Nichts ist wahr!) Ich konstatiere nur die Thatsache. Es ist Sache der Militärverwaltung, Klarheit zu schaffen! (Großer Lärm und Widerspruch rechts.) Wenn die Miltärverwaltung ernsthaft Klarheit haben will, so kann sie auch vor einem Civilgericht das nötige herbeiführen! Aber nach Forbach, wo man auch nicht geglaubt hat, daß es wahr sei, wird man zu solcher „Klarheit” nur noch wenig Neigung verspüren! (Sehr richtig! bei den Socialdemokraten. – Ruf rechts: Es ist ein Lump! – Große Unruhe.) Ich konstatiere, daß Sie (nach rechts) einen Schriftsteller, der zu Ihren Kreisen gehört, als Lumpen bezeichnet haben. Graf Baudissin wird sich jetzt wohl darüber etwas deutlicher aussprechen müssen, ob er seinen Roman als Phantasiegebilde oder als Nacherzählung der Wirklichkeit gedacht hat. – . . . .
Kriegsminister v.Einem: . . . . . Ich halte diese Angriffe gegen das Offizierkorps für außerordenlich vaterlandsgefährlich. Hier heißt es: Warum sollen die Offiziere der erste Stand sein? Herunter vom Piedestal! Dann kann man aber in denselben Blättern bei der Beschreibung ausländischer Armeen lesen, sie taugten nichts, weil der Offizierstand eine gänzlich untergeordnete Bedeutung einnehme. (Hört! Hört! rechts.) Und hier soll er heruntergerissen werden, obwohl er der Führer der Nation ist, sie erzieht? (Lautes Lachen bei den Socialdemokraten.) Durch das, was er im Kriege als Führer des Heeres geleistet hat, hat er sich den Dank der Nation für alle Zeiten gesichert. Seitdem hat er in unentwegter Treue, Hingebung und Arbeit seinen Dienst gethan und fest zu seinem allerhöchsten Kriegsherrn gestanden. Und trotzdem ist noch kein Stand so beschmutzt worden, wie der Offiziersstand im Baudissinschen Buche und im „Simplicissimus”. Mit Recht nennt diesen die „National-Zeitung” den tödlichen Bacillus, der jedes Ideal, eines nach dem andern zu ertöten sucht. (Zuruf bei den Socialdemokraten: Selbst den Lieutenant! Stürmische Heiterkeit.) . . . . .
„Bielitzer Volksstimme”, III. Jahrgang, Nr. 10, Freitag, 4. März 1904
Aus den sittlichen Niederungen des Militarismus.
Den berufsmäßigen militärischen Stützen von Staat, Thron und Altar geht es jetzt herzlich schlecht. Es ist bei den Schriftstellern Mode geworden, militär-kritische Stoffe zu verarbeiten und die sittlichen Begleiterscheinungen des Militarismus zu schildern. Die dümmlich-schneidigen liebenswürdigen Veilchenfresser sind aus der Mode, die Militärhumoresken sind kein Geschäft mehr, man will Wahrheit oder doch Enthüllungen von militärischen Kulissengeheimnissen, man will hinter dem romanhaft und siegreich in der Liebe taumelnden Kavaliertum der Offiziere die leere zotige Trottelei, hinter der eleganten Bartbinden-Schönheit die innere Hohlheit, hinter der patriotischen Ritterlichkeit den irdischen Kampf um Geld und Geltung, hinter der strammen Energie die Soldatenmißhandlungen angedeutet sehen.
Diesen Bedürfnissen Rechnung tragend, ist soeben von einem hohen Aristokraten und gewesenen Offizier ein neues Buch erschienen: „Erstklassige Menschen” von Graf Wolf Baudissin. Gegen den Pestatem dieser Schilderung wirkt Leutnant Bilses in seinem Buche „Aus einer kleinen Garnison” geübte romanhafte Kritik wie mildes Orangenblütenwasser. Dieser Graf Wolf Baudissin gehört zum vornehmsten Uradel Deutschlands: seine Verwandten haben hervorragende Stellungen in Armee, Flotte und Verwaltung. Der Mann ist demnach durchaus legitimiert, standesgemäß unterrichtet zu sein. Und der entwirft nun Sittenbilder aus seiner Gesellschaft, daß die Personalakten eines Zuchthauses dagegen wie Tragödien edelsten Menschentums anmuten. Unter all den edlen Figuren ist niemand, der nicht – proletarisch geboren und unmündig – unverzüglich der Besserungs- oder Zwangsarbeitsanstalt überwiesen werden würde. –
Literarisch gewertet ist dieser Roman eine öde Sudelei. Dennoch kommt ihm weitgehendste Beachtung zu, denn er enthält eine fürchterliche und bis zum Ekel gründliche Psychologie des Militarismus in seiner vornehmsten Kleidung, in den feudalen Garderegimentern, die für die Sprößlinge des reichsdeutschen Adels das sind, was die Kavallerieregimenter für die Sprößlinge des östereichischen Adels. Der Verfasser entwirft in dem Roman eine allgemein giltige, typische Charakteristik des feudalen Offizierswesens und behauptet, der Sache nach absolute Wahrheit zu geben und gibt er die Wahrheit, so wäre damit ein Streich gegen den herrschenden Militärgeist geführt, den er überhaupt nicht überwinden kann – ohne eine Reform an Haupt und Gliedern.
Im Garde-Infanterieregiment „Zitronenfalter”, wie das Regiment wegen seiner gelben Achselklappen genannt wurde, spielt dieser Roman. Das Offizierskorps des Rrrre'gments, das aus lauter Adeligen besteht, erfährt zu seinem Entsetzen, daß durch besondere Gnade Seiner Majestät der Leutnant Winkler, Sohn eines wohltätigen Hosenknopffabrikanten, die adelige Reinheit seines Kreises trüben sollte. Der Widerstand des Offizierskorps gegen den Eindringling ist das Thema des Romans und mit dem Erfolg des Adels schließt der Roman: Die Zitronenfalter sind wieder unter sich.
Die Schilderung des Lebens der adeligen Zitronenfalter sucht seinesgleichen. Seite für Seite schreitet der Roman fort in wüstem Einerlei, nichts wie Sekt, Völlerei, Spiel, Schulden, gemeine Zechprellereien, Hochstapeleien, Weiber, adelige Prostitution, Geldheiraten, Zuhälterei, Selbstmord, Syphilis, wertlose Ehrenworte und Ehrenscheine, Roheit und Soldatenschinderei – alles bedeckt von der Schminke des Standesbewußtseins, der Adelsehre, der Beschönigung und Vertuschung. Der einzige leidlich anständige und intellektuelle normale Offizier ist jener einzige bürgerliche Offizier, der zum Vater – der Verfasser verbeugt sich vor der Tugend der Bourgeoisie – einen zum Millionär gewordenen Fabrikanten hat. Auch der ist schließlich nur anständig, weil es ihm seine Mittel erlauben und nur insoweit, als er nicht gerade wie die anderen, moralische Verbrechen gewerbsmäßig verübt; denn auch der edle Fabrikantensohn, die Krone des Bürgertums, begibt sich unmittelbar von einer illegitimen „Hochzeitsreise” mit einer kleinen süßen Olga zu dem legitimen Altar, an dem ihm das adelige Offiziersfräulein angetraut wird. Das andere Menschenmaterial ist aber noch ungleich minderwertiger. Das erschöpft sich in Betrachtungen über das blaue Blut, über die Menu-Karte von gestern und die körperlichen Geheimnisse der Frauen, der „Damen” wie der „Weiber”. Kein noch so flüchtiger höherer Gedanke irisiert auf diesem Morast.
In den im Roman erzählten Familiengeschichten spiegeln sich alle unheimlichen Laster, die denkbar sind und alle Gebrechen, die nach des Verfassers Behauptung dem militärischen System und seinen Trägern anhaften, welches System zur Paralyse des sittlichen und geistigen Charakters führt. Man lebt im wilden Taumel dahin und wenn es nicht weiter geht, greift man zum nackten Verbrechen und zum Revolver. Aber auch das anständige Durchschnittsdasein ist von entsetzlicher schwelgerischer Öde. „Bald ist hier ein Fest, bald dort, Liebesmahl, Gästetag, Geburtstagsfeier, Gartenfest mit Damen, Regimentsjubiläum, Abschiedsessen; selbst derjenige, der solide sein will, kommt aus der Sektflasche gar nicht mehr heraus, er muß einfach mitmachen.” (Seite 223.)
Natürlich werden Schulden gemacht. Und wie wird gepumpt! „Die pumpen alle, vom Hauptmann herunter bis zum jüngsten Leutnant.” (S.314.) Bei solchem Dasein ist jede edlere Geistesbildung ausgeschlossen: „Es gibt kaum einen Stand, in dem die allgemeine Bildung so kläglich und erbärmlich ist wie bei den Leutnants.” (S. 316.)
Natürlich ist jeder Offizier bestrebt, eine reiche Frau zu finden. Damit wären wir zu dem abstoßendsten Kapitel gekommen, der Verwilderung der Geschlechtsmoral. Die Ehe wird als bloßes Geschäft aufgefaßt. Die Töchter werden verkuppelt, damit die Schulden ihrer Angehörigen bezahlt werden. Die Offiziere achten die Heiligkeit der Ehe nicht anders: „Wir leben lustig darauf los, wir vergeuden unser Geld und unsere Gesundheit, und wenn wir dann eines Tages am Ende sind, dann sehen wir uns auf den Bällen nach einem reichen jungen Mädchen um, das uns wieder flott macht.” (S. 124.) „Ich begreife nicht”, äußert einmal der bürgerliche Offizier, „wie reiche Eltern ihr Kind einem Offizier zur Frau geben können. Die Leute müssen sich doch sagen, daß man ihre Tochter nur des Geldes wegen nimmt.”
Da die Ehe nur ein Geschäft ist, so halten sich die Mädchen, Frauen und Männer der vornehmsten Gesellschaft anderweitig schadlos. Die Mädchen erzählen sich gegenseitig „mit zynischer Offenheit”, „wie sie es anstellten, um die Eltern zu täuschen und die etwaigen Folgen ihres Verkehrs zu verhindern”. (S. 118.) Die Offiziere ihrerseits leben nicht minder christlich-keusch. Die süße Olga vom Theater zürnt einmal gelegentlich einer Schäferstunde: „Wie kommt es denn, daß fast alle, die bei uns krank sind, es ihrem Verkehr mit den Offizieren verdanken? Wir wissen und hören ja wenig von unseren Ballettdamen, aber soviel hören wir doch, daß häufig genug Erkrankungen vorkommen und fast immer ist ein Leutnant daran schuld.” (S. 144.)
Wir sind die Letzten, die der Tugendheuchelei das Wort reden wollen. Aber es ist uns kaum eine Sittenschilderung bekannt, welche den Geschlechtsverkehr so aller menschlichen Leidenschaft, poetischen Verklärung und selbstlosen Hingabe entkleidet, wie dieser Roman, der in der vornehmsten Kaste spielt. Hier gibt's nur Geschäft, nur gemeine Sinnlichkeit, die skrupellos auch vor dem Verbrechen nicht zurückschreckt, bewußt den Leib der Geliebten zu vergiften. . . . .
Es sei genug des Eklen! Wir wissen nicht, ob Graf Wolf Baudissin die reine Wahrheit, ohne Übertreibung und ohne spekulative Tendenz niederschrieb. Wenn aber auch nur ein kleiner Teil der Schilderung den Tatsachen entspricht, dann ist es übergenug, um das ganze System des Militarismus in seiner Kulturgefahr zu entblößen.
Der Militarismus ist heute die stärkste und gefährlichste Macht. Er ist der Hort aller Reaktion. Er verschlingt nicht nur den Arbeitsertrag des Volkes zum größten Teil, er bedeutet nicht nur eine ständige Kriegsdrohung, er soll ja auch berufen sein, die Kultur der herrschenden Gesellschaft gegen das Hunnentum des sozialistischen Proletariats zu schützen. Da ist es gut, wenn gezeigt wird, wie geartet die bewaffneten Vorkämpfer dieser von uns Barbaren bedrohten christlichen Welt sind. Daran ist kein Zweifel: dieses System ist verwahrlost und die wirklichen Übel dieses Systems können erst mit diesem System selbst verschwinden. Sie wurzeln in dem unversöhnlichen Gegensatz eines aus dem Volk gebildeten Heeres, das seinem Wesen und Zweck nach nur ein Kastenheer, ein Werkzeug der herrschenden Gesellschaft ist. Nur die vollständige Demokratisierung des Wehrwesens kann die Laster, die allem Kastentum notwendig anhaften, beseitigen.
„Leipziger Volkszeitung” vom 5.März 1904:
Erstklassige Menschen
In der ersten Hälfte der Woche saß im deutschen Reichstag die Justiz auf der Anklagebank. Die Paralytiker im Staatsanwaltstalar und in der Richterrobe, die das Justizschwert führen und Rachsucht atmende Urteile gegen die Arbeiterklasse verfertigen, lieferten Stichproben der deutschen Klassenjustiz. Zu Ende der Woche kam der Militäretat an die Reihe, und der Kriegsminister v. Einem rief den Sozialdemokraten zu, wenn sie an der Demoralisation des Offizierskorps, wie sie Graf Baudissin in dem neuesten Militärroman: „Erstklassige Menschen” geschildert hat, ernsthaft Anstoß nehmen, so seien sie keine revolutionäre Partei, sondern Philister.
Während so im deutschen Reichstag von autoritativer Stelle aus die aberwitzige Herrenmoral für die Erstklassigen amtlich reklamiert wurde, spielte sich vor dem Kriegsgericht der 1. Gardedivision in Berlin ein Prozeß ab, der die Verhandlungen des Reichstags über den Justiz- und Militäretat blutig illustrierte. Ein Erstklassiger saß auf der Anklagebank; kein deklassierter Auswürfling, sondern ein Typus, wie er im Buche – des Grafen Baudissin steht. Dieses Buch ist kein Roman mehr, nachdem Prinz Prosper v. Arenberg von seinem Standesgericht standesgemäß freigesprochen worden ist, sondern lebendige Wahrheit. Die raffinierte Brutalität einer machtkollerigen Herrenklasse, die die ihr anvertraute Gewalt zur Fütterung der eigenen wüsten Instinkte mißbraucht, die raubt, mordet, schändet, wann und wo sie das Herrengelüste überkommt, stand in dem Mörderprinzen vor den Gerichtsschranken, und es ist durchaus in der bestehenden Rechtsordnung begründet, daß die Richter diesem Typus seiner Klasse die Verantwortung für seine Verbrechen abgenommen haben. Dieses Scheusal, das einen Menschen mit raffinierter Heimtücke und kannibalischer Grausamkeit hinmordete, um dessen Weib zu besitzen, ist keine individuelle Ausnahmeerscheinung, sondern ein Klassentypus, was schon durch die bloße Tatsache festgestellt wird, daß der hohe Herr seine Autoritätsstellung behalten konnte, obgleich man sich über den Charakter dieses „Erstklassigen” völlig klar sein mußte.
Um den spezifisch juristischen Zweck der Freisprechung zu erreichen, hatte die Verteidigung eine Unsumme von Entlastungsmaterial herbeigeschafft, das freilich den Militarismus zentnerschwer belasten mußte. Es wurde festgestellt, daß dieser Erstklassige als achtjähriger Junge Fische gefangen, ihnen die Augen ausgestochen und den Bauch aufgeschlitzt, daß er Katzen die Pfoten abgeschnitten und Hunde auf sie gehetzt, daß er einem Seidenspitz höchstpersönlich den Schwanz abgebissen und seine Lehrer allesamt geprügelt hatte. Während seine Mutter und Schwester im Nebenzimmer schliefen, feierte er mit Dirnen wüste Orgien, und frönte schon als halbwüchsiger Bursche den unglaublichsten alkoholischen und geschlechtlichen Ausschweifungen. Dabei war er bodenlos feige und fürchtete bei der geringsten Fährlichkeit für sein liebes Leben. Und dieses Prachtexemplar von einem erstklassigen Menschen wurde Offizier, war zwei Jahre lang militärischer Vorgesetzter, zog sich wegen Mißhandlung etc. einige gelinde Stubenarrests zu und wurde dann als Leutnant der südwestafrikanischen Schutztruppe auf die Hereros losgelassen.
Wohl möglich, daß der Rohling dort heute noch als christlicher Kulturträger wirken würde, wenn er nicht im halben Schnapsrausch einen brutalen Meuchelmord verübt hätte, den er zuerst aus „dienstlichen” Gründen zu rechtfertigen suchte. Die näheren Umstände dieser Tat sind noch in frischer Erinnerung, obgleich seit ihrer ersten Mitteilung schon Jahre verflossen sind. Er beschuldigte einen Polizisten, den Bastard Cain, dessen Weib er begehrte, daß dieser heimlich auswandern und auf englisches Gebiet übertreten wolle, ließ ihn fesseln, mißhandelte ihn mit rohen Faustschlägen ins Gesicht, so daß seinem Opfer das Blut aus Mund und Nase quoll, suchte ihn betrunken zu machen und zur Flucht zu reizen, und als das mißlang, ließ er auf ihn schießen, gab selbst aus seinem Dienstgewehr einen Schuß auf ihn ab, und als der Polizist nur noch röchelte, trieb er ihm mehrmals den Ladestock ins Gehirn, bis er starb. Dann wurde die Leiche unter Gebet begraben: der Prinz Arenberg war ein guter Katholik und frommer Christ.
Bei dem Kriegsgericht in Windhuk fand der Erstklassige milde Richter; er wäre mit 10 Monaten Gefängnis davongekommen, obgleich auch die grausame „Züchtigung” mehrerer Negerweiber gegen ihn verhandelt wurde, wenn der Gerichtsherr nicht Berufung eingelegt hätte. Das Kriegsgericht der 1. Gardedivision verurteilte ihn wegen Mordes zum Tode, der Kaiser begnadigte ihn zu fünfzehnjähriger Gefängnisstrafe. Die Gerüchte, die aus dem Gefängnis in Hannover, wo er seine Strafe verbüßte, drangen, ließen vermuten, daß der durchlauchtigte Prinz sehr standesgemäß behandelt wurde. Inzwischen hat das Reichsmilitärgericht dem Wiederaufnahmeverfahren stattgegeben, weil die Zurechnungsfähigkeit des hochadeligen Mörders angezweifelt wurde, und gestern haben ihn die Kameraden freigesprochen.
Der Spezialfall Arenberg interessiert uns weiter nicht, und der preußische Kriegsminister würde uns vermutlich „Philister” schelten, wenn wir darüber moralisieren wollten. Uns interessiert nur die gerichtliche Feststellung, daß ein Mensch, dessen moralischen Defekt seine ganze Umgebung kannte, militärischer Vorgesetzter werden und Offizier bleiben konnte, nachdem auch seine Vorgesetzten von seiner sittlichen Minderwertigkeit dienstlich Kenntnis genommen hatten. Darüber wird der Kriegsminister sich wohl noch äußern müssen, und wenn er den Militärroman des Grafen Baudissin als „Roman” abtun wollte, so wird ihm das mit dem Erstklassigen Arenberg weniger leicht gelingen. Für uns ist der Fall Arenberg nur ein Symptom der Degeneration und Demoralisation der Herrenklasse, ein Typus der „Erstklassigen”, die heute im Staate die Gewalt und die Autorität besitzen.
Reichstag 50.Sitzung
Sonnabend 5.März 1904 1 Uhr.
Am Tisch des Bundesrats: v.Einem
Die zweite Beratung des Militäretats wird fortgesetzt. (Titel Kriegsminister)
Abg. Werner (Ant.): Der Roman „Erstklassige Menschen”Grafen Wolf Baudissin muß verletzend wirken, und der nicht sehr schmeichelhafte Zwischenruf, der gestern von der Rechten gegen den Grafen fiel, war voll berechtigt. Soldatenmißhandlungen werden wohl von allen Mitgliedern dieses Hauses bedauert. Redner tritt für eine Vermehrung der Unteroffoziere ein. Der Unteroffizier ist das Rückgrat der Compagnie. Den Ausspruch des Abg. Bebel, das Bürgertum krieche vor der Armee, muß ich mit aller Entschiedenheit zurückweisen. (Bravo! bei den Antisemiten.)
Abg. Dr. Gradnauer (Soc.) . . . . . Der Kriegsminister hat uns gefragt, ob wir an die Wahrheit der Schilderungen in dem Roman des Grafen Baudissin glaubten. Ich möchte eine Gegenfrage an ihn richten: wenn ein Schriftsteller alle die wüsten und gemeinen Scenen beschreiben wollte, die im Falle des Prinzen Arenberg bekannt geworden sind, was würde der Kriegsminister sagen? Er würde natürlich sagen: „Ja, meine Herren Socialdemokraten, glauben Sie denn diese Dinge?” (Sehr gut! bei den Socialdemokraten.) Ich habe kein Urteil über das, was Graf Baudissin geschrieben hat. Aber so ganz leicht lassen sich doch diese Anklagen – es ist das kein bloßer Roman, sondern eine Sittenschilderung sondergleichen – nicht nehmen. Graf Baudissin soll in normaler Weise aus dem Miltärdienst geschieden sein, in dem er längere Jahre zugebracht hat. Er kennt also die Dinge. Der Roman bedeutet auch keineswegs einen Angriff gegen die Armee insgesamt oder gegen führende Stellen der Armee. Insbesondere der Kaiser spielt in dem Roman eine Rolle, die in keiner Weise darauf hindeutet, daß der Verfasser antimonarchische oder sog. unpatriotische Tendenzen verfolge. Jedes berliner Kind weiß, welches Regiment in dem Roman gemeint ist, und die Kriegsverwaltung hätte doch allen Anlaß, einmal bei jenem Regiment eine sehr ernste Untersuchung anzustellen, ob etwas Wahres daran ist. (Sehr richtig! bei den Socialdemokraten.)
Abg. Dr.Beumer (natl.): . . . . . Der Baudissinsche Roman ist ein auf die Sensationslust berechnetes Phantasiestück, ghanz im Gegensatz zu der Bilse'schen Photographie von Forbach. An solche Romangeschichten wie die „Erstklassigen Menschen” glauben wir nicht. (Bravo! bei den Nationalliberalen.)
„Königlich privilegirte Berlinische Zeitung” 6.März 1904
„Noch nie ist ein Stand so mit Schmutz beworfen worden, wie in letzter Zeit der Offizierstand.” So sagte am Freitag der Kriegsminister v. Einem im deutschen Reichstag, Der General hatte vorher von Beyerleins Roman „Jena oder Sedan?” gesprochen. Seinen Ausspruch aber gründete er auf das jüngste Buch des Grafen Wolf von Baudissin, der unter dem Namen Freiherr von Schlicht schreibt, und auf den „Simplizissimus”. Vielleicht hat der Kriegsminister die heiteren Leistungen des süddeutschen Witzblattes zu ernst genommen. Der Humor hat in der Kunst wie in der Politik einen Freibrief. Wird der Offizier in Wort und Bild mitunter lustig verspottet, so geht es ihm nicht anders als vielen Typen aus der Gesellschaft. Der Börsenmann, der Student, die Schwiegermutter, der Staatsanwalt, der Richter, der Professor, die alte Jungfer: sie alle sind und bleiben der dankbare Stoff für den Witz des Schriftstellers und den Stift des Zeichners. Fühlen sie sich aber, wenn auf ihre Kosten Scherze gemacht werden, gleich mit Schmutz beworfen? Gewiß nicht, sie lachen mit. Und wir meinen, auch mancher Offizier betrachtet die Satire auf seinen Stand mit künstlerischem Behagen und weiß eine gute Anekdote zu schätzen.
Anders lautet das Urteil über den Roman des Grafen Baudissin. Der Freiherr von Schlicht hat manche hübsche militärische Humoreske veröffentlicht, die den Beifall der Offiziere wie der Bürger fand. Auch ihnen kam das Vorrecht der heiteren Muse zu gute, wenn sie übertrieben oder verallgemeinerten. Aber in seinem Roman ist dem Dichter der Witz ausgegangen. Sein Buch ist eine platte Nachahmung der Schriften Beyerleins und Bilses, ohne Phantasie, ohne fesselnde Form; einzelne Abschnitte lesen sich wie Versammlungsreden, andere wie Prozeßberichte aus dem Militärgericht, nur trockener und langweiliger. Und seine Schilderung, nicht einzelner Offiziere, sondern des ganzen Standes, ist allerdings unglaublich, unglaublich, weil sie der Wahrheit offenkundig ins Gesicht schlägt und nicht minder, weil sie von einem Manne herrührt, der selbst Oberleutnant gewesen ist. Graf Wolf Baudissin ist erst im Jahre 1867 geboren. Aber er ist nicht jung genug, daß er nicht Offiziere genug hätte kennen können, die ihm höhere Achtung vor einem ehrbaren und tüchtigen Berufsstand einflößen durften, als er sie in seinem Buche zur Schau trägt. In der Tat, wäre der Offizier so verkommen, so sittenlos, wie Baudissin ihn in den grellsten Farben schildert, es wäre traurig um die Armee und das Vaterland bestellt.
Aber man ginge im Auslande fehl, nähme man die Schilderungen, die Beyerlein, Bilse, Baudissin entwerfen, als bare Münze, als getreues Spiegelbild der Zustände im deutschen Heer und deutschen Offizierkorps. So wenig zu leugnen ist, daß schwere Mißstände hier und da in der Armee vorkommen, so gerecht die allgemeine Entrüstung über die Forbacher Vorgänge war, so tief sich die öffentliche Meinung über Mißhandlungen und mancherlei Mißgriffe empört: es hieße doch das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man darum leugnen oder auch nur vergessen wollte, daß im deutschen Heere ein tüchtiger, mannhafter, sittlicher Geist herrscht, daß der Militärdienst eine ausgezeichnete Schule für einen großen Teil des Volkes ist, und daß der deutsche Offizierstand im ganzen einen Ernst, eine Arbeitsfreude und eine Pflichttreue zeigt, die ihn vor verunglimpfenden Allgemeinheiten schützen sollten. Der deutsche Offizier braucht den Vergleich mit dem Offizier irgend eines fremden Staates nicht zu scheuen; sicherlich nicht. Und gibt es beklagenswerte Ausnahmen, die mit Fug der öffentlichen Verurteilung verfallen, so gibt es eben räudige Schafe in jeder Herde.
Das deutsche Bürgertum will dem Offizier nicht eine Stellung über allen andern Ständen einräumen, und daran tut es recht; aber es will ihn auch nicht „mit Schmutz bewerfen”, und darin ist es mit dem Kriegsminister einig. Freilich, es fehlt nicht an Anlaß, auch an militärischen Einrichtungen, insbesondere des Offizierstandes Kritik zu üben. Und es kann nicht schaden, wenn hier bisweilen die Hand in die Wunde gelegt wird. Es wird vom Bürgertum als unbillige Zurücksetzung empfunden, daß sich eine große Anzahl Offizierkorps ausschließlich aus dem Adel rekrutieren. Diese Saite des Bürgerstolzes hat Graf Baudissin in seinem Roman mit findiger Berechnung angeschlagen. Es ist ein unleidlicher Zustand, daß ein tüchtiger Offizier, wenn er nicht adelig ist, zwar kommandirender General, aber nicht Leutnant im ersten Garderegiment oder in Dutzenden anderer Regimenter werden kann. Solche verrotteten Überlieferungen müssen nicht nur das Bürgertum insgesamt, sondern auch die bürgerlichen Offiziere insbesondere verletzen. Nicht minder erscheint es ungehörig, daß für die Zulassung zum Offizierkorps noch andere Gesichtspunkte in Betracht kommen als diejenigen der Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit, daß vielmehr konfessionelle, politische und gesellschaftliche Rücksichten den Ausschlag geben. In dieser Hinsicht haben sich seit einem Menschenalter die Verhältnisse erheblich verschlechtert, zum Schaden für die Wehrkraft und für den sozialen Frieden.
Ebenso findet der Duellzwang, unter dem das Offizierkorps trotz aller Verordnungen gegen den Zweikampf immer noch steht, bei der großen Mehrheit des Volkes kein Verständnis, und dieser Zwang trägt nicht nur dazu bei, den Offizierstand zu einem Staat im Staate zu machen, sondern auch dem Offizier, wenn er den Dienst aufgibt, das Fortkommen im bürgerlichen Leben zu erschweren. Es besteht bei vielen Betrieben und Verwaltungen eine tief wurzelnde Abneigung gegen die Annahme früherer Offiziere, sondern wegen der Einseitigkeit der militärischen Bildung, wie namentlich wegen des Standesvorurteils, das dem Offizier bei vermeintlicher Ehrverletzung gebietet, zur Waffe zu greifen oder sich in „standesgemäßer” Weise Genugtuung zu verschaffen, statt die gerichtliche Entscheidung anzurufen. Die Wirkungen dieser Unsitte treten um so häufiger hervor, selbst im Verkehr zwischen Staatsanwalt, Richter und Verteidiger, je größer die Zahl der Reserveoffiziere in manchen Klassen der Gesellschaft ist. Die Beseitigung des Duellzwanges bis auf den letzten Rest ist nicht nur möglich, wie das Beispiel der angelsächsischen Völker beweist, sie wäre auch dem Offizierstande selbst nur nützlich und seiner heilsamen Annäherung an das Bürgertum förderlich.
Protest erhebt die Mehrheit des selbstbewußten, tatkräftigen Bürgertums gegen jede Überhebung und jede Bevorzugung des Offiziers. Dünkt er sich seiner militärischen Stellung wegen höher als den ehrenwerten Beamten, den tüchtigen Gewerbetreibenden, so kann es nicht wundernehmen, wenn er Widerspruch und Widerstand begegnet, und eine Verehrung, die nicht der Person, sondern der Uniform entgegengebracht wird, verfällt verdientem Spott. Jeder ist der Anerkennung wert, der seinen Platz ausfüllt. Der Offizier steht nicht tiefer als der Künstler, der Gelehrte, der Industrielle, der Arzt, der Mann, der im Gewerbe oder im Amt Achtung genießt; er steht nicht tiefer, aber auch nicht höher. Je weniger der Anspruch erhoben wird, daß der Offizierstand als der erste Stand im Staate gelte, je weniger Vorrechte für ihn vor anderen Ständen und Berufen gefordert oder geduldet werden, um so weniger Angriffen wird der Offizier ausgesetzt sein. Zur Milderung dieser Gegensätze würde auch die oft verlangte Überweisung aller Straftaten, die nicht ausschließlich militärischer Natur sind, an die bürgerlichen Gerichte dienen. Weshalb soll der Soldat, wenn es sich nicht um Fragen des Dienstes und der Disziplin handelt, sein Recht nicht von bürgerlichen Richtern nehmen? Entscheiden sie doch „im Namen des Königs”, der zugleich der oberste Kriegsherr ist!
Doch mögen diese und manche andere Ausstellungen an den herrschenden Zuständen notwendig, mag manche Kritik berechtigt und geboten sein: die Tatsache bleibt darum bestehen, daß der Kriegsminister v. Einem recht hat, wenn er sagt, „daß der Offizierstand durch das, was er im Kriege geleistet hat, sich den Dank der Nation für alle Zeiten gesichert haben sollte”. Wir denken des Pflichteifers und der Ritterlichkeit, die das deutsche Heer in großen blutigen Kriegen bewiesen hat. Die Truppen waren tapfer und todesmutig, und die Offiziere waren ihre würdigen Führer. Wir wissen, wie viele Regimenter in harten Schlachten der Mehrheit ihrer Offiziere beraubt wurden. Und wir wissen auch, daß es Tausende und Abertausende gebildeter, fleißiger, gewissenhafter und sittlich untadeliger Offiziere heute gibt, Männer, die bei den Schilderungen des Grafen Baudissin die Achsel zucken und sich fragen können, wie es möglich war, daß sich in dem Kopf eines früheren Offiziers so wunderlich die Welt malt. Es mag „erstklassige Menschen” geben, wie sie der Freiherr v. Schlicht nach dem Leben gezeichnet hat. Aber diese einzelnen sind so wenig das deutsche Offizierkorps wie ein paar waghalsige, verkrachte und betrügerische Spekulanten die deutsche Börse. Diese ganze neueste Literatur über die Offiziere ist eine einzige falsche Verallgemeinerung. Und das muß um der Gerechtigkeit willen auch von denen ausgesprochen werden, die sich von jeder Vorliebe für den Militarismus vollkommen frei wissen.
„Volksblatt (Halle)” Nr. 56 vom 6.März 1904 (Leitartikel)
. . . . .
Lösen sich doch in diesen Tagen beinahe die „Bande aller frommen Scheu” und schildert doch Graf Baudissin, der unter dem Namen „Freiherr v. Schlicht” schriftstellert, aus seiner Militärzeit, daß auch die größten Garnisonen eigentlich nur Häufungen von – lauter kleinen Garnisonen sind. In seinem vor kurzem erschienenen Roman Aus der Offizierskaste, Erstklassige Menschen (Berlin 1904, Otto Janke), auf den wir bereits im Leitartikel der Nr. 40 zu sprechen gekommen sind, und der den höchsten Zorn der Junkerpresse erregt hat, erzählt er von seiner in einer großen Residenzstadt wohnenden Heldin, einer armen adeligen Offizierstochter:
„Aus den früheren Jahren, in denen sie noch mit den jungen Mädchen befreundet gewesen war, erinnerte sie sich ganz genau, daß fast eine jede von ihnen ihren Leutnant gehabt hatte. Wie oft hatte sie nicht früher mit ihnen darüber gesprochen und ihnen Vorwürfe gemacht, aber eine jede hatte ihr dieselbe Antwort gegeben: „Warum soll ich es denn nicht tun, die andern tun es doch auch alle, wozu ist man denn jung und schön? Glaubst Du denn, daß unser Blut kalt bleibt, wenn man uns den ganzen Abend die Cour macht, uns beim Tanzen an sich drückt und uns mit begehrlichen Blicken ansieht? Sollen wir warten, bis wir einen Mann bekommen? Das kann lange dauern, vielleicht ewig und was dann? Sollen wir sterben, ohne die Freuden der Liebe kennen gelernt zu haben? So dumm!”
Und mit wahrhaft cynischer Offenheit hatten sie sich dann gegenseitig erzählt, wie sie es anstellten, um die Eltern zu täuschen und die etwaigen Folgen ihres Verkehrs zu verhindern. . . . .Einmal hatte sie es erlebt, daß ein Offizier sein Verhältnis mit einer jungen Dame löste, weil diese sich verloben wollte, und er hatte es ruhig zugegeben, daß sein Kamerad die junge Dame heiratete, die schon durch viele Hände gegangen war und von der es ein offenes Geheimnis war, daß sie jeden Herrn, der ihr gefiel für sich eroberte. „Wenn ich heirate, mache ich gerade meine zwölfte Hochzeitsreise”, hatte sie erzählt. Die Freundinnen hatten sich halbtot lachen wollen und sie um ihr Glück bei den Männern beneidet.
So weit der frühere Offizier Graf v. Baudissin.
Damit ist die weibliche Seite der kleinen und großen Garnisonen mit ihrer „erstklassigen” Gesellschaft glücklich in die richtige Verbindung gesetzt mit der Frauenfrage überhaupt als Teil der sozialen Frage, wie sie Bebel zum ersten Male in seinem bekannten Buche Die Frau und der Sozialismus so rücksichtslos offen und mit so agitatorischer Meisterschaft aufrollte. Unser alter Parteikämpe entbehrte bisher noch solch „erstklassiger” Zeugnisse aus den Müßiggängerkreisen der deutschen Edelsten und Besten. Bebel darf völlig damit zufrieden sein, daß er die gründliche moralische Selbsthinrichtung der herrschenden Gesellschaft, in der sich Kapitalismus und Militarismus die Hände reichen, durch die angeführten Bekenntnisse in Wort und Tat erlebt. Die ganze Herrlichkeit der glänzendsten regierenden Kaste löst sich allmählich auf in Skandale – kleiner und großer Garnisonen!
Reichstag 51.Sitzung
Montag 7.März 1904 1 Uhr.
Am Tisch des Bundesrats: v.Einem
Die zweite Lesung des Militäretats wird fortgesetzt beim Titel „Gehalt des Kriegsministers”.
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Kriegsminister v.Einem:. . . . . Über das Baudissinsche Buch habe ich mich absichtlich nicht ausgesprochen. Ich beurteile nach einem solchen Buche nicht den Wert der Armee, sondern den Wert des Verfassers. (Lebhafter Beifall rechts.) . . . . .
