Literarische Gesellschaft zu Köln

Vortragsabend am 7.Nov. 1902.


„Kölnische Zeitung” vom 5.11.1902

Der „Rheinische Merkur” schreibt am 28.10.1902:

Die Litterarische Gesellschaft veranstaltete am Freitag im Isabellensaal des Gürzenich ihren ersten diesjährigen Vortragsabend, der so zahlreich besucht war, daß mancher der Zuhörer mit einem Stehplatz fürlieb nehmen mußte. Der Vorsitzende, Herr Hofrat Dr. Fastenrath, begrüßte die Erschienenen und wies darauf hin, daß die Gesellschaft ins zehnte Jahr ihres Bestehens und ins fünfte Jahr der Kölner Blumenspiele trete. 160 neue Mitglieder seien während des Sommers der Gesellschaft beigetreten, sodaß dieselbe jetzt 360 Mitglieder zähle. Wie in diesem Jahre, so sollen auch fernerhin stets hervorragende Dichter und Dichterinnen Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz selbst zu Worte kommen. Durch Krankheit seien Wilhelm Bölsche-Berlin und die Freifrau von Suttner verhindert, die für den 7.Novbr. beziehungsweise 5.Dez. d. J. zugesagten Vorträge zu halten, weshalb für diese Vorträge Wolf Graf von Baudissin, der unter dem Schriftstellernamen Freiherr von Schlicht bekannte Militärhumorist, und die Münchener Schrifststellerin Helene Böhlau (Madame al Raschid Bey) gewonnen worden seien.

Frhr. Karl von Perfall sprach dann über die diesjährigen Vortragenden in der Litterarischen Gesellschaft. Er zeichnete in kurzen, prägnanten Zügen die litterarischen Porträts der betreffenden Schriftsteller und verbreitete sich dabei über die Richtung ihres Schaffens. Zunächst würdigte er die beiden Humoristen: Vincenz Chiavecci-Wien, den Meister des Wiener Feuilletons nach französischem Muster und ausgezeichneten Schilderer des Wiener Kleinbürgertums in seinem eigenartigen Humor, sowie den Grafen Baudissin, einen ehemaligen Offizier, der Offiziersverhältnisse satirisch behandelt und bei den Generalen sehr unbeliebt ist, während die Leutnants für ihn schwärmen.

