Ein Adjutantenritt

Von Freiherr von Schlicht
in: „Jugend”, Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, Nr. 37 vom 10.9.1898,
in: „Bonner Zeitung” vom 11.9.1898, Zweites Blatt,
in: „Arbeiterwille” vom 15.9.1898,
in: „General-Anzeiger für Hamburg-Altona” vom 31.8.1902,
in: „Ein Adjutantenritt” und
in: „Meiers Hose”


Es ist im Manöver.

Heiß tobt die Schlacht.

In aller Herrgottsfrühe schon hat sich das Detachement an dem beschlossnen Versammlungsort eingefunden, und mit dem Brustton tiefinnerster Überzeugung, daß kein andrer Mensch auf der Welt es auch nur annähernd so gut machen könnte, hatte Se. Exzellenz dann den von ihm und seinem Adjutanten – man kann auch sagen – den von seinem Adjutanten und ihm verfaßten Befehl für den Vormarsch vorgelesen. Der böse Feind hatte am frühen Morgen seine Stellung, die er über Nacht eingenommen, verlassen und war auf und davon gezogen, wohin? Das wußte kein Mensch, Se. Exzellenz am allerwenigsten, denn die Kavallerie hatte „wie gewöhnlich überhaupt keine Meldungen geschickt”, obgleich wenigstens zwanzig Meldungen eingelaufen waren. Man glaubt nicht alles, was die Vorgesetzten sagen, im Manöver ganz besonders nicht, weil da die Angst und die Furcht, in den „Wurstkessel” zu geraten, die hohen Herren oft in den unglaublichsten Hyperbeln sprechen läßt. Auch das Herz Sr. Exzellenz hatte gezittert, die Unruhe und die Ungewißheit, ob der Weg, den er zum Vormarsch wählte, auch der richtige sei, hatten ihn gequält und gepeinigt. Aber nur nichts merken lassen – das gibt es nicht! Auch Exzellenzen sind Menschen und können irren, es soll sogar tatsächlich vorkommen, daß sie sich irren, aber das dürfen die Untergebenen nicht wissen, das geht die Untertanen absolut nichts an.

Glück muß der Mensch haben, und so hatte Exzellenz die Freude, auf dem von ihm eingeschlagenen Weg den Feind anzutreffen. Stolz schwellte seine Heldenbrust, und dieser Stolz schwand auch nicht dahin, als er erfuhr, daß er dieses Zusammentreffen nur dem Umstande verdankte, daß der Führer der feindlichen Spitze sich verlaufen und einen falschen Weg eingeschlagen hatte. „Das sah ich voraus und gerade deshalb wählte ich diesen Weg”, hätte er zur Antwort gegeben, wenn man ihn gefragt hätte, und selbstverständlich hätte man ihm geglaubt!

Seit einer Stunde tobt nun der Kampf. Der böse Feind hat eine starke Verteidigungsstellung eingenommen, und Se. Exzellenz hat seine Truppen zum Angriff angesetzt. Ein Teil seiner Infanterie überschüttet den Gegner mit Feuer, ein andrer Teil geht, gedeckt durch das Gelände, zu einer Umfassung des feindlichen linken Flügels vor, die Kanonen donnern, die Kavallerie attackiert alles, was ihr in den Weg kommt und wenn sie Pech hat, sogar Truppen der eignen Abteilung. Das kommt nicht so genau darauf an, die Hauptsache ist, daß die Kavallerie „Schneid” hat.

Im Schweiße ihres Angesichts bauen die Pioniere eine Brücke, sie wissen ganz genau, daß kein Mensch sie benutzen wird, aber sie bauen sie dennoch, weil es befohlen ist, sie bauen weiter, bis sie fertig sind, und dann brechen sie die Brücke wieder ab. Delectat variatio, das steht schon im Horatio.

Auf einem Feldherrnhügel, auf dem für gewöhnlich, wenn kein Manöver ist, Schafe weiden, hält Se. Exzellenz und blickt mit Befriedigung auf das kriegerische Schauspiel zu seinen Füßen. Er ist wohl mit sich zufrieden. Er hat das Gefecht in Gang gebracht, die Fortsetzung ist Sache der Unterführer, und Gnade Gott ihnen, wenn sie ihre Sache nicht gut machen.

In tiefes Nachdenken versunken, blickt Se. Exzellenz vor sich hin und plötzlich scheint ihm ein äußerst wichtiger Gedanke gekommen zu sein. Er macht ein Gesicht wie jemand, der einen wohlüberlegten Entschluß zur Ausführung bringen will. Noch einmal mustert er mit seinem Glas die fechtenden Truppen, dann greift er in die Hintere, linke Rocktasche, dann in die rechte, er knöpft sich den Waffenrock auf und greift in die Brusttasche – alles ist vergebens, er findet nicht, was er sucht. „Unbegreiflich, unbegreiflich,” murmeln seine Lippen. Neugierig drängen die im Hintergründe haltenden Adjutanten nach vorn. Exzellenz begreift etwas nicht? Das ist ja fast unmöglich, was kann das nur sein, das Exzellenz mit seinem scharfen Verstande nicht zu durchdringen vermag?