Bayrischer Generalmajor v.Endres: . . . . . In zahlreichen Schmutzschriften wird jetzt das Offiziercorps in niederträchtigster Weise verleumdet, dieses Offiziercorps, das sein Leben in den letzten Kriegen wie ein Spielzeug in die Schanze geschlagen hat. Man wirft ihm ödes Genußleben vor. Dabei ist die Mehrzahl unserer Offiziere ohne Vermögen, und die Arbeit dauert von früh bis spät. Ein französischer höherer Offizier hat seine Landsleute gewarnt, diesen Schmutzschriften zu trauen. Sie sollten sich, sagte er seinen Landsleuten, nach diesen Schriften kein Bild über den preußischen Offizier machen. Aber hier im Vaterlande, da ist das Recht. Da darf der Offizier ruhig mit allem Kot beworfen werden. Ich habe hier einen Artikel des „Vorwärts”, der das Buch des Grafen Baudissin bespricht. Ich muß sagen, etwas Widerwärtigeres an Heuchelei als diesen Artikel habe ich noch niemals in der Hand gehabt. Der Leser, der sich nicht genau informiert, bleibt vollständig im Unklaren, was aus dem Roman entnommen ist, was die Meinung des „Vorwärts” ist. Der Artikel ist mit großer Geschicklichkeit und Schlauheit geschrieben, um den Schlingen, die das Strafgesetzbuch zieht, zu entschlüpfen. (Sehr richtig! rechts.) Unsere Armee krankt nicht an übermäßigem Luxus der Offiziere, sie krankt nicht an den Mißhandlungen, aber sie krankt an den Verleumdungen und an der socialdemokratischen Agitation. . . . . .
Reichstag 52. Sitzung
Dienstag 8.März 1904 1 Uhr.
Am Tisch des Bundesrats: Nieberding, v.Einem . . . .
Es folgt die Fortsetzung der zweiten Beratung des Militär-Etats. . . . . .
Abg. Ledebour (Soc.): . . . . . Herr v.Endres wandte sich besonders scharf gegen den „Vorwärts”-Artikel über das Buch des Grafen Baudissin. Sein Angriff war aber ganz haltlos. Es wird in dem Artikel genau unterschieden zwischen der Ansicht des Grafen Baudissin und der des Verfassers. Der literarische Wert des Romans wird übrigens in dem Artikel außerordentlich abfällig beurteilt, in ödestem Kasernenstil hingekleckste Sudelei. (Hört! Hört! bei den Socialdemokraten.) Ferner haben sowohl der „Vorwärts” wie mein Freund Bebel ausdrücklich erklärt, Graf Baudissin müsse sich nunmehr darüber äußern, inwieweit sein Buch Phantasie und inwieweit Wahrheit sei. Wenn das Buch wahr ist, so würde das allerdings von einer tiefen Korruption zeugen. Herr v.Endres wies daraufhin, daß selbst französische Schriftsteller vor einer Überschätzung der neueren deutschen militär-kritischen Bücher gewarnt hätten. Gewiß, auch ich glaube, daß unsre Offiziere im Kriege persönlichen Mut beweisen würden. . . . . .
„Vorwärts” 8.März 1904, Ausschnitt aus dem Leitartikel „Olle Kamellen.” : . . . . .
Übrigens wird die Affaire des Romans des Grafen Baudissin nachgerade bedenklich. Als wir den Roman besprachen, äußerten wir ein recht herbes Urteil über das Werk. Nachdem wir aber sehen, wie man sich damit begnügt, auf den Verfasser zu schimpfen, ohne sich für die Unwahrheit seiner Schilderungen zu verbürgen, neigen wir zu der Ansicht, daß wir ihm Unrecht gethan haben. Die „erstklassigen Menschen” scheinen doch nicht nur in der Phantasie zu existieren!
Der Etat der erstklassigen Menschen wird am Dienstag weiter beraten.
„Dresdner Nachrichten” vom 9.März 1904
„Erstklassige Menschen, Roman aus der Offizierskaste” von Freiherrn v. Schlicht (Wolf Graf von Baudissin).
Dieser Roman hat seit mehreren Wochen bereits viel Aufsehen erregt; jetzt ist er nun auch in der Diskussion des Reichstags mehrfach genannt worden, und der preußische Kriegsminister v. Einem hat sich dazu geäußert. „Wir müssen nach Lektüre des Buches gestehen,” urteilen u.a. die „Hamb. Nachr.”, „daß es an Herabwürdigung der Offiziersehre das Stärkste leistet, was uns bisher in Deutschland vorgekommen ist. Daneben verschwindet Beyerlein mit seinem „Jena oder Seda?” und mit seinem „Zapfenstreich” vollkommen. Es wird ein Garderegiment geschildert, dessen Offiziere sich in der v. Schlichtschen Darstellung als ganz gemeine Schurken, Betrüger, Wüstlinge und Schmarotzer, ja Schlimmeres erweisen.
Wir können zur Charakterisierung des Buches nichts Besseres tun, als zitieren, was der „Vorwärts” dazu sagt: „Beyerleins romanhafte Kritik wirkt wie eitel Marzipan, und selbst Bilses ekle Reportage von der kleinen Garnison wie mildes Orangenblütenwasser gegenüber dem Pestatem dieser Schilderung. Und diesmal ist es kein bürgerlicher Literat, der ein paar Monate flüchtig in die Kaserne geschaut, und auch kein bürgerlicher Offizier, der nicht zu den erstklassigen Menschen gehört, auf die sich eigentlich der preußische Militarismus beschränken soll, sondern es ist selbst ein Mitglied jener Adelskaste, aus der abzustammen die Berechtigung zur Aufnahme in die allerfeudalsten Regimenter verleiht. Dieser Wolf Ernst Hugo Emil Graf Baudissin gehört zum vornehmsten Uradel; seine Verwandten wimmeln in Armee, Flotte und Verwaltung. Wir finden da zahlreiche Offiziere, Admirale, Landräte, Ehrenritter des Johanniter-Ordens. Der Mann ist demnach durchaus legitimiert, standesgemäß unterrichtet zu sein und aristokratisch zu fühlen. Und der entwirft nun Sittenbilder aus seiner Gesellschaft, daß die Personalakten eines Zuchthauses dagegen wie Tragödien edelsten Menschentums anmuten. . . . . Ist der Verfasser nicht moralisch und intellektuell vollkommen unzurechnungsfähig, so mußte er sich der Verantwortung bewußt sein, als er diese entsetzlichen Bilder entwarf.”
Aber der „Vorwärts” glaubt letzteres, denn, so fragt er weiter, wie hätte der Verfasser es sonst wagen können, eine ruchlose, in ihrer literarischen Gewissenlosigkeit doppelt abscheuliche Phantasie unmittelbar und unter derben aktuellen Andeutungen gegen eine Institution wie die Armee spielen zu lassen. Er habe sich sagen müssen, daß er jederzeit bereit zu sein hätte, für die typische Wahrheit seiner Schilderungen den Beweis der Wahrheit anzutreten. Man brauche nicht anzunehmen, daß Wolf Graf v. Baudissin direkt nach Modellen, nach bestimmten Personen und Ereignissen gearbeitet habe, man müsse vielmehr voraussetzen, daß der Verfasser gerade unabhängig vom Persönlichen und Einzelgeschehnis eine typische Charakteristik des Gardeoffizierwesens habe entwerfen wollen. So vergesse er nie, wenn er irgend eine neue widerliche Eigentümlichkeit erwähnt, hinzuzufügen, das sei nicht eine Ausnahme, das täten alle Offiziere, oder 75 Prozent, oder 50 Prozent. Was aber tun und denken nach der Schilderung des Grafen Baudissin diese 75 oder 50 Prozent des Offizierkorps? Der „Vorwärts” erteilt die Antwort darauf mittels einer Inhaltsangabe aus dem Roman. Schon das Hauptmotiv desselben charakterisiere die geistige Höhe des feudalen Militarismus. Die Garde-Regimenter nähmen, wie bekannt, keine bürgerlichen Offiziere auf. Die letzte Rang- und Quartierliste zähle in den Garde-Regimentern von Berlin und Umgegend ausschließlich adlige Namen. Diese Exklusivität werde nun in dem Roman durchbrochen: Ein besonderer Günstling des Landesherrn, ein millionengesegneter bürgerlicher Fabrikantensohn, werde in das feudale Offizierkorps versetzt. Der Widerstand des adligen Offizierkorps gegen den Eindringling sei das Thema des Romans. Das Offizierkorps kenne keine höhere Aufgabe, als den Bürgerlichen zu beseitigen, und mit dem Erfolg des Adels schließe der Roman. Das ist richtig, aber diese wahrheitswidrige, gehässige und veraltete Schilderung ist nicht das Schlimmste. Seite für Seite folgen sich in wüstem Einerlei nichts als Völlerei, Spiel, Schulden, Hochstapeleien, Weiber, Prostitution, Geldheiraten, wertlose Ehrenworte und Ehrenscheine, Geschlechtskrankheiten und zur Abwechslung Soldatenmißhandlungen. Der einzig leidlich anständige und intellektuell normale Offizier ist jener einzige bürgerliche Offizier. Und auch der ist nach der Schilderung des Verfassers schließlich nur anständig, weil es ihm seine Mittel erlauben. Da ist ferner ein Major a.D. und seine Gattin. Bei einer militärischen Besichtigung ist er verunglückt. Mit 4000 Mk. Pension zieht er sich in eine kleine Stadt zurück. Sein Sohn ist Leutnant. Der alte Herr wie sein Sohn ersticken in Schulden, sie pumpen alles an und bezahlen niemanden, auch den kleinen Handwerker nicht; sie wenden die schimpflichsten Ausflüchte und Vorspiegelungen an. Ihre einzige Hoffnung ist die schöne Tochter. Die soll sich reich verheiraten, und wäre es nur mit einem Bürgerlichen. In dieser Familiengeschichte spiegeln sich alle Laster und alle Gebrechen, die nach des Verfassers Behauptung dem militärischen System und seinen Trägern anhaften.” –
Der Kriegsminister v. Einem sagte u.a. in der Montag-Sitzung des Reichstags: „Es ist mir vorgeworfen worden, ich wäre mit außerordentlicher Leichtigkeit über das Baudissinsche Buch hinweggegangen. Ja, gewiß, das bin ich auch, und mit Absicht; denn ich beurteile nach einem solchen Buche nicht den Wert der Armee, sondern den Unwert des Verfassers.” (Lebhafter Beifall.)
Und der „Vorwärts”, für den das Buch natürlich ein wahres Gaudium ist, urteilt über dieses und den Verfasser selbst: „Wir kennen die Motive des Verfassers nicht und haben keine Ursache (!) ihnen nachzuforschen. Sicher ist auch, daß der Roman literarisch eine öde und rohe, im schlimmsten Kasernenstil eilfertig geklexte Sudelei ist. Es ist auch wahr, daß nach dem ungestümen Erfolg von Beyerlein und Bilse die Konjunktur für naturalistische oder militär-kritische Stoffe dieser Art sehr günstig ist. . . . . . Wenn also auch nicht zu leugnen ist, daß Wolf Graf v. Baudissin durchaus den modischen buchhändlerischen Bedürfnissen entgegen kommt, so würde die Behauptung, daß er lediglich aus materiellen Motiven seinen Roman geschrieben habe, doch nur das eine beweisen, daß in die Schreckensgalerie der erstklassigen Menschen, die er schildert, noch einer mehr aufzunehmen sei, nämlich der Verfasser selbst.”
Graf Baudissin, der bekanntlich in Dresden seinen ständigen Wohnsitz hat, hat sich nach dem Erscheinen des Buches für längere Zeit auf Reisen begeben.
Eine Erklärung des Freiherrn von Schlicht.
in: „Die Zukunft”, 27.Febr. 1904, Band 46, S. 345 und
in: „Neuer Görlitzer Anzeiger” vom 9.März 1904
Der Verfasser des Buches „Erstklassige Menschen, Roman aus der Offizierskaste” erläßt folgende Erklärung:
„Die Konflikte des Romans ergeben sich aus den Ansichten der „Erstklassigen Menschen”, der Offiziere, im Gegensatz zu denen des Bürgerstandes. Ich erhebe einen Vorwurf gegen die heutige Gesellschaft, die selbst diese erstklassigen Menschen züchtet und großzieht, da sie auch die jüngsten Leutnants von vornherein mit Verehrung behandelt und selbst Schuld daran trägt, daß die Offiziere den richtigen Maßstab ihres Wesens verlieren. Den „Erstklassigen Menschen” das Recht des Standesbewußtseins zurückzugeben, ihnen zu zeigen, daß ihre Ausnahmestellung sie zwingen muß, in allen Stücken untadelhaft rein zu leben: das ist der Zweck meines Buches. Frhr. v. Schlicht.”
„Das literarische Echo” 1903/1904, S.783
(Besprechung des Romans „Erstklassige Menschen”)
Der Erwähnung bedarf auch in unserer Zeit der Militärromane und -dramen eine ungewöhnlich scharfe Ablehnung, die Gen.-Lt.v.Boguslawski, der bekannte Militärschriftsteller, in der „Tägl.Rundsch.” (U.-Beil.32) dem Romane „Erstklassige Menschen” von Freiherrn von Schlicht zuteil werden läßt. Sie gipfelt in dem gesperrt gedruckten Satze: „Niemals ist mehr Schande auf das gesamte Offizierkorps gehäuft, als in diesem Roman; niemals sind aber auch mehr Unmöglichkeiten und Unwahrheiten aufeinander gepackt als hier.”
Demgegenüber betont Walter Turszinsky (Bresl.Ztg.112), daß dieser Roman, so gewiß er manches unterstreiche und übertreibe, doch nicht ohne weiteres als Pamphlet abgethan werden könne. Er sei ein unerschrockenes, impulsives Anklagedokument und treffe gewisse, zu streng „exklusive Gesinnungen und recht bedenkliche Thaten des ersten Standes in Deutschland”.
„Das literarische Echo” 1903/04, S.847 (März 1904)
Es wird an dieser Stelle nun wohl eine Zeitlang öfter von Soldatenstücken und Militärromanen berichtet werden müssen. Kaum ist die Diskussion über Beyerlein und Bilse geschlossen worden, so entbrennt sie leidenschaftlicher bereits über ein Buch des Freiherrn von Schlicht, und obendrein kommt aus Braunschweig die Kunde, daß gegen den Verleger des bilseschen Romanes neuerdings die Staatsanwaltschaft eingeschritten ist, weil er ein militärisches Sittenbild, „Verhängnis”, von Hermann zu Ysentorff trotz starker darin ausgesprochener Beleidigungen des Offizierkorps erscheinen ließ. Das Symptomatische aller dieser Romane, die Auflehnung gegen den Zwang, die litterarisch ausgesprochenen Zweifel an der Unfehlbarkeit militärischer Ansichten und Einrichtungen fällt jedem ins Auge. Und so finden sich denn überall Stimmen, die den mangelnden künstlerischen Wert solcher Werke als scheinbar unwesentlich nur kurz hervorheben, um desto eindringlicher auf ihre Tendenz, ihren aktuellen Reiz, hinzuweisen. Eine „litterarisch öde und rohe, im schlimmsten Kasernenstil eilfertig geklexte Sudelei” nennt der „Vorwärts” (42) den Garde-Roman „Erstklassige Menschen” von Freiherrn von Schlicht, alias Wolf Grafen von Baudissin. Ob Geldspekulation den Autor bewogen habe, so stark den modischen buchhändlerischen Bedürfnissen entgegenzukommen, sei eine müßige Frage. „Die Verdächtigung des moralischen Wertes des Verfassers entkräftet nicht im mindesten diese fürchterliche und bis zum Ekel gründliche Psychologie des Militarismus in seiner vornehmsten Kleidung, in den feudalen Garde-Regimentern. Wahrheit oder Lüge – das ist die einzige Frage, an der die Öffentlichkeit Interesse nehmen kann. Ist der Verfasser nicht moralisch und intellektuell vollkommen unzurechnungsfähig, so mußte er sich der Verantwortung bewußt sein, als er diese entsetzlichen Bilder entwarf. Er durfte schwerlich wagen, eine ruchlose, in ihrer litterarischen Gewissenlosigkeit doppelt abscheuliche Phantasie unmittelbar und unter derben aktuellen Andeutungen gegen eine Institution spielen zu lassen, mit der heute der widerwärtigste und gefährlichste Götzendienst getrieben wird. Er mußte sich sagen, daß er jederzeit bereit zu sein hätte, für die typische Wahrheit seine Schilderungen den Beweis der Wahrheit anzutreten.” Daß Beyerleins Anklagen und Bilses Enthüllungen „wie mildes Orangenblütenwasser gegenüber dem Pestatem dieser Schilderungen” wirken, spricht nicht allein der Vorwärts aus. Was war denn Bilse gegen den Grafen Baudissin? „Ein kleiner, namenloser Leutnant” – meint die „Zeit” (506) – „der sich seine Galle frei schreiben wollte. Ein plötzliches Pflänzchen, irgend einem sumpfigen Boden zufällig entschossen. Aber sonst überall in Deutschland, so durfte man noch sagen, ist gesundere Erde, auf der die unvermuteten Bilses nicht gedeihen. Hier aber tritt ein Graf gegen die Armee auf, ein Graf gegen die 'Kaste' adliger Garden, ein erprobter und namhafter Schriftsteller, der schließlich mehr riskiert als das bißchen Festung.” –
Mit einer dringenden Warnung glaubt demgegenüber Fedor von Zobeltitz zur rechten Zeit zu kommen. Er charakterisiert den „deutschen Offizier in der modernen Darstellung” (N.Fr.Pr. 14 178) und warnt vor Unwahrheit und Verallgemeinerung, die in jüngster Zeit fast überall eingerissen seien. Dabei verkennt er den Fortschritt der neueren Militär-Romane nicht. Immer lustig und guter Dinge, ohne jedwede tiefere Regung, oberflächlich und harmlos, ohne Seele, so habe der alte Soldatenroman der Hackländer, A. von Winterfeld, Nataly von Eschtruth, Alexander von Roberts und anderer den deutschen Offizier geschildert. Mit dieser althergebrachten Schablone hätten Bleibtreu, Robert Byr, Baron Torresani, Arthur Zapp, Rudolf Stratz und Freiherr von Ompteda gebrochen, auch Liliencron mit seinen Kriegsnovellen, Richard Skowronnek und General von Dincklage-Campe. „Es könnte noch dieses und jenes andere Buch erwähnt werden, in dem der Autor wenigstens das Bestreben zeigt, den deutschen Offizier in seiner Tüchtigkeit und nicht nur als flatterhaften Courschneider zu zeichnen; aber Omptedas 'Sylvester von Geyer' steht hoch über allen diesen Romanen: es ist dies nicht nur eine glänzende dichterische Leistung, sondern auch ein Kulturbild ersten Ranges, ein Buch voller Gerechtigkeit, ohne Vor- und Rücksichten, aber aus einer anderen Perspektive geschrieben als Beyerleins 'Jena oder Sedan'.” Mit diesem „gefährlichen” Romane habe das Kritisieren eingesetzt, allerdings eine Kritik, die mit zahlreichen Irrtümern operiere und schließlich nur ein schiefes Bild ergebe. Am schlechtesten werde der deutsche Offizier, der auch „auf der Bühne noch nie in seiner vollen Tüchtigkeit, noch nie in seines inneren Wesens Eigenart” behandelt worden sei, in der modernen Karikatur dargestellt. „Ich gebe ohne weiteres zu, daß Skandalaffären wie die von Forbach und Pirna, und aktuelle Geschehnisse wie die Militärvorlagen des Reichstags, die Frage der Soldatenmißhandlungen u.s.w., in schärfster Weise von der Satire ausgedeutet werden können, deren unbedingtes Recht gerade das des Widerspruches ist. Nur gegen den allgemein gewordenen Witzblättertyp des Offiziers möchte ich mich wenden. Im Simplicissimus, in den Lustigen Blättern, im Ulk – fast in der gesamten illustrierten satirischen Presse (am seltensten noch im Kladderadatsch) erscheint der deutsche Offizier immer nur als der aufgeblasene Fant, der sich zu einer 'besseren Menschheitsklasse' rechnet, voll Dünkel auf das Zivilistenvolk herabschaut und im berühmten 'Äh-äh'-Ton erhabenen Blödsinn spricht ..., dessen ganzes Wesen einen faden Hochmut ausströmt, dessen ganzes Sichgeben eine große Grimasse ist. Wo giebt es solche Offiziere, wo in so überwiegender Mehrzahl, daß man daraus die Berechtigung ableiten könnte, einen charakteristischen Typus zu formen? Der deutsche Offizier in seiner Gesamtheit ist ein ernster Arbeiter.” –
„Vorwärts-Berlin” vom 9. März 1904
Der Autor des Romans „Erstklassige Menschen” wird, ohne jeden Beweis, jetzt von dem Minister und den staatserhaltenden Parteien als Lump gebrandmarkt. Und doch galt dieser Graf Baudissin bis ganz vor kurzer Zeit noch als wirklich erstklassiger Mensch. Er ist nämlich ein Lieblingsautor des königlichen Schauspielhauses, und als Wilhelm II. nach seiner Operation wieder in der Öffentlichkeit erschien, galt der erste Theaterbesuch einem Militär-Lustspiel dieses Schriftstellers. Das war noch ganz vor kurzem. Und nun ist dieser vom Kaiser ausgezeichnete Autor plötzlich – ein Lump geworden. –
„Hannoverscher Courier” vom 10.März 1904
Zu den unrühmlichen Erzeugnissen der letzten Zeit, welche die Wirkung haben, das deutsche Offizierkorps in Wort und Bild vor dem In- und Auslande herabzusetzen, gehört der Roman aus der Offizierskaste „Erstklassige Menschen” von Wolf Graf Baudissin. Dieses Buch hat durch die Reichstagsverhandlungen der letzten Woche eine eigentümliche Beleuchtung erfahren. Auf der einen Seite wurde es benutzt als Nachweis, wie verrottet es im Adels- und Offiziersstande zugehe, die Rechte bezeichnete den Verfasser kurzerhand als „Lump”. Es scheint aus diesem Grunde angezeigt, auf die Schrift des Grafen Baudissin – weiteren Kreisen bereits als Militärhumorist unter dem Namen Frhr. v.Schlicht bekannt – etwas näher einzugehen.
Eine Lektüre des Buches ist kein erfreuliches Beginnen. Hat man sich durch die 354 Seiten hindurchgequält, so überkommt dem Leser das Gefühl, sich längere Zeit in unsagbar schlechter Gesellschaft befunden zu haben. Solche Menschen, wie sie hier geschildert sind, solcher Ton, wie er hier einem vornehmen Garde-Regiment angedichtet wird, solche Gesinnungen, wie sie hier von sogenannten Ehrenmännern und Familienvätern offen ausgesprochen werden, haben bisher für unerhört gegolten. Man muß sich daher fragen, ob die gegebenen Schilderungen als zutreffend erachtet werden können.
Der Verfasser hat dem Offizierstande selbst angehört und trägt einen angesehenen Namen. Ist er deshalb auch ein zuverlässiger Beurteiler der „Offizierskaste”?
Diese Frage muß unbedingt verneint werden. Menschen, wie sie hier geschildert werden, kann es nur ganz ausnahmsweise geben, nicht aber in einer solchen Anhäufung in einem einzigen Regiment. Handeln und Reden dieser Romanfiguren scheinen nur erfunden, um bissige Ansichten auszusprechen. Das ganze leidet an der offenkundigen inneren Unwahrscheinlichkeit und Unwahrheit.
Ein Garde-Regiment in der Residenz feiert die Einweihung seines neuen Regimentshauses. Ein Leutnant unterhält sich mit einem Gast von den Garde-Unlanen, wie schön es sei, daß seit vier Jahren kein Bürgerlicher mehr dem Regiment angehöre. Bald darauf erhebt sich der anwesende Vertreter Seiner Majestät, bringt das Hoch auf das Regiment aus, teilt aber vorher in seiner offiziellen Rede mit, daß Seine Majestät den Sohn des Geheimen Kommerzienrats Winkler vom Regiment 250 in das Garde-Regiment versetzt habe. Daraufhin ist dem Offizierkorps alle Stimmung vergangen, und das Liebesmahl endet in der kläglichsten Weise. Hierzu muß bemerkt werden, daß eine derartige Mitteilung durch einen Vertreter des Kaisers in dieser Form und bei solchem Anlaß undenkbar ist.
Dieser Leutnant Winkler wird nun als einziger anständiger Mensch dem gesamten Offizierkorps gegenübergestellt. Es gelingt ihm nicht, die hochmütige Fronde der Adelsjunker zu durchbrechen, nur zur Gewährung von Darlehen ist er gut genug. Ferner wird er gewürdigt, die schöne Tochter eines über die Ohren verschuldeten Gardemajors a.D. zu heiraten. Die Briefe, welche das arme Mädchen von ihrem ehrenwerten Vater und noch ehrenwerteren Bruder erhält, um endlich einen reichen Fang zu tun, bieten so ziemlich das Äußerste, was man an unverhüllter Gewöhnlichkeit leisten kann. Die Verhältnisse im Hause des Majors a.D. sind geradezu widerwärtige.
Den Leutnant Winkler hindert übrigens weder seine überlegene Bildung, noch seine erwachende Neigung für ein anständiges junges Mädchen daran, ein Verhältnis mit einer Schauspielerin anzufangen und mit ihr nach Paris zu reisen. Der Verfasser geht über die Berechtigung dieser freien Liebe mit völliger Unbefangenheit hinweg.
Schließlich wird Winkler die Sache im Regiment zu bunt, er verlobt sich mit der Tochter des verschuldeten Majors, bezahlt dem Schwiegervater seine Schulden, schickt den liederlichen Schwager nach Amerika und nimmt den Abschied. Vorher hat er noch als einziger scharfer Beobachter Mißhandlungen entdeckt und an die Öffentlichkeit gebracht. Er hat auch noch den Triumph, zu erleben, daß ein Regimentskamerad von ältestem Adel um seine (Winklers) Schwester, ohne sie zu kennen, ihres Geldes wegen anhält und sich dabei aufs äußerste lächerlich macht.
Anläßlich seines Abschiedes lädt Winkler das gesamte Offizierkorps zu einem solennen Diner in ein vornehmes Restaurant. Die sonst so zurückhaltenden Kameraden bitten ausdrücklich darum, das Fest nicht im Regimentshause zu geben, da man im Kasino immer dasselbe Futter erhielte, und es ihm ja auf einen braunen Lappen nicht ankommen könne. Es müsse aber französischen Sekt geben. Winkler verspricht alles, und das ganze Offizierkorps erscheint zu seinem Feste in einem Restaurant. Sogar der Oberst und der Etatsmäßige sind zugegen, haben den Leutnant in ihrer Mitte und halten taktlose Abschiedsreden.
In welchem deutschen Offizierkorps wären Vorkommnisse wie die geschilderten möglich? Wir glauben: in keinem. Darum ist es auf das tiefste bedauerlich, wenn auch Träger bekannter und ehrenwerter Namen in das Gebiet des unfeinsten Kolportageromans herabsteigen und einen ganzen angesehenen Stand in unerhörter Weise verunglimpfen. Gewiß gibt es manches Reformbedürftige in der Armee – gerade die letzte Zeit hat es gezeigt – aber es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man schreibt, um zu bessern, oder ob man auf die niedrigen Instinkte einer sensationslüsternen Menge zu wirken versucht.
In dieser Beziehung wird sich der Verfasser des Romans die ihm im Reichstage gewordene harte Kritik aufs eigene Konto schreiben müssen.
„Volksblatt (Halle)” Nr. 60 vom 11.März 1904
Erst „erstklassiger Mensch” – jetzt „Lump”! Der Autor des Romans Erstklassige Menschen wird ohne jeden Beweis, jetzt von dem Minister und den staatserhaltenden Parteien als Lump gebrandmarkt. Und doch galt dieser Graf Baudissin bis vor ganz kurzer Zeit als wirklich erstklassiger Mensch. Er ist nämlich ein Lieblingsautor des königlichen Schauspielhauses, und als Wilhelm II. nach seiner Operation wieder in der Öffentlichkeit erschien, galt der erste Theaterbesuch einem Militär-Lustspiel dieses Schriftstellers. Das war noch ganz vor kurzem. Und nun ist dieser vom Kaiser ausgezeichnete Autor plötzlich – ein Lump geworden.
„Prager Tagblatt”, XXVIII.Jahrgg., Nr. 73 vom 13.März 1904
„Der verfolgte Autor.”
Wie das „N. Wr. Tgbl.” aus Dresden berichtet, hat Graf Baudissin (Freiherr v. Schlicht), der Verfasser des vielerörterten und auch in unserem Blatte besprochenen Romans „Erstklassige Menschen” sich ins Ausland begeben, um den in Dresden gegen den dort ansässigen Autor ausgebrochenen Entrüstungsstürmen zu entgehen. Vorher schon hat der Aufsehen erregende Roman auch zu mehrfachen Erörterungen im deutschen Reichstag, sowie zu einer Erklärung des Autors Anlaß gegeben, daß es ihm lediglich darum zu tun gewesen sei, die „Erstklassigen Menschen” an ihre sozialen Pflichten zu erinnern. Den Inhalt des Romans bilden bekanntlich die Vorgänge innerhalb eines feudalen Garderegiments, in dessen Reihen sehr wider den Willen des Obersten und der übrigen Kameraden ein Bürgerlicher als Leutnant versetzt wurde. Da wird nun ausführlich der Kampf geschildert, den er mit seinen adeligen Regimentsgenossen zu bestehen hat, und bei dieser Gelegenheit spart der Autor nicht mit scharfen Kennzeichnungen der in gewissen Sphären herrschenden Sitten, bei denen auch das ewig Weibliche nicht immer am besten wegkommt.
„Volksblatt (Halle)” Nr. 68 vom 20.März 1904
Sonderbar, höchst sonderbar! Daß der Roman des Leutnants a.D. Grafen Baudissin Erstklassige Menschen vom ersten bis zum letzten Buchstaben erfunden und erlogen sei, zu glauben, ist die Pflicht eines jeden, der nicht als vaterlandsloser Geselle gelten will.
Nun ergibt sich aber merkwürdigerweise folgendes: Den Hauptinhalt des Romans bildet die Erzählung von den Schicksalen eines jungen bürgerlichen Offiziers, der in ein Garde-Regiment versetzt, von seinen aristokratischen Kameraden aber durch Ränke und Kniffe aller Art wieder hinausgewimmelt wird.
Wer sich der Mühe unterzieht, die Ranglisten der letzten Jahre ein wenig zu studieren – keine geistreiche, aber auch keine ganz unfruchtbare Beschäftigung – wird die seltsame Entdeckung machen, daß die Offizierkorps einiger Garderegimenter tatsächlich bis vor einigen Jahren vereinzelte bürgerliche Elemente aufwiesen, daß jetzt aber diese sogenannten „Renommierschulzes” aus den Garderegimentern völlig verschwunden sind.
Graf Baudissin erzählt in diesem Rahmen auch von unge- [hier fehlt eine Zeile. D.Hrsgb.] -derbar, daß sich diese Schilderungen fast bis in jede Einzelheit mit dem Fall Breidenbach decken, der beim 4. Garde-Füsilier-Regiment [sic! D.Hrsgb.] spielte.
Im Roman des Grafen Baudissin heißt der Held Leutnant Winkler. Unter den wenigen Bürgerlichen, die vordem bei der Garde standen, befindet sich sonderbarer, höchst sonderbarer Weise ein Leutnant Werner. Von den Sitten, die in solchen aristokratischen Offizierkorps herrschen – nebenbei gesagt, gehören auch die 4. Kürassiere, bei denen Prinz Arenberg stand, zu den „reinen” – weiß der Graf und Leutnant a.D. abenteuerliche Geschichten zu erzählen. Und jetzt wird sonderbarer- höchst sonderbarerweise eine Geschichte aus der Gardegarnison Potsdam kolportiert, daß von dort 8 „lebenslustige” Offiziere versetzt worden seien, in deren Gesellschaft der Kronprinz sich bewegte. Die Versetzung soll nach der einen Version auf einen Besuch des Schauspieles Zapfenstreich zurückzuführen sein, nach der anderen aber auf ein Abenteuer, das einer Dame auf der Fahrt zwischen Potsdam und Berlin passierte.
Und während der verhältnismäßig noch sehr harmlose Bilse im Gefängnis sitzt, läuft der Graf Baudissin frei, ja sogar ohne das kleinste Duellchen in der Welt herum.
Diese Feststellungen dürften für diesmal genügen. Bekanntlich hat der Kriegsminister zugestanden, daß die ganze herrschende Gesellschaft faul und verrottet sein müßte, wenn der Roman des Grafen und Leutnant a.D. auf Wahrheit beruhte.
„Hannoverscher Courier” vom 23.März 1904
Der viel erörterte Baudissinsche Roman „Erstklassige Menschen” wurde gestern in den Berliner Buchhandlungen beschlagnahmt.
„Neue Freie Presse”, Wien, vom 23.März 1904, Abendblatt
[Konfiskation eines Romans.]
Aus Berlin wird uns berichtet: Der Militärroman „Erstklassige Menschen” vom Grafen Baudissin der unter dem Pseudonym Freiherr v. Schlicht schreibt, ist auf Anordnung der Berliner Staatsanwaltschaft in den Berliner Buchhandlungen beschlagnahmt worden. Der Roman, der offenbar mehr nach den buchhändlerischen Erfolgen des Lieutenants Bilse als nach künstlerischen Zielen strebt und gar keinen literarischen Wert besitzt, ist bei den letzten Debatten über den Militäretat mehrfach erwähnt worden. Die sozialdemokratischen Redner deuteten an, daß der Roman zahlreiche Anspielungen auf Offiziere des ersten Gardefüsilier-Regiments und auf Vorgänge, die sich innerhalb dieses Regiments zugetragen haben sollen, enthalte. Der Prozeß, der sich an die Beschlagnahme des Buches anschließen und der, da Graf Baudissin nicht mehr Offizier ist, vor dem bürgerlichen Gerichte geführt werden wird, wird voraussichtlich Aufklärung darüber bringen, was an den Andeutungen der sozialdemokratischen Redner Wahres ist.
„Prager Tagblatt”, XXVIII.Jahrgg., Nr. 83 vom 23.März 1904
Der Roman „Erstklassige Menschen” konfisziert.
Der vielbesprochene Militärroman „Erstklassige Menschen” von Grafen Baudissin (Freiherrn v. Schlicht), ist auf Anordnung der Berliner Staatsanwaltschaft in den Berliner Buchhandlungen beschlagnahmt worden. Der Roman, der offenbar mehr nach dem Buchhandlungs-Erfolge des Leutnants Bilse, als nach künstlerischen oder literarischen Zielen strebt, ist bei den letzten Debatten über den Militäretat im deutschen Reichstage mehrfach erwähnt worden. Sozialdemokratische Redner deuteten an, daß der Roman Anspielungen auf Offiziere des 1. Füsilier-Regiments und Ereignisse, die sich in diesem Regimente zugetragen haben sollen, enthalte. Der Prozeß, der sich an die Beschlagnahme des Buches schließen und vor den bürgerlichen Gerichten geführt werden wird, dürfte voraussichtlich darüber nähere Aufklärungen bringen.
„Volksblatt (Halle)” Nr. 71 vom 24.März 1904
Der staatsgefährliche Roman. In den Berliner Buchhandlungen ist der Roman Erstklassige Menschen des Grafen Baudissin (Freiherr von Schlicht) polizeilich beschlagnahmt worden.
Die Beschlagnahme ist nur eine Reklame für den Roman, der bekanntlich die Sittenschilderung aus dem Offizierkorps eines Berliner Garderegiments enthält. Außerdem ist der Roman schon in Tausenden von Exemplaren verbreitet, so daß die neueste Polizeiaktion gegen ein Buch wie immer ziemlich unrühmlich ist.
„Neuer Görlitzer Anzeiger” vom 24.März 1904
Der Militärroman des Freiherrn v.Schlicht (Graf Baudissin) „Erstklassige Menschen”, der in der letzten Zeit viel von sich reden machte und auch im Reichstage erwähnt wurde, ist in Berlin beschlagnahmt worden.
„Arbeiter-Zeitung, Wien”, vom 24.März 1904:
Wie aus Berlin berichtet wird, hat die Berliner Staatsanwaltschaft den Militärroman „Erstklassige Menschen” des Grafen Baudissin – bekannt unter dem Pseudonym Freiherr v. Schlicht – gestern in den Buchhandlungen mit Beschlag belegt. Der Roman wurde in den Heeresdebatten im Reichstag wiederholt erwähnt. Ein Konservativer bezeichnete, als Bebel auf die Schilderungen von dem Leben der Gardeoffiziere zu sprechen kam, die in den „Erstklassigen Menschen” entworfen werden, den Verfasser als „Lumpen”. Unzweifelhaft wurde der Roman geschrieben, um die durch Beyerleins „Sedan oder Jena” geschaffene günstige Konjunktur auszunützen; er ist ebenso ohne allen künstlerischen Wert wie Bilses „Kleine Garnison”, ob er aber gleichwohl nicht vielleicht aus der Wirklichkeit geschöpft ist, muß nun der Prozeß erweisen, der, da Baudissin nicht mehr Offizier ist, vor einem Zivilgericht geführt werden wird. Wie übrigens der „Vorwärts” meldet, wurden bei der Beschlagnahme entgegen den Vorschriften des Preßgesetzes nicht jene Stellen angegeben, die strafbar sein sollen. Ja, es wurde nicht einmal mitgeteilt, auf Grund welcher Paragraphen des Strafgesetzbuches das Strafverfahren eingeleitet worden sei.
