„Erstklassige Menschen”


Reaktionen auf diesen Roman

in Reichstag und Presse
hier in:
„Volksstimme” (Magdeburg) vom 25.Okt. 1904


„Erstklassige Menschen” vor Gericht.

Als Wolf Graf Baudissin, der unter dem Namen Freiherr v. Schlicht als Schriftsteller bekannt ist, im vorigen Jahre seinen Roman „Erstklassige Menschen” veröffentlichte, fand er in der deutschen Presse keinen Freund. Die waschechtesten Konservativen und Militärfreunde sahen sich damals, so weit auch die Standpunkte sachlicher Beurteilung voneinander abwichen, in einer merkwürdigen Übereinstimmung mit den Organen der sozialdemokratischen Partei. Niemand lobte, niemand verteidigte dieses Buch, das mit einem grenzenlosen Zynismus – als ob es sich um Selbstverständliches handelte – die Zustände in einem der vornehmsten Regimenter des preußischen Heeres so darstellte, daß die wahrheitsgetreue Schilderung einer Verbrecherhöhle als ein liebliches Idyll dagegen erscheint. Alle Welt blickte entsetzt in diesen Spiegel sittlicher Verwahrlosung, und niemand, der sich eine Spur moralischen Empfindens bewahrt hatte, blieb bei der Lektüre dieses Romanpamphlets von Schüttelfrösten des Ekels verschont.

Nur darüber, wie weit die Schuld an diesem wahrhaft niederschmetternden Eindruck dem Verfasser, wie weit sie dem Stoff selbst zuzuschreiben war, wogte der Streit der Meinungen. Die staatserhaltende Presse versicherte, daß es sich hier bloß um ein Sammelsurium der schmählichsten Lügen und Verleumdungen handle; dagegen hafteten damals in der Erinnerung der Massen die Skandale von Forbach und andern „kleinen Garnisonen” viel zu fest, als daß man alles, was der Verfasser zu behaupten sich erkühnte, in das Fabelreich hätte verweisen wollen. Aber selbst bei den „Vaterlandslosen”, den geschworenen Gegnern unsres verderblichen und verderbten militaristischen Kastenwesens, überwog die Meinung, daß die „Erstklassigen Menschen” nicht als ein Bild der Wirklichkeit, sondern nur als ein Zerrbild zu betrachten seien, das vorhandene schwere sittliche Schäden ins Ungeheuerliche übertreibe.

Herr Wolf Graf Baudissin stand wegen dieses seines Buches am letzten Sonnabend in Berlin vor Gericht. Er hätte sich als Angeklagter darauf berufen können, daß es sein Recht als Romanschriftsteller sei, die Wahrheit phantastisch zu übersteigern. Er hätte zugeben können, daß sein Buch mehr Dichtung als Wahrheit sei, er hätte behaupten können, daß er schadhafte Zustände habe bessern wollen, indem er vorhandene Laster durch das Vergrößerungsglas seiner Romankunst zeige. Der ist ja nicht der Schlechteste, der ob eines einzigen Schurkenstreiches, den er mitansah, an der ganzen Welt verzweifelt und fortab alles in den düstersten Farben erblickt.

Von einer solchen Art der Verteidigung, wie sie wohl ein aus den Niederungen des Volkes aufgestiegener Dichter gewählt hätte, blieb der erstklassige Verfasser des Buches „Erstklassige Menschen” weit entfernt. Den peinlichen Eindruck, den man gleich bei der Lektüre des Buches empfing, hat sein Auftreten im Gerichtssaal weitaus verstärkt: diesem Mann, der in seiner SAchilderung Schandtat über Schandtat, Laster über Laster häuft, fehlt selbst jedes sittliche Empfinden für die Greuel seiner Schilderung. Seine ganze Verteidigung war danach eingerichtet, als ob er mit lächelnder Unschuldsmiene fragen wollte: „Ja, was ist denn eigentlich dabei?”