Redner wendete sich dann zu den sogenannten „Modernen” unter den Vortragenden. Das Wort „modern” im künstlerischen Sinne angewandt, ist dem Vortragenden nie sympathisch gewesen. Modern kann ein Schneider oder eine Putzmacherin arbeiten, ein Künstler könne aber nur aus seiner Zeit heraus schaffen. Das Wort entstand zu jener Zeit, als die Gegensätze sich sehr schroff gegenüberstanden und der aus Frankreich verpflanzte Naturalismus der alten Tradition grimme Fehde geschworen hatte. Damals hatte es einen gewissen Sinn, das „Moderne” dem Gedanken des Veralteten entgegenzusetzen. Seit jener Zeit bewegt sich die Litteratur zwar ohne Zweifel noch immer auf den Grundlage des Naturalismus, dessen Spuren auch nicht mehr verschwinden werden, aber als einziges Evangelium gilt er schon lange nicht mehr; es entwickelten sich verschiedene Strömungen und Richtungen, die nebeneinander bestehen. Leider hat das Moderne sehr vielen Schaden gestiftet. Eine Reihe junger Leute, die eben in die Litteratur hineinwachsen, haben die Sucht, funkelnagelneu zu sein. Sie meinen, jedes Jahr müsse eine neue Mode auftauchen, und so ist es gekommen, daß die Nachdrängenden jetzt schon das, was die Revolutionäre in den achtziger Jahren an den Alten thaten, nun an jenen wiederholen. Es gibt Strömungen in Berlin, die darauf hinauslaufen, daß in den vierziger Jahren ein Mann litterarisch fertig sei, während der ältere Goncourt mit einiger Uebertreibung sagt, daß vor dem vierzigsten Jahre der Mann nicht fähig sei, ein großer Künstler zu sein. Die weitere Konsequenz des Wortes modern ist die, daß man den Grundfehler macht, die Kunstanschauungen zu wechseln, wie der jeweilige Wind weht. Das höchste Ziel eines Künstlers muß sein, sich möglichst bald eine abgerundete Welt- und Kunstanschauung zu verschaffen und dann auf diesem festen, geistigen Boden seine Wirksankeit zu entfalten. Dieses Ziel haben fast alle Großen in der Litteratur verfolgt, und diejenigen, die es nicht gethan haben, sind unglückliche Genies geworden, die nicht geleistet haben, was sie unter gesunden Umständen hätten leisten können. Heute kommt es vor, daß man urteilt, dies oder jenes wäre vor drei Jahren hübsch gewesen, aber jetzt werde doch etwas anderes verlangt. Das ist der Unsinn des Wörtchens modern. Es ist festzuhalten, daß die Kunst etwas Ewiges ist, immer in der Entwickelung begriffen, immer abhängig von der Zeit. Nicht paradox ist es, zu sagen, daß Goethe, lebte er heute, wohl dasselbe Genie wäre, aber daß er, herausgewachsen aus einer ganz anderen Zeit und anderen Lebensbedingungen, kein einziges seiner Werke schaffen würde, sondern ganz andere. Sich abschließen von den Modernen ist verfehlt, weil es ungerecht ist; wir können nicht wissen, was aus den Keimen und dem gärenden Most werden wird. Mag auch mancher Schwächling unter denen sein, die sich modern nennen, es kann auch manche tüchtige Menschen darunter geben.

Einer der ersten der „Modernen” ist Michael Georg Conrad, ein früherer Volksschullehrer, der in Paris weiter studierte und nach längerem Aufenthalte im Ausland anfangs der 30er Jahre nach München kam, dort gegen Paul Heyse und die Münchener Dichterschule scharf zu Felde zog und die Zeitschrift „Die Gesellschaft” gründete. Er schrieb eine Reihe von Romanen. Seine stärkste Seite aber ist die rücksichtslose Kritik der verschiedenen Geistesströmungen. Er hat manches Gute gestiftet, manchem Talent mit kräftiger Faust die Bahn gebrochen und u.a. auch Martin Greif ans Licht gezogen.

Martin Greif, ein früherer Offizier, dann Dramatiker, dessen ganze Bedeutung aber auf dem Gebiete der Lyrik liegt, ist ein Dichter von deutscher Gemütsart und Tiefe, der eine formvollendete Gedankenpoesie pflegt, das Leben eines sehr ernsten, alleinstehenden Mannes lebt und seinen Sinn mit deutlichem religiösen Empfinden nach dem Jenseits richtet.

Gustav Falke, ein Hamburger Musiklehrer, ist eine echte Künstlernatur, die, trotzdem er zur Moderne gehört, die ausgefeilteste Form festhält, sich Liliencron und Hugo von Hoffmannsthal nähernd, auf der einen Seite ein Naturalist, auf der anderen Seite ein Aesthetiker, in jeder Form aber ein vollendeter Dichter.

Otto Ernst, ehemaliger Volksschullehrer in Hamburg, war zuerst ein streitbarer Mitkämpfer der litterarischen Jugend, hat dann als ein Dramatiker, der mit den Lustspielen „Jugend von heute” und „Flachsmann als Erzieher” andere Bahnen einschlug, dank dem glücklichen Humor und den originellen Figuren seiner Stücke große Erfolge erzielt.

Ludwig Fulda der Schüler Paul Heyses, der nach kurzem Aufenthalt bei den Modernen ins alte Gebiet zurückkehrte und die Bühne mit graziösen, reizvollen Verslustspielen und der meisterhaften Uebersetzung Molières bereicherte, der übrigens auch als Lyriker seine Bedeutung hat, wird eine der interessantesten Erscheinungen unter den diesjährigen Vortragenden sein.