„Leipziger Volkszeitung” vom 24.März 1904:
Wie wir gestern kurz mitteilten, ist der Roman des Grafen Wolf Baudissin: Erstklassige Menschen in Berlin beschlagnahmt worden. Gegen den Verfasser soll von der Militärbehörde Strafantrag gestellt worden sein. Die erste Anregung zu einem strafrechtlichen Verfahren gegen den Grafen Baudissin gab Bebel in der Sitzung des Reichstags vom 4.März. Er sagte, es sei Sache des Kriegsministers, hier einzuschreiten. Wenn auch nur der dritte Teil von dem wahr sei, was Baudissin erzähle, so sei ein Maß von Korruption, Verderbtheit und Sittenlosigkeit offenbar geworden, wie man sich Ärgeres kaum denken könne. Der Kriegsminister hat es sich also nahezu drei Wochen lang überlegt, ob er gegen Baudissin vorgehen sollte oder nicht. Wir finden es sehr begreiflich, daß es Herr von Einem lieber vorgezogen hätte, die Sache auf sich beruhen zu lassen und den Roman einfach für ein literarisch minderwertiges Machwerk zu erklären, das einer ernsthaften Entgegnung gar nicht wert sei. Stimmten doch fast sämtliche bürgerlichen Blätter, dieselben Blätter, die bisher Baudissins satirische Militärhumoresken ihren Lesern als literarische Leckerbissen vorsetzten, dem Kriegsminister ohne weiteres bei und degradierten ihren früheren Liebling Baudissin mit einem Male zum geldgierigen Sudelfritzen, zum geistlosen Bilse-Imitator. Die Vossische Zeitung schreibt sogar: „Wer nicht erkennt, daß dieser Roman eine öde, auf die niedrigste Sensationslust berechnete Nachahmung der Beyerlein und Bilse ist, wertlos als Kunstwerk wie als Sittenschilderung, unglaublich und ungeheuerlich in ungezählten Einzelheiten, eine einzige falsche Verallgemeinerung im Ganzen: dem wird auch durch ein richterliches Urteil nicht zu helfen sein.”
Nun, auf den Roman selbst kommt es gar nicht an. Ob eine Anklageschrift wohl durchdacht und fein stilisiert oder grob zusammengezimmert und flüchtig hingeworfen ist, ändert durchaus nichts an den Delikten des Angeklagten. Daß man immer wieder auf die literarische Minderwertigkeit des Romans hinweist, zeigt nur zu deutlich, daß man einer sachlichen Erörterung aus dem Wege gehen will. Unter ästhetischem Naserümpfen möchte man das Bewußtsein der Heuchelei verbergen. Und in der Tat, es ist nichts anderes als Heuchelei, wenn man die Schilderungen Baudissins als Truggestalten einer unsauberen Phantasie, oder doch wenigstens als böswillige Verallgemeinerung bedauerlicher Ausnahmefälle hinstellt.
Ausnahmen können sich im Offizierkorps keine drei Tage lang halten. Die ganze Tendenz dieser Kaste läuft ja auf die Vernichtung jeder Originalität, jeder ausgesprochenen Persönlichkeit hinaus. Gerade das, was man der Sozialdemokratie zum Vorwurf machen möchte, die geistige Nivellierung der Menschheit, das ist innerhalb des Offizierkorps schon längst erreicht. Jeder Angehörige dieser exklusiven Gesellschaft wird sowohl körperlich wie geistig so lange in die spanischen Stiefel der Kastentradition eingeschraubt, bis er die gültige Speziesform erreicht hat. Die laxe Auffassung der geschlechtlichen Moral, der Herrendünkel, der jedes begehrte Weib für das Eigentum des verlangenden Mannes hält und aus der Donjuanerie einen hochehrenwerten Sport gemacht hat, ist eben schon seit den Zeiten der Troubadours im Ritterstande und in dem ihm verwandten Offizierkorps traditionell. Während die Donjuanerie früher auf den Turnieren poetisch verklärte Feste feierte, bewegt sie sich heute auf dem offenen Markt der käuflichen Liebe oder in der verschwiegenen Kemnade der Ehebrecherin.
Gewiß sind nicht alle Offiziere zur Donjuanerie veranlagt, aber sie ist nun einmal in ihrem Stande Sitte, und des Standes Sitte ist das Hauptregulativ für die Handlungsweise der Offiziere. Auch nicht jeder Korpsstudent ist Biertrinker aus Neigung, aber der Komment zwingt ihn eben zum Suff. Da nun einmal seit dem Erscheinen der Syphilis in Europa Amor auch vergiftete Pfeile schießt, führt fast jeder ausgiebig betriebene Venusdienst zur venerischen Verseuchung. Es ist ein offenes Geheimnis, daß gerade das Offizierkorps prozentual am meisten unter der Lustseuche zu leiden hat. Baudissin sagt hiermit gar nichts neues, und es ist einfach Heuchelei, wenn man ihn der Übertreibung beschuldigt.
Im Militär selbst weiß man hier schon Bescheid. Ein Roßarzt bei einem feudalen Feldartillerieregiment erzählte dem Schreiber dieses ganz offen, daß fast sämtliche Offiziere des Regiments venerisch seien. Er (der Roßarzt) hüte sich sogar, mit diesen Kameraden im Manöver aus einem Glase zu trinken. In einer bekannten Bäderstadt bat eine Zimmervermieterin einen Sanitätsunteroffizier, ihr doch die in der Stadt zur Kur weilenden Offiziere zuzuweisen. Nach einiger Zeit beschwerte sie sich jedoch bitter, daß ihr immer geschlechtskranke Herren zugeschickt würden. Ja, sagte der Unteroffizier, wenn sie an Offiziere vermieten wolle, dann müsse sie darauf gefaßt sein. In einer Garnisonstadt am Main war es ganz allgemein bekannt, daß sich ein junger Offizier besonders schwer infiziert hatte. Nichtsdestoweniger heiratete der Herr Leutnant, um seine Schulden bezahlen zu können, eine reiche Frau und hatte schon nach kurzer Zeit auch seine Gattin angesteckt, die sich daraufhin von ihrem Herrn Gemahl scheiden ließ. Ein badischer Magnat und Major à la suite in einem Gardekavallerie-Regiment verfaulte bei lebendigem Leib — und der ganze Schwarzwald wußte, woran Durchlaucht litt. Der Sohn eines sehr hohen Herrn wurde vom 1. Garde-Regiment zu Fuß zum Leibgarde-Regiment in Darmstadt versetzt. Hier stellte sich heraus, daß der junge Prinz an Gehirnsyphilis litt. Ein Hauptmann, Freiherr von G., mußte seinerzeit in einer mitteldeutschen Garnisonstadt alle paar Monate das Lazarett aufsuchen; jeder Gemeine der Kompanie wußte, was dem Herrn Hauptmann fehlte.
In einer Festung am Rhein machten die jungen Offiziere aus ihren geschlechtlichen Ausschweifungen gar kein Hehl. Ein Leutnant M. hatte Tag für Tag Weiber auf seiner Bude, unbekümmert darum, daß ein neben ihm wohnender Kaufmann jedes Wort hören konnte, das im Zimmer des Leutnants gesprochen wurde. Die Dirnen der Freudenhäuser kannten fast sämtliche jüngeren Offiziere der Garnison und renommierten auch den Zivilbesuchern gegenüber mit ihren intimen Beziehungen zum Offizierkorps.
Jeder, der mit Offizierskreisen in Berührung gestanden hat, weiß, daß Baudissin nicht übertrieben hat. Wozu also die abstoßende Heuchelei, das lächerliche Getue. Es handelt sich ja nur um ein öffentliches Geheimnis.
Auch was Baudissin über die oft so mangelhafte Bildung der Offiziere schreibt, ist nur zu wahr. Sogar ältere Herren leisten sich hier noch nette Stückchen. Der etatsmäßige Stabsoffizier eines Ulanenregiments, Major von B., war wegen seiner originellen Orthographie bei allen Behörden bekannt, die das Glück hatten, ein Handschreiben von ihm zu erhalten. So schrieb er zum Beispiel niemals Manöver, sondern stets Mannöver. Für einen Major, der jetzt wohl Regimentskommandeur sein dürfte, gewiß ein starkes Stück.
Wir würden diese Einzelheiten, die wir noch um hundert Fälle vermehren könnten, nicht angeführt haben, wenn nicht die Heuchelei, die sich im Fall Baudissin bis in die bürgerlichen Winkelblättchen hinein mit scheinheiliger Miene breit macht, dazu aufforderte. Jeder, der das Offizierkorps näher kennt, weiß, daß der Sumpf, den Baudissin aufgedeckt hat, keine Theaterdekoration, sondern ein echter, wirklicher Sumpf ist. Ob der Roman an sich wertlos ist oder nicht, darauf kommt es in diesem Falle gar nicht an.
„Niederschlesische Zeitung” vom 25.März 1904
Die Sozialdemokratie hat Glück. Jetzt hat ihr gar der Kriegsminister einen Gefallen getan. Denn nur von ihm kann der Strafantrag gegen den Grafen Wolff Baudissin ausgehen und nur auf Grund dieses Strafantrages das Verfahren gegen den Verfasser und seinen „Roman” eingeleitet sein. Wie die „Voss. Ztg.” hört, ist das viel erörterte Buch „Erstklassige Menschen” in Berliner Buchhandlungen beschlagnahmt worden. Damit hat Herr Bebel erreicht, was er beabsichtigte. Er verlangte am 4.März im Reichstage dringend, daß der Kriegsminister gegen den Dichter einschreite. Wenn die Schilderungen, die der unter dem Namen eines Freiherrn v.Schlicht schreibende Graf Wolff Baudissin von den Zuständen in einem Garderegiment giebt, auch nur zum dritten Teil wahr sind, so sei „ein Maß von Korruption, Verderbtheit und Sittenlosigkeit offenbar geworden, wie man sich Ärgeres kaum denken kann”. „Es ist Sache der Militärverwaltung, den Tatbestand feststellen zu lassen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Der Verfasser ist Militär. (Lebhafte Zwischenrufe rechts: Nein!) Nun, dann war er es. Wenn die Militärverwaltung Klarheit schaffen will, hat sie die Möglichkeit, auch vor dem Zivilgericht das herbeizuführen.”
Also Herr Bebel fordert, daß der Kriegsminister dem früheren Oberleutnant Grafen Wolff Baudissin den Prozeß mache, und zwar, da er nicht mehr der Militärgerichtsbarkeit untersteht, vor dem bürgerlichen Strafgericht. Sollte Graf Baudissin verurteilt werden, vielleicht zu empfindlicher Freiheitsstrafe, so kann er sich bei Herrn Bebel und der Sozialdemokratie bedanken. Herr Bebel war auf den Prozeß so versessen, daß er die Militärverwaltung verspottete, sie werde nach den Forbacher Erfahrungen keine Neigung haben, „gegen den Grafen Baudissin einen zweiten Prozeß ins Leben zu rufen.” Das sei auch vom Standpunkt der Militärverwaltung „bis zu einem gewissen Grade gerechtfertigt”. Vielleicht aber werde Graf Baudissin Veranlassung nehmen, „sich etwas deutlicher auszusprechen, ob das, was er in seinem Roman schildert, nur als Phantasiegebilde besteht, oder ob es der Wahrheit entspricht.”
Zum Überfluß kam dann noch der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Gradnauer, um recht klar zu sagen, welches Vergehens sich Graf Wolff Baudissin schuldig gemacht hat, wenn er nicht alles, was er in seinem „Roman” vorbringt, beweisen kann. Er führt aus:
„Wenn solche Anklagen gegen die sogenannten edelsten Offizierkorps erhoben werden, wenn mit genauer Bezeichnung des Regiments — „Zitronenfalter”! jedes Berliner Kind weiß, welches Regiment damit gemeint ist — das Offizierkorps der fortdauernden Überschreitung der kaiserlichen Kabinettsordres über Schuldenmachen, Spiel usw. bezichtigt wird, dann hätte wohl die Heeresverwaltung allen Anlaß, bei jenem Regimente eine ernste Untersuchung eintreten zu lassen, ob etwas Wahres an der Sache ist. Wenn nichts Wahres daran ist, dann kann der Herr Kriegsminister später sagen: es ist nicht wahr. Aber jetzt hier zu sagen: das Offizierkorps ist nie schlimmer mir Schmutz beworfen worden, aber es ist nur ein Roman, darum kümmere ich mich nicht, — das scheint mir doch der Sache in keiner Weise zu entsprechen.”
Nun also wußte es der Kriegsminister genau. Wenn jedes Kind in Berlin weiß, welches Regiment unter den „Zitronenfalter” gemeint ist, so wird es auch General v.Einem und mit ihm der Staatsanwalt wissen müssen; dank Herrn Gradnauer ist also der Tatbestand festgestellt: schwerste Beschuldigungen, nehmen wir einmal an, gegen das Garde-Füsilier-Regiment in Berlin. Herr Gradnauer sprach zwar nur von einer „ernsten Untersuchung bei jenem Regiment”. Aber Herr Bebel hatte darauf hingewiesen, daß die ernste Untersuchung nicht im Verwaltungswege, sondern im Prozeßwege, vor dem bürgerlichen Strafgericht, erfolgen müsse. Sollte sich aber dieser Prozeß auf Zeitungen ausdehnen, die die Anschuldigungen des Grafen Baudissin wiedergegeben haben, so können sich, wenn auf empfindliche Strafe erkannt werden sollte, die Herren Bebel und Gradnauer befriedigt die Hände reiben. Ihre öffentliche Anzeige an den Staatsanwalt hätte Erfolg gehabt.
Aber was kommt es der Sozialdemokratie auf das Ergebnis des Prozesses für die angeklagten Personen an? Graf Wolff Baudissin wird doch wohl genötigt sein, den Beweis der Wahrheit anzutreten, und wenn auch nur ein Drittel, ein Zehntel, ein Hundertstel von den Anschuldigungen gegen das Offizierkorps erwiesen wird, wenn nur irgend etwas davon übrig bleibt, hat Herr Bebel seinen Zweck erreicht. Es giebt einen grandiosen Skandal mit einer Unmasse Zeugenvernehmungen. Und tritt eine Verurteilung ein, so wird sie als schreiende Ungerechtigkeit gebrandmarkt. In jedem Falle Wasser auf die sozialdemokratischen Mühlen! Eben deshalb halten wir die Einleitung dieses Prozesses für völlig verkehrt. Die „Erstklassigen Menschen” sind ein so plattes, geistloses Machwerk, daß die Militärverwaltung seine Beurteilung ruhig den Lesern überlassen konnte. Wer nicht erkennt, daß dieser „Roman” eine öde, auf die niedrigste Sensationslust berechnete Nachahmung der Beyerlein und Bilse ist, wertlos als Kunstwerk wie als Sittenschilderung, unglaublich und ungeheuerlich in ungezählten Einzelheiten, eine einzige falsche Verallgemeinerung im ganzen, dem wird auch durch ein gerichtliches Urteil nicht zu helfen sein.
Nun ist es jedoch, wie niedrig man auch die „Erstklassigen Menschen” stelle, nichts weniger als sicher, daß eine Verurteilung erfolgt. Ein anderes ist der Kunstrichter, ein anderes der Strafrichter. Auch kann ein Werk als unwahrhaftig und tendenziös verworfen werden, ohne daß es darum dem Strafgesetz zu widerstreiten braucht. Es ist gar nicht ausgemacht, daß Graf Baudissin zugiebt, die Zustände in einem bestimmten Regiment geschildert, seine Angriffe gegen die Offiziere just des Garde-Füsilier-Regiments, auf das Herr Gradnauer vielleicht hinweist, gemünzt zu haben. So armselig sein „Roman” ist, so kann der Verfasser doch einwenden, daß er Personen und Handlung aus der Phantasie geschöpft habe, was jedes Dichters gutes Recht ist. Und der Gerichtshof kann diesen Einwand als berechtigt ansehen und auf Freisprechung erkennen. Was wäre dann der Erfolg des Prozesses? Eine gewaltige Reklame für das Buch. Man weiß, wie der auffällige Umschlag wirkt: „Konfisziert gewesen!” Schon die Meldung von der Beschlagnahme wird den heimlichen Vertrieb des Buches bedeutend fördern und ihm, namentlich im Auslande, einen großen Absatz sichern.
Der „Roman” des Grafen Baudissin hat selbst in Kreisen, die sich von jeder Vorliebe für den Militarismus frei wissen und an Mißständen im Offizierkorps rückhaltlose Kritik üben, eine Aufnahme gefunden, die den Kriegsminister jeder Notwendigkeit weiteren Einschreitens gegen das Buch und seinen Verfasser enthoben hätte. Daß er dennoch die Beschlagnahme veranlaßte, wird nur der Sozialdemokratie zur Genugtuung gereichen.
„Vorwärts-Berlin” vom 29. März 1904
Wird in der „Post” wegen des Falles Baudissin dringend empfohlen. Dem Blatt wird von militärischer Seite geschrieben:
Der Umstand, daß gegen den Verfasser der „Erstklassigen Menschen” nicht ehrengerichtlich eingeschritten wird, dient der socialdemokratischen und sonstigen militärfeindlichen Presse als willkommene Unterlage für die Unterstellung der Ungangbarkeit dieses Weges, weil das genannte Buch eine wahrheitsgetreue Schilderung der Verhältnisse innerhalb des Offiziercorps, besonders der Garde-Regimenter enthalte. Der Weg wäre seitens der Militärbehörde schon längst beschritten worden, stände nicht ein unübersteigliches Hindernis entgegen – daß nämlich der Oberlieutenant a.D. Graf von Baudissin nicht mehr den Ehrengerichten untersteht. Nach §4 der allerhöchsten, jedermann zugänglichen Verordnung über die Ehrengerichte vom 2.Juni 1874 sind denselben nur diejenigen Offiziere a.D. unterworfen, welchen das Recht zum Tragen der Uniform verliehen worden ist. Dies trifft bei dem Grafen Baudissin nicht zu.
Nun tritt bei den ehrengerichtlichen Bestimmungen folgendes, leider jetzt recht bedeutsam gewordenes Verhältnis ein: Ein die Berechtigung zum Tragen der Uniform besitzender Offizier a.D. kann nach §51,6 der Verordnung wegen ehrenrühriger Vergehen schwerwiegendster Art mit Entfernung aus dem Offiziersstande bestraft werden. Dies schließt nach §53 nicht nur den Verlust der Uniform, sondern auch des Offizierstitels in sich. Einen milderen Spruch hätte wohl kein deutsches Offiziercorps einer derartig unerhörten, durch und durch unwahren Schmähschrift wie den „Erstklassigen Menschen” gegenüber der allerhöchsten Bestätigung unterbreitet.
Dem gegenüber sind die ohne Uniform verabschiedeten Offiziere günstiger gestellt. Lediglich um ehrenrühriger Handlungen willen kann ihnen der Offizierstitel nicht genommen werden. Für sie giebt erst der Zusammenstoß mit dem bürgerlichen Reichs-Strafgesetzbuch – §§ 31 bis 34 – die Handhabe hierzu. Da aber das Recht zum Tragen der Uniform nur infolge der Teilnahme an einem Feldzuge oder nach langjähriger vorwurfsfreier Dienstzeit gewährt wird, so befindet sich gerade der jünger verabschiedete, weniger gereifte und leichter entgleisende Teil in der unangreifbaren Stellung. So ist es also nur zu erklärlich, daß Männern, deren unehrenhafte Handlungsweise mit dem Geist und den Anschauungen im Offiziercorps in grellem Widerspruch steht, der Name als Offizier belassen werden muß.
Die „militärische Seite” macht deshalb den Vorschlag, daß künftig gegen alle Offiziere durch ein Offiziersehrengericht auf Ausstoßung aus dem Offiziersstande erkannt werden müsse.
Was durch eine solche Ausdehnung der ehrengerichtlichen Offiziersfeme dem Volke gegenüber geändert werden könnte, ist uns nicht recht verständlich. Wenn ein Offiziersehrengericht den Grafen Baudissin des Rechtes, den vornehmsten Rock zu tragen für verlustig erklären würde, so würde das Publikum darin nicht eine Wiederlegung der Baudissinschen Darstellung erblicken, sondern lediglich die Aktion eines aus falschem Standesbewußtsein befangenen Tribunals. Würde doch das Offiziers-Ehrengericht nur als Vertreterin des angeklagten Offiziercorps gelten!
Inzwischen ist gegen den Verfasser der „Erstklassigen Menschen” auf Grund der §§ 185, 194, 196, 200, 40 (wegen Beleidigung, Beleidigung von Mitgliedern der bewaffneten Macht, speciell öffentlicher Beleidigung) Anklage vor dem bürgerlichen Gericht erhoben worden. Man scheint also, wie im Fall Bilse, die Absicht von Porträtahnlichkeit entdeckt zu haben und nun beweisen zu wollen, daß die Porträts nicht naturgetreu wiedergegeben sind. –
„Volksblatt (Halle)” Nr. 77 vom 31.März 1904
Das Strafverfahren gegen den Grafen Baudissin ist nun doch eingeleitet worden. Der Verfasser der Erstklassigen Menschen wird sich vor dem bürgerlichen Strafgericht in Berlin wegen Beleidigung, Beleidigung von Mitgliedern der bewaffneten Macht, zu verantworten haben.
Forbach in Berlin! heißt also das neueste Kapitel der militaristischen Skandalgeschichte.
„Vorwärts-Berlin” vom 13. April 1904
Wir werden um Aufnahme der folgenden Zuschrift ersucht:
„Auf einer Orientreise begriffen, erhielt ich am 10.März in Alexandrien ein Zeitungsblatt, das in den Reichstagsverhandlungen auch einen mich persönlich aufs schwerste beleidigenden Zwischenruf zu meiner Kenntnis brachte, der eine sofortige Genugthuung meinerseits erfordert. Ich habe daraufhin umgehend an den Herrn Präsidenten des Reichstages, Herrn Grafen v.Ballestrem die Bitte gerichtet, mir den Namen desjenigen Herrn Abgeordneten zu nennen, der meine Ehre aufs schwerste verletzt hat, um die Angelegenheit alsdann sofort in geeigneter Weise zum Austrag bringen zu können. Die Antwort des Herrn Präsidenten, welche besagt, daß die Geschäftsordnung des Reichstages ihm keine Handhabe gäbe, einen am 4.März während der Plenarsitzung gefallenen, von der amtlichen Stenographie nicht wiedergegebenen Zwischenruf der Ermittlung durch Vorlesung meiner Eingabe dem Reichstage entgegenzuführen, erhielt ich erst jetzt nach meiner beschleunigten Rückkehr in Dresden.
Demgemäß habe ich selbstverständlich jetzt sofort die weiteren mir geeignet erscheinenden Schritte getan.
Dresden, den 11.April 1904.
Wolf Graf v.Baudissin
(Freiherr v.Schlicht.)
Die Zuschrift beweist, daß der Graf Baudissin noch durchaus in den Lebensaunschauungen der „erstklassigen Menschen” befangen ist. Auch aus diesem Grunde läßt sich nicht annehmen, daß der Graf die Absicht gehabt haben könnte, aus Militärhaß in wahrheitswidriger Weise die Offiziere anzugreifen. Er wollte vielmehr durch Geiseln die Sitten bessern!
Jener Zwischenruf fiel aus der Mitte „erstklassiger Menschen”. Unter anständigen Menschen dürfte es selbstverständlich sein, sich unter solchen Umständen zu nennen! –
„Neue Hamburger Zeitung” vom 13.April 1904
— Der Verfasser des Militärromans „Erstklassigen Menschen”, Graf Wolf v. Baudissin (Pseudonym: Frhr. v. Schlicht) versendet eine Erklärung, wonach er sich an den Präsidenten des Reichstages gewandt habe mit der Bitte, ihm den Namen des Abgeordneten zu nennen, der in der Reichstagssitzung vom 4.März d.J. einen ihn beleidigenden Zwischenruf gemacht habe. Der Präsident habe ihm mitgeteilt, daß er den Namen nicht wisse und nicht angeben könne. Graf Baudissin erklärt, daß er weitere ihm geeignet erscheinende Schritte getan habe.
„Neue Hamburger Zeitung” vom 13.April 1904
Der ominöse Zwischenruf.
Der Verfasser des Romans „Erstklassige Menschen”, Graf Wolf v. Baudissin, ist bekanntlich, wie er in einer öffentlichen Erklärung zu erkennen gegeben hat, auf der Suche nach dem Abgeordneten, der ihn im Reichstage durch einen Zwischenruf beleidigt hat. Die betreffende Szene spielte sich am 4.März ab, als der Abg. Bebel den Inhalt von „Erstklassige Menschen” zur Sprache brachte. Der stenographische Bericht darüber lautet wie folgt. Abg. Bebel bemerkte:
„Ich fürchte, daß nach den Vorgängen in Forbach, wo man auch nicht geglaubt hatte, daß es wahr wäre, was Bilse schildert, und dann zur Ueberraschung erfuhr, daß alles wahr war, keine Neigung haben wird, gegen den Grafen Baudissin einen zweiten Prozeß ins Leben zu rufen. (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. — Große Unruhe rechts.) Ich halte dies vom Standpunkt der Militärverwaltung auch bis zu einem gewissen Grade für gerechtfertigt. Aber wenn ein Mann aus einer ersten Adelsfamilie Deutschlands (Zuruf rechts) — Lump wird mir zugerufen. Das ist nicht meine Sache. Ich weiß ja, daß es Lumpen in diesen Kreisen in Hülle und Fülle gibt, weit mehr, als man bisher glaubte. (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. — Große Unruhe rechts.) Daß der Graf Baudissin, der bekannte Schriftsteller, von den Herren der Rechten als Lump bezeichnet wird, da weiß ich nicht, mit welchem Rechte.”
Wie aus seiner mitgeteilten Erklärung hervorgeht, beabsichtigt Graf Baudissin wahrscheinlich, dem Urheber des Zwischenrufes mit einer Pistolenforderung auf den Leib zu rücken.
„Neue Hamburger Zeitung” vom 14.April 1904
— Die Veröffentlichung des Grafen Wolf Baudissin („Frhr. v. Schlicht”) mit Bezug auf den Zwischenruf in der Reichstagssitzung vom 4.März regt eine besondere Frage an. Der Reichstagspräsident Graf Ballestrem hat sich mit diesem für den Verfasser der „Erstklassigen Menschen” beleidigenden Zwischenruf nicht befassen zu können erklärt. Diese Präsidialmaxime ist angreifbar und müßte, worauf in der „Magdeburger Zeitung” hingewiesen wird, bedenkliche Konsequenzen nach sich ziehen. In der ersten Zeit des deutschen Reichstags hütete man sich davor, Nichtangehörige des Hauses polemisch mit Namen zu nennen, wenn sie dem Parlament dazu auch das formelle Recht gaben; jetzt geht man aus dem Hintergrunde mit beleidigenden Zwischenrufen gegen Abwesende vor. Das Ansehen des Reichstags verlöre wohl nicht, wenn der Urheber jenes Zwischenrufes sich zur Nennung seines Namens bewogen fühlte oder dazu genötigt würde. Man weist in dieser Hinsicht auf einen älteren Präzedenzfall hin, dessen Verlauf beiden Teilen zur Ehre gereichte und eine peinliche Episode zu harmonischem Abschluß brachte. In den ersten achtziger Jahren rief einmal der Reichtagsabgeordnete Oberamtmann Struve in eine Rede des Fürsten Bismarck das Wort „wahrhaft schamlos” hinein: der Kanzler verlangte den Namen des Rufers und wiederholte erregt die Aufforderung; dem zweiten Verlangen kam Herr Struve nach und erhielt einen Ordnungsruf. — Der Urheber des Zwischenrufs gegen den Grafen Baudissin sitzt, wie bekannt, auf konservativen Bänken!
„Volksblatt (Halle)” Nr. 89 vom 14.April 1904
Graf Baudissin, der von einer Reise nach Ägypten zurückgekehrt ist, teilt mit, daß er erst am 10. März von dem beleidigenden Ruf, den ein konservativer Reichstagsabgeordneter während Bebels Rede gegen ihn gerichtete hatte: „Er ist ein Lump!” Kenntnis erhalten habe. Er habe sich an den Reichstagspräsidenten gewendet, um den Namen des Beleidigers zu erfahren, „um die Angelegenheit alsdann in geeigneter Form zum Austrag bringen zu können”, habe aber eine ausweichende Antwort erhalten.
Das gegen den Grafen Baudissin, den Verfasser der „Erstklassigen Menschen”, von einem Standesgenossen geschleuderte Schimpfwort beweist in den Augen vernünftiger Menschen zwar viel für die parlamentarischen Umgangsformen der Rechten, aber gar nichts gegen den Grafen Baudissin. Graf Baudissin wird die Sache am besten in der Weise zum Austrag bringen können, daß er bei dem bevorstehenden Beleidigungsprozeß den Wahrheitsbeweis für die in seinem Roman enthaltenen Behauptungen antritt. Das wird ihn zwar vor unflätigen Beschimpfungen der „Erstklassigen” nicht bewahren, aber seiner Ehre durchaus Genüge leisten.
Ein sonderbarer Zufall will es übrigens, daß die Abendblätter, die die Erklärung des angegriffenen Militärschriftstellers veröffentlichen, auch die Mitteilung bringen, daß dessen Bruder [recte: Vetter. D.Hrsgb.], Kontreadmiral Graf Baudissin, zum Inspekteur der ersten Marineinspektion ernannt worden ist.
„Braunschweiger Volksfreund” vom 14.April 1904
Ein Duell scheint ein Zwischenruf im Reichstag noch zur Folge haben zu sollen. Am 4.März brachte der Abg. Bebel im Reichstag den Inhalt des Buches des Grafen v.Baudissin (Frhrn. v.Schlicht) „Erstklassige Menschen” zur Sprache. Hierbei spielte sich eine Szene ab, über welche der stenographische Bericht wörtlich, wie folgt, berichtet. Bebel sagte:
„Ich fürchte, daß man nach den Vorgängen in Forbach, wo man auch nicht geglaubt hatte, daß es wahr wäre, daß Alles wahr war, und dann zur Überraschung erfuhr, daß Alles wahr war, keine Neigung haben wird, gegen den Grafen Baudissin einen zweiten Prozeß ins Leben zu rufen. (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. – Große Unruhe rechts.) Ich halte dies vom Standpunkt der Militärverwaltung auch bis zu einem gewissen Grade für gerechtfertigt. Aber wenn ein Mann aus einer ersten Adelsfamilie Deutschlands (Zuruf rechts) – Lump wird mir zugerufen. Das ist nicht meine Sache. Ich weiß ja, daß es Lumpen in diesen Kreisen in Hülle und Fülle giebt, weit mehr, als man bisher glaubte. (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten – Große Unruhe rechts.) Daß der Graf Baudissin, der bekannte Schriftsteller, von den Herren von der Rechten als Lump bezeichnet wird, da weiß ich nicht, mit welchem Rechte.”
Graf Baudissin teilt nun dem „Berl. Börsen-Cour.” mit, daß, nachdem er auf einer Orientreise am 10.März in Alexandrien von dem ihn aufs Schwerste beleidigenden Zwischenruf Kenntnis erhalten habe, er umgehend den Reichstagspräsidenten Grafen Ballestrem um die Mittheilung des Namens desjenigen Abgeordneten gebeten habe, „der meine Ehre aufs Schwerste verletzt hat, um die Angelegenheit alsdann sofort in geeigneter Weise zum Austrag bringen zu können”. Nach seiner Rückkehr nach Dresden hat Graf Baudissin von der Antwort des Reichstagspräsidenten Kenntniß erhalten, welche besagt, daß die Geschäftsordnung des Reichstags keine Handhabe biete, einem von der amtlichen Stenographie nicht wiedergegebenen Zwischenruf der Ermittelung durch Vorlesung der Eingabe des Grafen Baudissin entgegenzuführen. Graf Baudissin schließt sein Schreiben an den „Börsen-Cour.”: „Demgemäß habe ich selbstverständlich jetzt sofort die weiteren mir geeignet erscheinenden Schritte gethan.”
Graf Baudissin hat sich zum Kritiker des Militarismus aufgeworfen. Wie wenig er dazu berufen ist, beweist dieses Vorgehen, das ihn noch völlig in den rückständigen Ansichten des halbbarbarischen militaristischen Duellfaustrechts zeigt.
„Prager Tagblatt”, XXVIII.Jahrgg., Nr.109 vom 19.April 1904
(„Erstklassige Menschen.”)
Man wird doch niemals klug, auch wenn man selbst zum Handwerk gehört. Ich hatte gelesen, daß der Freiherr von Schlicht, recte Wolf Graf von Baudissin, wegen seines Romans „Erstklassige Menschen” von seinen empörten Standesgenossen grausam boykottiert werde, und flugs griff ich im blinden Eifer nach dem Buche. Meine Einfalt sollte sich rächen. Selten habe ich mich über ein paar verlorene Stunden so grün und gelb geärgert, selten ist Unbesonnenheit und Voreiligkeit in der Wahl der Lektüre so bitter gestraft worden wie hier. Um nicht mißverstanden zu werden, sei eine persönliche Feststellung vorgenommen. Ich bin weder Preuße, noch Edelmann, noch Offizier, nicht einmal in der Reserve, denn eine sehr uninteressante Kurzsichtigkeit hat einst meine Träume vom Freiwilligen-Jahr und militärischem Heldentum zu nichte gemacht. Es fehlt mir somit jeder persönliche Anlaß, um mich darüber zu erhitzen, wenn ein Schriftsteller den Herren Junkern den bunten Rock auszieht und ihre Blößen aller Welt zeigt. So bin ich denn ohne Voreingenommenheit, ja mit großem sachlichen Interesse an dieses Buch herangetreten, und wenn der Graf von Baudissin wegen einer mutigen Schilderung der Zustände im deutschen Offizierscorps von seinen adeligen Standesgenossen in Acht und Bann getan wurde, so war hier zweifellos ein verwerflicher Akt von Standesdünkel und kastenmäßiger Borniertheit zu verzeichnen.
So dachte ich, ehe ich das Buch gelesen. Heute denke ich anders. Dieses Buch ist nicht der Aufschrei eines unbesiegbaren Wahrheitsdranges, es ist eine unernste, widerwärtige, durch und durch unliterarische Verunglimpfung, so plump und so kraß, daß sie das Mißtrauen selbst des leichtgläubigsten Lesers wecken muß. Schließlich lasse ich mir auch als simpler Zivilist von dem Freiherrn von Schlicht nicht einreden, daß das deutsche Offizierskorps zum großen Teile aus Lumpen oder Idioten bestehe, deren Leben zwischen Weibern und Suff, zwischen Jeu und Schuldenmachen, zwischen blödsinnigem Genäsel und gewohnheitsmäßigem Bruch des Ehrenwortes sich bewegt. Jenes Offizierskorps, das vor einem Menschenalter bewundernswerte Beispiele eines antiken Heldenmutes, höchster Kriegstüchtigkeit und militärischer Intelligenz geliefert hat, kann nicht aus verkommenen Subjekten der geschilderten Art bestehen. Wer nur ein kleinwenig die Fähigkeit besitzt, sich in die Empfindungswelt Anderer hineinzudenken, muß die Empörung begreifen, welche dieses Pamphlet in den betroffenen Kreisen erweckt hat. Es handelt sich in diesem Buche nicht um den deutschen Offizier allein, es handelt sich auch um den Adel, um dessen Frauen und Mädchen. Man sehe für einen Augenblick davon ab, daß es sich just um die Gemeinschaft des preußischen Adels handelt, man denke an irgend eine andere Gemeinschaft – sagen wir etwa der Wiener haute finance oder der ungarischen Gentry oder des deutsch-böhmischen Bürgertums oder der tschechischen Bauernschaft. Und nun nehme man an, es käme ein sogenannter Schriftsteller daher und wagte die Behauptung, es sei in dieser Gemeinschaft gang und gäbe, ja geradezu die Regel, daß die Fräuleins ihr intime Liaison haben und sich vortrefflich darauf verstehen, die Folgen eines Verhältnisses hintanzuhalten – würde man nicht die flammende Entrüstung aller Angehörigen dieses Standes begreifen und würde man es nicht berechtigt finden, wenn sie sich Genugtuung holen? Das aber, und nicht Geringeres behauptet Freiherr v.Schlicht von den Töchtern des preußischen Adels. Hildegard, die Heldin des Romans, „erinnert sich ganz genau, daß fast eine jede der jungen Damen ihren Leutnant gehabt hatte, und mit wahrhaft cynischer Offenheit hatten sie sich gegenseitig erzählt, wie sie es anstellten, um die Eltern zu täuschen und die etwaigen Folgen ihres Verkehrs zu verhindern” (Seite 119). Auch fehlt es in dieser adeligen Gesellschaft nicht an der jungen Dame, die gar kein Geheimnis daraus macht, daß sie sich ihre Liebe bezahlen läßt, während ihr Bruder Leutnant davon weiß und Schwesterchen fleißig anpumpt, um weiter Sekt trinken und den vornehmen Kavalier spielen zu können (Seite 122). Das sollen wir dem Grafen Baudissin glauben, daß solche Ungeheuerlichkeiten eine typische Erscheinung im deutschen Adel seien?