Der Staatsanwalt hat den Inhalt seines Buches wiedergegeben, indem er sagte, die Offiziere erschienen darin ohne Ausnahme „als Gecken und Narren, ohne ernstes Streben”, „als Mädchenjäger von fast brutaler Roheit, als liederliche Menschen, als verlumpte, sittlich tiefstehende Schurken”. Aber Wolf Graf Baudissin, der 12 Jahre lang Offizier gewesen ist, dessen hocharistokratische Verwandtschaft in hohen militärischen Stellungen steht, ja der seinen eignen Sohn dem Stande zuführen will, den er als einen Abgrund der Verworfenheit schildert, fragt noch immer lächelnd: „Ja, was ist denn eigentlich dabei?”

Und mehr noch! Wolf Graf Baudissin, der 12 Jahre lang Offizier gewesen ist, bietet seinen Richtern kühn die Stirn und sagt: „Ja, es ist so!” Wenn auch, was in seinem Buch stehe, nicht so erlebt sei, so sei doch alles, was in dem Buch stehe, erlebt. Es sei ihm nahegelegt worden, den Wahrheitsbeweis zu führen und ihn zu führen sei er auch imstande. Aber er habe keine Lust, den Sozialdemokraten neues Futter zu bringen und alte Kameraden an den Pranger zu stellen.

Die Sozialdemokraten haben nicht behauptet, daß alles, was in Baudissins Buch stehe, erlebt sei. Graf Baudissin aber versichert – immer noch mit der lächelnden Miene sittlicher Bewußtlosigkeit –, daß alles, was den preußischen Offizieren selbst ihre schlimmsten Gegner kaum zumuten, blanke, pure, lautere Wahrheit sei. Er ist zwölf Jahre lang unter ihnen gewesen. Mit ihnen verbinden ihn noch die zärtlichsten Gefühle alter Kameraderie. Er ist stolz, der alte Kamerad der Leute zu sein, die er in seinem Roman geschildert hat. Er hat also vor uns, die wir zweifeln und ungläubig den Kopf schütteln, jedenfalls die nähere Bekanntschaft voraus. Aber er will die alten Kameraden ja nicht an den Pranger stellen. Der Gedanke, daß die Elemente, die ihm als Modelle gedient haben sollen, der preußischen Armee zur Schande gereichten und daß es ein Verdienst wäre, ihnen die Maske vom Gesicht zu reißen, ist ihm nie in seinem Leben gekommen. Es sind ja „erstklassige Menschen” wie er und „alle Kameraden”!

Das Urteil lautete auf 300 Mark Geldstrafe für den Verfasser und je 200 Mark für die Verleger. Es ist nicht leicht, an diesem Urteil berechtigte Kritik zu üben. Wäre nämlich die Behauptung des Angeklagten, seine Schilderungen entsprächen der Wahrheit, richtig, dann hätte er überhaupt keine Strafe verdient. Standen aber die Richter auf dem Standpunkt, daß die Behauptung des Angeklagten, er habe für alles den Wahrheitsbeweis in der Tasche, unrichtig sei, dann wird man das Strafmaß nicht übermäßig hoch finden können. Das Rechtsbewußtsein des Volkes hätte den Grafen Baudissin freigesprochen, wenn er für die Zuverlässigkeit seiner Schilderungen den gerichtlichen Beweis wirklich erbracht hätte. Aber vor der preußischen Justiz hat sich der Mut des Wahrheitsbeweises nicht immer als die sicherste und erfolgreichste Taktik bewiesen. Zum mindesten bleibt es eine Erfahrungstatsache, daß in allen politisch bedeutungsvollen Prozessen der letzten Jahre, in denen von seiten der Angeklagten der Versuch eines Wahrheitsbeweises unternommen wurde, schwere Verurteilungen erfolgten. Graf Baudissin, der nach seiner eigenen Erklärung auf einen Wahrheitsbeweis verzichtete, den er hätte führen können und großmütig seine „alten Kameraden” vor dem Pranger bewahrte, ist sicher erheblich besser fortgekommen als viele sozialdemokratische Zeitungsredakteure, die sich mit ihren Wahrheitsbeweisen nicht bloß auf die allgemeine Behauptung ihrer Möglichkeit beschränkten.