Max Halbe-München, der anfangs den Spuren Hauptmanns folgte, sich dann aber von ihnen löste und sich zu einer selbständigen Weltanschauung durchrang, hat in seinen Bühnenwerken die Heimatkunst gepflegt, aber über der Detailschilderung meist den großen dramatischen Effekt oft aus den Augen verloren.

Helene Böhlau, die in ihren Romanen die sittliche Richtung in der Frauenfrage darstellt, hat Wertvolles geschaffen, zeigte aber in späteren Romanen auch manche geschmacklose Uebertreibungen.

Gabriele Reuter steht dem Gedakengange Helene Böhlaus sehr nahe. In dem Roman „Aus guter Familie” schildert sie das tragische Schicksal der alten Jungfer. In späteren Romanen hat sie indessen nicht mehr dieselbe Höhe erreicht.

Georg Frhr. v. Ompteda-Dresden endlich, der frühere sächsische Kavallerieoffizier, ist der getreue Detailschilderer des norddeutschen modernen Adels mit seinen Schwächen, Vorzügen und Leiden, der aus einer großen sozialen Auffassung heraus schafft, eine der liebenswürdigsten Erscheinungen, die sich aus der naturalistischen Richtung entwickelt hat.

Zum Schlusse wies der Redner darauf hin, daß die Auswahl der Vortragenden keine Propaganda für die Moderne bedeuten solle. Es ist der Litterarischen Gesellschaft darum zu thun, in ihrem diesjährigen Programme die hervorragendsten Vertreter der verschiedenen Richtungen zu Wort kommen zu lassen. Das Publikum möge sich dann selbst ein Urteil bilden über die einzelnen Vortragenden und die von ihnen vertretene Richtung.

De Zuhörer spendeten dem Redner für seine interessanten Ausführungen lebhaften Beifall. Nach dem Vortrage fabd im Quatermarktsaale eine gemütliche Zusammenkunft statt, welche zeigt, daß die „Litterarische” auch die Geselligkeit zu pflegen weiß.


Am 11.11.1902 schreibt der „Rheinische Merkur”:

In der Litterarischen Gesellschaft” las der unter dem Schriftstellernamen Freiherr von Schlicht durch seine Militärhumoresken in weiteren Kreisen bekannt gewordene Wolf Graf von Baudissin aus Dresden sechs seiner besten humoristischen Erzählungen aus dem Militärleben vor. Der Vorsitzende war früher Offizier und hat sich die Aufgabe gestellt, in seinen humoristischen Feuilleton-Skizzen das militärische Leben so zu schilden, wie es ist, den Schleier, der für viele über dem wohl schweren, aber auch an heiteren und humorvollen Szenen so reichen Leben des Soldaten ruht, ein wenig zu lüften. Der große Erfolg, den seine bei Albert Langen in München und Freund & Jeckel in Berlin erschienenen „Militärhumoresken” gefunden, zeigte, daß der Autor mit seinen humorvollen Schilderungen das Richtige getroffen hat. Graf Baudissin las aus den veröffentlichten drei Büchern die Humoresken „Adjutantenritt”, „Alarm”, „Besichtigungsessen”, „Brückenwärter”, „Meyers Nase ”, „Commis Pecco” und „Der dümmste Rekrut” vor.

Als Proben seiner Erzählkunst seien hier kurz die beiden Skizzen „Brückenwärter” und „Der dümmste Rekrut” wiedergegeben. Die Skizze „Brückenwärter” ist der Sammlung „Aus der Schule geplaudert” entnommen und lautet etwa wie folgt:

Es war in einem Manöver irgendwo im schönen deutschen Vaterland. Das Detachement der Nordpartei hatte unter der Führung seines Generals einen großen Fluß zu überschreiten. Der General berief die Herren Offiziere zu sich.