Die wenigen Proben genügen. Man muß wahrlich kein preußischer Junker und kein Garde-Offizier sein, um in diesem Buche nicht die Geiselung ernster gesellschaftlicher Gebrechen, sondern die unverfrorene Ausnützung einer literarischen Geschäftslage zu erblicken, wie sie durch die augenblickliche Vorliebe für den Offiziersroman gegeben ist. Gerade wer die Freiheit des literarischen Schaffens will, wer die Wahrheit von jeden beengenden Fesseln befreit sehen möchte, der hüte sich, ein solches Gesudel zum Objekte des heiligen Kampfes zu machen, der dadurch nur kompromittiert würde. Der Goethe-Bund wird sich niemals für die Unappetitlichkeiten der Budapester Orpheums-Gesellschaft ins Zeug legen!
Literarisch und ästhetisch steht dieses dreiste Werk tief unter dem Niveau des ordinärsten Lesefutters. Selten habe ich etwas so unkünstlerisches gesehen, das so sehr jedes literarischen Cachets entbehrt. In diesem Buche finden sich rein technische Verstöße, über die man sich im Grunde genommen krank lachen könnte. Nur ein paar Beispiele: Graf Baudissin flicht in seine Darstellung einige Vorschläge zur sittlichen Hebung der Adelskaste und des Offiziersstandes ein. Nun ist es interessant zu sehen, welche Personen des Romanes berufen sind, diese Vorschläge zur sittlichen Reform zu entwickeln. Es sind der Vater Hildegards, ein alter Lump, der jeden Augenblick bereit ist, die Tochter an den erstbesten reichen Schwiegersohn zu verkuppeln, um sich von ihm die Schulden zahlen zu lassen, und sein Sohn, ein Filou von gleichem Kaliber, nur noch um einige Grade verlotterter, als der Herr Papa. Und ausgerechnet diese beiden Ehrenmänner sind es, die als Träger der Freiherr von Schlichtschen Läuterungsideen auftreten! Man müßte das Buch abschreiben, um alle Lächerlichkeiten aufzuzählen. Der bürgerliche Held, Leutnant Georg Winkler, dessen Lichtgestalt sich von dem schwarzen Hintergrunde der adeligen Korruption abhebt, dieser Ritter ohne Furcht und Tadel, nimmt keinen Anstand, seine Mätresse einen Brief lesen zu lassen, worin ein Kamerad ihn unter Discretion um ein Darlehen angeht (Seite 150), und ihr Dinge mitzuteilen, zu deren Geheimhaltung er sich mit Wort verpflichtet hat. Bei dem Balle auf der amerikanischen Botschaft wird Hildegard vom Monarchen auffallend ausgezeichnet. Das ärgert die übrigen Damen der Gesellschaft, und eine davon, die am Tische neben Hildegard sitzt, sagt ziemlich laut: „Ich weiß nicht, was Majestät an dem Fräulein schön finden kann.” (Seite 114) Wohlgemerkt, an demselben Tische, und so, daß Hildegard es hören muß. Wer auf der weiten Welt wird dem edlen Grafen glauben, daß solche Manieren in der diplomatischen und hochadeligen Gesellschaft Berlins zu Hause seien?
Und erst die Sprache des Buches! Seit Jahren ist mir nichts unter die Hand gekommen, das so sehr von allen Musen verlassen, ja baar jeden literarischen Zuges war, wie diese Diktion. Alle – der Erzähler und seine Gestalten, der Oberst und der Korporal, das süße Mädel und die Gräfin – alle sprechen sie dasselbe charakterlose, verwaschene, zerschlissene Satzschriften-Deutsch, welches mit einer Konsequenz, die nur der Talentlosigkeit erreichbar ist, jeder Sinnlichkeit, jedes blühenden Bildes, jeder Volkstümlichkeit entkleidet erscheint. Auch sprachlich trägt dieses Werk das Kainszeichen des Kolportage-Romans. Sind einige Proben gefällig? „Fast keine Gesellschaft verging, bei der er nicht Gelegenheit fand, einen jungen Kameraden am nächsten Tage zur Rede zu stellen.” (Seite 62) Man beachte das nachfolgende Fangballspiel mit Fürwörtern: „Da Georg nicht wußte, wie er sich damals über ihn geäußert hatte, hatte er oft den Wunsch gehabt, ihm näher zu treten.” (Seite 73) Was mag sich Graf Baudissin unter den Worten vorstellen: „Olga war gerade der Inbegriff einer Geliebten.”? (Seite 136) Originell ist die Wendung: „Er war der Typus des jungen Offiziers, der nichts hat, nichts ist und sich doch lediglich seines Rockes einbildet, ein höheres Wesen zu sein.” (Seite 191) Neuartig ist die Wortfügung: „Bist Du Dir jetzt einig über das, was Du tun willst?” (Seite 168) Auf Seite 253 findet sich der neckische Satz: „Sie, die ganzen adeligen Offiziere, sollten dem einzig Bürgerlichen zu Dank verpflichtet sein?” Wie schade, daß wir nicht auch die halbierten adeligen Offiziere des talentvollen Schriftstellers kennen lernen!
Doch genug. Es ist ein allzu wohlfeiles Vergnügen, an solcher Stümperei ein Marsyasschinden zu vollbringen. Auch fehlt mir die Laune dazu, das Spiel fortzusetzen denn ich fürchte sehr, das literarische Empfinden des deutschen Publikums sei nicht keusch und stark genug, um ein solches Geschmier entschieden abzulehnen. Soeben lese ich, daß Graf Baudissin, wegen Beleidigung des deutschen Offizierskorps strafrechtlich verfolgt werden soll, und somit wird man ihm wohl bald zur 50. Auflage gratulieren dürfen.
„Neue Hamburger Zeitung” vom 21.April 1904
Wolf Graf von Baudissin.
Der beleidigende Zwischenruf „Lump”, mit dem ein konservativer Abgeordneter bei Erwähnung des Baudissin-Schlichtschen Militärromans „Erstklassige Menschen” im Reichstage seinem Herzen Luft gemacht hatte, schien bekanntlich eine Duellaffäre zur Folge haben zu sollen, Es ist aber anders gekommen. Graf von Baudissin (Frhr. von Schlicht) übersendet uns mit der Bitte um Aufnahme folgende Erklärung:
„Auf meine diesbezügliche Bitte an die Leitung der deutsch-konservativen Fraktion des Reichstages meldete sich sofort der Herr Abgeordnete, der den mich beleidigenden Zwischenruf in der Sitzung vom 4.März getan hatte. Nach meiner Erklärung, daß ich das Buch „Erstklassige Menschen”, welches ich ausdrücklich als Roman bezeichnet habe, niemals veröffentlicht haben würde, wenn ich es vorausgesehen hätte, daß dasselbe als eine Beleidigung der ganzen deutschen Armee oder gar eines bestimmten Offizier-Korps aufgefaßt werden könnte, hat der betreffende Herr Abgeordnete erklärt, daß er den mich beleidigenden Ausdruck nicht gebraucht haben würde, wenn ihm meine obige Auffassung bekannt gewesen wäre.”
Es geht also ohne Schießerei ab. Im übrigen ist die Erklärung Baudissins sehr merkwürdig. Seine mangelnde Voraussicht bedutet im Grunde nichts anderes als einen vollständigen Rückzug.
„Das literarische Echo” 1903/04, S.1031 (April 1904)
Verbotene Litteratur.
Der Roman „Erstklassige Menschen” von Frhr. v.Schlicht (Baudissin) ist in Deutschland verboten worden. Der Verlag ist daraufhin flugs von Otto Janke an Carl Konegen in Wien übergegangen (vide den Bilse-Skandal).
„Vorwärts-Berlin” vom 21. April 1904
Der Verfasser der „Erstklassigen Menschen” sendet den Zeitungen diese Mitteilung:
„Auf meine diesbezügliche Bitte an die Leitung der deutsch-konservativen Fraktion des Reichstages meldete sich sofort der Herr Abgeordnete, der den mich beleidigenden Zwischenruf in der Sitzung vom 4.März gethan hatte. Nach meiner Erklärung, daß ich das Buch „Erstklassige Menschen”, welches ich ausdrücklich als Roman bezeichnet habe, niemals veröffentlicht haben würde, wenn ich es vorausgesehen hätte, daß dasselbe als eine Beleidigung der ganzen deutschen Armee oder gar eines bestimmten Offiziercorps aufgefaßt werden könnte, hat der betreffende Herr Abgeordnete erklärt, daß er den mich beleidigenden Ausdruck nicht gebraucht haben würde, wenn ihm meine obige Auffassung bekannt gewesen wäre.”
Nachdem dem Grafen Baudissin mit Klage gedroht ist, ersucht er für seine Sittenschilderung um mildernde Umstände, da er sie „ausdrücklich als Roman” bezeichnet habe.
Interessanter ist die konservative Moral, welche die Mitteilung lehrt, „Lump” rief ein konservativer Abgeordneter laut, als die Schrift im Reichstage behandelt wurde. Ein Lump ist den Konservativen derjenige, der es wagt, gegen die Lebensart der Offiziere Kritik zu üben; über die Wahrheit oder Unwahrheit des Inhalts der Schrift konnte der Lump-Rufer nichts wissen. Der Lump wird jedoch zurückgenommen, sobald die Erklärung erfolgt, es sei nicht ernst gemeint und nur ein Roman. Wer die Wahrheit verkündet, ist Lump. Wer flunkert, ist ein Ehrenmann. Womit allerdings andrerseits auch noch nicht bewiesen ist, daß der Roman nur Roman ist. –
„Die Hilfe”; Jahrgang X, Heft 16, Seite 7
Die Stimmung des Volkes ist der Armee gegenüber kritisch geworden. Im sozialdemokratischen Lager kommt noch eine Art von Schadenfreude hinzu, die begreiflich, aber darum nicht minder bedauerlich ist. In den armeefreundlichen Kreisen, zu denen wir gehören, geht eher ein Gefühl des Unbehagens um, und eine patriotische Bangigkeit lastet auf den Gemütern. Eben weil man die Wehrhaftigkeit nicht nur für eine notwendige (was ja im Grunde selbstverständlich ist), sondern auch für eine ehrenvolle und schöne Sache hält, nimmt man die Dinge so ernst. Ich wenigstens will gerne bekennen, daß die Arbeit an der Armee für das Volk, und am Volk für die Armee, in der allerersten Linie der vaterländischen Pflichten und Sorgen steht. Daß es sich dabei um keine vereinzelte Stimmung handelt, beweisen die Dokumente des Zweifels und der fragenden Furcht, die sich überall in der Presse finden. Wer das etwa als Literatensorgen bezeichnete, würde sehr in die Irre gehen. Es ist eine Art von skeptischer Soldatenliteratur entstanden, die natürlich von Literaten stammt, die aber von weiten Kreisen des Volkes mit wahrem Heißhunger ergriffen worden ist. Die Literatur hat die Stimmung des Volkes nicht erzeugt; sie ist ihr nur entgegengekommen, und wird von ihr getragen. Wie es immer geht, wenn eine allgemeine Volksstimmung literarischen Ausdruck findet, haben sich eine Reihe von Existenzen gefunden, die die gute „Chance” benützen wollen. Das ist zu bedauern, weil häßliche Züge in das allgemeine Bild der Kritik hineingetragen werden, aber es wiederholt sich schließlich auf allen Gebieten, und muß mit Gelassenheit ertragen werden. Dagegen darf man keineswegs ertragen, daß die genannten Existenzen mit Schriftstellern zusammengeworfen werden, die jedenfalls nachweisen können, daß sie nie den „Chancen” des Tages nachgelaufen sind. In gewissen Zeitungen ist es geradezu eine stehende Formel geworden, von „Beyerlein” und „Bilse” zu sprechen. Ich habe das Buch des Leutnants Bilse nicht gelesen, und muß also in meinen Ausdrücken vorsichtig sein. Wie mir scheint, ist er nicht auf Sensation ausgegangen, die vielmehr erst durch den von ihm nicht gewollten Prozeß hervorgerufen wurde. Das Buch lag ja bereits einige Zeit vor und erfreute sich der tödlichsten Gleichgültigkeit – bis eben der Prozeß im schlechten Publikum die schlechten Instinkte weckte. Wenn das Buch aber auch aus einer anständigen Gesinnung hervorgegangen wäre, enthält es doch nichts als die Chronique scandaleuse einer kleinen Garnison, die für die ganze Armee ohne jede Beweiskraft ist, und weniger das Volk als die Vorgesetzten angeht. Das allein sollte wirklich schon verhindern, daß Bilse mit Beyerlein in einem Atem genannt wird; denn der letztere hat in „Jena oder Sedan” keine peinlichen Klatschgeschichten vorgetragen, sondern die allgemeinen Formen des Heeres untersucht. Es muß einmal dringend darum gebeten werden, daß zwischen „pikanten” Chronisten und ehrlichen Kritikern in der sorgfältigsten Weise unterschieden wird. Wer Klatsch vorträgt, noch dazu in literarisch minderwertiger Form, kann vielleicht ein anständiger Mensch sein, ein respektabler Schriftsteller ist er nicht. Es versteht sich auch von selbst, daß er nicht einer Reform des Heeres dient, sondern ihr vielmehr entgegenwirkt, indem er die ganze Kritik in einen üblen Geruch bringt. Um so näher liegt es gerade uns, in der festesten Weise von dieser Sorte von Literatur Abstand zu nehmen, und dazu bieten die „erstklassigen Menschen” von Baudissin willkommenen Anlaß. Herr Graf von Baudissin ist nämlich auch Chronist, und wie pikant er als solcher ist, wird sich aus unserer Betrachtung ergeben.
Sein Roman, wenn man ein Pamphlet mit diesem Namen belegen darf, ist neuerdings verboten worden, und wird nun wohl leider unter der Hand um so eifriger gelesen werden. Wir sind prinzipielle Gegner jeden Verbots und können mithin auch dieses nicht billigen. Da es nun aber vorliegt, können wir vom allgemeinen Standpunkt absehen und die besondere Tatsache auf ihren besonderen Wert prüfen. In diesem Zusammenhang, aber auch nur in diesem, können wir mit dem Verbot ganz zufrieden sein. Bücher werden ja glücklicherweise nicht oft verboten, und so ist den „erstklassigen Menschen” der Stempel der Minderwertigkeit offiziell aufgeprägt worden. Das ist für eine ehrliche Armeekritik einfach von Nutzen. Das Buch lief in der Menge mit und stellte alle bloß, die sich in der ungebetenen Gesellschaft befanden. Nun ist es von der Behörde aus mit einem Makel behaftet worden; die Behörde selbst hat die anderen Schriftsteller von der dunkeln Kumpanei befreit und ihnen somit einen Dienst erwiesen. Es ist eine Grenze gezogen, die es nicht mehr gestattet, die „erstklassigen Menschen” mit anderen literarischen Erzeugnissen solidarisch zu verbinden, und darüber vermögen wir uns nur zu freuen. Etwas anders liegen die Dinge, wenn man sie vom Standpunkt der Schriftsteller aus betrachtet, die an der Armee nichts wollen geändert wissen. Es ist anzunehmen, daß die in diesem Sinne konservativen Elemente mit der Zensurbehörde den innigsten Zusammenhang haben, und dann haben sie allerdings eine Dummheit begangen. Nicht ihnen, sondern uns war das Buch peinlich, ja geradezu gefährlich und so hatten sie zum Einschreiten freilich keinen Grund. Wenn sie das Buch hätten laufen lassen, hätte es uns geschwächt, und so haben sie der Armeekritik einen wesentlichen Dienst geleistet, was vermutlich nicht in der Absicht lag. Die Verbote der Zensur wenden sich ja aber immer gegen ihre Urheber, und könnten einen zum Melancholiker machen, wenn man's nicht schon wäre. Es ist gar nicht einzusehen, warum das Verbot der „erstklassigen Menschen” vernünftiger ausfallen sollte, vielmehr freut es unsere Einsicht, daß Welt und Leben immer noch den schiefen Gang gehen, von dem kein Philosoph sie kurieren kann. Um zu dem Buch selbst zu kommen, das in der ganzen Betrachtung die erbarmungswürdigste Rolle spielt, muß zunächst gesagt werden, daß es unter verdächtigen Umständen ins Leben trat. Herr Graf von Baudissin war Offizier und schreibt seit Jahren unter dem Pseudonym „Freiherr von Schlicht” sogenannte Militärhumoresken. Die Erfahrungen, die er in den „erstklassigen Menschen” will niedergelegt haben, müssen alten Datums sein, und so wundert man sich, daß er sie nicht früher auf den Markt gebracht hat, um so mehr, als er seine Stoffe ja immer der Armee entnahm. Daß er seine „erstklassigen Menschen” in dem Augenblick auf den Markt brachte, in dem kritische Militärromane sehr hoch notiert wurden, legt den Gedanken verzweifelt nahe, daß es ihm nur um Markt und Konjunktur zu tun war. Vielleicht antwortet er darauf, daß sein Beruf zum Ankläger eben erst in diesem Augenblick erwacht sei, und das würde dann allerdings an die Anekdote von dem liberalen Pfarrer erinnern, der in ein orthodoxes Amt gewählt wurde und seinen teilnehmenden Freunden sagte: „Ich hab mich durchgerungen.” Es soll damals gemeine Seelen gegeben haben, die die innere Läuterung mit der fetten Pfründe in Zusammenhang brachten. Ich aber bin keine gemeine Seele und schließe mich ihnen nicht an. Ich muß freilich bekennen, daß mir das geschäftliche Verhalten des Verlegers den Glauben an die Menschheit im allgemeinen und den Grafen Baudissin im besonderen, einigermaßen erschwert. Das Titelblatt des Exemplars, das ich in Händen habe, erzählt dem Publikum am Schaufenster, daß bereits das 12. Tausend von dem Buch erschienen ist. Wer im Vertrauen an diese Popularität den Schmarren kauft, sieht sich nachher bitter enttäuscht: Das innere Titelblatt meldet nur das 8. Tausend. Es kann mir freilich entgegengehalten werden, daß nicht gerade das äußere Titelblatt zu lügen braucht, und ich will gerne die Ehrenerklärung abgeben, daßich auch dem inneren die Fähigkeit zur Lüge zutraue. Es ist mir in diesem Konflikt der Angaben sogar wahrscheinlich, daß beide lügen, nur, daß man an diese Dinge im Buchhandel bislang nicht gewöhnt war. Es mag altmodisch erscheinen, aber ich kann mich mit der neuen Form nicht befreunden. Ich verlange eine gewisse Übereinstimmung zwischen äußerem und innerem Titelblatt. Die früheren Verleger logen viel einheitlicher.
Wenn man sich mit der sozusagen kritischen Methode des Buches auseinandersetzt, kommt man zu ungemein trübseligen Resultaten. Es leuchtet ein, daß einzelne Vorkommnisse, wo immer sie sich abspielen mögen, gegen das Ganze nichts beweisen. Eine Belastung springt nur dann heraus, wenn die Vorkommnisse mit dem System des Ganzen, in diesem Fall mit der Organisation der Armee, in einem kausalen Zusammenhang stehen. Die einzelnen Vorkommnisse gehören dem Klatsch; das System und seine logischen Folgen gehören der Kritik. Von irgend einem großen Gesichtspunkt aber, von irgend einem geistigen Erfassen der ganzen Armee, habe ich in den „erstklassigen Menschen” nichts bemerkt, und eben darum wirkt jedes Raisonnement, auch wo es einen sachlichen Kern hat, wie ein Raisonnement zehnten Ranges, mit dem die Nation nicht das mindeste zu tun hat. Es kommt dazu, daß auch das geistige Erfassen der ganzen Armee einer wirklichen Kritik nicht genügen kann. Wer gehört werden will, muß seinen Worten nicht nur den Hintergrund der Armee, sondern den Hintergrund des ganzen Volkes geben. Wie Armee und Volk in Wechselwirkung zueinander leben, warum die glorreiche Armee von 70 heut vielleicht die – Armee von Jena ist: das und nichts anderes ist das Problem, und wer mitreden will, so mitreden will, daß ihn die Nation hört, soll gefälligst diesem schweren Problem nicht aus dem Wege gehen. Vielleicht antwortet der Graf von Baudissin, daß es ihm auf eine Arbeit beschreibender Natur ankam, daß er nur das Leben gewisser Garderegimenter schildern wollte, in denen jeder Bürgerliche hinausgebissen wird. Eine solche Schilderung hätte aber auch dann nur wirklichen Wert, wenn sie uns den feudalen Hintergrund zeigte, auf dem sich im hellen Licht der industriellen Sonne derartige Dinge noch immer abspielen können. Selbst aber wenn man seine Ansprüche noch weiter herabschraubt und nichts verlangt, als eine Schilderung ohne jeden Hintergrund, müßte man immer noch fordern, daß besagte Schilderung eine Garantie der Glaubwürdigkeit in sich selber trüge. Es gibt aber nichts, daß mehr unwahr und weniger glaubhaft wäre, als die „erstklassigen Menschen”. Das soll im zweiten Artikel der Gegenstand meines Beweises sein.
„Die Hilfe” Jahrgang X, Heft 18, Seite 7
Im ersten Artikel wiesen wir die Wertlosigkeit der Kritik nach; in diesem wollen wir von der Unglaubwürdigkeit der Schilderung reden. Selbst wenn die einzelnen Tatsachen erweislich wahr wären, würde das Buch als Ganzes eine Lüge sein, da es mit dem Anspruch auftritt, das Leben einer ganzen Kaste zu schildern; es nennt sich ja ausdrücklich einen Roman aus der Offizierskaste. Es leuchtet aber ein, daß man das Leben einer Kaste nicht schildert, indem man einzelne, skandalöse Vorkommnisse an den Tag zieht. Selbst also bei strenger Wahrhaftigkeit in den einzelnen Tatsachen, wären die „erstklassigen Menschen” wertlos. Es gibt keinen Kreis des Lebens, aus dem sich nicht ein beliebiger Haufen Schmutz zusammentragen ließe. Das ist in der Erbärmlichkeit der menschlichen Natur begründet, an der wir ja alle gemeinsam tragen. Nur daß damit auch kein Kreis des Lebens beurteilt und geschildert ist. Es kommt auf das Leben des ganzen Kreises an, und das hat der Verfasser in unserem Falle nicht einmal geschildert, geschweige denn richtig geschildert.
Ich kenne das Leben der Gardeoffiziere nicht aus eigener Anschauung, und so wird man mir vielleicht mit der Bemerkung über den Mund fahren, daß ich zu keinem Urteil berechtigt sei. Wir urteilen ja aber alle, beispielsweise über Zeitepochen, die wir nicht erlebt haben, nehmen die Berichte dieses Schriftstellers mit Freuden auf und lehnen die Schilderungen eines anderen als unglaubwürdig ab. Damit tun wir auch nichts anderes, als was unser gutes Recht ist, da uns Mittel der Kritik genügend zu Gebote stehen. Das persönliche Erleben einer Zeitepoche würde an sich noch gar kein Recht zu einem Urteil geben. Wenn nicht bestimmte Qualitäten und bestimmte Umstände hinzukommen, würde man einem solch beliebigen zeitgenössischen Bericht nur einen sehr geringen Wert beimessen können. Das persönliche Miterleben schließt an sich ebenso wenig vom Urteil aus, wie es dazu befähigt; das gilt von Zeitepochen und auch von Garderegimentern. Ich könnte z.B., um mit der Kritik zu beginnen, die „erstklassigen Menschen” mit anderen gleichartigen Schilderungen, etwa mit Polenz' „Grabenhäger” vergleichen; ich könnte untersuchen, bei welchem Schriftsteller die schärfere Gabe der Beobachtung, die lebendigere Art der Gestaltung, der weitere Blick und die treuere, innere Folgerichtigkeit zu suchen sei, und ich würde schon auf Grund dieser Methode zu einem vernichtenden Urteil über die Sudelei des Grafen Baudissin kommen müssen. Ich will mich indessen an das Buch selbst halten, das Material genug enthielte, um zehn Schriftsteller unglaubwürdig zu machen, geschweige denn einen. Als der Leutnant Winkler, der Sohn eines bürgerlichen Millionärs, in ein bis dahin streng adeliges Garderegiment versetzt wird, hält der Oberst eine Rede, in der er etwa folgendes ausführt: Der Herr Leutnant verfüge über eine Zulage, die in ihrer Höhe in keinem Verhältnis stände zu der Summe, über die die – meisten seiner Offiziere verfügten. In den Kreisen des Adels sehe man seinen Stolz darin, selbst mit geringen Mitteln das zu bleiben, was man immer gewesen sei. Er werde im Laufe der Zeit ja selbst sehen, wie viele seiner Kameraden sich einschränkten, um überhaupt nur auszukommen, wie sie sich Entbehrungen aller Art auflegen müßten, um nach außen hin würdig auftreten zu können. Im Anschluß daran folgen dann Ermahnungen zu einem sparsamen und mäßigen Lebenswandel. Von diesen „meisten Offizieren”, die mit geringen Summen auskommen müssen, sehen wir im Roman nichts. Es wird mir natürlich eingewandt werden, daß es sich beim Obersten um die gewöhnliche, offizielle Komödie handle, der kein Wert beizulegen sei. Dagegen ist zu sagen, daß es sich keineswegs um begrüßende Phrasen handelt, die bei solchen Gelegenheiten notwendig und üblich sind; es handelt sich vielmehr um einen auf den besonderen Fall berechneten, ganz ungewöhnlichen Empfang, der den bürgerlichen Offizier verletzen soll und natürlich auch verletzt. In diesem Zusammenhang muß man doch fragen, warum der Herr Oberst seinem Leutnant eine Komödie vorspielt, die in drei Tagen durchschaut werden und auf ihn selbst zurückfallen muß. Im allgemeinen sind die Menschen bessere Komödianten, und einem adeligen Oberst, der einen wehrlosen bürgerlichen Leutnant verletzen will, stehen ja so unendlich viele Mittel zu Gebote, daß die Wahl gerade eines so untauglichen völlig unverständlich wird. Selbst aber, wenn ich von dem Zeugnis des Obersten absehen müßte, würde ich mich ja wohl auf das Zeugnis Winklers verlassen können, der in dem Buch als Engel des Lichts geschildert ist, und der überdies nicht zugunsten, sondern stark zuungunsten seiner adeligen Kameraden voreingenommen ist. Er überlegt eines Tages seine Situation und muß sich offen eingestehen, daß er im Verhältnis zu seinen Kameraden noch keinen Schritt weiter gekommen ist. An ihm selber, fährt er dann fort, lag die Schuld nicht. Er war solide in seinem Lebenswandel, bescheiden in seinem Auftreten, höflich gegen die älteren, und er hatte einmal zufällig aus einer Äußerung herausgehört, daß die Kameraden es ihm hoch anrechneten, daß er von seinen reichen Mitteln keinen Gebrauch machte, daß er im Kasino genau so lebte, wie sie selbst. Ich frage: wo in des Teufels Namen sind in den „erstklassigen Menschen” die Elemente, denen man durch einen soliden Lebenswandel imponiert, und wo sind die Kameraden, die im Kasino bescheiden leben, und die Bescheidenheit auch an anderen schätzen? Der Herr Graf hat sie wohl vergessen, natürlich nicht, weil ihre Anwesenheit der vernichtenden Tendenz und damit dem buchhändlerischen Erfolg gefährlich geworden wäre, sondern lediglich aus einer allgemeinen Zerstreutheit heraus, die als ein ganz harmloses Leiden zu betrachten ist wenigstens soweit die Person des Herrn Grafen in Frage kommt. Werden uns so die anständigen Elemente, die nach der Ansicht des sachverständigen Leutnants Winkler vorhanden sein müssen, leider völlig unterschlagen, so werden wir dafür auf der Gegenseite in ganz anerkennenswerter Weise schadlos gehalten. Wir lernen einen Ulanenleutnant kennen, der vom Spiel lebt; nicht eine, oder einzelne, sondern gleich ganze Rudel von jungen Damen aus der Hofgesellschaft, die vor der Ehe 6 bis 12 Liebhaber haben, und darüber mit cynischer Offenheit reden; daneben eine andere Dame aus derselben Hofgesellschaft, die sich ihre Liebe bezahlen läßt, die ihrem Bruder sofort Nachricht zukommen läßt, wenn sie wieder einmal mit einem reichen Herrn soupiert hat, worauf er, der aktiver Offizier ist, gleich einen netten Teil des so verdienten Geldes für sich in Anspruch nimmt. Dieses zarte Verhältnis, behauptet der Graf von Baudissin, sei „offenes Geheimnis” gewesen. Um die angenehme Gesellschaft vollzählig zu machen, müssen wir noch einen Husarenleutnant erwähnen, der geschlechtskrank ist, einer Soubrette vom Residenztheater aber sein Ehrenwort giebt, daß er gesund sei, um sie dann doch mit vollem Bewußtsein anzustecken. In dem Augenblick, wo wir das Subjekt im Buche kennen lernen, ist er im Begriff, sich mit einem ehrlichen jungen Mädchen zu verloben. Ich bitte um Verzeihung, daß ich den Schmutz hier andeuten muß; wenn man aber dem Buche gegenüber die rechte Stimmung des Ekels wecken will, ist es vonnöten. Der Husarenleutnant kann immer noch für sich in Anspruch nehmen, daß sein Kamerad von Wilberg ein noch viel kälterer Schurke ist. Die Soubrette vom Residenztheater betrieb das Handwerk schon länger, was ja aus den geschäftsmäßigen Erklärungen hervorgeht, die sich ihre noble Seele von der noblen Seele des Husarenleutnants geben ließ. Herr von Wilberg aber lockt eine naive Schauspielerin auf seine Bude, macht sie betrunken, vergewaltigt sie und befleckt sie dabei mit einer Krankheit. Dieser Gentleman ist, was ich anzumerken bitte, der Liebling des Regiments. Ich bin mit dem Schmutz noch keineswegs zu Ende, kann aber einfach nicht weiter und muß die Leser bitten, mir und sich den Rest zu erlassen. Es kommen dann noch harmlosere Dinge vor wie gebrochene Ehrenwörter und der Umstand, daß die Offiziere in großer Anzahl nicht orthographisch schreiben können. Ich habe schon darauf hingewiesen, wie dieser zusammengetragene Klatsch mit anderen Stellen des Buches in unlösbarem Widerspruch steht. Abgesehen aber von diesem inneren Widerspruch des ganzen Buches und der ganzen Schilderung, wimmelt es in der Erzählung von Behauptungen, die einfach nicht wahr sein können, weil sie mit aller menschlichen Psychologie in Widerspruch sind. Der Leutnant Winkler, der als warmherziger Ehrenmann geschildert ist, läßt sich von seinen Kameraden in finanzieller Notlage sogenannte Ehrenscheine geben und handelt damit als Schurke, den selbst ein leidlich anständiger Wucherer meiden würde. Wenn Graf von Baudissin einen millionenreichen Offizier, der von seinen Kameraden Schulden eintreibt, indem er sie im Falle des Unvermögens dem notwendigen Selbstmord ausliefert – wenn also der Graf einen solchen Schuft auf wohlgezählten 354 Seiten als einen Helden an Gesinnung und Ehre feiern kann, dann ist sein Urteil in sittlichen Fragen einfach unverständlich. Er vermag die Wahrheit in diesen Dingen dann eben nicht zu sehen, oder aber er vermag sie in seiner Befangenheit nicht zu schreiben; in beiden Fällen aber ist er ein Zeuge, dem man keine Silbe glauben darf. Ein junges Mädchen von auffallender Schönheit, natürlich aus den allerersten Kreisen, wird von ihrer bankerotten Familie auf dem Heiratsmarkt ausgeboten und daneben behandelt, wie ein untergeordneter Zuhälter etwa seine Dirne behandelt. Das Mädchen ist vornehmen Herzens und leidet darunter furchtbar. Nun denke man sich freundlichst diesen Zusammenhang: Die Familie ist ganz und gar von der jungen Dame abhängig; ohne ihre Ehechancen wäre sie dem hoffnungslosesten Elend verfallen; sie kennen ihren vornehmen Charakter und müssen in steter Furcht leben, daß sie ihnen eines Tags einen Strich durch die Rechnung macht und Erzieherin wird; – sie haben hundert Gründe, sie auf Händen zu tragen und ihr die Sache so ideal, wie nur immer möglich, erscheinen zu lassen; sie tun aber genau das Gegenteil, trampeln in einer geradezu irrsinnigen Weise auf ihren eigenen Interessen herum, und das Mädchen widerum läßt sich das gefallen, obwohl sie mit einem einzigen drohenden Blick das Gesindel bis in den letzten Winkel scheuchen könnte. Das ist so eine Probe der ehrlichen Psychologie dieses Buches, und ich gebe hier die feierliche Versicherung ab, daß das Ganze der Probe entspricht. Wer den Autor zum Bundesgenossen haben will, mag ihn nehmen; über unsere Meinung bestehen ja wohl keine Zweifel mehr.
„Leipziger Volkszeitung” vom 13. Mai 1904:
H.F. Leipzig, den 13. Mai 1904.
Die sechste Strafkammer des hiesigen königlichen Landgerichts beschäftigte heute der Roman des Grafen Wolf v. Baudissin: Erstklassige Menschen. Angeklagt ist der verantwortliche Redakteur der Leipziger Volkszeitung, Richard Wagner.
Im Anschluß an die Rede des Abgeordneten Bebel im Reichstag über den erwähnten Roman erschien in Nr. 69 der Leipziger Volkszeitung vom 24. März d.J. ein Artikel mit der Überschrift: Tartüffe. In diesem wurde, unter Anführung einer Reihe von Beispielen, ausgeführt, daß die Unsittlichkeit in Offizierskreisen geradezu traditionell sei. Es sei ein offenes Geheimnis, daß gerade das Offizierkorps prozentual am meisten unter der Lustseuche zu leiden habe. Baudissin sage hiermit gar nichts neues; es sei einfach Heuchelei, wenn man ihn der Übertreibung beschuldige. Auch was Baudissin über die oft so mangelhafte Bildung der Offiziere schreibe, sei nur zu wahr.
Dieses Artikels wegen hat sich heute Wagner wegen Beleidigung des Offizierkorps des deutschen Reichsheeres und außerdem speziell des Offizierkorps der Armee des Königreichs Sachsen auf Grund der §§ 185, 195 und 200 des Strafgesetzbuches vor eingangs bezeichnetem Gerichtshofe zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führt Landgerichtsdirektor Dr. Mankisch. Die königliche Staatsanwaltschaft vertritt Oberstaatsanwalt Böhme, die Verteidigung führt Rechtsanwalt Dr. Neu.
Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkt der Angeklagte: er sei am 22. November 1871 geboren. Er war früher Ober-Postpraktikant und sei unbestraft. Es wird danach die Anklageschrift verlesen. Der Vorsitzende bemerkt danach: das Gericht nimmt Veranlassung, den Ausschluß der Öffentlichkeit anzuregen, und zwar im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit und der öffentlichen Ruhe und Ordnung. Ich frage den Herrn Oberstaatsanwalt, ob er einen Antrag zu stellen hat? – Oberstaatsanwalt: Ich habe augenblicklich keine Veranlassung, den Ausschluß der Öffentlichkeit zu beantragen. Vorläufig liegt kein Grund zu einem solchen Antrage vor. Ich weiß allerdings nicht, welche Anträge der Angeklagte stellen wird. Sollte sich die Notwendigkeit ergeben, dann werde ich selbstverständlich den Ausschluß der Öffentlichkeit beantragen. Wenn der Gerichtshof aber den Ausschluß der Öffentlichkeit für notwendig erachtet, dann stimme ich dem bei. – Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Neu: Ich widerspreche dem Ausschluß der Öffentlichkeit. Der Angeklagte beabsichtigt keine Beweisanträge zu stellen. Die Dinge, die hier vorkommen, sind allbekannt. Der Ausschluß der Öffentlichkeit würde nach außen hin einen schlechten Eindruck machen. – Der Vorsitzende verkündet: Der Beschluß auf Ausschluß der Öffentlichkeit soll vorläufig zurückgestellt werden.