Der Prozeß der „Erstklassigen Menschen” hat unter lauter erstklassigen Menschen gespielt: der unbehandschuhte Pöbel, der so ungebildet ist, Schurken Schurken zu nennen, hat sich mit der angenehmen Rolle des Zuschauers begnügen dürfen. Und so ist es auch in diesem erstklassigen Prozeß sehr höflich und sänftiglich, rücksichtsvoll von allen Seiten zugegangen. Es wurde kein aufregender Wahrheitsbeweis geführt, kein ungeheuerliches Urteil gefällt – und doch erscheint von allen militärischen Skandalprozessen dieser der allerschlimmste. Man hat einen bedeutenden Dichter, dessen Können von allen Parteien gleichmäßig anerkannt wird, hat Detlev von Liliencron in der peinlichen und seiner wenig würdigen Rolle eines Gehilfen der Anklage gesehen. Ein deutscher Schriftsteller und „erstklassiger Mensch”, der Angeklagte selbst hat das beschämende Schauspiel eines Mannes geboten, der sich der sittlichen Schwere von ihm erhobener Beschuldigungen gar nicht bewußt geworden ist. Und trotzdem hat dieser Mann, nicht als Feind sondern als Freund und „alter Kamerad” des preußischen Offizierkorps erhobenen Hauptes Beschuldigungen aufrechterhalten, die selbst der entschiedenste Gegner seiner Klasse nicht in den Mund nehmen wollte, ohne dabei für die ganze Menschheit zu erröten.

So hat der Prozeß der „Erstklassigen Menschen” keine Lösung geboten, sondern nur ein peinliches Fragezeichen aufgerichtet. Er hat nur einen Zipfel des Vorhangs gelüftet – aber was man gesehen hat, war just nicht danach angetan, die Herrlichkeit des gegenwärtigen Systems in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Der Militarismus hat Pech vor Gericht! –

*       *       *

Die Verhandlung.

Der Prozeß spielte sich am Sonnabend vor der Barre der zweiten Strafkammer des Landgerichts Berlin I ab. Die Anklage richtet sich gegen den Schriftsteller Graf Baudissin sowie gegen die Inhaber der Otto Jankeschen Verlagsbuchhandlung, Dr. phil Erich Janke und verwitwete Frau Dr. Janke. Den Vorsitz im Gerichtshof führt Landgerichtsdirektor Hahn, die Anklage vertritt Staatsanwalt Liebenow, die Verteidigung führen die Rechtsanwälte Paul Alexander Katz und Stein. Als literarischer Sachverständiger ist Freiherr v. Liliencron zur Stelle.

Die Tendenz des Romans.

Der im Jankeschen Verlag erschienene Roman „Erstklassige Menschen” ist anfangs Februar erschienen und am 17.März d.J. beschlagnahmt worden. Der Angeklagte, der unter dem Pseudonym Freiherr von Schlicht schreibt, bestreitet entschieden, daß sein Roman den Charakter einer Schmähschrift habe. Als solche sei er keineswegs gedacht, vielmehr habe er eine sehr ernste Tendenz und wende sich gegen den im Offizierkorps herrschenden Klassengeist und gegen verschiedene Mißstände, die sich aus der verkehrten Haltung der Gesellschaft gegenüber den Offizieren ergeben. Die Tendenz der Besserung, aber nicht die der Beleidigung sei der Grundzug des Buches! Er sei sich nicht bewußt, irgend etwas anderes gesagt zu haben, was er nicht schon in anderen Schriften, die das Leutnantsleben schildern, gesagt hätte. Die in Offizierskreisen vielfach herrschenden Ansichten, die Geldnot mancher Offiziere usw., die Folgen, die daraus entstehen, wenn junge Leute ohne die genügenden Mittel Offiziere werden und über ihre Verhältnisse leben, das schließliche Ende, daß die jungen Leute dann zur Pistole greifen oder vor den Ehrenrat kommen, habe er nicht nur in lustigen Geschichten, sondern auch in ernsten Arbeiten wiederholt behandelt. Er habe nicht etwa fabrikmäßig gearbeitet, um die Konjunktur Bilse auszunutzen, er habe vielmehr Bilses Buch überhaupt nicht gelesen gehabt. Zu dem Roman sei er durch Beyerleins „Jena oder Sedan?” angeregt worden; er habe länger als sonst, nämlich neun Monate daran gearbeitet. Er sei Aristokrat und sei selbst 12 Jahre Soldat gewesen, seiner Familie gehören viele Offiziere an, er habe regen Verkehr mit Offiziersfamilien und sein einziger Sohn solle Offizier werden. Jeder, der ihn kenne, werde bekunden, daß er Liebe zum Offiziersstande habe. In seinem eigenen Offiziersleben habe er niemals Kränkungen erfahren, die ihn erbittert hätten, er habe freiwillig den Abschied genommen, um ganz der Schriftstellerei zu leben. Er wisse, daß der Kaiser alle seine Schriften lese; seine Theaterstücke würden in den ersten Theatern aufgeführt, er habe zur 80. Geburtstagsfeier des Generals v. Werder [27.Februar 1903. Bernhard Franz Wilhelm von Werder 27.2.1823 - 19.3.1907 D.Hrsgb.] das Festspiel „Der Stolz der Maikäfer” verfaßt, kurz, er habe keineswegs eine offiziersfeindliche Tendenz.