„Meine Herren, ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich diese uns sich so leicht nicht wieder bietende Gelegenheit benutzen möchte, um Sie darauf aufmerksam zu machen, wie schwer es ist, die Breite eines Stromes auch nur annähernd richtig zu schätzen. Darf ich Sie nun bitten, meine Herren, sich die Breite des Stromes anzusehen und mir dann zu sagen, zu welchem Resultat Sie gekommen sind? Herr Oberst, darf ich Sie zuerst fragen, für wie breit Sie den Fluß halten?”

Und nun wurde darauflosgeraten: „1000 Meter, 600 Meter, 300 Meter, 1200 Meter, 4000 Meter, 9000 Meter.”

Das „meterte” sich was zurecht.

Der Herr General rang auf seinem Gaul die Hände und schüttelte sich vor Entsetzen, wenn eine Entfernung genannt wurde, als wenn er jede Sekunde einen Becher Rizinusöl einnähme.

„Aber, meine Herren, ich bitte Sie — falsch, ganz falsch — aber, meine Herren, machen Sie doch Ihre Augen auf — kann denn niemand mir eine wenigstens annähernd richtige Schätzung angeben?”

Da trat ein ganz blutjunger Lieutenant vor und legte die Hand an den Helm.

„Sie, junger Freund?” sprach der Herr General verwundert, „da bin ich doch begierig — nun, für wie breit halten Sie den Strom?”

Und ohne Besinnen sagte der Gefragte: „Einhundert­siebenund­achtzig Meter dreiundvierzig Zentimeter.”

Überrascht blickte der Herr General auf, dann versank er in tiefes Nachdenken.

„Hm, hm,” machte er endlich, „Ihre Schätzung hat etwas für sich — je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, daß sie wohl richtig sein könnte. So würde auch ich die Breite des Flusses geschätzt haben. Darf ich Sie nun fragen, wie Sie die Entfernung ermittelten, welche Art des Entfernungs­schätzens Sie anwandten, um die Breite so genau zu bestimmen?”

Und ohne sich zu besinnen, sagte der junge Offizier, die Hand an den Helm legend:

„Ich habe ebenso wie Sie, Herr General, — auch den Brückenwärter nach der Breite des Flusses gefragt.”

Es war in einem Manöver irgendwo im schönen deutschen Vaterland. Das Detachement der Nordpartei hatte unter der Führung seines Generals einen großen Fluß zu überschreiten. Schon von Weitem merkte man dem Herrn General eine gewisse Unruhe an, man konnte ihm das schließlich nicht verdenken, denn der Fluß war breit und tief, und wenn die eiserne Brücke brach, dann konte ihm die Sache schlecht bekommen, sintemalen er für das Leben seiner Untertanen veratwortlich war.

Der Herr General setzte seinen Gaul plötzlich in Galopp und ritt voran, um sich persönlich von der Beschaffenheit der Brücke zu überzeugen, und als das Detachement herankam, sah man den Herrn General im eifrigsten Gespräch mit dem Brückenwärter.

Die Befürchtungen des Herrn General erwiesen sich als grundlos, die Brücke hielt, und wohlbehalten langte das Detachement auf dem jenseitigen Ufer an.

Da ließ der Herr General plötzlich halten und berief die Herren Offiziere zu sich.

„Meine Herren, ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich diese uns sich so leicht nicht wieder bietende Gelegenheit benutzen möchte, um Sie darauf aufmerksam zu machen, wie schwer es ist, die Breite eines Stromes auch nur annähernd richtig zu schätzen. Darf ich Sie nun bitten, meine Herren, sich die Breite des Stromes anzusehen und mir dann zu sagen, zu welchem Resultat Sie gekommen sind? Herr Oberst, darf ich Sie zuerst fragen, für wie breit Sie den Fluß halten?”