Es wird danach der inkriminierte Artikel verlesen.
Der Angeklagte bemerkt danach auf Befragen des Vorsitzenden: Er bestreite, daß in dem Artikel eine Beleidigung des Offizierkorps enthalten sei, der Artikel wende sich in der Hauptsache gegen die bürgerliche Presse, die die Behauptung aufgestellt hatte: Die Enthüllungen des Grafen Baudissin beruhen auf starker Übertreibung. Es werde den Offizierkorps gar nicht zum Vorwurf gemacht, daß in ihren Reihen die geschlechtliche Ausschweifung vorherrschend sei, sondern nur gesagt, die geschlechtliche Ausschweifung sei im Offizierkorps historisch und traditionell. In der Behauptung: in einem Stand sei die Syphilis vorherrschend, liege doch keinerlei Beleidigung. In seiner früheren Eigenschaft als Oberpostpraktikant habe er einmal über eine Satzungsänderung der Post-Krankenkasse berichten müssen. Er habe in dem Bericht sich dahin ausgesprochen, daß an Syphilis Erkrankten ebenfalls Krankengeld zu gewähren sei. Der Postinspektor, ein Reserve-Offizier, dem er den Bericht einzureichen hatte, sagte: Es ist eine veraltete Anschauung, syphilitisch Erkrankte von der Kranken-Unterstützung auszuschließen. Daß das Militär vorherrschend dem Venusdienst huldige, sei allbekannt, dies sei doch kein Vorwurf. Es gebe ja eine Masse Soldatenlieder, in denen zum Ausdruck gebracht werde, daß die Soldaten infolge ihrer kleidsamen Uniform von Weibern bevorzugt werden; kein Mensch nehme Anstoß daran. Die Behauptung, daß es unter den Offizieren viel Ungebildete gäbe, sei doch auch keine Beleidigung. Es sei doch bekannt, daß Offiziere, die doch nur in den seltensten Fällen das Maturitäts-Examen gemacht haben, ungebildeter als zum Beispiel die Richter seien. Friedrich II. hatte doch sogar Generale, die weder schreiben noch lesen konnten. Und der bekannte Generalfeldmarschall Graf Wrangel war derartig ungebildet, daß er einmal in einem Zeugnis anstatt „fähiger” feiger Offizier schrieb. Das sei allbekannt. Jedenfalls habe ihm die Absicht, irgend ein Offizierkorps oder einzelne Offiziere zu beleidigen, vollständig ferngelegen, seine Bemerkungen galten lediglich der bürgerlichen Presse.
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Das Urteil lautet: Der Angeklagte Wagner wird wegen Beleidigung des Offizierkorps zu einer Gefängnisstrafe von einem Monat verurteilt.
„Leipziger Volkszeitung” vom 14. Mai 1904:
H.F. Leipzig, den 13. Mai 1904.
Nach beendeter Befragung des Angeklagten, über die wir gestern noch berichten konnten, teilt der Vorsitzende der Strafkammer mit, daß sowohl der sächsische Kriegsminister als auch der preußische Kriegsminister den Strafantrag gestellt haben. – Da Beweisanträge nicht gestellt werden, so nimmt das Wort Oberstaatsanwalt Böhme: Obwohl die Strafanträge lediglich wegen des Artikels der Leipziger Volkszeitung gestellt sind, so wird auch wegen des Artikels, der gleichlautend in der Muldentaler Volkszeitung und in der Altenburger Volkszeitung gestanden, wofür der Angeklagte ebenfalls verantwortlich gezeichnet hat, auf Strafe erkannt werden müssen. Daß der inkriminierte Artikel eine arge Beleidigung des Offizierkorps enthält, bedarf keiner weiteren Ausführung. Der Artikel ist von Anfang bis Ende beleidigend. Ich behaupte, es liegt System in dem Artikel; der Angeklagte hatte auch die Absicht, zu beleidigen, dafür spricht schon seine Tendenz. In jedem Stand sind selbstverständlich Auswüchse vorhanden, auch im Offizierkorps; das sind aber nur seltene Ausnahmen. In dem Artikel wird jedoch behauptet, der ganze Offiziersstand sei moralisch durchseucht und unwissend. Einen Wahrheitsbeweis kann der Angeklagte selbstverständlich nicht führen. Von Wahrnehmung berechtigter Interessen kann keine Rede sein. Mit Rücksicht auf die Schwere der Beleidigung, die einem hochgeachteten Stande zugefügt worden, beantrage ich, auf eine Gefängnisstrafe von mindestens drei Monaten zu erkennen.
Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Neu: Ich muß zunächst der Ansicht des Herrn Oberstaatsanwalts widersprechen, daß der Angeklagte auch wegen der Artikel in der Muldentaler und Altenburger Volkszeitung zur Verantwortung gezogen werden kann. Dazu fehlt es an einem Strafantrage. Zur Sache behaupte ich – und ich berufe mich hierbei auf den hiesigen Strafrechtslehrer Binding –, daß, wenn ein Stand beleidigt ist, höchstens die einzelnen Angehörigen des Standes, nicht aber ein Vorgesetzter Strafantrag stellen kann. In dem vorliegenden Falle ist weder der preußische, noch der sächsische Kriegsminister zur Stellung des Strafantrags berechtigt, zumal in dem Artikel ein bestimmtes Offizierkorps nicht genannt ist. Aber auch der Artikel an sich enthält weder gegen das Offizierkorps noch gegen einzelne Mitglieder eine Beleidigung. In dem Buche des Grafen Baudissin „Erstklassige Menschen”, der Anlaß zu dem inkriminierten Artikel gegeben hat, sind noch bedeutend schärfere Ausdrücke enthalten. Ich halte es für nötig, mindestens einige Stellen aus diesem Buche vorzulesen. – Oberstaatsanwalt (den Verteidiger unterbrechend): Wenn der Herr Verteidiger die Absicht hat, aus dem Buche des Grafen Baudissin einige Stellen vorzulesen, dann beantrage ich im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit, die Öffentlichkeit auszuschließen. Das erwähnte Buch ist beschlagnahmt und gegen den Verfasser Strafantrag gestellt. – Verteidiger: Ich muß zunächst bemerken, daß nur der Herr Vorsitzende das Recht hat, mich zu unterbrechen. Im übrigen widerspreche ich dem Antrage auf Ausschluß der Öffentlichkeit. Das Buch des Grafen Baudissin ist weder beschlagnahmt, noch ist gegen den Verfasser Strafantrag gestellt. Es war nur ein solches Gerücht verbreitet. – Oberstaatsanwalt: Amtlich ist mir allerdings nichts davon bekannt. Ich muß aber trotzdem meinen Antrag aufrecht erhalten. – Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündet der Vorsitzende: Da der Herr Verteidiger die Absicht geäußert hat, einige Stellen aus dem Buche des Grafen Baudissin hier vorzutragen, so hat der Gerichtshof dem Antrage des Herrn Oberstaatsanwalts stattgegeben und im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit auf Ausschluß der Öffentlichkeit während der ganzen Dauer der weiteren Verhandlung erkannt. Der Zuhörerraum ist zu räumen. Das Publikum und die Vertreter der Presse verlassen den Raum. –
Nach etwa einer Stunde wird die Öffentlichkeit wieder hergestellt. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Dr. Mauckisch, verkündet folgendes Urteil: Im Namen des Königs hat der Gerichtshof dahin erkannt, daß der Angeklagte sich der Beleidigung im Sinne der §§ 185, 196 und 200 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht hat und deshalb kostenpflichtig zu einem Monat Gefängnis zu verurteilen ist. Dem sächsischen und dem preußischen Kriegsminister wird das Recht zugesprochen, den Tenor des verurteilenden Erkenntnisses nach erlangter Rechtskraft auf Kosten des Angeklagten im Leipziger Tageblatt zu veröffentlichen. Es heißt in dem inkriminierten Artikel: „ Jeder Angehörige dieser exklusiven Gesellschaft wird sowohl körperlich wie geistig solange in die spanischen Stiefel der Kastentradition eingeschraubt, bis er die gültige Speziesform erreicht hat. Die laxe Auffassung der geschlechtlichen Moral, der Herrendünkel, der jedes begehrte Weib für das Eigentum des verlangenden Mannes hält und aus der Donjuanerie einen hochverehrten Sport gemacht hat, ist eben schon seit den Zeiten der Troubadours im Ritterstande und in dem ihm verwandten Offizierkorps traditionell.” Es heißt weiter in dem Artikel: „ Es ist ein offenes Geheimnis, daß gerade das Offizierkorps prozentual am meisten unter der Lustseuche zu leiden hat.” Endlich wird dem Offiziersstand Mangel an Bildung vorgeworfen. Daß dies in hohem Maße beleidigend ist, bedarf keiner weiteren Ausführung. In der Verallgemeinerung liegt die Schmähung und Verächtlichmachung des ganzen Offiziersstandes, und zwar als Einheit mit Bezug auf seine Berufsehre. Es liegt mithin eine Beleidigung im Sinne der §§ 185, 196 und 200 des Strafgesetzbuches vor.
Die Strafanträge des sächsischen und preußischen Kriegsministers sind somit form- und fristgerecht gestellt. Wenn dieselben sich auch nur auf die Leipziger Volkszeitung beziehen, so sind sie doch zweifellos auch auf die Muldentaler und Altenburger Volkszeitung auszudehnen. Da aber derselbe Artikel zu gleicher Zeit in den erwähnten drei Zeitungen gestanden hat, so hat der Gerichtshof die Tat als einheitliche Handlung angesehen. Bei der Strafzumessung ist einmal die Unbescholtenheit des Angeklagten und der Umstand in Betracht gezogen worden, daß der Artikel zu einer Zeit erschienen ist, in der fast jeder dienen muß, mithin weiß, was er von dem Artikel zu halten hat. Andererseits ist die Schwere der Beleidigung in Erwägung gezogen und deshalb, wie geschehen, erkannt worden.
„Arbeiter-Zeitung, Wien” vom 15.Mai 1904
Über den Prozeß des Genossen Wagner, verantwortlicher Redakteur der „Leipziger Volkszeitung”, der, wie wir bereits gemeldet haben, wegen Beleidigung des Offizierskorps zu einem Monat Gefängnis verurteilt wurde, wird aus Leipzig noch folgendes berichtet:
Im Anschluß an die Rede des Abgeordneten Bebel im Reichstag über den erwähnten Roman erschien in Nr. 69 der „Leipziger Volkszeitung” vom 24.März d.J. ein Artikel mit der Überschrift: „Tartüffe”. In diesem wurde, unter Anführung einer Reihe von Beispielen, ausgeführt, daß die Unsittlichkeit in Offizierskreisen geradezu traditionell sei. Es sei ein offenes Geheimnis, daß gerade das Offizierskorps prozentual am meisten unter der Lustseuche zu leiden habe. Graf Baudissin sage in seinem Roman gar nichts Neues; es sei einfach Heuchelei, wenn man ihn der Übertreibung beschuldige. Auch was Baudissin über die oft so mangelhafte Bildung der Offiziere schreibe, sei nur zu wahr.
Dieses Artikels wegen hatte sich Wagner wegen Beleidigung des Offizierskorps des deutschen Reichsheeres und außerdem speziell des Offizierskorps der Armee des Königreiches Sachsen zu verantworten.
Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er bestreite, daß in dem Artikel eine Beleidigung des Offizierskorps enthalten sei, der Artikel wende sich in der Hauptsache gegen die bürgerliche Presse, die die Behauptung aufgestellt hatte: Die Enthüllungen des Grafen Baudissin beruhen auf starker Übertreibung. Es werde dem Offizierskorps gar nicht zum Vorwurf gemacht, daß in seinen Reihen die geschlechtliche Ausschweifung vorherrschend sei, sondern nur gesagt, die geschlechtliche Ausschweifung sei im Offizierskorps historisch und traditionell. In der Behauptung, in einem Stand sei die Syphilis vorherrschend, liege doch keinerlei Beleidigung. In seiner früheren Eigenschaft als Oberpostpraktikant habe der Angeklagte einmal über eine Satzungsänderung der Postkrankenkasse berichten müssen. Er habe sich in dem Bericht dahin ausgesprochen, daß an Syphilis Erkrankten ebenfalls Krankengeld zu gewähren sei. Der Postinspektor, ein Reserveoffizier, dem er den Bericht einzureichen hatte, sagte: Es ist eine veraltete Anschauung, syphilitisch Erkrankte von der Krankenunterstützung auszuschließen. Daß das Militär vorherrschend dem Venusdienst huldige, sei allbekant, dies sei doch kein Vorwurf. Es gebe ja eine Masse Soldatenlieder, in denen zum Ausdruck gebracht werde, daß die Soldaten infolge ihrer kleidsamen Uniform von Weibern bevorzugt werden; kein Mensch nehme Anstoß daran. Die Behauptung, daß es unter den Offizieren viel Ungebildete gebe, sei doch auch keine Beleidigung. Es sei doch bekannt, daß Offiziere, die doch nur in den seltensten Fällen das Maturitätsexamen gemacht haben, ungebildeter als zum Beispiel der Richter seien. Friedrich II. hatte doch sogar Generale, die weder schreiben noch lesen konnten. Und der bekannte Generalfeldmarschall Graf Wrangel war derartig ungebildet, daß er einmal in einem Zeugnis anstatt „fähiger” feiger Offizier schrieb. Das sei allbekannt. Jedenfalls habe ihm die Absicht, irgend ein Offizierskorps oder einzelne Offiziere zu beleidigen, vollständig ferngelegen, seine Bemerkungen galten lediglich der bürgerlichen Presse.
Der Gerichtshof war, wie bei der sächsischen Justiz nicht anders zu erwarten, anderer Ansicht und verurteilte Genossen Wagner wegen Beleidigung des Offizierskorps zu einem Monat Gefängnis.
„Braunschweiger Volksfreund” vom 21.Juni 1904:
Der Schriftsteller und ehemalige Oberlieutenant Graf Wolf Baudissin (Freiherr von Schlicht) hat in seinem Roman: Erstklassige Menschen, dem preußischen Offizierkorps und besonders den Gardeoffizieren bekantlich ein verdammt schlechtes Zeugniß ausgestellt. Diese Offenherzigkeit, die man in intimem Zirkel vielleicht belacht hätte, hat man dem Herrn Grafen, weil er seine Erfahrungen und Beobachtungen in alle Welt hinausposaunte, in den exklusiven Kreisen der Erstklassigen sehr übel genommen. Man hat ihn deklassiert, man schneidet ihn, man geht ihm aus dem Wege, er kann kein Rennen mehr besuchen, an keinem Klubschmaus mehr theilnehmen, er erhält keine Einladungen zu Familienfestlichkeiten usw. – Das kann ein deutscher Graf auf die Dauer unmöglich vertragen. Wolf ging also hin und that Buße. Er hat jetzt einen humoristischen Roman erscheinen lassen: Der Gardestern, worin ein zu einem Linienregimente versetzter Gardeoffizier die Hauptrolle spielt. Der Held ist ein unheimlich ehrenhafter Charakter und auch alle Offiziere, die sich sonst noch in dem Buche vorstellen, sind furchtbar brav und tugendhaft; ja, die Bravheit und die Tugendhaftigkeit sind so unglaublich großartig, daß vielleicht die beleidigten Erstklassigen auf den Gedanken kommen, Wolf habe alles nur ironisch gemeint.
„The New York Times” vom 2.Juli 1904:
First-Class Men. A Novel of German Army Life. By Freiherr von Schlicht (Wolf Graf von Baudissin). Confiscated in Germany. Unabridged American Edition. 12mo. Pp. 285. Paper. New York: M. Schnitzer Publishing Company.
Count Baudissin's book, of which this is an English version, has been the subject of debate in the German Reichstag. It has been talked of also on this side along with Lieut. Bilse's, and, as in the case of that other, will certainly fall to impress the American as it does the German reader. To us the German army is not a palladium, it is merely a part of our neighbour's furniture, seemingly very cumbrous and expensive, but as necessary to him as is to us the wearing of coats on formal occasions even in the heat of Summer. The particular theme of Count Baudissin's book, as implied in the title, is the soldier, who is also the nobleman, the officer of the Imperial Guard. Here you have introduced into a guard regiment, where every officer otherwise has his “von”, the son of a rich manufacturer of buttons. The Kaiser personally has expressed his confidence that his gallant officers will receive as a brother Lieut. Winkler, their new comrade. The time poor Lieut. Winkler has of it is the story. He is a quiet, patient, priggish young man of excellent, soldierlike appearance, but socially dull enough. However, that does not matter. He is not permitted to figure socially. His comrades behave like very rude young men. Yet the most aristocratic among them is not above borrowing money from Lieut. Winkler — borrowing it to pay debts, the money to redeem which has been scraped together by the fellow's family and then gambled away by him in a night.
To make matters worse Winkler has to raise a horrible scandal by sending to the guard house “for striking an enlisted man” a Corporal who is much indulged by his Captain because he, too, has a “von” before his name. That reveals much other abuse of the men by other noncoms., and the regiment gets investigated and receives the assurance of the royal and imperial displeasure. Mr. Winkler on the contrary is royally and imperially commended, but he thinks it wiser to get out of the Guards and assist his father in the management of the button business. His stay in the Guards has enabled him to meet a Baroness, an army girl, a bit passée, but beautiful, and, though she was originally set on him as a last chance for a rich marriage, in love with him. He is so with her. He agrees upon marriage to pay her brother's debts, contracted in the usual way in the army, if the young Baron will resign his commission. The idea is most painful to the young Baron, but it is that or a bullet through the head, and he resigns. The descriptions of the doings and sayings of officers of the Kaiser's army, while not so utterly vulgar as those set forth in Bilse's book (he dealt with a frontier garrison, Baudissin deals with the flower of the system) are not such as to inspire admiration or respect for the “finest fighting machine in the world” or for the Prussian Lieutenant, said by Bismarck to be the strength of that machine.
„Hamburger Fremdenblatt” vom 31. August 1904:
„Erstklassige Menschen.”. Die „Berl. Neuest. Nachr.” hatten Mitteilungen über einen gegen den Verfasser des Romans „Erstklassige Menschen” Graf Baudissin (Frhrn. v. Schlicht) schwebenden Prozeß des Gardefüsilier-Regiments gebracht. Darauf schreibt jetzt das Generalkommando des Gardekorps dem genannten Blatt: Diese Nachricht beruht durchweg nicht auf Wahrheit. Das Regiment hat weder gegen den Grafen v. Baudissin Klage erhoben, noch beabsichtigt es, dies zu tun, da es keine Veranlassung hat, sich durch die Schilderungen des genannten Romans in irgend einer Weise getroffen zu fühlen.
„Berliner Lokal-Anzeiger” vom 22.Oktober 1904
Der Roman „Erstklassige Menschen” vor Gericht.
Der schon mehrfach erwähnte Prozeß wegen Beleidigung der deutschen Offiziere, der durch den bekannten Roman „Erstklassige Menschen” hervorgerufen worden ist, begann heute vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts I. Die Anklage richtet sich gegen den Schriftsteller Graf Baudissin sowie gegen die Inhaber der Otto Jankeschen Verlagsbuchhandlung, Dr.phil. Erich Janke und verwittw. Frau Dr. Janke. –
Als literarischer Sachverständiger ist Frhr. v.Liliencron zur Stelle. Der im Jankeschen Verlage erschienene Roman „Erstklassige Menschen” ist Anfang Februar erschienen und am 17.März d.J. beschlagnahmt worden. Der Angeklagte, der unter dem Pseudonym Freiherr von Schlicht schreibt, bestreitet entschieden, daß sein Roman den Charakter einer Schmähschrift habe. Als solche sei er keineswegs gedacht, vielmehr habe er eine sehr ernste Tendenz und wende sich gegen den im Offizierkorps herrschenden Kastengeist und gegen verschiedene Mißstände, die sich aus der falschen Haltung der Gesellschaft gegenüber den Offizieren ergeben. Die Tendenz der Besserung, aber nicht der Beleidigung sei der Grundzug des Buches. Er sei sich nicht bewußt, irgend etwas anderes gesagt zu haben, was er nicht schon in anderen Schriften, die das Leutnantsleben schildern, gesagt hätte. Die in Offizierkreisen vielfach herrschenden Ansichten, die Geldnot mancher Offiziere usw., die Folgen, welche daraus entstehen, wenn junge Leute ohne die genügenden Mittel Offiziere werden und über ihre Verhältnisse leben, das schließliche Ende, daß die jungen Leute dann zur Pistole greifen oder vor den Ehrenrat kommen, habe er nicht nur in lustigen Geschichten, sondern auch in ernsten Arbeiten wiederholt behandelt. Er habe nicht etwa fabrikmäßig gearbeitet, um die Konjunktur Bilse auszunutzen, er habe vielmehr Bilses Buch überhaupt nicht gelesen gehabt. Angeregt zu dem Roman sei er durch Beyerleins „Jena und Sedan”, er habe länger als sonst, nämlich neun Monate daran gearbeitet. Er sei Aristokrat und selbst zwölf Jahre Soldat gewesen, seiner näheren Familie gehören viele Offiziere an, er habe engen Verkehr mit Offiziersfamilien, sein einziger Sohn solle Offizier werden, jeder, der ihn kenne, werde bekunden, daß er Liebe zum Offiziersstande habe. In seinem eigenen Offiziersleben habe er niemals Kränkungen erfahren, die ihn verbittert hätten; er habe freiwillig s. Z. den Abschied genommen, um ganz der Schriftstellerei zu leben. Er wisse, daß der Kaiser alle seine Schriften lese, seine Theaterstücke würden in den ersten Theatern aufgeführt, und sowohl in Preußen, wie in Sachsen, Oesterreich, in Rußland von den allerhöchsten und höchsten Herrschaften angesehen, er habe zur achtzigsten Geburtstagsfeier von Exzellenz von Werder das Festspiel „Der Stolz der Maikäfer” verfaßt, kurz, er habe keineswegs eine offiziersfeindliche Tendenz. Er habe mit seinem Roman begonnen, als von Bilses Roman noch gar nicht geredet wurde. Von Bedeutung für das Entstehen des Buches sei auch der Selbstmord eines ihm nahe bekannten jungen Offiziers gewesen, der sich wegen übergroßer Schulden das Leben genommen. Da habe er sich mit der Frage beschäftigt, wie es möglich sei, daß einem so blutjungen Menschen ein Kredit von 65 000 Mark eingeräumt werden konnte. Man leihe das Geld eben nur dem Offizier im bunten Rock. Die Schuld an diesem Selbstmord hätte nach seiner Meinung die Gesellschaft, die jeden Offizier verwöhne und es ihm übermäßig leicht mache, Kredit zu erlangen; sein Buch richte sich daher nicht gegen die Offiziere, sondern gegen die Gesellschaft, die aus ihnen „erstklassige Menschen” geradezu großzüchte. Die Gesellschaft sei Schuld, wenn sich Mißstände im Offiziersleben herausgebildet haben. Er habe in seinem Buche auch deutliche Mittel zur Abhilfe angegeben. Als der Roman erschienen war, habe zunächst auch kein Mensch Beleidigungen darin erblickt, am wenigsten der Kriegsminister, der den Roman sehr bald gelesen hatte. Erst sechs Wochen später sei die Beschlagnahme verfügt worden, nachdem Bebel im Reichstage dem Kriegsminister gegenüber auf das Buch hingewiesen hatte. Der Titel „Erstklassige Menschen” und die Bezeichnung „Zitronenfalter” rühren gar nicht von ihm her, beide Bezeichnungen seien bei einer darauf bezüglichen Besprechung von einem Freunde vorgeschlagen worden. Mit den „Citronenfaltern” seien keineswegs die „Maikäfer” gemeint, das Gardefüsilier-Regiment habe sich auch gar nicht getroffen gefühlt und seinerzeit in den Zeitungen kundgegeben, daß es auch keinen Strafantrag gestellt habe. Schon die Tatsache, daß sein Roman in einem sehr angesehenem Verlage erschien, müßte doch den Verdacht, daß es sich um eine Schmähschrift handle, umstoßen. –
Die Vertreter der Jankeschen Verlagsbuchhandlung haben sich nur wegen Verbreitung des Romans nach seiner Beschlagnahme zu verantworten. Der Angekl. Dr.Janke weist darauf hin, daß die Werke des Grafen Baudissin schon seit zehn Jahren in seinem Verlage erscheinen. Schon im Frühjahr 1903, noch ehe Bilses Roman herausgekommen war, habe er mit dem Angeklagten mündlich über die Herausgabe dieses Buches, welches ein ernstes Werk sein sollte, verhandelt. Er habe aber keineswegs die „Konjunktur” wahrnehmen wollen und im Vertrauen auf die Autorität des Verfassers sein Werk in Verlag genommen. Jedwede beleidigende Absicht habe ihm völlig fern gelegen. Nach der Beschlagnahme habe er auch nicht ein Exemplar mehr im Inlande verbreitet, sondern das Werk aus seinem Verlage ausgeschieden und das Urheberrecht einer Wiener Verlagsanstalt übertragen. In österreich sei von Anfang an der Absatz ein sehr großer gewesen, denn fast ein Drittel der ersten Auflage sei nach österreich gegangen. –
Frau Dr.Janke bestätigt die Angabe ihres Sohnes. Der Verlag hatte die überzeugung, daß der Roman nach kurzer Zeit wieder freigegeben werden würde. –
Die Gattin des Grafen Baudissin bekundete über Enstehungsart und Tendenz des Romans auf Grund der Unterhaltungen, die sie darüber mit ihrem Gatten gehabt, dasselbe wie letzterer. Ihr Ehemann habe den Kastengeist unter den Offizieren, die Schattenseiten der Erziehung im Kadettenkorps und die Gefahren schildern wollen, die sich an junge Offiziere, die kein ausreichendes Vermögen haben, herandrängen. Bilses Buch habe ihr Gatte nicht gelesen. Als die Beschlagnahme erfolgte, seien sie auf einer Reise im Orient gewesen, aber auf telegraphische Nachricht sofort hierher zurückgekehrt. –
Es folgt die Verlesung des ganzen Romans, die viele Stunden in Anspruch nimmt.
„Berliner Lokal-Anzeiger” vom 23.Oktober 1904
Das Urteil im Prozeß Baudissin
wurde am gestrigen Sonnabend in vorgerückter Abendstunde gesprochen: Graf Baudissin wurde wegen Beleidigung zu 300 Mark, der Angeklagte Dr.Janke zu 200 Mark Geldstrafe eventuell 30 bezw. 20 Tagen Gefängnis verurteilt. Der Gerichtshof hat ferner auf Unbrauchbarmachung aller Exemplare des Buches, der Platten und Formen erkannt und dem Kriegsminister die Publikationsbefugnis zugesprochen. Frau Dr.Janke wurde von der Anklage der Beleidigung freigesprochen. Wegen Vergehens gegen § 28 des preßgesetzes wurden die Angeklagten Dr.Janke und Frau Janke zu je 200 Mark Geldstrafe, eventuell zu je 20 Tagen Gefängnis verurteilt.
Über den weiteren Verlauf der gestrigen Verhandlung geht uns im Anschluß an unsere Mitteilungen in der gestrigen Abendausgabe nachstehender Bericht zu:
Nach Verlesung des Romans läßt sich auf die Aufforderung des Vorsitzenden, Landgerichts-Direktors Hahn, der Angekl. Graf Baudissin noch in längerer Darlegung über die Gesichtspunkte aus, die ihn bei Abfassung seines Buches geleitet haben.
Die Tendenz des Romans.
Er habe zeigen wollen, wie heutzutage gegenüber der Protektion der adligen Offiziere – wie die Rangliste erweise &ndash, Aussichten für die bürgerlichen Offiziere sehr gering sind. Er habe zeigen wollen, daß die Offiziere künstlich verdorben werden dadurch, daß ihnen unglaublicher Kredit geradezu aufgedrängt werde. Er habe zeigen wollen, wie der Offizier durch die Gesellschaft geradezu verwöhnt werde, wie man auch um des allerjüngsten Leutnants willen die allergrößten Umstände macht. Diejenigen, die alle Nase lang mit Sekt und Kaviar gefüttert werden, können unmöglich sich zu Hause mit frugalem Mittagbrot oder mit 30 Pf. für Frühstück begnügen. Viele Mißstände würden nach seiner Meinung dadurch hervorgerufen, daß der größte Teil der Offiziere aus dem Kadettenkorps kommt, da dort außer Turnen, Reiten u. dergl. nicht genügend viel gelernt wird. Ihm sei auf der Kriegsschule ein solcher Offizier bekannt geworden, der von Schiller, Goethe, Herder, Lessing nicht mehr kannte als den Namen. Selbst die Selektaner zeigen häufig solche Lücken in ihrer allgemeinen Bildung, daß sie später, wenn sie den bunten Rock ausziehen, nicht wissen, wo sie des Leibes Notdurft und Nahrung beschaffen können. Dann habe er sogar sagen wollen, daß es Unsinn ist, wenn die Offiziere aus dem Kadettenkorps schon in so jungen Jahren zur Charge und mit 18 Jahren vor die Front kommen. Wenn ein Selektaner plötzlich 60 Mark und einen monatlichen Zuschuß, großen Kredit und den Hausschlüssel erhält, dann sei es doch kein Wunder, daß er zu einem leichtsinnigen Lebenswandel verführt wird. Die Statistik zeige, daß etwa 15% der Offiziere, die aus dem Kadettenkorps kommen, in drei bis vier Jahren wieder um die Ecke gehen. Die jungen Leute sollten erst etwa mit 20 Jahren und nach erreichtem Maturium Offiziere werden. Außerdem habe er sich für die Aufhebung der Altersgrenze ausgesprochen; denn er wisse, daß viele inaktive Offiziere gern in ihrer alten Charge weiter gedient haben würden. Er habe weiter zeigen wollen, wie falsch es sei, daß alle verabschiedeten Offiziere ihre Söhne immer wieder Offiziere werden lassen. Jeder der früh verabschiedeten Offiziere klage und stöhne, daß er oft nicht wisse, wie er sich durchs Leben schlagen solle – trotzdem lassen sie immer wieder ihre Söhne Offiziere werden, weil sie für deren ganze Erziehung im Kadettenkorps nur 80 M. zu zahlen haben. Diese Eltern zu warnen, sei auch ein Zweck seines Buches gewesen, das er in ernster Absicht geschrieben und auf das er noch heute stolz sei.
Es wird sodann Freiherr Detlev von Liliencron vernommen: Im Namen des ganzen deutschen Offizierkorps lege er Protest gegen diesen Roman ein. Das sei überhaupt kein Roman, sondern eine Anklage. Schon das Wort „Erstklassige Menschen” sei ein ordinäres deutsches Wort der papiernen deutschen Sprache, es sei hämisch und höhnisch. Er behaupte, daß ein solches Garderegiment, wie es im Buche geschildert werde, gar nicht existieren könnte, wo ein bürgerlicher Offizier so behandelt werde, wie der Leutnant Winkler in dem Buche. Den Blättern aller Parteien sei es aufgefallen, wie gehässig das Buch geschrieben sei. Es sei geradezu unerhört! Schon seit Dezennien würden in Witzblättern, den „Fliegenden Blättern” usw. die Offiziere als Kretins und Idioten hingestellt, – der Roman stelle sie aber noch viel tiefer. Es werden darin nicht einzelne, sondern ein ganzer Typus in schauerlicher und empörender Weise an den Pranger gestellt. Es handle sich nicht um eine künstlerische Arbeit, sondern um eine etwas flüchtig hergestellte Anklageschrift, die empörend sei.
Staatsanwalt Liebenow hält die drei Angeklagten der Beleidigung der deutschen Offizierkorps im Sinne der §§ 185 und 186 für schuldig. Daß es sich um eine Schmähschrift sonder gleichen handle, habe jeder objektive Beurteiler, habe die Presse aller Schattierungen anerkannt. Im Reichstage sei man einig gewesen in der Verurteilung des Romans und seiner Tendenz. Der Roman sei so voller Verleumdung wie kaum je ein anderer Roman. Die adligen Offiziere sollten getroffen werden, deshalb sei der Rahmen des Romans der Garde entnommen. Die Garde-Offiziere werden geschildert als Gecken und Narren, die vor Eitelkeit platzen, in den Künsten der Verführung groß seien, die Jagd nach reichen Erbinnen anstellen, hazardieren, aber gar kein ernstes Streben haben. Sie werden hingestellt als Mädchenjäger von fast brutaler Roheit, als lüderliche Menschen, verlumpte, sittlich tief stehende Schurken, und nicht ein einziger einwandsfreier, tüchtiger Vertreter des Offizierstandes trete in dem Roman auf. Das Bild sei ein völliges Zerrbild, der Angeklagte male ganz schreckliche und schauderhafte Bilder von dem Leben in den Offizierkorps.
Die Absicht der Beleidigung gehe schon aus dem Titel hervor, mit welchem die adligen Offiziere verhöhnt werden sollen. Hätte der Angeklagte Graf Baudissin Mißständen abhelfen wollen, so hätte es dazu andere Wege gegeben. Er als Angehöriger der Armee mußte wissen, daß seine falsche Kritik auf unsere Offiziere nicht paßt und eine solche falsche Kritik ein vaterlandsgefährliches Unternehmen ist. Er sei schon gewarnt worden, als er s. Z. das Feuilleton „Der Leutnantshund” veröffentlichte. Damals habe ihm das schleswigsche Offizierkorps deutlich gezeigt, daß es sich beleidigt fühlte, und er und seine Familie seien damals boykottiert worden, bis der Angeklagte Besserung gelobt habe. Er sowohl, als auch die Mitangeklagten seien zweifellos von der Absicht geleitet worden, gute Geschäfte zu machen und die Bilse-Konjunktur auszunützen. Der Staatsanwalt beantragte gegen den Grafen Baudissin 1500 M. Geldstrafe, gegen die Mitangeklagten wegen der Beleidigung je 750 M. Geldstrafe und wegen Vergehens gegen § 28 des Preßgesetzes je 250 M. Geldstrafe und Publikationsbefugnis für den Kriegsminister.
In ihren Plaidoyers wiesen die Verteidiger R.A. Paul Alexander Katz und Stein alle Anklagepunkte und Ausführungen des Staatsanwaltes zurück.
Das Urteil, das nach kurzer Beratung gefällt wurde, lautet wie oben mitgeteilt. –
Aus der Urteilsbegründung ist folgendes zu entnehmen: Der Gerichtshof war der Ansicht, daß in dem Roman objektiv Beleidigungen der preußischen Offiziere im Sinne des § 185 enthalten seien; die Vorwürfe richten sich nicht nur gegen einzelne Personen, sondern gegen die Armee als Ganzes. Der Roman sei ein Tendenzroman schlechter Tendenz. Der Gerichtshof hat aber angenommen, daß Graf Baudissin nicht bloß ein niedriges Motiv geleitet hat, nicht bloß das Interesse des Geldwertes und das Bestreben, eine gute Konjunktur auszunützen, daß er vielmehr sein Buch in ernster Weise hat halten wollen, er sich aber bei seiner Abfassung zu sehr von seinen Stimmungen hat fortreißen lassen.
„Vorwärts – Berlin” vom 23.Okt. 1904
Der Prozeß wegen Beleidigung der deutschen Offiziere, der durch den Roman „Erstklassige Menschen” hervorgerufen worden ist, begann am Sonnabend [22.10.1904 d.Hrsgb.] vor der 2.Strafkammer des Berliner Landgerichts I. Die Anklage richtet sich gegen den Schriftsteller Graf Baudissin sowie gegen die Inhaber der Jankeschen Verlagsbuchhandlung Dr.phil. Erich Janke und verwitwete Frau Dr. Janke. Den Vorsitz im Gerichtshofe führt Landger.-Dir. Hahn, die Verteidigung führen die Rechtsanwälte Paul Alexander, Katz und Stein. Als literarischer Sachverständiger ist der Dichter Detlev v. Liliencron zur Stelle.