Die schuldige Gesellschaft und der schuldige Bebel.

[Der erste Satz dieses Abschnitts ist auf dem Mikrofilm fast nicht lesbar. D.Hrsgb.]

. . . noch garnicht geredet wurde. Von Bedeutung für das Entstehen des Buches sei auch der Selbstmord eines ihm nahe bekannten jungen Offiziers gewesen, der sich wegen übergroßer Schulden das Leben genommen. Da habe er sich mit der Frage beschäftigt, wie es möglich sei, daß einem so blutjungen Menschen ein Kredit von 65 000 Mark eingeräumt werden konnte. Man leihe das Geld eben nur dem Offizier im bunten Rock. Die Schuld an diesem Selbstmord hatte, nach seiner Meinung, die Gesellschaft, die jeden Offizier verwöhne und es ihm übermäßig leicht mache, Kredit zu erlangen. Sein Buch richte sich daher nicht gegen die Offiziere, sondern gegen die Gesellschaft, die aus ihnen erstklassige Menschen geradezu großziehe. Die Gesellschaft sei schuld, wenn sich Mißstände im Offiziersleben herausgebildet haben. Er habe in seinem Buche auch deutliche Mittel zur Abhilfe angegeben. Als der Roman erschienen war, habe zunächst kein Mensch Beleidigungen darin erblickt, am wenigsten der Kriegsminister, der den Roman sehr bald gelesen habe. Erst sechs Wochen später sei die Beschlagnahme verfügt worden, nachdem Bebel im Reichstage dem Kriegsminister gegenüber auf das Buch hingewiesen hatte. Der Titel „Erstklassige Menschen” und die Bezeichnung „Citronenfalter” rühren gar nicht von ihm her, beide Bezeichnungen seien bei einer darauf bezüglichen Besprechung von einem Freunde vorgeschlagen worden. Mit den „Citronenfaltern” seien keineswegs die „Maikäfer” gemeint, das Garde-Füsilier-Regiment habe sich gar nicht getroffen gefühlt, und es habe in den Zeitungen kundgegeben, daß es keinen Strafantrag gestellt habe. Schon die Tatsache, daß sein Roman in einem sehr angesehenen Verlage erschien, müßte den Verdacht, daß es sich um eine Schmähschrift handle, umstoßen.

Die Mitangeklagten.

Die Vertreter der Jankeschen Verlagsbuchhandlung haben sich nur wegen Verbreitung des Romans nach seiner Beschlagnahme zu verantworten. Der Angeklagte Dr. Janke weist darauf hin, daß die Werke des Grafen Baudissin schon seit 10 Jahren in seinem Verlage erscheinen. Schon im Frühjahr 1903, noch ehe Bilses Roman herausgekommen war, habe er mit dem Angeklagten mündlich über die Herausgabe dieses Buches, das ein ernstes Werk sein sollte, verhandelt. Er habe also keineswegs die „Konjunktur” wahrnehmen wollen, sondern nur im Vertrauen auf die Autorität des Verfassers sein Werk in Verlag genommen. Jedwede beleidigende Absicht habe ihm völlig fern gelegen.. Nach der Beschlagnahme habe er auch nicht ein Exemplar im Inlande verbreitet, sondern das Werk aus seinem Verlage ausgeschieden und das Urheberrecht einer Wiener Verlagsanstalt übertragen. In Österreich sei von Anfang an der Absatz sehr groß gewesen, denn fast ein Drittel der ersten Auflage sei nach Österreich gegangen.