Und nun wurde darauflosgeraten: „1000 Meter, 600 Meter, 300 Meter, 1200 Meter, 4000 Meter, 9000 Meter.”

Das „meterte” sich was zurecht.

Der Herr General rang auf seinem Gaul die Hände und schüttelte sich vor Entsetzen, wenn eine Entfernung genannt wurde, als wenn er jede Sekunde einen Becher Rizinusöl einnähme.

„Aber, meine Herren, ich bitte Sie — falsch, ganz falsch — aber, meine Herren, machen Sie doch Ihre Augen auf — kann denn niemand mir eine wenigstens annähernd richtige Schätzung angeben?”

Da trat ein ganz blutjunger Lieutenant vor und legte die Hand an den Helm.

„Sie, junger Freund?” sprach der Herr General verwundert, „da bin ich doch begierig — nun, für wie breit halten Sie den Strom?”

Und ohne Besinnen sagte der Gefragte: „Einhundert­siebenund­achtzig Meter dreiundvierzig Zentimeter.”

Überrascht blickte der Herr General auf, dann versank er in tiefes Nachdenken.

„Hm, hm,” machte er endlich, „Ihre Schätzung hat etwas für sich — je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, daß sie wohl richtig sein könnte. So würde auch ich die Breite des Flusses geschätzt haben. Darf ich Sie nun fragen, wie Sie die Entfernung ermittelten, welche Art des Entfernungs­schätzens Sie anwandten, um die Breite so genau zu bestimmen?”

Und ohne sich zu besinnen, sagte der junge Offizier, die Hand an den Helm legend:

„Ich habe ebenso wie Sie, Herr General, — auch den Brückenwärter nach der Breite des Flusses gefragt, Herr General.”

In der Humoreske „Der dümmste Rekrut”, die der Sammlung „Parademarsch entnommen ist, erzählt Graf Baudissin folgende ergötzliche Geschichte, die in Hamburg passiert ist:

Der gefürchtete Tag war gekommen, wir Offiziere standen auf dem Kasernenhof in einer Gruppe, uns gegenseitig tröstend und Mut zusprechend. Da näherten sich uns die Feldwebel: „Herr Leutnant, die Rekruten sind auf die Kompagnien verteilt.” Noch einen kummervollen verständnisinnigen Blick warfen wir einander zu, dann ging jeder auf den Appelplatz der Kompagnie, wo die heute eingestellten Rekruten sich aufgebaut hatten. In gehöriger Entfernung, um den richtigen Überblick zu bekommen, blieb ich vor der Front stehen und musterte meine Heerscharen. Wenn man sechsmal Rekruten ausgebildet hat und nun die böse Sieben voll machen soll, hat man einen Blick für die Leute, man sieht sofort bis in ihr innerstes Herz, und wenn man bei dem linken Flügelmann angekommen ist, weiß man ganz genau, wes Geistes Kind die Mannschaften sind — oder man bildet es sich wenigstens ein.

Neben mir stand der Feldwebel, die unvermeidliche dicke Brieftasche geöffnet in der Linken, den Bleistift in der Rechten, bereit, jedes Vergehen seiner neuen Kinder sofort zu notieren und es ihnen gelegentlich einmal beizubringen, wie ein königlich preußischer Rekrut sich am Tage seiner Einstellung zu benehmen hat.

Es waren etwa sechzig Leute jeglichen Alters, jeglichen Standes und jeglicher Gesinnung, über die mein Auge bewundernd streifte.

„Wirklich nicht übel, Feldwebel,” bemerkte ich, als ich mit Wohlgefallen die meist geraden Beine betrachtete, „da wird sich schon etwas machen lassen! Sehen Sie sich mal den dritten Mann vom linken Flügel im ersten Gliede an, — der wird gut werden!”

Ich wies mit der Hand auf den von mir Bezeichneten. Er war ein mittelgroßer, tadellos gebauter Mensch, gerade Beine, gerade Hüften, schöne Brust und ein jugendliches Gesicht mit roten Wangen und großen blauen, treuen Augen.