Der im Jankeschen Verlage erschienene Roman „Erstklassige Menschen” ist anfangs Februar erschienen und am 17.März d.J. beschlagnahmt worden. Der Angeklagte, der unter dem Pseudonym Frhr. v. Schlicht schreibt, bestreitet entschieden, daß sein Roman den Charakter einer Schmähschrift habe. Als solche sei er keineswegs gedacht, vielmehr habe er eine sehr ernste Tendenz und wende sich gegen den im Offizierkorps herrschenden Kastengeist und gegen verschiedene Mißstände, die sich aus der falschen Haltung der Gesellschaft gegenüber den Offizieren ergeben. Die Tendenz der Besserung, aber nicht der Beleidigung, sei der Grundzug des Buches. Er sei sich nicht bewußt, irgend etwas anderes gesagt zu haben, was er nicht schon in anderen Schriften, die das Leutnantsleben schildern, gesagt hätte. Die in Offizierskreisen vielfach herrschenden Ansichten, die Geldnot mancher Offiziere und so weiter, die Folgen, die daraus entstehen, wenn junge Leute ohne die genügenden Mittel Offizier werden und über ihre Verhältnisse leben, das schließliche Ende, daß die jungen Leute dann zur Pistole greifen oder vor den Ehrenrat kommen, habe er nicht nur in lustigen Geschichten, sondern auch in ernsten Arbeiten wiederholt behandelt. Er habe nicht etwa fabrikmäßig gearbeitet, um die Konjunktur Bilse auszunutzen, er habe vielmehr Bilses Buch überhaupt nicht gelesen gehabt. Angeregt zu dem Roman sei er durch Beyerleins „Jena oder Sedan”, er habe länger als sonst, nämlich neun Monate daran gearbeitet. Er sei Aristokrat und selbst 12 Jahre Soldat gewesen, seiner näheren Familie gehören viele Offiziere an, er habe regen Verkehr mit Offiziersfamilien, sein einziger Sohn solle Offizier werden, jeder, der ihn kenne, werde bekunden, daß er Liebe zum Offiziersstande habe. In seinem eigenen Offiziersleben habe er niemals Kränkungen erfahren, die ihn verbittert hätten, er habe freiwillig seinerzeit den Abschied genommen, um ganz der Schriftstellerei zu leben. Er wisse, daß der Kaiser alle seine Schriften lese, seine Theaterstücke würden in den ersten Theatern aufgeführt und sowohl in Preußen wie in Sachsen, in Österreich, in Rußland von den allerhöchsten und höchsten Herrschaften angesehen, er habe zur 80. Geburtstagsfeier von Exzellenz v.Werder das Festspiel „Der Stolz der Maikäfer” verfaßt, kurz, er habe keineswegs eine offiziersfeindliche Tendenz. Er habe mit seinem Roman begonnen, als von Bilses Roman noch gar nicht geredet wurde. Von Bedeutung für das Entstehen des Buches sei auch der Selbstmord eines ihm nahe bekannten jungen Offiziers gewesen, der sich wegen übergroßer Schulden das Leben genommen. Da habe er sich mit der Frage beschäftigt, wie es möglich sei, daß einem so blutjungen Menschen ein Kredit von 65 000 M. eingeräumt werden konnte. Man leihe das Geld eben nur dem Offizier im bunten Rock. Die Schuld an diesem Selbstmord hatte nach seiner Meinung die Gesellschaft, die jeden Offizier verwöhne und es ihm übermäßig leicht mache, Kredit zu erlangen; sein Buch richte sich daher nicht gegen die Offiziere, sondern gegen die Gesellschaft, die aus ihnen „erstklassige Menschen” geradezu großzüchte. Die Gesellschaft sei schuld, wenn sich Mißstände im Offiziersleben herausgebildet haben. Er habe in seinem Buche auch deutliche Mittel zur Abhülfe angegeben. Als der Roman erschienen war, habe zunächst auch kein Mensch Beleidigungen darin erblickt, am wenigsten der Kriegsminister, der den Roman sehr bald gelesen hatte. Erst sechs Wochen später sei die Beschlagnahme verfügt worden, nachdem Bebel im Reichstage dem Kriegsminister gegenüber auf das Buch hingewiesen hatte. Der Titel „Erstklassige Menschen” und die Bezeichnung „Zitronenfalter” rühren gar nicht von ihm her, beide Bezeichnungen seien bei einer darauf bezüglichen Besprechung von einem Freunde vorgeschlagen worden. Mit den „Zitronenfaltern” seien keineswegs die „Maikäfer” gemeint, das Gardefüsilier-Regiment habe sich auch gar nicht getroffen gefühlt und seinerzeit in den Zeitungen kundgegeben, daß es auch keinen Strafantrag gestellt habe. Schon die Tatsache, daß sein Roman in einem sehr angesehenen Verlage erschien, müßte doch den Verdacht, daß es sich um eine Schmähschrift handle, umstoßen.
Die Vertreter der Jankeschen Verlagsbuchhandlung haben sich nur wegen Verbreitung des Romans nach seiner Beschlagnahme zu verantworten. Angeklagter Dr. Janke weist darauf hin, daß die Werke des Grafen Baudissin schon seit 10 Jahren in seinem Verlage erscheinen. Schon im Frü hjahr 1903, noch ehe Bilses Roman herausgekommen war, habe er mit dem Angeklagten mündlich über die Herausgabe dieses Buches, das ein ernstes Werk sein sollte, verhandelt. Er habe also keineswegs die „Konjunktur” wahrnehmen wollen und im Vertrauen auf die Autorität des Verfassers sein Werk in Verlag genommen. Jedwede beleidigende Absicht habe ihm völlig fern gelegen. Nach der Beschlagnahme habe er auch nicht ein Exemplar mehr im Inlande verbreitet, sondern das Werk aus seinem Verlage ausgeschieden und das Urheberrecht einer Wiener Verlagsanstalt übertragen. In Österreich sei von Anfang an der Absatz sehr groß gewesen, denn fast ein Drittel der ersten Auflage sei nach Österreich gegangen. Frau Dr. Janke bestätigt die Angaben ihres Sohnes. Der Verlag hatte die Überzeugung, daß der Roman nach kurzer Zeit wieder freigegeben werden würde.
Die Gattin des Grafen Baudissin bekundete über Entstehungsart und Tendenz des Romans auf Grund der Unterhaltungen, die sie darüber mit ihrem Gatten gehabt, dasselbe, wie letzterer. Ihr Ehemann habe den Kastengeist unter den Offizieren, die Schattenseiten der Erziehung im Kadettenkorps und die Gefahren schildern wollen, die sich an junge Offiziere, die kein ausreichendes Vermögen haben, herandrängen. Bilses Buch habe ihr Gatte nicht gelesen. Als die Beschlagnahme erfolgte, seien sie auf einer Reise im Orient gewesen, aber auf telegraphische Nachricht sofort zurückgekehrt.
Es folgt die Verlesung des ganzen Romans, die Stunden in Anspruch nimmt.
Um 5 Uhr war die Verlesung des Romans zu Ende. – Auf die Aufforderung des Vorsitzenden Landgerichtsdirektors Hahn läßt sich der Angeklagte Graf Baudissin noch in längerer Darlegung über die Gesichtspunkte aus, die ihn bei Abfassung seines Buches geleitet haben. Er betont wiederum, daß ihm jede Absicht der Beleidigung ferngelegen habe. Kein Mensch habe ihm wohl solche Absicht imputiert, bis die Sozialdemokratie sich des Buches bemächtigte und ihm eine Tendenz unterlegte, die ihm nicht innegewohnt habe. Er habe zeigen wollen, wie heutzutage gegenüber der Protektion der adeligen Offiziere – wie die Rangliste erweise – die Avancementsaussichten für die bürgerlichen Offiziere sehr gering sind. Er habe zeigen wollen, daß die Offiziere künstlich verdorben werden dadurch, daß ihnen unglaublicher Kredit geradezu aufgedrängt werde. Er habe zeigen wollen, wie der Offizier durch die Gesellschaft geradezu verwöhnt werde, wie man auch um des allerjüngsten Leutnants willen die allergrößten Umstände macht. Diejenigen, die alle naselang mit Sekt und Kaviar gefüttert werden, können unmöglich sich zu Hause mit frugalem Mittagbrot oder mit 30 Pf. für Frühstück begnügen. Er bestreite entschieden, daß sein Buch die gesellschaftliche Stellung der Offiziere zu untergraben geeignet sei. Er wollte zeigen, daß die Offiziere nicht immer dahin gehen sollten, wo Bratenschüsseln winken und Champagnerpfropfen knallen, zu den Millionären und den mit großen Reichtümern Gesegneten. Viele Mißstände würden nach seiner Meinung dadurch hervorgerufen, daß der größte Teil der Offiziere aus dem Kadettenkorps kommt, da dort außer Turnen, Reiten u.dgl. nicht genügend viel gelernt wird. Ihm sei auf der Kriegsschule ein solcher Offizier bekannt geworden, der von Schiller, Goethe, Herder, Lessing nicht mehr kannte, als den Namen. Selbst die Selektaner zeigen häufig solche Lücken in ihrer allgemeinen Bildung, daß sie später, wenn sie den bunten Rock ausziehen, nicht wissen, wie sie des Leibes Notdurft und Nahrung beschaffen können. Im Kadettenkorps fehle dem jungen Mann jeglicher Familienzusammenhang, sie entbehren den Umgang mit Frauen und Geschwistern. Er wollte zeigen, daß es eine Sünde ist, einen 7jährigen Jungen, der noch gar keine eigene Meinung über seinen zukünftigen Lebensberuf hat, in das Kadettenkorps zu stecken, weil die ganze Erziehung des Jungen dort umsonst oder für 80 M. gewährt wird. Deshalb schlage er vor, daß das Erziehungsgeld in den Kadettenkorps von 80 M. auf etwa 1200 oder 1500 M. erhöht werde, denn dann würde sich mancher Vater besinnen, ehe er seinen Sohn in das Kadettenkorps steckt. Dann habe er sagen wollen, daß es Unsinn ist, wenn die Ofiiziere aus dem Kadettenkorps schon in so jungen Jahren zur Charge und mit 18 Jahren vor die Front kommen. Wenn ein Selektaner plötzlich 60 M. und einen monatlichen Zuschuß, großen Kredit und den Hausschlüssel erhält, dann sei es doch kein Wunder, daß er zu einem leichtsinnigen Lebenswandel verführt wird. Die Statistik zeige, daß etwa 15 Proz. der Offiziere, die aus dem Kadettenkorps kommen, in drei bis vier Jahren wieder um die Ecke gehen. Die jungen Leute sollten erst etwa mit 20 Jahren und nach erreichtem Maturium Offiziere werden. Außerdem habe er sich für Aufhebung der Altersgrenze ausgesprochen, denn er wisse, daß viele inaktive Offiziere gern in ihrer alten Charge weiter gedient haben würden. Durch die Aufhebung der Altersgrenze würde viel soziales Elend und Bitterkeit verschwinden. Weiter müßte in Bezug auf die zahllosen Abzüge, die von den jüngeren Offizieren monatlich verlangt werden, eine Änderung eintreten, denn wenn ihnen am Ersten kaum mehr etwas übrig bleibt, müssen sie Schulden machen. Damit im Zusammenhange stehen die Änderungen in der Uniform, deren Notwendigkeit nicht angezweifelt werden soll; die Neuanschaffungen könne der Offizier aus eigener Tasche nicht bezahlen, das Geld müsse aus Staatszuschüssen für Kleider gewährt werden. Er habe weiter zeigen wollen, wie falsch es sei, daß alle verabschiedeten Offiziere ihre Söhne immer wieder Offiziere werden lassen. Jeder der früh verabschiedeten Offiziere klage und stöhne, daß er oft nicht wisse, wie er sich durch's Leben schlagen solle &ndash, trotzdem lassen sie ihre Söhne immer wieder Offiziere werden, weil sie für deren ganze Erziehung im Kadettenkorps nur 80 Mark zu zahlen haben. Diese Eltern zu warnen, sei auch ein Zweck des Buches gewesen, das er in ernster Absicht geschrieben habe und auf das er noch heute stolz sei. Er könne nicht begreifen, wie ihm von sozialdemokratischer Seite gehässige Absichten untergelegt werden konnten. Es sei ihm nahegelegt worden, doch den Wahrheitsbeweis anzutreten, er habe viele Zuschriften erhalten und es sei ihm von vielen Seiten Material zur Verfügung gestellt, aber er lehne den Antritt des Wahrheitsbeweises ab, denn er mache das Wort Goethes zur „Wahrheit und Dichtung” sich zu eigen, welcher sagte: „Alles, was in dem Buche steht, ist erlebt und doch ist nichts so erlebt, wie es geschrieben ist.” Auch sein Buch sei nach seinen langjährigen Erfahrungen geschrieben, aber die ganzen Personen sind erfunden und aus den verschiedensten Charakteren, die er im Leben kennen gelernt habe, habe er sich die Gestalten geformt. Es wäre ihm leicht, den Wahrheitsbeweis zu bringen, aber er wolle nicht, weil er keine Lust habe, den Sozialdemokraten neues Futter zu bringen,weil er nicht alte Kameraden an den Pranger stellen wolle und weil er nicht den Ehrgeiz habe, ein zweiter Bilse zu werden und sich damit eine Villa zu verdienen.
Der Vorsitzende hält dem Angeklagten eine Reihe von Stellen vor, die doch darauf hindeuten, daß er nicht einzelne Typen vorführen und einzelne Mißstände geißeln, sondern seine Angriffe im allgemeinen gegen die deutschen Offiziere richten und sie schmähen wollte. Der Angeklagte bestreitet dies ganz entschieden. Es handle sich hier ja doch um einen Roman und es sei doch das Recht des Künstlers, die Farben zu wählen, die er für seine Gebilde brauche. Er gebe zu, daß er viel Schwarz gewählt habe, dies sei aber in guter Absicht geschehen. Er habe nicht geglaubt, daß man in einem Roman eine Beleidigung erblicken kann, denn es handle sich doch um erfundene Personen und Handlungen.
Der Vorsitzende hält ihm vor, daß er in seinem Roman doch einen Repräsentanten des gebildeten Bürgertums in einen grellen Gegensatz gestellt habe zu den adeligen Offizieren, die als die Repräsentanten des schrecklichsten Banausentums gegeißelt werden. Der Angeklagte erwidert, er habe zeigen wollen, daß die erstklassigen Menschen nicht das sind, was das Publikum von ihnen hält, und die adeligen Offiziere ihren Dienst nicht besser verrichten, als die bürgerlichen.
Der Vorsitzende weist ferner darauf hin, daß die Offiziere doch als unehrenhafte Schuldenmacher ganz im allgemeinen hingestellt werden, die in sittlicher Beziehung sehr lax seien, die sich ihre Gesundheit ruinieren und dann die erste beste reiche Dame heiraten, die bewußt gröbliche Pflichtwidrigkeiten begehen etc. etc. – Der Angeklagte betont wiederholt, daß es sich ja um einen Roman handle und nicht um eine Anklage, sondern um eine Warnung, wohin es kommen könne.
Es wird sodann als Sachverständiger Frhr. Detlev v.Liliencron vernommen: Im Namen des ganzen deutschen Offizierkorps lege er Protest gegen diesen Roman ein. Das sei überhaupt kein Roman, sondern eine Anklage. Schon das Wort „Erstklassige Menschen” sei ein ordinäres deutsches Wort der papierenen deutschen Sprache, es sei hämisch und höhnisch. Er behaupte, daß ein solches Garderegiment, wie es im Buche geschildert werde, gar nicht existieren könnte, wo ein bürgerlicher Offizier so behandelt werde wie der Leutnant Winkler in diesem Buche. In den Offizierkorps gäbe es nur das Wort „Kamerad”. Den Blättern aller Parteien sei es aufgefallen, wie gehässig das Buch geschrieben sei. Es sei geradezu unerhört! Schon seit Dezennien würden in Witzblättern, den „Fliegenden Blättern” usw. die Offiziere als Kretins und Idioten hingestellt, der Roman stelle sie aber noch viel tiefer. Es werden darin nicht einzelne, sondern ein ganzer Typus in schauerlicher und empörender Weise an den Pranger gestellt. Es handele sich nicht um eine künstlerische Arbeit, sondern um eine etwas flüchtig hergestellte Anklageschrift, die empörend sei.
Staatsanwalt Liebenow hält die drei Angeklagten der Beleidigung der deutschen Offizierkorps im Sinne der §§ 183 und 186 für schuldig. Der Kriegsminister v.Einem habe sich nicht erst durch die Sozialdemokraten zur Stellung des Strafantrages drängen lassen, sondern schon am 20.Februar Schritte bei der Staatsanwaltschaft getan in der Richtung, ob wegen Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen vorgegangen werden könnte. Daß es sich um eine Schmähschrift sondergleichen handle, habe jeder objektive Beurteiler, habe die Presse aller Schattierungen anerkannt. Im Reichstage sei man einig gewesen in der Verurteilung des Romans und seiner Tendenz. Der Roman sei voller Verläumdung, wie kaum je ein anderer Roman. Die adligen Offiziere sollten getroffen werden, deshalb sei der Rahmen des Romans der Garde entnommen. Die Gardeoffiziere werden geschildert als Gecken und Narren, die vor Eitelkeit platzten, in den Künsten der Verführung groß seien, die Jagd nach reichen Erbinnen anstellen, hasardieren, aber gar kein ernstes Streben haben. Sie werden hingestellt als Mädchenjäger von fast brutaler Roheit, als lüderliche Menschen, verlumpte, sittlich tief stehende Schurken und nicht ein einziger einwandsfreier, tüchtiger Vertreter des Offizierstandes trete in dem Roman auf. Das Bild sei ein völliges Zerrbild, der Angeklagte male ganz schreckliche und schauderhafte Bilder von dem Leben in den Offizierkorps. Die Absicht der Beleidigung gehe schon aus dem Titel hervor, mit welchem die adligen Offiziere verhöhnt werden sollen. Hätte der Angeklagte Graf Baudissin Mißständen abhelfen wollen, so hätte es dazu andere Wege gegeben. Er als Angehöriger der Armee mußte wissen, daß seine Kritik auf unsere Offiziere nicht paßt und eine solche falsche Kritik ein vaterlandsgefährliches Unternehmen ist. Er sei schon gewarnt worden, als er seinerzeit das Feuilleton „Der Leutnantshund” veröffentlichte. Damals habe ihm das Schleswigsche Offizierkorps deutlich gezeigt, daß es sich beleidigt fühlt, und er und seine Familie seien damals boykottiert worden, bis der Angeklagte Besserung gelobt habe. Er sowohl, als auch die Mitangeklagten seien zweifellos von der Absicht geleitet worden, gute Geschäfte zu machen und die Bilse-Konjunktur auszunutzen. Auch die Mitangeklagten hätten sich der Beleidigung schuldig gemacht, der Verkauf nach Wien nach der hiesigen Beschlagnahme sei eine schwere Verhöhnung der staatlichen Autorität. Der Staatsanwalt beantragte gegen den Grafen Baudissin 1500 Mark Geldstrafe, gegen die Mitangeklagten wegen der Beleidigung je 750 M. Geldstrafe und wegen Vergehens gegen §28 des Preßgesetzes je 250 M. Geldstrafe und Publikationsbefugnis für den Kriegsminister.
In vorgerückter Abendstunde wiesen die Verteidiger, Rechtsanwälte Katz und Stein alle Anklagepunkte und Ausführungen des Staatsanwalts zurück und führten in juristischer Beziehung aus, daß in keiner Weise der Angeklagte, der seit langer Zeit in Sachsen domiziliert sei, gerade preußische Verhältnisse im Auge gehabt habe und der Kriegsminister zur Stellung des Strafantrages nicht legitimiert sei.
Die Beratung des Gerichtshofes war nur eine kurze. Der Gerichtshof verkündete in späterer Abendstunde folgendes Urteil: Wegen Beleidigung: den Angeklagten Grafen Baudissin zu 300 M. Geldstrafe, den Angeklagten Dr. Janke zu 200 M. Geldstrafe, event. 30 bezw. 20 Tage Gefängnis. Der Gerichtshof hat ferner auf Unbrauchbarmachung aller Exemplare des Buches, der Platten und Formen erkannt und dem Kriegsminister die Publikationsbefugnis zugesprochen. Frau Dr. Janke wurde von der Anklage der Beleidigung freigesprochen. Wegen Vergehens gegen §28 des Preßgesetzes wurden verurteilt die Angeklagten Dr. Janke und Frau Janke zu je 200 M. Geldstrafe ev. zu je 20 Tagen Gefängnis. –
Der Gerichtshof war der Ansicht, daß in dem Roman objektiv Beleidigungen der preußischen Offiziere im Sinne des §185 enthalten seien; die Vorwürfe richten sich nicht nur gegen einzelne Personen, sondern gegen die Armee als Ganzes. Der Roman sei ein Tendenzroman schlechter Tendenz. Der Gerichtshof hat aber angenommen, daß Graf Baudissin nicht bloß ein niedriges Motiv geleitet hat, nicht bloß das Interesse des Gelderwerbes und das Bestreben, eine gute Konjunktur auszunutzen, daß er vielmehr sein Buch in ernster Weise hat halten wollen, daß er sich aber bei seiner Abfassung zu sehr von seinen Stimmungen hat fortreißen lassen.
Wir werden in der nächsten Nummer auf diesen Prozeß und die Äußerungen des Angeklagten über die Absichten, welche die Sozialdemokratie seinem Roman angeblich unterlegt habe, zurückkommen.
„Hannoverscher Courier” vom 23.Oktober 1904
Berlin, 23.Oktober abends.
Der schon mehrfach erwähnte Prozeß wegen Beleidigung der deutschen Offiziere, der durch den bekannten Roman „Erstklassige Menschen” hervorgerufen worden ist, begann heute vor der Strafkammer des Landgerichts I. Die Anklage richtet sich gegen den Schriftsteller Graf Baudissin sowie gegen die Inhaber der Otto Jankeschen Verlagsbuchhandlung, Dr.phil. Erich Janke und verwitwete Frau Dr. Janke. Den Vorsitz im Gerichtshof führt Landgerichtsdirektor Hahn, die Anklage vertritt Staatsanwalt Liebenow. Als literarischer Sachverständiger ist Frhr. v.Liliencron zur Stelle. Der Roman ist anfangs Februar erschienen und am 17.März d.J. beschlagnahmt worden. Der Angeklagte, der unter dem Pseudonym Freiherr von Schlicht schreibt, bestreitet entschieden, daß sein Roman den Charakter einer Schmähschrift habe. Die Tendenz der Besserung, aber nicht der Beleidigung sei der Grundzug des Buches. Er sei sich nicht bewußt, irgend etwas anderes gesagt zu haben, was er nicht schon in anderen Schriften, die das Leutnantsleben schildern, gesagt hätte. Er habe nicht etwa fabrikmäßig gearbeitet, um die Konjunktur Bilse auszunutzen, er habe vielmehr Bilses Buch überhaupt nicht gelesen gehabt. Angeregt zu dem Roman sei er durch Beyerleins „Jena oder Sedan”, er habe länger als sonst, nämlich neun Monate daran gearbeitet. Er sei Aristokrat und selbst zwölf Jahre Soldat gewesen. Er wisse, daß der Kaiser alle seine Schriften lese, seine Theaterstücke würden in den ersten Theatern aufgeführt, und sowohl in Preußen, wie in Sachsen, Oesterreich, in Rußland von den allerhöchsten und höchsten Herrschaften angesehen. Von Bedeutung für das Entstehen des Buches sei auch der Selbstmord eines ihm nahe bekannten jungen Offiziers gewesen, der sich wegen übergroßer Schulden das Leben genommen. Da habe er sich mit der Frage beschäftigt, wie es möglich sei, daß einem so blutjungen Menschen ein Kredit von 65 000 Mark eingeräumt werden konnte. Man leihe das Geld eben nur dem Offizier im bunten Rock. Die Schuld an diesem Selbstmord hätte nach seiner Meinung die Gesellschaft, die jeden Offizier verwöhne und es ihm übermäßig leicht mache, Kredit zu erlangen; sein Buch richte sich daher nicht gegen die Offiziere, sondern gegen die Gesellschaft, die aus ihnen „erstklassige Menschen” geradezu großzüchte. Er habe in seinem Buche auch deutliche Mittel zur Abhilfe angegeben. Als der Roman erschienen war, habe zunächst auch kein Mensch Beleidigungen darin erblickt, am wenigsten der Kriegsminister, der den Roman sehr bald gelesen hatte. Erst sechs Wochen später sei die Beschlagnahme verfügt worden, nachdem Bebel im Reichstage dem Kriegsminister gegenüber auf das Buch hingewiesen hatte. – Die Vertreter der Jankeschen Verlagsbuchhandlung haben sich nur wegen Verbreitung des Romans nach seiner Beschlagnahme zu verantworten. Der Angeklagte Dr. Janke weist darauf hin, daß die Werke des Grafen Baudissin schon seit zehn Jahren in seinem Verlage erscheinen. Er habe keineswegs die „Konjunktur” wahrnehmen wollen, und im Vertrauen auf die Autorität des Verfassers sein Werk in Verlag genommen. Jedwede beleidigende Absicht habe ihm völlig ferngelegen. Frau Dr. Janke bestätigt die Angaben ihres Sohnes. Die Gattin des Grafen Baudissin bekundete dasselbe wie ihr Gatte. Als die Beschlagnahme erfolgte, seien sie auf einer Reise im Orient gewesen, aber auf telegraphische Nachricht sofort hierher zurückgekehrt. – Es erfolgt die Verlesung des ganzen Romans, die viele Stunden in Anspruch nimmt.
Das Gericht verurteilte den Grafen Baudissin zu 300 M., den Verlagsbuchhändler Janke zu 200 M. Geldstrafe. Der Gerichtshof erkannte ferner auf Unbrauchbarmachung aller Exemplare des Buches, der Platten und Formen und sprach dem Kriegsminister die Publikationsbefugnis zu. Frau Janke wurde von der Anklage der Beleidigung freigesprochen. Wegen Vergehens gegen §28 des Preßgesetzes wurden die Angeklagten Frau Janke und Dr. Janke zu je 200 M Geldstrafe verurteilt.
„Das Kleine Journal” vom 23.Okt. 1904
Vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts I standen gestern der Verfasser des bekannten Militärromans „Erstklassige Menschen” Graf Baudissin, und die Inhaber der Otto Jankeschen Verlagsbuchhandlung Dr. Erich Janke und dessen Mutter Frau Dr. Janke, wegen Beleidigung der deutschen Offiziere. Den Vorsitz im Gerichtshofe führte Landgerichtsdirektor Hahn, die Anklage vertrat Staatsanwalt Liebenow, die Verteidigung führten die Rechtsanwälte Paul Alexander, Katz und Stein. Als literarischer Sachverständiger war Freiherr v. Liliencron zur Stelle. Nachdem die Angeklagten erklärt hatten, daß es sich um ein ernstes literarisches, keineswegs durch die Bilse-Sensation veranlaßtes Werk handele, wurde der Roman verlesen. Die Vorlesung dauerte bis 5 Uhr nachmittags.
Auf die Aufforderung des Vorsitzenden Landgerichtsdirektor Hahn läßt sich der Angeklagte Graf Baudissin noch in längerer Darlegung über die Gesichtspunkte aus, die ihn bei Abfassung seines Buches geleitet haben. Er betont wiederum, daß ihm jede Absicht der Beleidigung ferne gelegen habe. Kein Mensch habe ihm wohl solche Absicht imputiert, bis die Sozialdemokratie sich des Buches bemächtigte und ihm eine Tendenz unterlegte, die ihm nicht inne gewohnt habe. Er bestreite entschieden, daß sein Buch die gesellschaftliche Stellung der Offiziere zu untergraben geeignet sei. Viele Mißstände würden nach seiner Meinung dadurch hervorgerufen, daß der größte Teil der Offiziere aus dem Kadettenkorps kommt, da dort außer Turnen, Reiten u. dergl. nicht genügend viel gelernt wird. Ihm sei auf der Kriegsschule ein solcher Offizier bekannt geworden, der von Schiller, Goethe, Herder, Lessing nicht mehr kannte, als den Namen. Dann habe er sagen wollen, daß es Unsinn ist, wenn die Offiziere aus dem Kadettenkorps schon in so jungen Jahren zur Charge und mit 18 Jahren vor die Front kommen. Wenn ein Selektaner plötzlich 60 Mark und einen monatlichen Zuschuß, großen Kredit und den Hausschlüssel erhält, dann sei es doch kein Wunder, daß er zu einem leichtsinnigen Lebenswandel verführt wird. Die Statistik zeige, daß etwa 15pCt. der Offiziere, die aus dem Kadettenkorps kommen, in drei bis vier Jahren wieder um die Ecke gehen. Die jungen Leute sollten erst etwa mit 20 Jahren und nach erreichtem Maturium Offizier werden. Er habe weiter zeigen wollen, wie falsch es sei, daß alle verabschiedeten Offiziere ihre Söhne immer wieder Offiziere werden lassen. Es sei ihm nahegelegt worden, doch den Wahrheitsbeweis anzutreten; er habe viele Zuschriften erhalten und es sei ihm von allen Seiten Material zur Verfügung gestellt, aber er lehne den Antritt des Wahrheitsbeweises ab, denn er mache das Wort Goethes zur „Wahrheit und Dichtung” sich zu eigen, welcher sagte: „Alles, was in dem Buche steht, ist erlebt und doch ist nichts so erlebt, wie es geschrieben ist.” Auch sein Buch sei nach seinen langjährigen Erfahrungen geschrieben, aber die ganzen Personen sind erfunden und aus den verschiedensten Charakteren, die er im Leben kennen gelernt habe, habe er sich die Gestalten geformt. Es wäre ihm leicht, den Wahrheitsbeweis zu bringen, aber er wolle nicht, weil er keine Lust habe, den Sozialdemokraten neues Futter zu bringen, weil er nicht alte Kameraden an den Pranger stellen wolle und weil er nicht den Ehrgeiz habe, ein zweiter Bilse zu werden und sich damit eine Villa zu verdienen. –
Der Vorsitzende hält dem Angeklagten eine Reihe von Stellen vor, die doch darauf hindeuten, daß er nicht einzelne Typen vorführen und einzelne Mißstände geißeln, sondern seine Angriffe im allgemeinen gegen die deutschen Offiziere richten und sie schmähen wollte. Der Angeklagte bestreite dies ganz entschieden. Es handle sich hie ja doch um einen Roman und es sei doch das Recht des Künstlers, die Farben zu wählen, die er für sein Gebilde brauche. Der Vorsitzemde weist ferner darauf hin, daß die Offiziere doch als unehrenhafte Schuldenmacher ganz im allgemeinen hingestellt werden, daß sie in sittlicher Beziehung sehr lax seien, sie sich ihre Gesundheit ruinieren und dann die erste beste reiche Dame heiraten, die bewußt gröbliche Pflichtwidrigkeiten begehen etc. etc. Der Angeklagte betont wiederholt, daß es sich ja um einen Roman handle und nicht um eine Anklage, sondern um eine Warnung, wohin es kommen könne.
Es wird sodann als Sachverständiger Frhr. Detlev von Liliencron vernommen: Im Namen des ganzen deutschen Offizierkorps lege er Protest gegen diesen Roman ein. Das sei überhaupt kein Roman, sondern eine Anklage. Schon das Wort „Erstklassige Menschen” sei ein ordinäres deutsches Wort der papiernen deutschen Sprache, es sei hämisch und höhnisch. Er behaupte, daß ein solches Garderegiment, wie es im Buche geschildert werde, gar nicht existieren könnte, wo ein bürgerlicher Offizier so behandelt werde, wie der Leutnant Winkler in dem Buche. In den Offizierkorps gebe es nur das Wort „Kamerad”. Den Blättern aller Parteien sei es aufgefallen, wie gehässig das Buch geschrieben sei. Es sei geradezu unerhört! Schon seit Dezennien würden in Witzblättern, den „Fliegenden Blättern” usw. die Offiziere als Kretins und Idioten hingestellt, der Roman stelle sie aber noch viel tiefer. Es werden darin nicht einzelne, sondern ein ganzer Typus in schauerlicher und empörender Weise an den Pranger gestellt. Die adligen Offiziere leisten in ihrem Lebenswandel und in ihrer Dienstfreudigkeit dasselbe wie die bürgerlichen Offiziere. Es handle sich nicht um eine künstlerische Arbeit, sondern um eine etwas flüchtig hergestellte Anklageschrift, die empörend sei. –
Staatsanw. Liebenow hält die drei Angeklagten der Beleidigung der deutschen Offizierkorps im Sinne der §§ 185 und 186 für schuldig. Der Kriegsminister von Eynem habe sich nicht erst durch die Sozialdemokraten zur Stellung des Strafantrages drängen lassen, sondern schon am 20.Frebruar Schritte bei der Staatsanwaltschaft getan in der Richtung, ob wegen Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen vorgegangen werden könnte. Daß es sich um eine Schmähschrift sonder gleichen handle, habe jeder objektive Beurteiler, habe die Presse aller Schattierungen anerkannt. Im Reichstag sei man einig gewesen in der Verurteilung des Romans und seiner Tendenz. Der Roman sei so voller Verleumdung wie kaum je ein anderer Roman. Die adligen Offiziere sollten getroffen werden, deshalb sei der Rahmen des Romans der Garde entnommen. Die Gardeoffiziere werden geschildert als Gecken und Narren, die vor Eitelkeit platzen, in den Künsten der Verführung groß seien, die Jagd nach reichen Erbinnen anstellen, Hazardieren, aber gar kein ernstes Streben haben. Sie werden hingestellt als Mädchenjäger von fast brutaler Roheit, als lüderliche Menschen, verlumpte, sittlich tief stehende Schurken, und nicht ein einziger einwandsfreier, tüchtiger Vertreter des Offizierstandes trete in dem Roman auf. Die Absicht der Beleidigung gehe schon aus dem Titel hervor, mit welchem die adligen Offiziere verhöhnt werden sollen. Hätte der Angeklagte Graf Baudissin Mißständen abhelfen wollen, so hätte es dazu andere Wege gegeben. Er als Angehöriger der Armee mußte wissen, daß seine falsche Kritik auf unsere Offiziere nicht paßt und eine solche falsche Kritik ein vaterlandsgefährliches Unternehmen ist. Er sei schon gewarnt worden, als er s. Z. das Feuilleton „Der Leutnantshund” veröffentlichte. Damals habe ihm das Schleswigsche Offizierkorps deutlich gezeigt, daß es sich beleidigt fühlt und er und seine Familie seien damals boykottiert worden, bis der Angeklagte Besserung gelobt habe. Er sowohl, als auch die Mitangeklagten seien zweifellos von der Absicht geleitet worden, gute Geschäfte zu machen und die Bilse-Konjunktur auszunutzen. Auch die Mitangeklagten hätten sich der Beleidigung schuldig gemacht, der Verkauf nach Wien nach der hiesigen Beschlagnahme sei eine schwere Verhöhnung der staatlichen Autorität. Der Staatsanwalt beantragte gegen den Grafen Baudissin 1500 M. Geldstrafe, gegen die Mitangeklagten wegen der Beleidigung je 750 M. Geldstrafe und wegen Vergehens gegen § 28 des Preßgesetzes je 250 M. Geldstrafe und Publikationsbefugnis für den Kriegsminister.
In vorgerückter Abendstunde wiesen die Verteidiger R.-A. Paul Alexander, Katz und Stein alle Anklagepunkte und Ausführungen des Staatsanwalts zurück und führten in juristischer Beziehung aus, daß in keiner Weise der Angeklagte, der seit sehr langer Zeit in Sachsen domiziliert sei, gerade preußische Verhältnisse im Auge gehabt habe und der Kriegsminister zur Stellung des Strafantrages nicht legitimiert sei.
Die Beratung des Gerichtshofes war nur eine kurze. Der Gerichtshof verurteilte wegen Beleidigung: Den Angeklagten Grafen Baudissin zu 300 M. Geldstrafe, den Angekl. Dr. Janke zu 200 M. Geldstrafe, event. 30 bzw. 20 Tage Gefängnis. Der Gerichtshof hat ferner auf Unbrauchbarmachung aller Exemplare des Buches, der Platten und Formen erkannt und dem Kriegsminister die Publikationsbefugnis zugesprochen. Frau Dr. Janke wurde von der Anklage der Beleidigung freigesprochen. Wegen Vergehens gegen § 28 des Preßgesetzes wurden verurteilt die Angekl. Dr. Janke und Frau Janke zu je 200 M. Geldstrafe event. zu je 20 Tagen Gefängnis.
Der Gerichtshof war der Ansicht, daß in dem Roman objektive Beleidigungen der preußischen Offiziere im Sinne des § 185 enthalten seien; die Vorwürfe richten sich nicht nur gegen einzelne Personen, sondern gegen die Armee als Ganzes. Der Roman sei ein Tendenzroman schlechter Tendenz. Der Gerichtshof hat aber angenommen, daß Graf Baudissin nicht bloß ein niedriges Motiv geleitet hat, nicht bloß das Interesse des Geldwertes und das Bestreben, eine gute Konjunktur auszunutzen, daß er vielmehr sein Buch in ernster Weise hat halten wollen, er sich aber bei seiner Abfassung zu sehr von seinen Stimmungen hat fortreißen lassen.