Frau Dr. Janke bestätigt die Angaben ihres Sohnes. Der Verlag hatte die Überzeugung, daß der Roman nach kurzer Zeit wieder freigegeben würde.

Die Gattin des Grafen Baudissin bekundete über Entstehungsart und Tendenz des Romans auf Grund der Unterhaltung, die sie darüber mit ihrem Gatten gehabt, dasselbe wie dieser. Ihr Ehemann habe den Kastengeist unter den Offizieren, die Schattenseiten der Erziehung im Kadettenkorps und die Gefahren schildern wollen, die sich an junge Offiziere, die kein ausreichendes Vermögen haben, herandrängen. Bilses Buch habe ihr Gatte nicht gelesen. Als die Beschlagnahme erfolgte, seien sie auf einer Reise im Orient gewesen, aber auf telegraphische Nachricht sofort hierher zurückgekehrt.

Die Verlesung des Romans.

Es folgt hierauf die Verlesung des ganzen Romans, die mehrere Stunden in Anspruch nahm. —

Die Gefahren des Kadettenkorps.

Um 5 Uhr war die Verlesung des Romans zu Ende. Auf die Aufforderung des Landgerichtsdirektors Hahn läßt sich der Angeklagte Graf Baudissin noch in längerer Darlegung über die Gesichtspunkte aus, die ihn bei Abfassung seines Buches geleitet haben. Er betont wiederum, daß ihm jede Absicht der Beleidigung ferngelegen habe. Er habe zeigen wollen, wie heutzutage gegenüber der Protektion der adligen Offiziere – wie die Rangliste erweise – die Avancementsaussichten für die bürgerlichen Offiziere sehr gering sind. Im Kadettenkorps fehle für den jungen Mann jeglicher Familienzusammenhang, sie entbehren den Umgang mit Frauen und Geschwistern. Er wollte zeigen, daß es eine Sünde ist, einen siebenjährigen Jungen, der noch gar keine eigene Meinung über seinen zukünftigen Lebenslauf hat, in das Kadettenkorps zu stecken, weil die ganze Erziehung des Jungen dort umsonst oder für 80 Mark gewährt wird. Deshalb schlage er vor, daß das Erziehungsgeld in dem Kadettenkorps von 80 Mark auf etwa 1200 oder 1500 Mark erhöht werde; denn dann würde sich mancher Vater besinnen, ehe er seinen Sohn in das Kadettenkorps steckt. Dann habe er sagen wollen, daß es Unsinn ist, wenn die Offiziere aus dem Kadettenkorps schon in so jungen Jahren zur Charge und mit 18 Jahren vor die Front kommen. Wenn ein Selektaner plötzlich 60 Mark und einen monatlichen Zuschuß, großen Kredit und den Hausschlüssel erhält, dann sei es doch kein Wunder, daß er zu einem leichtsinnigen Lebenswandel verführt wird. Die Statistik zeige, daß etwa 15 Prozent der Offiziere, die aus dem Kadettenkorps kommen, in drei bis vier Jahren wieder um die Ecke gehen. Die jungen Leute sollten erst etwa mit 20 Jahren und nach erreichtem Maturium Offiziere werden. Er habe weiter zeigen wollen, wie falsch es sei, daß alle verabschiedeten Offiziere ihre Söhne immer wieder Offiziere werden lassen. Jeder der früh verabschiedeten Offiziere klage und stöhne, daß er oft nicht wisse, wie er sich durch's Leben schlagen solle – trotzdem lassen sie immer wieder ihre Söhne Offiziere werden, weil sie für deren ganze Erziehung im Kadettenkorps nur 80 Mark zu zahlen haben. Diese Eltern zu warnen, sei auch ein Zweck des Buches gewesen, daß er in ernster Absicht geschrieben und auf das er noch heute stolz sei.

Wahrheitsbeweis und Sozialdemokratie.