„Das macht doch noch Freude, solche Rekruten zu bekommen,” fuhr ich in meiner Rede fort, „dem sieht man auch den zukünftigen Gefreiten auf der Stelle an.”

Aber der Feldwebel schüttelte sein ehrwürdiges, im Dienst ergrautes Haupt.

„Der? Wenn der Herr Leutnant sich nur nicht irren, in seinen Augen drückt sich etwas Furchtbares aus: Dummheit.”

„Aber, Feldwebel!”

Ich ging auf den Mann los, ich wollte beweisen, daß mein Seherblick mich nicht getäuscht hatte.

„Wie heißen Sie?”

„Schneekloth, Herr Leutnant.”

„Wo sind Sie her?”

„Aus Mecklenburg, Herr Leutnant.”

Das klang meinem Ohr nun schon weniger verlockend.

„Wo sind Sie geboren?”

„Das weiß ich nicht, Herr Leutnant.”

Erstaunt sah ich in die Höh, das war mir denn doch in meiner ganzen militärischen Laufbahn noch nicht vorgekommen, daß einer nicht wußte, wo er geboren war. Aber ich fand sofort einen Entschuldigungsgrund, man hört und liest ja soviel von ausgesetzten und geraubten Kindern, vielleicht traf etwas derartiges auch bei ihm zu.

„Schneekloth, wo sind Sie denn großgezogen?”

„In meiner Vaterstadt.”

„Wie heißt die denn?”

„Ja, Herr Leutnant, das kann ich im Augenblick wahrhaftig nicht sagen, das ist so'n ganz komischer Name,” lautete die mit mecklenburgischer Breite und Gemütlichkeit erteilte Antwort.

Ich sah meinen Feldwebel heimlich von der Seite an, ein triumphierendes Lächeln lag auf seinen Zügen, so hatte er sich doch nicht geirrt. Sofort abe rlegte sich sein Gesicht wieder in ernste Falten, und er fuhr den Armen an:

„Das ist aber doch geradezu unerhört! Kommt solch ein Kerl, der nicht mal seine Vaterstadt kennt, hierher und will Soldat werden. Was denken Sie sich eigentlich dabei? Wenn Sie nicht bis heute mittag den Namen Ihres Geburtsortes wissen, schreiben Sie ihn bis heute abend hundertmal auf, verstanden?”

Die Generalmusterung war beendet. Die Mannschaften wurden auf die Kammer geführt, um eingekleidet zu werden, und ich ging in das Kasino, um bei einer Flasche Sekt mir Mut zu trinken für die schweren, bevorstehenden Tage. Als ich den Saal betrat, waren wir zwölf Rekruten­offiziere vollzählig und die Wogen der Unterhaltung gingen hoch. Jeder renommierte mit dem Wunderkind, das er entdeckt hatte. Der eine hatte unter seinen Rekruten einen „berühmten Akrobaten vom Cirkus Renz”, ein anderer „eine ganz neue Spezialität auf dem Gebiete der Kopfequilibristik”, ein dritter hatte einen „Meermann”, das allerneueste statt der abgethanen „Meerweiber”, der eine hatte diese Berühmtheit, der andere jene.

„Und was haben Sie denn Großartiges?” fragten mich endlich die Kameraden, da ich auf alles, was sie als Wunder darstellten, nur mit Ben Akibas bekanntem Ausspruch geantwortet hatte, „wodurch zeichnet sich denn Ihr Jüngling aus?”

„Er ist so dumm, daß er nicht einmal weiß, wo er geboren ist.”

Sofort erhob sich ein Sturm der Entrüstung: „Sie lügen.”   „Das ist nicht wahr.”   „Das ist ja gar nicht denkbar.”   „Solche Menschen giebt es ja gar nicht.”   So ging es im bunten Gerede durcheinander.