„The New York Times” vom 23. Oktober 1904:
Berlin, Oct. 22. — Count Wolff von Baudissin, a kinsman of Rear Admiral von Baudissin, who commanded the Imperial yacht Hohenzollern during the visit of Prince Henry of Prussia to the United States, has been tried in the Criminal Court here for libeling the Officers' Corps of the Fusilier Guard Regiment, belonging to the Household Troops, by satirizing the officers in a novel entitled “First-Class Men”.
Count von Baudissin escaped wit a fine of $75, and the publishers of the work were fined $100, while the court ordered the destruction of the confiscated copies of the book and the plates. The prosecution was brought by the State on the ground of the public welfare.
Von Baudissin, whose pen name is “Baron von Schlicht”, is a retired army Lieutenant, a playwright, and the author of about twenty books on military subjects or romances of military life.
“First-Class Men” deals with the views and extravagances of officers, their intense caste spirit, and the false attitude of society toward the officer class. The entire novel was read in court.
Von Baudissin, in his defense, said he did not intend to refer to any particular regiment, but to the whole army. He belonged to a military family, served twelve years in the army, and educated his son for the army. He had resigned in order to have freedom to criticise the faults of the army. He had not read Lieut. Bilse's book “A Little Garrison”, but he had read Beyerlein's “Jena or Sedan”.
Von Baudissin said the suicide of a young friend, a Lieutenant in the army, caused him to feel keenly the wrong system prevailing. This youth was over $16,250 in debt because lenders exaggerated their respect for the officer class and loaned money to the class, and not to the individual.
In urging the proper character of his previous works, von Baudissin said Emperor William had read them all, and that his plays had been witnessed by members of the royal families of Prussia, Saxony, Austria, and Russia.
„Pester Lloyd” vom 23. Oktober 1904:
Aus Berlin wird uns telegraphiert: Heute begann vor der hiesigen Strafkammer der Beleidigungsprozeß gegen den Grafen Baudissin wegen des von ihm veröffentlichten vielgenannten Romans: „Erstklassige Menschen”. Der Angeklagte, der unter dem Pseudonym Freiherr v. Schlicht schreibt, bestreitet entschieden, daß sein Roman den Charakter einer Schmähschrift in sich trage. Als solche sei er keineswegs gedacht, vielmehr habe er eine sehr ernste Tendenz und wende sich gegen den im Offizierskorps herrschenden Kastengeist. Die Tendenz der Besserung, nicht die der Beleidigung habe ihn bei Abfassung seines Buches geleitet. Der heutige erste Verhandlungstag war vollständig durch die Verlesung des Romans, die mehrere Stunden in Anspruch nahm, ausgefüllt.
„Pester Lloyd” vom 23. Oktober 1904:
Erstklassige Menschen. Berlin, 22.Oktober. Graf Baudissin (Freiherr v. Schlicht) wurde heute wegen Beleidigung der deutschen Offiziere, begangen durch den Roman „Erstklassige Menschen”, zu 300 Mark und der Mitangeklagte Verlagsbuchhändler Janke zu 200 Mark, letzterer sowie dessen Frau außerdem wegen Vergehens gegen das Preßgesetz zu 200 Mark Geldstrafe verurteilt.
„Berliner Tageblatt” vom 24. Oktober 1904
Graf Baudissin ist wegen seines Romans „Erstklassige Menschen” zu 300 Mark Geldstrafe verurteilt worden. Sämtliche Exemplare des Buches samt den Platten und Formen – soweit sie natürlich zu finden sind – sollen unbrauchbar gemacht werden.
Man geht über dieses bei Preßprozessen übliche Begleiturteil, wie es in der Vernichtung eines literarischen Werkes durch die Polizei ausgesprochen wird, gewöhnlich als über etwas Selbstverständliches hinweg. Und doch, welch eine Härte liegt darin, ein Literaturerzeugnis mit Stumpf und Stil zu vernichten. Wenn die Papstkirche ein Werk auf den Index setzt, so spottet man über solch törichtes Beginnen, den Geist zu dämpfen. Wenn aber ein Gerichtshof des deutschen Reiches zu der Erkenntnis kommt, daß ein Buch in irgend einer Beziehung gegen die Gesetze verstoße, dann streicht er es mit einem kurzen Satze für alle Zeiten aus der Reihe der Lebenden, ohne daß davon die Öffentlichkeit besondere Notiz zu nehmen pflegt. Es ist eben gesetzliche Vorschrift, und damit basta!
Gegen diese brutale Bestimmung des Preßgesetzes sollte endlich einmal mit aller Entschiedenheit Front gemacht werden. Wie kommt ein Gerichtshof dazu, über Tod und Leben eines literarischen Erzeugnisses souverän zu entscheiden? Und um welcher Lappalien willen wird oft genug das literarische Todesurteil gefällt? Graf Baudissin soll in den „Erstklassige Menschen” die deutschen Offiziere beleidigt haben. Der preußische Kriegsminister hat es behauptet, und Freiherr v.Liliencron hat es als Sachverständiger bestätigt. Dagegen läßt sich nichts sagen. Wir sind auch weit davon entfernt, es Freiherrn v.Liliencron zu verargen, daß er aus seiner starken Empfindung als ehemaliger Offizier heraus seiner Entrüstung über das Baudissinsche Buch Ausdruck gegeben hat. Aber so kompetent er immer sein mag, den literarischen Wert eines Buches zu beurteilen, so war er zweifellos dem Inhalt der „Erstklassigen Menschen” gegenüber nicht unbefangen. Der Roman ging ihm eben gegen den Strich. Das ist durchaus verständlich; aber es kann doch nicht genügen, wegen dieser immerhin subjektiven Meinung ein Todesurteil über das Werk eines Mitschaffenden zu fällen.
Für den Gerichtshof war ja nach der Aussage des literarischen Sachverständigen das Urteil leicht. Er ging nicht einmal so weit, dem Grafen Baudissin „bloß ein niedriges Motiv” bei der Abfassung des Buches unterzulegen; ihm genügte es, daß der Roman objektive Beleidigungen der preußischen Offiziere enthalte, um zu einer Bestrafung des Autors und zur Vernichtung seines Werkes zu kommen. Wir sind selbst der Meinung, daß die „Erstklassigen Menschen” ein mißratenes Kind des witzigen Verfassers sind. Aber seit wann ist es üblich, mißratene Kinder gleich in den Feuerofen zu werfen?
Wir sprechen einem Gerichtshofe, welcher es auch sein möge, das Recht ab, in irgend einer literarischen Frage ein unfehlbares und unumstößliches Urteil abzugeben. Kein Lebender kann sagen, ob sich nicht doch schließlich noch eine ungeahnte Bedeutung irgend eines Geisteswerkes herausstellt. „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden,” dieses Wort gilt besonders auf geistigem Gebiete. Hundertfach hat es sich schon bewährt; hundertfach sind die „Rettungen” von Büchern erfolgt, die eine frühere Generation verworfen hatte. Wir lächeln über das dunkle Mittelalter, und wir bleiben doch gerade auf dem Gebiet der geistigen Schöpfung in seinen Bahnen. Soweit ein Schriftwerk eine Beleidigung enthält, mag man, wenn es denn durchaus sein muß, den Verfasser zur Rechenschaft ziehen, obgleich wir bezweifeln möchten, daß die Ehre der deutschen Offiziere wirklich der 300 Mark des Grafen Baudissin zu ihrer Rehabilitierung bedurfte. Aber damit sollte man es wenigstens genug sein lassen. Die Vernichtung des Werkes ist eine Grausamkeit, die in keiner Weise in eine aufgeklärte Zeit paßt.
Nun wird allerdings der kluge Mensch von heute unwillkürlich lächeln, wenn er den üblichen Satz von der Unbrauchbarmachung aller Exemplare eines Werkes liest. Er weiß ganz genau, daß die Polizei völlig ohnmächtig ist, diese Vorschrift zu vollstrecken. Ja, er weiß mehr: daß ein solches Urteil die beste Reklame für ein Buch ist. Was längst vergessen wäre, wenn sich das Gericht nicht darum bekümmert hätte, das wird durch ein solches Urteil gewaltsam an die Öffentlichkeit gezerrt. Wir zweifeln auch keinen Augenblick daran, daß heute in Berlin Tausende in den Buchhandlungen nach den „Erstklassigen Menschen” gefragt haben. Und bekommt man es nicht direkt, dann bekommt man es hinten herum. Das Buch ist ja in einen Wiener Verlag übergegangen, wo man es nicht fassen kann. In dieser Begierde nach dem Verbotenen liegt der Humor der Weltgeschichte. Aber ist es wirklich nötig, von Rechts wegen ein Urteil auszusprechen, das nur das Gegenteil der gewollten Wirkung hat? Ist es nicht endlich an der Zeit, gegen Geistesprodukte nur mit geistigen Waffen zu kämpfen?
„Kölner Tageblatt” vom 24.Okt. 1904
Berlin 22.Okt. (Telegr.) In dem Prozeß wegen Beleidigung der deutschen Offiziere, hervorgerufen durch den Roman „Erstklassige Menschen”, wurde der Angeklagte Graf Baudissin zu 300 Mk., der Verlagsbuchhändler Janke zu 200 Mk. Geldstrafe verurteilt. Der Gerichtshof erkannte ferner auf Unbrauchbarmachung aller Exemplare des Buches, der Platten und Formen und sprach dem Kriegsminister die Publikationsbefugnis zu. Frau Janke wurde von der Anklage der Beleidigung freigesprochen. Wegen Vergehens gegen §28 des Preßgesetzes wurden die Angeklagten Frau Janke und Dr. Janke zu je 200 Mk. Geldstrafe verurteilt.
„Sächsische Arbeiter-Zeitung” vom 24.Okt. 1904
Die Autoren der bösen Bilsebücher haben das Vergnügen, Geschichten aus kleinen Garnisonen zu erzählen, teuer bezahlen müssen. Sie werden es verschmerzen, weil ihnen die Bücher mit den „Enthüllungen” teuer bezahlt wurden und das Geschäft ein gutes, ein ausgezeichnetes war. Besonders für die Verleger. Vielleicht war das auch der treibende Gedanke bei den Veröffentlichungen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Bücher, die weder durch Urteile noch durch Konfiskationen aus der Welt geschafft werden können, erziehlich und aufklärend gewirkt haben. Sie fassen den Kampf, den die Sozialdemokratie gegen das herrschende System führt, von einer anderen Seite an, indem sie den Nachweis führen, daß „vieles faul sei im Staate Dänemark”. Und daß die Angriffe empfindliche Stellen trafen, beweisen die Prozesse, die man „mit Erfolg” gegen die Übeltäter anstrengte.
Nun ist auch Freiherr von Schlicht von seinem Geschicke ereilt worden. Der Prozeß wegen Beleidigung der deutschen Offiziere, der durch den Roman „Erstklassige Menschen” hervorgerufen worden ist, begann am Sonnabend vor der 2. Strafkammer des Berliner Landgerichts I. Die Anklage richtete sich gegen den Schriftsteller Grafen Baudissin sowie gegen die Inhaber der Jankeschen Verlagsbuchhandlung Dr.phil. Erich Janke und verwitwete Frau Dr. Janke. Als literarischer Sachverständiger war der Dichter Detlev v. Liliencron zur Stelle.
Der im Jankeschen Verlage erschienene Roman Erstklassige Menschen ist anfangs Februar erschienen und am 17.März d.J. beschlagnahmt worden. Der Angeklagte, der unter dem Pseudonym Frhr. v. Schlicht schreibt, bestreitet entschieden, daß sein Roman den Charakter einer Schmähschrift habe. Als solche sei er keineswegs gedacht, vielmehr habe er eine sehr ernste Tendenz und wende sich gegen den im Offizierkorps herrschenden Kastengeist und gegen verschiedene Mißstände, die sich aus der falschen Haltung der Gesellschaft gegenüber den Offizieren ergeben. Die Tendenz der Besserung, aber nicht der Beleidigung, sei der Grundzug des Buches. Er habe nicht etwa fabrikmäßig gearbeitet, um die Konjunktur Bilse auszunutzen, er habe vielmehr Bilses Buch überhaupt nicht gelesen. Angeregt zu dem Roman sei er durch Beyerleins Jena und Sedan, er habe länger als sonst, nämlich neun Monate daran gearbeitet. Er sei Aristokrat und selbst 12 Jahre Soldat gewesen, seiner näheren Familie gehören viele Offiziere an, er habe regen Verkehr mit Offiziersfamilien, sein einziger Sohn solle Offizier werden, jeder, der ihn kenne, werde bekunden, daß er Liebe zum Offiziersstande habe. Er habe mit seinem Roman begonnen, als von Bilses Roman noch gar nicht geredet wurde. Von Bedeutung für das Entstehen des Buches sei auch der Selbstmord eines ihm nahe bekannten Offiziers gewesen, der sich wegen übergroßer Schulden das Leben genommen. Da habe er sich mit der Frage beschäftigt, wie es möglich sei, daß einem so blutjungen Menschen ein Kredit von 65 000 M. eingeräumt werden konnte. Man leihe das Geld eben nur dem Offizier im bunten Rock. Die Schuld an diesem Selbstmorde hätte nach seiner Meinung die Gesellschaft, die jeden Offizier verwöhne und es ihm übermäßig leicht mache, Kredit zu erlangen; sein Buch richte sich daher nicht gegen die Offiziere, sondern gegen die Gesellschaft, die aus ihnen „erstklassige Menschen” geradezu großzüchte. Die Gesellschaft sei schuld, wenn sich Mißstände im Offizierkorps herausgebildet haben. Er habe in seinem Buche auch deutliche Mittel zur Abhilfe angegeben. Als der Roman erschienen war, habe zunächst auch kein Mensch Beleidigungen darin erblickt, am wenigsten der Kriegsminister, der den Roman sehr bald gelesen habe. Erst sechs Wochen später sei die Beschlagnahme verfügt worden, nachdem Bebel im Reichstage auf das Buch hingewiesen habe.
Das Buch wurde dann ganz verlesen. Darauf ließ sich der Angeklagte nochmals über die Gesichtspunkte aus, die ihn bei Abfassung des Buches geleitet haben. Er betont wiederum, daß ihm jede Absicht der Beleidigung ferngelegen habe. Kein Mensch habe ihm wohl solche Absicht imputiert, bis die Sozialdemokratie sich des Buches bemächtigte und ihm eine Tendenz unterlegte, die ihm nicht innegewohnt habe. Er habe vor einer Gefahr warnen wollen. Es sei ihm nahegelegt worden, doch den Wahrheitsbeweis anzutreten, er habe viele Zuschriften erhalten und es sei ihm von vielen Seiten Material zur Verfügung gestellt, aber er lehne den Antritt des Wahrheitsbeweises ab, denn er mache das Wort Goethes zur „Wahrheit und Dichtung” sich zu eigen, welcher sagte: „Alles, was in dem Buche steht, ist erlebt und doch ist nichts so erlebt, wie es geschrieben ist.” Auch sein Buch sei nach seinen langjährigen Erfahrungen geschrieben, aber die ganzen Personen sind erfunden und aus den verschiedensten Charakteren, die er im Leben kennen gelernt habe, habe er sich die Gestalten geformt. Es wäre ihm leicht, den Wahrheitsbeweis zu bringen, aber er wolle nicht, weil er keine Lust habe, den Sozialdemokraten neues Futter zu bringen, weil er nicht alte Kameraden an den Pranger stellen wolle und weil er nicht den Ehrgeiz habe, ein zweiter Bilse zu werden und sich damit eine Villa zu verdienen.
Der Sachverständige, Freiherr Detlev von Liliencron, leitete seine Bekundung schon eigentümlich durch die Bemerkung ein, im Namen des ganzen deutschen Offizierskorps lege er Protest gegen diesen Roman ein. Das sei überhaupt kein Roman, sondern eine Anklage, eine Schmähschrift.
Der Staatsanwalt beantragte 1500 Mark Geldstrafe gegen den Hauptangeklagten – der Gerichtshof erkannte gegen den Grafen Baudissin auf 300 Mark Geldstrafe, den Angeklagten Dr. Janke auf 200 Mark Geldstrafe. Der Gerichtshof hat ferner auf Unbrauchbarmachung aller Exemplare des Buches erkannt. Frau Dr. Janke wurde von der Anklage der Beleidigung freigesprochn.
Der Gerichtshof war der Ansicht, daß in dem Roman objektiv Beleidigungen der preußischen Offiziere im Sinne des §185 enthalten seien, die Vorwürfe richten sich nicht nur gegen einzelne Personen, sondern gegen die Armee als Ganzes. Der Roman sei ein Tendenzroman schlechter Tendenz. Indessen wird dem Grafen Baudissin zugestanden, daß er nicht bloß aus niedrigen Geldinteressen das Buch geschrieben habe.
Freiherr v. Schlicht ist also etwas billiger davon gekommen als sein Leidensgefährte Bilse. Schlicht will eine Tendenzschrift verfaßt haben, deren Zweck ein erzieherischer sein soll. Dann hätte er den Wahrheitsbeweis führen müssen, von dem er sagt, er sei mit Leichtigkeit zu erbringen. Sein „Edelmut”, darauf zu verzichten, beweist wenig von dem Ernste eines Erziehers. Daß er zu seiner Entlastung die Sozialdemokratie mit in die Debatte zog, ist – kindisch.
„Sächsische Arbeiter-Zeitung” vom 25.Okt. 1904
Graf Baudissin, der sich als Freiherr v. Schlicht aufs Schriftstellern verlegt hat, machte sich durch seinen Roman „Erstklassige Menschen” der Beleidigung sämtlicher deutscher Offiziere schuldig. Das Gericht ist zu der Überzeugung gekommen, daß das Verbrechen wirklich begangen wurde und hat dementsprechend auch den Herrn Verbrecher gebührend bestraft: 300 (dreihundert) deutsche Reichsmark in bar und außerdem „Unbrauchbarmachung aller Exemplare des Buches”. Durch diese harte Strafe sind die deutschen Offiziere, die „Führer der Nation”, von dem Verdachte gereinigt, erstklassige Menschen zu sein, d.h. wohlgemerkt: erstklassige Menschen in Schlichts Auffassung. Und die Auffassung war in diesem Falle nicht „schlicht von Gemüte”, sondern – voll von erzieherischen Tendenzen und Absichten. Das ist auch vom Gericht anerkannt worden, in dem angenommen wurde, „den Verfasser habe nicht nur ein niedriges Motiv geleitet, nicht nur das Interesse des Gelderwerbs und das Bestreben, eine gute Konjunktur auszunutzen, daß er vielmehr sein Buch in ernster Weise habe halten wollen, daß er sich aber bei seiner Abfassung zu sehr von seinen Stimmungen habe fortreißen lassen”. Weswegen es dann auch mit 300 (dreihundert) Mark der Buße genug war. Allsonsten pflegt man in solchen heiklen Sachen wie Offiziersbeleidigungen nicht so auf „Stimmungen” Rücksicht zu nehmen. Siehe Bautzen!
Aber eine ernste Frage, eine sehr ernste. Was wird durch das Urteil erreicht? Seien wir ehrlich: nichts und noch weniger als nichts. Die Ehre der deutschen Offiziere (der gesamten deutschen Offiziere!) wurde durch die „Erstklassigen Menschen” nicht erschüttert und wird durch das Urteil nicht wieder auf die Beine gestellt, soweit sie sich am Boden liegen fühlte. Und ferner: Will man durch die Verurteilung der bösen Bilsebücher-Autoren erwirken, daß kein Schriftsteller auf den verderblichen Gedanken verfällt, Kritik an einem Stande zu üben, Kritik, die Schwächen und Mißstände trifft (daß solche vorhanden sind, wird kein vernünftiger Mensch auch nur einen Augenblick zu bestreiten wagen), Kritik, die etwas anders ist als Lobhudelei und Beweihräucherung um jeden Preis? Der Schlichtsche Roman von den erstklassigen Menschen ist alles andere als ein Kunstwerk; man hat beim Lesen den Eindruck, als sei er überflüchtig zusammengestoppelt. Aber daß es solche Offiziere gibt, die keine Zierde und kein Ruhm ihres Standes sind, ist doch eine Gassenweisheit! Und endlich: man hat die „Unbrauchbarmachung” aller Exemplare des Buches verordnet. Das ist ein Schlag ins Wasser, soweit es den Roman selbst angeht, was das Geschäft betrifft — eine Freude für den Herrn Verleger. Die Polizei sollte endlich aufhören, sich mit dem Vernichtungskriege gegen Bücher zu befassen, der – doch nur das Gegenteil erreicht. Solche Bücher dringen erst nach solchen polizeilichen Kriegserklärungen in die Masse.
Der Prozeß hat aber noch zwei andere Momente gebracht, die einer Beachtung wert sind. Als literarischer Sachverständiger war Detlev v. Liliencron geladen. Liliencron ist ein guter Dichter und ein in das Ideal eines Offiziers und besonders in die „Leutnants rosenrot und braun” vernarrter Schwärmer – also die „geeignetste” Persönlichkeit, in dem Prozesse als „objektiver Sachverständiger” zu fungieren. So konnte es nicht überraschen, obwohl es seltsam ist, daß Liliencron nicht als Dichter, sondern als früherer preußischer Offizier „im Namen des gesamten deutschen Offizierkorps” ein Verdammungsurteil über das Buch seines Standesgenossen aussprach. Der Dichter, den hier sein gesunder Realismus verließ, gebrauchte Worte höchsten ideellsten Abscheus: hämisch, höhnisch, unerhört, schauerlich, empörend. Und also war der Roman gerichtet! Aber sein Urteil ist nicht das eines literarischen Sachverständigen sondern das eines Offiziers, also parteiisch durch und durch. Liliencron hätte in seinem Interesse am besten getan, die Berufung zum Sachverständigen rundweg abzulehnen, wenn er sich nicht auf eine literarische Beurteilung beschränken wollte.
Daß Graf Baudissin die Sozialdemokratie mit in die Debatte zu ziehen versuchte, haben wir gestern schon als kindisch bezeichnet. Die Presse unserer Partei hat in ihren Besprechungen des Romans sogleich seine Schwächen betont und durchaus nicht den Versuch gemacht, dem Verfasser gehäßige Absichten zu unterschieben. Wenn die Sozialdemokratie ihren prinzipiellen Kampf gegen das herrschende Militärsystem mit solchen Waffen führen wollte, wie sie Schlicht in seinem Buche aufstapelt, würde sie sich nur lächerlich machen. Daß unsere Presse von dem Roman als „Zeichen der Zeit” Notiz nahm, kann ihr niemand verdenken. Aber unser Rüstzeug in unserem Kampfe gegen den Militarismus ist denn doch ein anderes. Der Kampf gilt nicht einzelnen Personen, sondern dem System und das ergibt schon so eine veränderte Frontstellung. Es ist eine Folge des Systems, daß sich eine tiefe Kluft zwischen Volk und Heer aufgetan hat, die sich immer mehr noch erweitert, eine Folge des Systems, daß sich die Mitglieder des Offiziersstandes als Sonderkörper vom Volkskörper losgelöst und eine eigene Moral entwickelt haben, die auf der einen Seite an verhängnisvoller Überempfindlichkeit, auf der anderen an maßloser Selbstüberschätzung krankt. Der Zustand wird durch Romane nicht geändert, mag die Absicht, zu bessern und zu ändern, auch noch so stark sein. Das sind wirkungslose Pfeilschüsse gegen harte Mauern. Tritt aber an die Stelle des stehenden Heeres das Volksheer, wird der Aberglaube von dem Übermenschentum des Offiziers ganz von selbst in sich zusammenbrechen.
Trotzdem — so wenig wie die Kritik in der Art, wie sie vom GHrafen Baudissin geübt wurde, dem System ernstlichen Schaden bringt — noch weniger stützt man das System durch gerichtliche Urteile und polizeiliche Vernichtungskriege.
„Vorwärts – Berlin” vom 25.Okt. 1904
Als die Verkommenheiten der kleinen Garnison Forbach aufgedeckt worden waren, erklärte der preußische Kriegsminister General v.Einem, er verbürge sich, daß in der Armee ein zweites Forbach unmöglich ist. Sicherlich sind seit jener Bürgschaft alle Bemühungen aufgewendet worden, um neue Forbachschande von der Armee fernzuhalten. Welcher Art diese Bemühungen gewesen sind, ist allerdings unbekannt geblieben, und ob sie geeignet sein können, den erstrebten Zweck zu erreichen, kann niemand beurteilen. Was man statt dessen erfuhr, war die schärfste kaiserliche Mißbilligung gegen die Richter des Bilse-Prozesses, die Verabschiedung dieser Richter und die Anweisung an sämtliche Offiziere der Armee, die zu Richtern berufen werden können, künftig in solchen Prozessen die Öffentlichkeit auf das strengste auszuschließen. Nach diesem Befehl wird streng verfahren. Sollten gleichwohl Erscheinungen, wie sie in Forbach sich zeigten, oder ähnliche in der Armee vorkommen, der Fürwitz, von allem, was die Armee betrifft und in ihr geschieht, Kenntnis zu gewinnen, findet fürder keine Befriedigung. Die gesetzlich im Prinzip festgestellte, aber durch Ausnahmebestimmungen aufgehobene „Öffentlichkeit” des militärischen Gerichtsverfahrens würde verhindern, daß ein zweites Forbach bekannt wird, auch wenn es existieren sollte.
Eine Schwierigkeit bleibt jedoch: vor bürgerlichen Gerichten ist die Öffentlichkeit nicht aus Gründen der militärischen Disziplin und zum Schutze des Offizierstandes so einfach auszuschließen wie vor Kriegsgerichten, und der Prozeß gegen das Baudissinsche Buch drohte mit neuen Enthüllungen.
Doch die Wege der Wahrheit und der Justiz sind wunderbar.
Das Buch des Grafen Wolf v.Baudissin war die Anklageschrift eines anscheinend Wissenden, wie sie furchtbarer nie geschrieben ist. Die Anschuldigungen Bilses waren mild im Vergleich zu den Schilderungen Baudissins, in denen der Garde-Offizier von Adel in unsäglicher Verworfenheit vorgeführt ist. Das Buch Bilses zeichnete einzelne bestimmte Individuen. Die „Erstklassigen Menschen” Baudissins trafen eine ganze Schicht, den Typus des vornehmsten Offiziers, des Garde-Offiziers.
Bilse ist zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt worden, obschon der Beweis der Wahrheit für seine Darstellung fast vollständig geführt war, so vollständig, daß die Mehrzahl der von ihm gezeichneten Offiziere des Forbacher Bataillons sofort aus der Armee gejagt werden mußten. Gegen Baudissin hat am Sonnabend der Staatsanwalt nicht Gefängnisstrafe beantragt, sondern lediglich eine Geldstrafe, und das Gericht verhängte gegen den Angeklagten eine Geldstrafe von – 300 M.!
Wir kennen keinen Fall, in dem ein Angeklagter, gegen den auch nicht entfernt so schwere Anschuldigungen erhoben und der den Beweis der Wahrheit nicht erbracht hat, sich so geringfügiger Bestrafung erfreuen durfte. Das ist um so bemerkenswerter, da in den Kreisen, aus denen der Offizier hervorgeht, dauernde Klage geführt wird, daß die sonst üblichen schweren Bestrafungen wegen Beleidigung noch bei weitem zu niedrig seien. Es wäre freudigst zu begrüßen, wenn das jetzige, unerhört milde Strafmaß eine neue bessere Aera in der Beurteilung von „Beleidigungen” eröffnen würde!
Um das Urteil zu fassen, vergegenwärtige man sich, wie das Buch des Grafen von Baudissin in der Presse und im Parlament aufgenommen worden ist.
Am 4.März d.J. sagte der Kriegsminister von Einem im Reichstag:
„Noch nie ist ein Stand so mit Schmutz beworfen worden, wie es in letzter Zeit dem Offizierstand in dem Baudissinschen Buche ... geschehen ist.”
In der „Kreuz-Zeitung” vom 27.Februar d.J. schrieb Generalmajor a.D. v.Zepelin über das Buch:
„Heute haben wir leider wieder von einem Militärroman zu berichten, von dem ein hiesiges Journal sagte: Niemals ist mehr Schande auf das gesamte Offizierkorps gehäuft als in diesem Roman; niemals sind aber auch mehr Unmöglichkeiten und Unwahrheiten auf einander gepackt als hier.”
Weiter schrieb beispielsweise die „Märkische Volkszeitung” am 25.März:
„Der Verfasser, der selbst Gardeoffizier gewesen ist, hat sich bekanntlich in dem Roman ein sehr deutlich bezeichnetes Garderegiment aufs Korn genommen und dessen Offiziere sämtlich als ehrlose oder trottelhafte Kerle hingestellt.”
Dasselbe Blatt machte weiter die folgende, jetzt mit besonderem Interesse zu lesende Bemerkung:
„Wenn nun der Verfasser den Wahrheitsbeweis antritt, dann ist der Skandal fertig . . . Sicher wird die Schilderung des Baudissin'schen Romans nicht so durch die Wirklichkeit bestätigt werden wie die des Bilse'schen. Aber es dürfte gerade genug erwiesen werden, um den Sozialdemokraten Stoff zu Agitationen gegen die Armee zu liefern.”
Der „Vorwärts” aber schrieb damals:
„Dieser Wolf Ernst Hugo Emil Graf Baudissin gehört zum vornehmsten Uradel; seine Verwandten wimmeln in Armee, Flotte und Verwaltung. Wir finden da zahlreiche Offiziere, Admirale, Landräte, Ehrenritter des Johanniter-Ordens. Der Mann ist demnach durchaus legitimiert, standesgemäß unterrichtet zu sein und aristokratisch zu fühlen. Und der entwirft nun Sittenbilder aus seiner Gesellschaft, daß die Personalakten eines Zuchthauses dagegen wie Tragödien edelsten Menschentums anmuten . . .”
Dieselbe Auffassung über den Inhalt des Buches hegte aber auch der Staatsanwalt im jetzigen Prozeß. Er erklärte den Roman für eine „Schmähschrift sondergleichen”; der Roman sei „voller Verleumdung”; „die Garde-Offiziere werden geschildert als Gecken und Narren, die vor Eitelkeit platzen, in den Künsten der Verführung groß seien, die Jagd nach reichen Erbinnen anstellen, hazardieren, aber gar kein ernstes Streben haben; sie werden hingestellt als Mädchenjäger von fast brutaler Roheit, als liederliche Menschen, verlumpte, sittlich tief stehende Schurken”; der Roman sei „ein vaterlandsgefährliches Unternehmen”. Und der Vorsitzende des Gerichts bekundete in seinen Fragen an den Angeklagten die gleiche Auffassung über das Buch.
Es hat also eine vollständige Übereinstimmung über die Ungeheuerlichkeit des Inhalts des Baudissinschen Romans bestanden. Weit auseinander gingen nur die Meinungen über die Wahrheit des Buches. Herr v.Einem hat mit Eifer erklärt, er glaube nicht, daß solche Zustände in der Armee existieren können. Viele andere mochten zweifeln, ob und wie weit die Schilderung Wirkliches spiegele. Von sozialdemokratischer Seite wurde im Reichstage ausgeführt: der Roman sei nicht ein Angriff gegen die Armee insgesamt oder gegen die führenden Stellen; der Kaiser spiele darin eine sehr günstige Rolle; der Verfasser verfolge keineswegs sogenannte „unpatriotische” Tendenzen; wenn gleichwohl mit genauer Bezeichnung des Regiments gegen das Offizierkorps so schwere Anklagen erhoben würden wegen fortdauernder Überschreitung der kaiserlichen Kabinettsorder über Schuldenmachen, Spiel usw., dann habe die Heeresverwaltung allen Anlaß, bei jenem Regiment eine ernste Untersuchung eintreten zu lassen, ob etwas Wahres an der Sache ist.
Was hat nun der Kriegsminister getan, um die Wahrheit zu erforschen? Man hat darauf verzichtet, eine Untersuchung bei dem betreffenden Regiment anzustellen unter Hinzuziehung Baudissins als Zeugen. Man hat nach üblicher Art den Ankläger zum Angeklagten gemacht.
Ein seltsames Verhängnis aber will es, daß in diesen Prozessen kaum je das Ziel erreicht wird, das erreichen zu wollen in Aussicht gestellt wurde. Man gedenke jener China-Prozesse, durch welche der frühere Kriegsminister v.Goßler Wahrheit und Klarheit über die „Hunnenbriefe” zu schaffen ankündigte. Als aber die Sozialdemokratie umfangreichen Wahrheitsbeweis anbot, lehnte das Gericht das Angebot auf Grund der tiefsinnigen Entdeckung ab, daß es sich nicht um Tatsachen handele, sondern um allgemeine Urteile. Im Bilse-Fall trug es sich ausnahmsweise zu, daß der Ankläger selbst, wohl im Glauben, die Unwahrheit der Beschuldigungen erweisen zu können, den Wahrheitsbeweis betrieb. Das Unheil wollte, daß die Wahrheit schreckensvoll an den Tag trat; ganz Deutschland wurde von den Enthüllungen betroffen, das Ausland höhnte, und die Heeresverwaltung gelobte: ein zweites Forbach giebt es nicht! Bilse aber, der sich mindestens das Verdienst erworben hatte, die Armee von einer Anzahl unfähiger und sittenloser Offiziere befreit zu haben, wurde selbst aus dem Dienste gejagt und auf sechs Monat eingesperrt.
Der Baudissin-Prozeß hat für beide Teile zu weit angenehmerem Ausgang geführt, für Baudissin und für die Armeekreise, denen seine Anklage galt!
In diesem Prozeß hat weder der Ankläger noch der Angeklagte das unternommen, was der einzige Sinn des Prozesses war: die Erforschung und Feststellung der Wahrheit. Nachdem einmal der Roman vor Gericht geschleppt war, mußte der Staatsanwalt fordern, daß der Angeklagte den Beweis für die Wirklichkeit seiner Schilderungen im Regiment der „Zitronenfalter” und in anderen Garde-Regimentern erbrachte; konnte der Angeklagte dies nicht, so war, nach altem Staatsanwaltsbrauch, ein schwerer Strafantrag zu erwarten und nicht der Antrag auf eine Geldstrafe, die sicherlich gering ist gegenüber dem großen materiellen Gewinn aus dem Buche.
Graf Baudissin verzichtete gleichfalls auf den Beweis der Anklagen, die er im Interesse der Reinigung des Heeres von schlimmsten Mißbräuchen erhoben haben wollte. Er ließ sich duldsam verurteilen, er ließ ohne ernstlichen Versuch der Abwehr sein Buch der Vernichtung übergeben. Er rang nicht um die Wahrheit, er suchte nichts mehr als – milde Richter Er rechnete nicht unklug, da er in mancherlei Wendungen sich gegen die „sozialdemokratischen Unterstellungen” verwahrte, als habe er die Armee verunglimpfen wollen, und da er den Verzicht auf die Wahrheit damit begründete, daß er der Sozialdemokratie nicht „neues Futter” geben wolle. Tatsächlich war ihm die Absicht der wahrheitswidrigen Verunglimpfung nicht von uns, sondern von der Heeresleitung und den Beschönigern aller Mißstände unterstellt worden. Die Ausflucht aber, daß er zwar die Wahrheit seiner Schilderungen aus mannigfaltigen Eigenerlebnissen beweisen könne, aber darauf verzichte, um nicht die Sozialdemokratie zu fördern, erwies sich als überaus erfolgreiche Spekulation auf die Nachsicht der Richter. Indem Graf Baudissin der Armee den Wahrheitsbeweis ersparte, indem er „Armeefreundlichkeit” und zugleich Abneigung gegen die Sozialdemokratie bekundete, gestaltete er seine Lage als Angeklagter überaus günstig. Hätte er den Wahrheitsbeweis unternommen und wäre ein Geringstes unbewiesen geblieben, so würde sein Geschick zweifellos sich weit anders gestaltet haben, da der Verzicht auf den Wahrheitsbeweis „aus patriotischen Gründen” auf dies Urteil der Richter notwendig weit günstiger wirken mußte, als der Versuch des Beweises, der viel Böses aufdeckt.
So endete dieser Prozeß in grotesker Sinnlosigkeit. Die Heeresleitung triumphiert: Nichts ist erwiesen von den fürchterlichen Anschuldigungen, die Armee ist fleckenlos, ein zweites Forbach gibt es nicht. Graf Baudissin triumphiert nicht minder: Ich bin für die Wahrheit meines Buches und seine ernsten Absichten eingestanden; es sollte die schmutzigste Schmähschrift sein, die je gegen das Offizierkorps geschrieben, aber das Gericht hat die erstklassigen Schmähungen gerade auf 300 M. eingeschätzt!
Die Wege der Wahrheit und der Justiz sind wunderbar!