Es sei ihm nahegelegt worden, doch den Wahrheitsbeweis anzutreten, er habe viele Zuschriften erhalten, und es sei ihm von vielen Seiten Material zur Verfügung gestellt, aber er lehne den Antritt des Wahrheitsbeweises ab, denn er mache das Wort Goethes zur „Wahrheit und Dichtung” sich zu eigen, der sagte: „ Alles, was in dem Buche steht, ist erlebt und doch ist nichts so erlebt, wie es geschrieben ist.” Auch sein Buch sei nach seinen langjährigen Erfahrungen geschrieben, aber die ganzen Personen sind erfunden, und aus den verschiedensten Charakteren, die er im Leben kennen gelernt habe, habe er sich die Gestalten geformt. Es wäre ihm leicht, den Wahrheitsbeweis zu bringen, aber er wolle nicht, weil er keine Lust habe, den Sozialdemokraten neues Futter zu bringen, weil er nicht alte Kameraden an den Pranger stellen wolle, und weil er nicht den Ehrgeiz habe, ein zweiter Bilse zu werden und sich damit eine Villa zu verdienen.

Keine Beleidigung, sondern eine Warnung.

Der Vorsitzende hält dem Angeklagten eine Reihe von Stellen vor, die doch darauf hindeuten, daß er nicht einzelne Typen vorführen und einzelne Mißstände geißeln, sondern seine Angriffe im allgemeinen gegen die deutschen Offiziere richten und sie schmähen wollte. Der Angeklagte bestreitet dies ganz entschieden. Es handle sich hier ja doch um einen Roman, und es sei das Recht des Künstlers, die Farben zu wählen, die er für sein Gebilde brauche. Er gebe zu, daß er viel Schwarz gewählt habe, dies sei aber in guter Absicht geschehen. Er habe nicht geglaubt, daß man in einem Roman eine Beleidigung erblicken kann, denn es handle sich doch um erfundene Personen und Handlungen. – Der Vorsitzende hält ihm vor, daß in seinem Roman doch ein Repräsentant des gebildeten Bürgertums in einen grellen Gegensatz gestellt werde zu den adligen Offizieren, die als die Repräsentanten des schrecklichsten Banausentums gegeißelt werden. Der Angeklagte erwidert, er habe zeigen wollen, daß die erstklassigen Menschen nicht das sind, was das Publikum von ihnen hält, und die adligen Offiziere ihren Dienst nicht besser verrichteten als die bürgerlichen. – Der Vorsitzende weist ferner darauf hin, daß die Offiziere doch als unehrenhafte Schuldenmacher ganz im allgemeinen hingestellt werden, die in sittlicher Beziehung sehr lax seien, die sich ihre Gesundheit ruinieren und dann die erste beste reiche Dame heiraten, die bewußt gröbliche Pflichtwidrigkeiten begehen usw. usw. – Der Angeklagte betont wiederholt, daß es sich ja um einen Roman handle und nicht um eine Anklage, sondern um eine Warnung, wohin es kommen könne.

Ein Dichter als adliger Offizier.

Es wird sodann als Sachverständiger der Lyriker Freiherr Detlev v. Liliencron vernommen: Im Namen des ganzen deutschen Offizierkorps lege er Protest gegen diesen Roman ein. Das sei überhaupt kein Roman, sondern eine Anklage. Schon das Wort „Erstklassige Menschen” sei ein ordinäres deutsches Wort der papiernen deutschen Sprache, es sei hämisch und höhnisch. Er behaupte, daß ein solches Garde-Regiment, wie es im Buche geschildert wurde, gar nicht existieren könne, wo ein bürgerlicher Offizier so behandelt werde wie der Leutnant Winkler in dem Buche. In dem Offizierkorps gebe es nur das Wort „Kamerad”. Den Blättern aller Parteien sei es aufgefallen, wie gehässig das Buch geschrieben sei. Es sei geradezu unerhört! Schon seit Dezennien würden in Witzblättern, den „Fliegenden Blättern” usw., die Offiziere als Kretins und Idioten hingestellt, der Roman stelle sie aber noch viel tiefer. Es werden darin nicht einzelne, sondern ein ganzer Typus in schauerlicher und empörender Weise an den Pranger gestellt. Die adligen Offiziere leisten in ihrem Lebenswandel und in ihrer Dienstfreudigkeit ebensoviel wie die bürgerlichen Offiziere. Es handle sich nicht um eine künstlerische Arbeit, sondern um eine etwas flüchtig hergestellte Anklageschrift, die empörend sei.