„Ich erhob meine Hände zum Himmel: „Ich schwöre.”

Aber selbst da glaubte man mir nicht.

Ungefähr vierzehn Tage waren vergangen. Ich war abkommandiert gewesen und hatte mich um meine Rekruten nicht kümmern können, da sah ich an dem Morgen, an dem ich zum erstenmal wieder bei meiner Kompagnie Dienst that, Schneekloth lachend und grinsend im Gliede stehen. Lachen im Dienst wird bekanntlich wenigstens mit dem Tode bestraft und sofort fuhr ich den Sünder an:

„Schneekloth, worüber lachen Sie?”

„Mir ist heute nacht etwas eingefallen.”

„Was denn?”

„Wo ich geboren bin.”

Mein Zorn war verraucht und ich fragte: „Nun und wo sind Sie denn geboren?”

Da sah er mich an mit seinen großen, treuen blauen Augen und sagte freudestrahlend: „Ja, Herr Leutnant, nu hab ich es all wieder vergessen.”

Reicher Beifall lohnte den Vortragenden für seie humorvollen Geschichtchen. Trotz des Gastspiels der Sarah Bernhardt war der Isabellensaal so gefüllt, daß manche Zuhörer mit einem Stehplatz fürlieb nehmen mußten.


Am 12.11.1902 bringt die „Kölnische Zeitung” folgende Notiz:

Literarische Gesellschaft zu Köln. Als Vorleser eigener Dichtungen war am Freitag in der Literarischen Gesellschaft Wolf Graf Baudissin zu Gast, der unter dem Pseudonym Freiherr v. Schlicht bekannte lustige Schilderer des Garnison- und Manöverlebens. Der Humor dieses Schriftstellers liegt in seiner ironischen Charakterisierung des höhern Militärs, das er mit der Kenntnis des Standesgenossen und einem freien Blick für allerlei kleine Schwächen und komische Seiten zeichnet. Er ist von einer Art, die den Herren Generalen nicht immer angenehm ist, aber den Leutnants — es befanden sich ihrer übrigens viele unter den Zuhörern — um so besser gefällt. Dabei weiß Schlicht die Pointe seiner Erzählungen meist recht geschickt vorzubringen, und es eignet ihm eine natürliche, leichte Eleganz im Ton, die ihn zu einem feinern Schriftsteller seiner Spezialität macht. So hörte man mit Vergnügen das halbe Dutzend sauber ausgeputzter Anekdoten, das der Verfasser in angenehmem Plauderton vorlas, die Geschichte von dem Adjutantenritt nach der Zigarrentasche des Generals, von den mißglückten Alarmierungsversuchen des Majors, von der schiefen Nase des Rekruten Meyer und anderes. Man ließ sich willig und fröhlich zu Beifall hinreißen, und Publikum und Vorleser konnten in gleicher Weise zufrieden sein.


Am 12.11.1902 bringt der „Kölner Lokal-Anzeiger” folgende Notiz:

Kleine Nachrichten. Am Freitag Abend las der unter dem Schriftstellernamen Frhr. v. Schlicht in den letzten Jahren durch seine Militärhumoresken bekannt gewordene Graf v. Baudissin der litterarischen Gesellschaft zu Köln verschiedene seiner Skizzen vor. Graf Baudissin, der im 35. Jahre steht, macht gar nicht den Eindruck, daß er so satirisch gewürzte Erinnerungen aus seiner Leutnantszeit schreiben könnte. Der Isabellensaal des Gürzenich erwies sich fast als zu klein, um alle zu fassen, die den Schriftsteller hören wollten. Er las unter großem Beifall mehrere seiner besten Sachen, u.a. Alarm, das Besichtigungsessen, der Komißpecco, Meyers Nase. Die Gabe des Vortrages ist ihm leider nicht in dem Maße eigen, daß die Sachen nicht noch wirkungsvoller hätten zu Gehör gebracht werden können.


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© Karlheinz Everts