„Volksblatt (Halle)” Nr. 251 vom 25.Oktober 1904 (Leitartikel)
Als Wolf Graf Baudissin, der unter dem Namen Freiherr v. Schlicht als Schriftsteller bekannt ist, im vorigen Jahre seinen Roman Erstklassige Menschen veröffentlichte, fand fand er in der deutschen Presse wenige Freunde. Niemand lobte, niemand verteidigte dieses Buch, das mit einem grenzenlosen Zynismus – als ob es sich um Selbstverständliches handelte – die Zustände in einem der vornehmsten Regimenter des preußischen Heeres so darstellte, daß die wahrheitsgetreueste Schilderung einer Verbrecherhöhle als ein liebliches Idyll dagegen erscheint. Alle Welt blickte entsetzt in diesen Spiegel sittlicher Verwahrlosung, und niemand, der sich eine Spur moralischen Empfindens bewahrt hatte, blieb bei der Lektüre dieses Romans von Schüttelfrösten des Ekels verschont. Nur darüber, wie weit die Schuld an diesem wahrhaft niederschmetternden Eindruck dem Verfasser, wie weit sie dem Stoffe selbst zuzuschreiben war, wogte der Streit der Meinungen. Die staatserhaltende Presse versicherte, daß es sich hier bloß um ein Sammelsurium der schmählichsten Lügen und Verleumdungen handle; dagegen hafteten damals in der Erinnerung der Massen die Skandale von Forbach und anderen „kleinen Garnisonen” viel zu fest, als daß man alles, was der Verfasser sich zu behaupten erkühnte, in das Fabelreich hätte verweisen wollen. Aber selbst bei den „Vaterlandslosen”, den geschworenen Gegnern unseres verderblichen und verderbten militaristischen Kastenwesens, überwog die Meinung, daß die „Erstklassigen Menschen” nicht als ein Bild der Wirklichkeit, sondern nur als ein Zerrbild zu betrachten seien, das vorhandene schwere sittliche Schäden ins Ungeheuerliche übertreibe.
Herr Wolf Graf Baudissin stand wegen dieses seines Buches am Sonnabend in Berlin vor Gericht. Er hätte sich als Angeklagter darauf berufen können, daß es sein Recht als Romanschriftsteller sei, die Wahrheit phantastisch zu übersteigern. Er hätte zugeben können, daß sein Buch mehr Dichtung als Wahrheit sei; er hätte behaupten können, daß er schadhafte Zustände habe bessern wollen, indem er vorhandene Laster durch das Vergrößerungsglas seiner Romankunst zeigte. Der ist ja nicht der Schlechteste, der ob eines einzigen Schurkenstreiches, den er mit ansah, an der ganzen Welt verzweifelt und fortab alles in den düstersten Farben erblickt.
Von einer solchen Art der Verteidigung, wie sie wohl ein aus den Niederungen des Volkes aufgestiegener Dichter gewählt hätte, blieb der erstklassige Verfasser des Buches „Erstklassige Menschen” weit entfernt. Den peinlichen Eindruck, den man gleich bei der Lektüre des Buches empfing, hat sein Auftreten im Gerichtssaal weitaus verstärkt. Diesem Mann, der in seiner Schilderung Schandtat über Schandtat, Laster über Laster häuft, fehlt selbst jedes sittliche Empfinden für die Greuel seiner Schilderung. Seine ganze Verteidigung war darnach eingerichtet, als ob er mit lächelnder Unschuldsmiene fragen wollte: „Ja, was ist denn da eigentlich dabei?”
Der Staatsanwalt hat den Inhalt seines Buches wiedergegeben, indem er sagte, die Offiziere erschienen darin ohne Ausnahme „als Gecken und Narren ohne ernstes Streben”, „als Mädchenjäger von fast brutaler Roheit, als liederliche Menschen, als verlumpte sittlich tiefstehende Schurken”. Aber Wolf Graf Baudissin, der 12 Jahre lang Offizier gewesen ist, dessen hocharistokratische Verwandtschaft in hohen militärischen Stellungen steht, ja der seinen eigenen Sohn dem Stande zuführen will, den er als einen Abgrund der Verworfenheit geschildert hat, fragt noch immer lächelnd: „Ja, was ist denn da eigentlich dabei?”
Und mehr noch! Wolf Graf Baudissin, der 12 Jahre lang Offizier gewesen ist, bietet seinen Richtern kühn die Stirn und sagt: „Ja, es ist so!” Wenn auch, was in seinem Buche stehe, nicht so erlebt sei, so sei doch alles, was in dem Buche stehe, erlebt. Es sei ihm nahegelegt worden, den Wahrheitsbeweis zu führen, und ihn zu führen, sei er auch im stande. Aber er habe keine Lust, den Sozialdemokraten neues Futter zu bringen und alte Kameraden an den Pranger zu stellen.
Die Sozialdemokraten haben nicht behauptet, daß alles, was in Baudissins Buche stehe, erlebt sei. Graf Baudissin aber versichert – immer noch mit der lächelnden Miene innerer Überzeugung – daß alles, was den preußischen Offizieren selbst ihre schlimmsten Gegner kaum zumuten, blanke, pure, lautere Wahrheit sei. Er ist zwölf Jahre lang unter ihnen gewesen. Mit ihnen verbinden ihn noch die zärtlichsten Gefühle alter Kameraderie. Er ist stolz, der alte Kamerad der Leute zu sein, die er in seinem Roman geschildert hat. Er hat also vor uns, die wir zweifeln und ungläubig den Kopf schütteln, jedenfalls die nähere Bekanntschaft voraus. Aber er will die alten Kameraden nicht an den Pranger stellen. Der Gedanke, daß die Elemente, die ihm als Modelle gedient haben sollen, der preußischen Armee zur Schande gereichten und daß es ein Verdienst sei, ihnen die Maske vom Gesicht zu reißen, ist ihm nie in seinem Leben gekommen. Es sind ja „erstklassige Menschen”, wie er selbst, und „alte Kameraden”!
Das Urteil lautete auf 300 M. Geldstrafe für den Verfasser und je 200 M. für die Verleger. Es ist nicht leicht, an diesem Urteile berechtigte Kritik zu üben. Wäre nämlich die Behauptung des Angeklagten, seine Schilderungen entsprächen der Wahrheit, richtig, dann hätte er überhaupt keine Strafe verdient. Standen aber die Richter auf dem Standpunkte, daß die Behauptung des Angeklagten, er habe für alles den Wahrheitsbeweis in der Tasche, unrichtig sei, dann wird man das Strafmaß allerdings nicht übermäßig hoch finden können. Das Rechtsbewußtsein des Volkes hätte den Grafen Baudissin freigesprochen, wenn er für die Zuverlässigkeit seiner Schilderungen den gerichtlichen Beweis wirklich erbracht hätte. Aber vor der preußischen Justiz hat sich der Mut des Wahrheitsbeweises nicht immer als die sicherste Taktik bewiesen. Zum mindesten bleibt es eine sichere Erfahrungstatsache, daß in allen politisch bedeutungsvollen Prozessen der letzten Jahre, in denen von Seite der Angeklagten der Versuch eines Wahrheitsbeweises unternommen wurde, schwere Verurteilungen erfolgten. Graf Baudissin, der nach seiner eigenen Erklärung auf einen Wahrheitsbeweis verzichtete, den er hätte führen können, und großmütig seine „alten Kameraden” vor dem Pranger bewahrte, ist sicher erheblich besser fortgekommen als viele sozialdemokratische Zeitungsredakteure, die sich mit ihren Wahrheitsbeweisen nicht bloß auf die allgemeine Behauptung ihrer Möglichkeit beschränkten.
Der Prozeß der „Erstklassigen Menschen” hat unter lauter erstklassigen Menschen gespielt; der unbehandschuhte revolutionäre Pöbel, der so ungebildet ist, Schurken Schurken zu nennen, hat sich mit der angenehmen Rolle des Zuschauers begnügen dürfen. Und so ist es auch in diesem erstklassigen Prozeß sehr höflich und sänftiglich, rücksichtsvoll von allen Seiten, zugegangen. Es wurde kein aufregender Wahrheitsbeweis geführt, kein ungeheuerliches Urteil gefällt – und doch erscheint von allen militärischen Skandalprozessen dieser als der allerschlimmste. Man hat einen bedeutenden Dichter, dessen Können von allen Parteien gleichmäßig anerkannt wird, hat Detlev v. Liliencron in der peinlichen und seiner wenig würdigen Rolle eines Gehilfen der Anklage gesehen. Ein deutscher Schriftsteller und „erstklassiger Mensch”, der Angeklagte selbst, hat das beschämende Schauspiel eines Mannes geboten, der sich der sittlichen Schwere von ihm erhobener Beschuldigungen gar nicht bewußt gewesen ist. Und trotzdem hat dieser Mann, nicht als Feind sondern als Freund und „alter Kamerad” des preußischen Offizierkorps, erhobenen Hauptes Beschuldigungen aufrecht erhalten, die selbst der entschiedenste Gegner seiner Klasse nicht in den Mund nehmen möchte, ohne dabei für die ganze Menschheit zu erröten.
So hat der Prozeß der „Erstklassigen Menschen” keine Lösung geboten, sondern nur ein peinliches Fragezeichen aufgerichtet. Er hat nur einen Zipfel des Vorhanges gelüftet – aber was man gesehen hat, war just nicht darnach angetan, die Herrlichkeit des gegenwärtig herrschenden Systems in neuem Glanze erstrahlen zu lassen. Der Militarismus hat Pech vor Gericht!
[Der gleiche Artikel mit genau demselben Wortlaut erschien am 27. Oktober 1904 im „Volksboten (Stettin)”]
„Braunschweiger Volksfreund” vom 25. Okt. 1904
Wegen Beleidigung der deutschen Offiziere durch den Roman „Erstklassige Menschen” hatten sich Sonnabend vor der Strafkammer in Berlin der Schriftsteller Wolf Graf v.Baudissin, sowie die Inhaber der Otto Janke'schen Verlagsbuchhandlung zu verantworten. Als literarischer Sachverständiger war Detlev v.Liliencron zur Stelle. Graf v.Baudissin, der unter dem Pseudonym „Freiherr von Schlicht” schreibt, bestritt entschieden, daß sein Roman den Charakter einer Schmähschrift habe. Auch seine Gattin bekundete über Entstehung, Art und Tendenz des Romans dasselbe. Ihr Ehemann habe den Kastengeist unter den Offizieren, die Schattenseiten der Erziehung in dem Kadettenkorps und die Gefahren schildern wollen, die sich an junge Offiziere, die kein ausreichendes Vermögen haben, herandrängen. Bilse's Buch habe ihr Gatte nicht gelesen. Als die Beschlagnahme erfolgte, seien sie auf einer Reise im Orient gewesen, aber auf telegraphische Nachricht sofort hierher zurückgekehrt. Es folgte dann die Verlesung des ganzen Romans, die viele Stunden in Anspruch nahm. Graf Baudissin wurde schließlich zu 300 Mark und der angeklagte Verlagsbuchhändler Dr. Janke zu 200 Mark verurtheilt. Der Gerichtshof erkannte ferner auf Unbrauchbarmachung aller Exemplare des Buches, der Platten und Formen und sprach dem Kriegsminister die Publikationsbefugniß zu. Frau Janke, als Mitinhaberin des Janke'schen Verlages wurde von der Anklage der Beleidigung freigesprochen. Wegen Vergehens gegen §28 des Preßgesetzes wurden die Angeklagten Dr. Janke und Frau Janke zu 200 Mark Geldstrafe verurtheilt.
„Braunschweiger Volksfreund” vom 27. Okt. 1904
Über den Prozeß wegen dieses Baudissin'schen Romans wird aus Berlin noch mitgetheilt: „Der Roman, der Anfang Februar herauskam und am 17.März der Beschlagnahme anheim fiel, ist sofort in künstlerischer Hinsicht einstimmig als Schund bezeichnet worden, hat aber wegen seines zeitgeschichtlichen Charakters immerhin einen gewissen dokumentarischen Werth. In der Gerichtsverhandlung verwahrte sich der unter dem Namen eines Freiherrn v.Schlicht schreibende Autor entschieden gegen den Vorwurf der Beleidigung, sein Buch richte sich ausschließlich gegen den im Offizierkorps herrschenden Kastengeist mit der Tendenz der Besserung. Er sei noch heute stolz auf sein Werk, Der Sachverständige Freiherr Detlev v.Liliencron legte im Namen des ganzen deutschen Offizierkorps Protest gegen dieses Machwerk ein. Das sei überhaupt kein Roman, sondern eine Anklage. Es handle sich keineswegs um eine künstlerische Arbeit, es würden darin nicht einzelne, sondern ein ganzer Typus in schauerlicher und empörender Weise an den Pranger gestellt. Nach Verlesung des ganzen Romans und nach mehrstündiger Verhandlung fällte der Gerichtshof das den Lesern bereits bekannte Urtheil. Der Gerichtshof betonte, es sei ein Roman mit beleidigender Tendenz; man habe aber angenommen, daß Graf Baudissin nicht blos ein niedriges Motiv geleitet habe, nicht blos das Interesse des Gelderwerbes und das Bestreben, die gute Bilse-Konjunktur auszunutzen, daß er vielmehr sein Buch in ernster Weise hat halten wollen, daß er sich aber bei seiner Abfassung zu sehr von seinen Stimmungen habe fortreißen lassen. Bei diesem Prozeß ist nicht das Merkwürdige, daß er zu Stande kommen konnte, das liegt vielmehr im System unserer Justiz, sondern wie er verlief. Mag man über die Gründe und die Berechtigung des Urtheils deuten, wie man will, sicher ist, daß es für die Gepflogenheit deutscher Gerichte verhältnißmäßig milde ausgefallen ist. Und woran liegt das, wo doch seit Forbach alle Staatsanwaltsarme sich nach Verbrechen gegen die Majestät des Offizierkorps recken? Der angeklagte Herr Graf hat es verstanden, bei seiner bereits zu Beginn der Affäre erprobten Charaktergeschmeidigkeit bei den Richtern „guten Eindruck zu schinden”. Man hatte manchmal fast den Eindruck, als käme er um seine Rehabilitierung ein. Er sprach davon, daß der Kaiser sich für ihn interessiere, schlug sich an seine Offiziersbrust und erklärte, daß er auch seinen Sohn Offizier werden lasse. Und gleichzeitig mußte die böse Sozialdemokratie als die allein Schuldige herhalten. Sie, nur sie habe ihm die gehässigen Absichten unterschoben, kein Mensch hätte sie ihm sonst zugetraut, Es wäre ihm leicht, den Wahrheitsbeweis zu bringen, aber er wolle nicht, weil er keine Lust habe, den Sozialdemokraten neues Futter zu bringen.” Der Edle! Er merkte dabei gar nicht, daß er zwei Minuten vorher in puncto Wahrheitsbeweis das Gegentheil ausgesagt hatte. Daß gerade von Seiten der Sozialdemokratie das Buch am objektivsten aufgenommen und bei Berücksichtigung aller Übertreibungen doch die ernste Tendenz anerkannt wurde, während er selbst gerade von seinen Standesgenossen mit Gift und Galle begeifert und als Lump verschrieen wurde, das kümmerte ihn nicht. Es galt, sich als Opfer sozialdemokratischer Insinuationen hinzustellen und mit dem der Sozialdemokratie vorenthaltenen Wahrheitsbeweis sich als Märtyrer aufzuspielen. Bald wird er mit einem patriotischen Festspiele wieder kriegervereinsfähig, vielleicht sogar zum zweiten Male hoffähig werden. Wir gönnen unseren Gegnern diesen Mann.
„The New York Times” vom 14. Februar 1915:
„Life in a Crack German Regiment” is also a disagreeable book, but it is simpler in form, more concentrated in purpose, and more convincing than Lieut. Bilse's far more spicy production. It tells the career of Lieut. Winkler, a young man of the middle class, the son of a prosperous manufacturer of buttons, as an officer in one of the most exclusive of Prussian regiments, the „Golden Butterflies.” Though placed in the regiment at the special behest of the Kaiser himself, with whom the young man's father is supposed to possess influence, the other officers form a combination to send the youth „to Coventry”, and never deviate from their purpose, even when he proves himself an excellent officer, a thorough gentleman, and a generous friend to his impecunious comrades. Besides the officers' treatment of the blameless Lieut. Winkler, the author shows their unblushingly mercenary ideals of marriage, their callous indifference to unpaid bills, and devotion to the form instead of the substance of honor. He, too, paints pictures of cruelty to men in the ranks, winked at or ignored by superiors; in fact, it is by endeavoring to do away with such things that Lieut. Winkler puts a crowning touch on his unpopularity among his comrades.
In the course of his cheerless service with the „Golden Butterflies” Winkler meets a young girl of the nobility who has for years been thrown at the heads of rich young men by her poverty-stricken father and brother, who have no thought of her happiness, but merely wish to have her get a rich husband who will rescue them from the mire of debt in which they are floundering. The young girl is as disgusted with her surroundings as the upright Winkler with his, and this creates a bond between them which eventually leads to their marriage. The union rejoices the debt-ridden father and brother of the young lady, who forgive Winkler's lack of a coat of arms because his father is wealthy. But the winklers, father and son, far from being dazzled at marrying into the nobility, proceed to make a shrewd financial arrangement with the penniless family of the son's fiancée which precludes any possibility of their beeing fleeced by these noble wasters.
Then young Winkler, thoroughly disgusted with the army, resigns his commission and turns his back forever on „a profession the majority of whose members had not yet learned to work and to take life seriously, and who had not yet grasped the real nature of its task — that of educating the German youth.”
„Hamburger Fremdenblatt” vom 1. November 1904:
(aus: „Frankfurter Zeitung” vom 30.10.1904)
Graf Baudissin über seine „Erstklassige Menschen.”. Frankfurt a.M., 30. Oktober.
In der Freien Literarischen Gesellschaft verbreitete sich gestern abend Graf Baudissin vor einem recht zahlreichen Auditorium über die Tendenz seines Romans „Erstklassige Menschen”, der ihm kürzlich in Berlin eine Verurteilung zu 300 Mk. Geldstrafe wegen Beleidigung des Offizierkorps eingetragen hat. Die Ausführungen waren, wie die „Frkf. Ztg.” schreibt, eine nachträgliche Verteidigungsrede gegen das, was dem Verfasser wegen des Romans vor Gericht und auch sonst vorgeworfen worden ist, wobei er klüglich die literarische Wertung überging. Er kündigte dabei zunächst an, daß er gegen das verurteilende Erkenntnis Revision einlegen wolle. Nach einem kleinen Ausfall gegen Detlev v. Liliencron als Sachverständigen im Prozeß wandte sich Graf Baudissin gegen den Vorwurf, daß er ein Nachtreter Bilses sei, und versicherte, daß er lange vor Erscheinen des Bilseschen Buches, angeregt durch „Jena und Sedan” [Frankf.Ztg.: Jena oder Sedan], seinen Roman geschrieben habe, lediglich um die Kastenvorurteile des Offizierkorps zu geißeln. Er erklärte ferner, daß es sich um keinen Schlüsselroman handle, daß keine bestimmten Persönlichkeiten und kein bestimmtes Regiment darin gekennzeichnet seien, sondern daß einzelne Züge von den verschiedensten Personen für die Romangestalten zusammengefaßt seien. Auch nicht gegen das Offizierkorps an sich habe er eine Anklage erhoben, sondern sich gegen die Gesellschaft wenden wollen, welche die Offiziere zu deren größten Schaden verwöhnt und sie, vom jüngsten Leutnant an, als höhere Wesen behandelt. Er wollte die Eltern warnen, nicht leichtsinnig ihre Söhne Offizier werden zu lassen, wenn sie nicht adlig oder wenigstens sehr wohlhabend seien, da sonst die meisten es doch nur bis zum Stabsoffizier brächten. Einen Krebsschaden sieht er darin, daß den Offizieren so leicht Kredit gegeben und förmlich aufgedrängt wird. Vor allem aber richten sich seine Bedenken gegen die Erziehung im Kadettenkorps, wo zu wenig Gewicht auf ordentliches Wissen, auf allgemeine Bildung gelegt werde und eine Entfremdung vom Elternhaus stattfinde, und wo namentlich der Fehler darin liege, daß die Kadetten schon im Kindesalter ohne Rücksicht auf ihre Veranlagungen in den Beruf hineingedrängt werden, lediglich wegen der wohlfeilen Erziehung, und ohne Rücksicht darauf, daß die meisten später doch frühzeitig um die Ecke gehen. Diese Kadetten würden auch zu jung Offiziere, bevor sie noch innerlich gefestigt seien, und so beginne frühzeitig die Schuldenmacherei. Man müsse verlangen, daß jeder Offizier das Abiturium gemacht habe und mindestens 20 Jahre alt sei. Diesem ersten Teil ließ der Vortragende dann einige humoristische Skizzen aus seinen Schriften folgen, die beifällige Aufnahme fanden.
„Hamburger Fremdenblatt” vom 3. Januar 1905:
Die meistgelesenen Bücher des Jahres 1904. Das „Literarische Echo” hat wieder seine Jahresumfrage an die Bibliotheken erlassen, um die meistgelesenen Bücher und Autoren des vergangenen Jahres festzustellen. Der Erfolg ist wunderbar: Das Buch der Saison war Stilgebauers „Götz Krafft” (96 Male genannt), dann kommen erst Clara Viebig mit ihrem Roman „Das schlafende Herz”, Frau v. Heyking mit den „Briefen, die ihn nicht erreichten”, Beyerlein mit „Jena oder Sedan?”, Frenssen mit „Jörn Uhl”, Baudissin mit „Erstklassige Menschen” und Thomas Mann mit den „Buddenbrooks”. Die äußeren Gründe, die den Romanen von Baudissin und Stilgebauer zu ihrem Lese-Erfolg geholfen haben, sind bekannt.
„Prager Tagblatt” vom 1. April 1904:
Freiherr von Schlicht über „Erstklassige Menschen”. Aus Dresden wird berichtet: Freiherr von Schlicht (Graf Baudissin) legt in folgender Erklärung seinen Standpunkt gegenüber der Begründung der Konfiskation seines Romans „Erstklassige Menschen” die künstlerischen und sittlichen Absichten, von denen er geleitet war, folgendermaßen dar: „Die Konflikte des Romans ergaben sich aus den Ansichten der „Erstklassigen Menschen”, der Offiziere, im Gegensatze zu denen des Bürgerstandes. Ich erhebe einen Vorwurf gegen die heutige Gesellschaft, die selbst diese „Erstklassigen Menschen” züchtet und großzieht, da sie auch den jüngsten Leutnant von vornherein mit Verehrung behandelt und selbst die Schuld daran trägt, daß die Offiziere den richtigen Maßstab ihres Wesens verlieren. Den „Erstklassigen Menschen” das Recht des Standesbewußtseins zurückzugeben, ihnen zu zeigen, daß ihre Ausnahmsstellung sie zwingen muß, in allen Stücken untadelhaft zu leben, das ist der Zweck meines Buches.”
„Prager Tagblatt” vom 12. April 1904:
[„Erstklassige Menschen” — eine Beleidigung der deutschen Armee.] Aus Dresden wird vom 11. d.M. gemeldet: Gegen Freih. von Schlicht, den Verfasser des Romans „Erstklassige Menschen” wurde das Strafverfahren wegen Beleidigung der Gardefüsiliere, resp. der Offiziere der deutschen Armee eingeleitet.
„Prager Tagblatt” vom 28. April 1904:
Das „Berl. Tagebl.” meldet: „Die drei Richter im Bilse-Prozeß haben jetzt sämtlich ihren Abschied erhalten. Nachdem schon vor einiger Zeit der Divisionskommandeur General v. Tippelskirch, der Gerichtsherr im Bilse-Prozeß, verabschiedet worden war, wird jetzt der Abschied gemeldet von Oberstleutnant Geisel, Infanterie-Regimensts 98, und Major Hirsch desselben Regiments.”
Die deutsche Heeresleitung scheint mit Blindheit geschlagen zu sein Ein solches Vorgehen gegen Richter muß die Gerechtigkeitspflege auf das Tiefste erschüttern. Die Unabhängigkeit der Richter ist dadurch vollständig aufgehoben. Wenn jeder militärische Richter sich sagen muß, daß er durch diese oder jene Verfügung (im vorliegenden Falle war es die Zulassung der Oeffentlichkeit) oder durch ein zu mildes Urteil den Zorn seiner Vorgesetzten erregt und seine Existenz aufs Spiel setzt, wird er natürlich sein Urteil in Zukunft nicht mehr nach seinem Gewissen, sondern nach dem von ihm zu erratenden Willen des Vorgesetzten abgeben. Daß aber gerade eine solche Maßregelung den Herren Bilse und Schlicht Recht gibt, liegt auf der Hand. Nur daß sie nicht auf die niedrigeren Rangklassen, sondern auf die höchsten das denkbar schlechteste Licht wirft.
„Prager Tagblatt” vom 16.Juni 1904:
Die Klage gegen Graf Baudissin. Die Berliner Wochenschrift „Der Roland von Berlin” berichtet: Der Verfasser des Romans „Erstklassige Menschen”, Graf Baudissin (Freiherr v. Schlicht), wird sich anfangs Juli vor der Strafkammer des königl. Landgerichtes Berlin I wegen Beleidigung des deutschen Offizierkorps zu verantworten haben. Die Anklageschrift ist ihm vor wenigen Tagen zugestellt worden.
„Die schöne Literatur” vom 2.Juli 1904:
Ueber des Freiherrn von Schlicht „Erstklassige Menschen”, Roman aus der Offizierskaste, hätte man am besten geschwiegen; es ist das beste Mittel, um schlechte Bücher wirkungslos zu machen. Bei uns schweigt man jedoch über die gesunden Dichtwerke und die schlechten Machwerke empfiehlt man allenthalben durch sittliche Empörung. Literarisch steht Schlichts Roman auf der Stufe von Bilses Enthüllungen; da jedoch Graf Baudissin erdichtet hat, was Bilse verriet, so hat er sich eigentlich um den geringen Reiz jener billigen Pikanterie gebracht, die für Schadenfrohe zu einer handfesten Sensation gehört. Ohne Bebel und den Staatsanwalt wäre Schlichts Erfolg wahrscheinlich sehr gering gewesen. Nun kaufen sich Unzählige das Buch und sind enttäuscht, natürlich, denn das Pamphlet ist zu grob, um auch nur wahrscheinlich zu sein, und zu langweilig, um zu unterhalten. Es ist also nur geschrieben für die, die nicht alle werden.
„Agramer Zeitung” vom 24.März 1904:
(Ein confiscirter Roman.) Wie die Berliner „Vossische Zeitung” mittheilt, hat der Kriegsminister die Beschlagnahme des Romans „Erstklassige Menschen” des Grafen Wolf Baudissin verfügt und gegen den Verfasser den Strafantrag gestellt.
„Bonner Zeitung” vom 8.März 1904:
Graf Baudissin (Freiherr v. Schlicht) glaubt zu seinem scharf angegriffenen „Roman” Erstklassige Menschen eine abschwächende Erklärung geben zu sollen. Er habe der Gesellschaft vorgeworfen, daß sie diese erstklassigen Menschen züchte und es verschulde, wenn die Offiziere den richtigen Maßstab ihres Wesens verlieren. Den Offizieren zu zeigen, daß ihre Ausnahmestellung sie zu untadelhaften, reinem Leben zwinge, sei der Zweck seines Buches gewesen. — Der Zweck soll aber im Buche selbst sehr eigenartig verschleiert sein.
„Bonner Zeitung” vom 6. - 10. März 1904
(Berichte über die Reichstagssitzungen):
Der Roman des Grafen Baudissin müsse in der Tat empörend wirken, und wenn mit Bezug auf den Verfasser gestern ein Ausdruck von der Rechten gefallen sei, der wenig schmeichelhaft für ihn wäre, so könne er (Redner) nur dem beistimmen. Wenn Bebel gemeint habe, der Graf entstamme doch einer vornehmen und angesehenen Familie, so beweise das nichts. Der Kriegsminister habe sich mit Recht gegen die Kritiken à la Garde gewandt.
Der Roman des Grafen Baudissin und andere böten Sittenschilderungen, die nicht so leicht bei Seite zu schieben seien.
Alle Stände haben vereinzelte Schiffbrüchige, sinkende und verwahrloste Existenzen, ohne daß es jemand einfalle, diese Stände deshalb als solche anzugreifen. Die Arbeit des Grafen Baudissin stelle ein Phantasiegemälde dar, bei der Sensation hauptsächlich den Pinsel geführt habe.
In seiner Bemerkung über den Grafen Baudissin habe ihm nicht ein Urteil über den Wert der Armee, sondern über den Unwert des Verfassers vorgeschwebt.
Der Vorwärts bezeichnet heute den Etat der Militärverwaltung als den Etat der erstklassigen Menschen. Das ist eine Bosheit, daß man die Menschen jenes Romans mit den Offizieren identifiziert.
. . . . .
Bebel habe von dem Baudissinschen Buche gesagt, wenn ein Drittel davon wahr sei u.s.w., er habe also supponiert, daß etwas wahres daran sei.Wenn man so etwas behaupte im Reichstage, so habe man die Pflicht, es zu beweisen. Die Sozialdemokraten möchten doch eine Kommission mit der Untersuchung dieser Mißstände betrauen und Herrn Singer zum Vorsitzenden machen. (Stürmische Heiterkeit.) Es beständen aber im Offizierkorps mancherlei Mißstände, die beseitigt werden müßten. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Möge man diesen Weg bald finden zum Heile des Vaterlandes und unserer glorreichen Armee. (Lebhafter Beifall.)
Für eine Untersuchungskommission über das Baudissinsche Buch sollte Stöcker lieber seinen seinen Amtskollegen Krösell statt Singers in Vorschlag bringen. Wie traurig die Zustände seien, beweise, daß jetzt die Sozialdemokraten bis in den höchsten Kreisen Anhänger haben.
„Bonner Zeitung” vom 24.März 1904:
Der Roman Erstklassige Menschen von dem unter dem Schriftstellernamen Freiherr v. Schlicht bekannten Militärschriftsteller und früheren Offizier Grafen Baudissin ist in Berlin beschlagnahmt worden.
„Bonner Zeitung” vom 31.März 1904:
Gegen den Verfasser des Schundromans „Erstklassige Menschen”, Grafen Baudissin (Freih. v. Schlicht) ist, wie der Vorwärts versichert, Anklage wegen Beleidigung der bewaffneten Macht erhoben worden.
„Bonner Zeitung” vom 14.Apr. 1904:
Der unter dem Schriftstellernamen Freiherr von Schlicht bekannte frühere Offizier Graf Baudissin, der für seinen Roman „Erstklassige Menschen” aufs schärfste angegriffen wird, veröffentlicht folgendes:
Auf einer Orientreise begriffen, erhielt ich am 10.März in Alexandrien ein Zeitungsblatt, das in den Reichstagsverhandlungen auch einen mich persönlich aufs schwerste beleidigenden Zwischenruf zu meiner Kenntnis brachte, der eine sofortige Genugtuung meinerseits erfordert. Ich habe daraufhin umgehend an den Herrn Präsidenten des Reichstages, Herrn Grafen v.Ballestrem, die Bitte gerichtet, mir den Namen desjenigen Herrn Abgeordneten zu nennen, der meine Ehre aufs schwerste verletzt hat, um die Angelegenheit alsdann sofort in geeigneter Weise zum Austrag bringen zu können. Die Antwort des Herrn Präsidenten, welche besagt, daß die Geschäftsordnung des Reichstages ihm keine Handhabe gebe, einen am 4.März während der Plenarsitzung gefallenen, von der amtlichen Stenographie nicht wiedergegebenen Zwischenruf der Ermittlung durch Vorlesung meiner Eingabe dem Reichstage entgegenzuführen, erhielt ich erst jetzt nach meiner beschleunigten Rückkehr in Dresden. Demgemäß habe ich selbstverständlich jetzt sofort die weiteren mir geeignet erscheinenden Schritte getan.
Dresden, den 11.April 1904.
Der amtliche stenographische Bericht des Reichstags vom 4. berichtet darüber : Bebel hatte im Reichstage geäußert: „Wenn ein Mann aus einer ersten Adelsfamilie Deutschlands (Zuruf rechts.) — Lump wird mir zugerufen. Das ist nicht meine Sache. Ich weiß ja, daß es Lumpen in diesen Kreisen in Hülle und Fülle gibt, weit mehr, als man bisher glaubte. (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. — Große Unruhe rechts.) Daß der Graf Baudissin, der bekannte Schriftsteller, von den Herren von der Rechten als Lump bezeichnet wird, da weiß ich nicht, mit welchem Rechte.”
„Bonner Zeitung” vom 22.Apr. 1904:
Der Zwischenruf „Lump” ist bekanntlich im Reichstage von konservativer Seite gefallen, als der Abgeordnete Bebel den Roman des Grafen Baudissin „Erstklassige Menschen” erwähnte. Graf Baudissin wandte sich darauf an den Reichstagspräsidenten, um den Namen des betreffenden Abgeordneten zu erfahren, jedoch ohne Erfolg. Als er sich darauf an die Leitung der deutsch-konservativen Fraktion des Reichstages wandte, meldete sich, wie Graf Baudissin in Berliner Blättern mitteilte, sofort der Abgeordnete, der den beleidigenden Zwischenruf in der Sitzung getan hatte. In der Erklärung heißt es: „Nach meiner Erklärung, daß ich das Buch „Erstklassige Menschen”, welches ich ausdrücklich als Roman bezeichnet habe, niemals veröffentlich haben würde, wenn ich es vorausgesehen hätte, daß dasselbe als eine Beleidigung der ganzen deutschen Armee oder gar eines bestimmten Offizierkorps aufgefaßt werden könnte, hat der betreffende Abgeordnete erklärt, daß er den mich beleidigenden Ausdruck nicht gebraucht haben würde, wenn ihm meine obige Auffassung bekannt geworden wäre.”
„Kölnische Zeitung” vom 23.März 1904:
Berlin, 23.März. (Telegr.) Der Roman Erstklassige Menschen vom Grafen Baudissin ist gestern in den hiesigen Buchhandlungen beschlagnahmt worden. Der Roman befindet sich bekanntlich seit mehrern Wochen im freien Verkehr und ist auch von Blättern, die nicht sonderlich militärfreundlich sind, als ein trauriges, lediglich auf Sensationsmacherei und die Absicht, Geld zu verdienen, zielendes Machwerk hingestellt worden. Die durchweg ungemein absprechenden Urteile der Presse, in denen namentlich auch hervorgehoben wurde, daß dem Romane nicht der mindeste literarische Wert beiwohne, hatten zur Folge gehabt, daß weite Kreise sich für ihn wenig oder gar nicht interessierten. Es ist beinahe zu befürchten, daß die jetzt erfolgte Beschlagnahme und das sich hieran voraussichtlich anknüpfende gerichtliche Verfahren dem Buch ebenso zu einer wirksamen Reklame gereichen werden, wie seinerzeit dem Bilseschen, literarisch völlig wertlosen Werk „Aus einer kleinen Garnison”, das erst dann allgemeine Beachtung fand, als gerichtlich gegen es vorgegangen wurde.
„Indiana Tribüne” vom 13.6.1905:
Leipzig, 12. Juni. — Das Reichsgericht hat die von Graf Baudissin eingeleitete Revision in Sachen des Prozesses wegen des Romans „Erstklassige Menschen” verworfen. Baudissin, besser unter seinem Pseudonym Freiherr von Schlicht bekannt, hatte in seinem Roman, welcher in die Zeit der Bilse-Enthüllungen fiel, das Gardefüsilierregiment beleidigt. Er wurde zu 500 Mark Geldstrafe verurtheilt.
„Scranton Wochenblatt” vom 18.2.1904:
Großes Aufsehen erregt ein soeben erschienenes Buch des Freiherrn v. Schlicht (Pseudonym für Graf Wolf v. Baudissin), betitelt „Erstklassige Menschen”. In diesem werden die militärischen Uebelstände stellenweise noch schärfer beleuchtet, als dies durch Beyerlein und Bilse geschehen ist. Der Verfasser schildert die Leiden der sogenannten „Concessionsschulzen” (Spitznamen für die bürgerlichen Offiziere) in einem adeligen Regimente und führt mehrere Typen adelsstolzer Offiziere erbärmlichsten Charakters vor, welche äußerlich den Schein der Ehrenhaftigkeit zu wahren verstehen. Den Höhepunkt des Romans bildet ein Zwiegespräch zwischen einem oberfaulen Major a. D. und seinem leichtfertigen, halbverkommenen Sohne über die Ursachen und Krebsschäden des Militarismus.
„Jugend”, Jahrgang 1904, Nr. 13, S. 255 vom 27.März 1904:
Aus dem lyrischen |
I. „Erstklassige Menschen” |
Jestern mir Baudissin's Buch jeholt . . . |
„Leipziger Tageblatt” vom 21. Febr. 1905:
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© Karlheinz Everts