Schon einmal boykottiert.

Staatsanwalt Liebenow hält die drei Angeklagten der Beleidigung des deutschen Offizierkorps im Sinne der §§ 185 und 186 für schuldig. Der Kriegsminister v. Eynem habe sich nicht erst durch die Sozialdemokraten zur Stellung des Strafantrags drängen lassen, sondern schon am 20. Februar Schritte bei der Staatsanwaltschaft getan in der Richtung, ob wegen Verächtlichmachung der Staatseinrichtungen vorgegangen werden könnte. Daß es sich um eine Schmähschrift sondergleichen handle, habe jeder objektive Beurteiler, habe die Presse aller Schattierungen anerkannt. Im Reichstag sei man einig gewesen in der Verurteilung des Romans und seiner Tendenz. Der Roman sei so voller Verleumdung, wie kaum je ein andrer Roman. Die adligen Offiziere sollten getroffen werden, deshalb sei der Rahmen des Romans der Garde entnommen. Die Gardeoffiziere werden geschildert als Gecken und Narren, die vor Eitelkeit platzen, in den Künsten der Verführung groß seien, die Jagd nach reichen Erbinnen anstellen, hasardieren, aber gar kein ernstes Streben haben. Sie werden hingestellt als Mädchenjäger von fast brutaler Roheit, als liederliche Menschen, verlumpte, sittlich tief stehende Schurken, und nicht ein einziger einwandfreier, tüchtiger Vertreter des Offizierstands trete in dem Roman auf. Das Bild sei ein völliges Zerrbild, der Angeklagte male ganz schreckliche und schauderhafte Bilder von dem Leben in den Offizierkorps. Die Absicht der Beleidigung gehe schon aus dem Titel hervor, mit welchem die adligen Offiziere verhöhnt werden sollen. Hätte der Angeklagte Graf Baudissin Mißständen abhelfen wollen, so hätte es dazu andre Wege gegeben. Er als Angehöriger der Armee mußte wissen, daß seine falsche Kritik auf unsre Offiziere nicht paßt und eine solche falsche Kritik ein vaterlandsgefährliches Unternehmen ist. Er sei schon gewarnt worden, als er seinerzeit das Feuilleton „Der Leutnantshund” veröffentlichte. Damals habe ihm das schleswigsche Offizierkorps deutlich gezeigt, daß es sich beleidigt fühlte, und er und seine Familie seien damals boykottiert worden, bis der Angeklagte Besserung gelobt habe. Er sowohl, als auch die Mitangeklagten seien zweifellos von der Absicht geleitet worden, gute Geschäfte zu machen und die Bilse-Konjunktur auszunutzen. Auch die Mitangeklagten hätten sich der Beleidigung schuldig gemacht, der Verkauf nach Wien nach der hiesigen Beschlagnahme sei eine schwere Verhöhnung der staatlichen Autorität. Der Staatsanwalt beantragte gegen den Grafen Baudissin 1500 Mark Geldstrafe, gegen die Mitangeklagten wegen der Beleidigung je 750 Mark Geldstrafe und Publikationsbefugnis für den Kriegsminister.

Urteilsbegründung.

Der Gerichtshof war der Ansicht, daß in dem Roman objektiv Beleidigungen der preußischen Offiziere im Sinne des § 185 enthalten seien, die Vorwürfe richten sich nicht nur gegen einzelne Personen, sondern gegen die Armee als Ganzes. Der Roman sei ein Tendenzroman schlechter Tendenz. Der Gerichtshof hat aber angenommen, daß Graf Baudissin nicht bloß ein niedriges Motiv geleitet hat, nicht bloß das Interesse des Gelderwerbs und das Bestreben, eine gute Konjunktur auszunutzen, daß er vielmehr sein Buch in ernster Weise hat halten wollen, sich aber bei seiner Abfassung zu sehr von seinen Stimmungen hat fortreißen lassen. —


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© Karlheinz Everts