Exzellenz sieht sich um, und schon hält einer seiner Adjutanten neben ihm: „Euer Exzellenz befehlen?”

Se. Exzellenz sagt, was sein Herz bedrückt. Aufmerksam hört der Adjutant zu, dann sagt er: „Zu Befehl, Euer Exzellenz” und jagt, seinem Vollblüter die Sporen in die Seiten drückend, davon. In wahnsinniger Pace stürmt der Gaul dahin, gerade aus, immer gerade aus.

In einer Entfernung von etwa fünfzehnhundert Metern vor ihm liegt ein Regiment, in Schützenlinien aufgelöst. In gehöriger Entfernung hinter den Schützen hält der Herr Oberst neben seinem Adjutanten – das scharfe Auge eines Vorgesetzten sieht alles, so hat er auch bald den im Galopp daherstürmenden Reiter gesehen und spricht gelassen das große Wort: „Da kommt ein Adjutant Sr. Exzellenz.” Der Regimentsadjutant ist viel zu gut erzogen, um seinem Herrn zu widersprechen, besonders wenn, wie hier, absolut kein Grund zum Widerspruch vorliegt, so sagt er denn einfach: „Zu Befehl, Herr Oberst.”

„Reiten Sie hin und fragen Sie, welchen Befehl er für uns hat. Ich vermute, daß wir endlich vorgehen sollen, Sie werden sehen, ich irre mich nicht. Reiten Sie.”

Der Regimentsadjutant jagt davon, dem Adjutanten Sr. Exzellenz entgegen und aufmerksam beobachten die Herren Bataillonskommandeure dies Schauspiel. Sie rufen ihre Adjutanten herbei: „Wenn ich mich nicht sehr irre, kommt da ein Adjutant Sr. Exzellenz, reiten Sie hin und fragen Sie, was los ist. Wahrscheinlich wird es der Befehl sein, vorläufig noch nicht weiter vorzugehen, passen Sie auf, ich täusche mich nicht. Bitte, reiten Sie.”

„Zu Befehl, Herr Major.”

Die drei Bataillonsadjutanten sagen ihr: „Zu Befehl” gleichzeitig, dann geben sie ihren Gäulen die Sporen und jagen davon, dem Adjutanten Sr. Exzellenz entgegen. Am Waldessaum liegt eine Kompagnie, schlafend, untätig. Sie ist als Spezialreserve ausgeschieden und soll erst auf direkten Befehl Sr. Exzellenz in den Kampf eingreifen, wenn nicht ganz besondre Umstände ein selbständiges Handeln des Hauptmanns nötig machen sollten. Das ist ein delikater Auftrag, der Häuptling ist in Unruhe, wie die Sache für ihn enden wird, ihn tröstet nur der Gedanke, daß er es ganz sicher falsch machen wird, die Beruhigung hat er.

Da sieht er im Vorgelände die Adjutanten herumsausen. Er ruft seinen ältesten Leutnant herbei: „Es kommt ein Befehl Sr. Exzellenz, sicher gilt er uns. Passen Sie auf, ich irre mich nicht. Ich reite nach vorn, um mich zu orientieren. Lassen Sie die Leute an die Gewehre gehen; sobald ich mit dem Taschentuch winke, treten Sie an” – und im Galopp stürmt er davon, dem Adjutanten Sr. Exzellenz entgegen.

Die Pioniere haben ihre Brücke fertig, es tut ihnen leid, sie wieder abbrechen zu müssen, sie ist so schön geworden. Da sehen sie den Adjutanten Sr. Exzellenz. Freudige Hoffnung bewegt ihr Herz, sollte Exzellenz vielleicht befehlen, daß die Brücke noch stehen bleibt, sollte sie vielleicht benutzt werden, sollte denn gar Exzellenz sich mit dem Gedanken tragen, die Brücke passieren zu wollen? Das wäre ein neues Ruhmesblatt in der glorreichen Geschichte des Bataillons, das wäre fast zu viel Ehre, zu viel Auszeichnung!

„Meine Herren Hauptleute,” ruft der Herr Major, „es kommt ein Adjutant Sr. Exzellenz; ich bin überzeugt, Exzellenz will über unsre Brücke reiten, passen Sie auf, ich irre mich nicht. Lassen Sie die Leute ihren Anzug in Ordnung bringen, damit das Auge Sr. Exzellenz mit Wohlgefallen auf ihnen ruht. Sie aber, Herr Leutnant, reiten Sie und fragen Sie nach den Befehlen Sr. Exzellenz, aber Karriere, wenn ich bitten darf, sonst sind Sie die längste Zeit mein Adjutant gewesen.”

Die Stute bekommt die Sporen, daß sie, sintemalen sie sehr kitzlich ist, laut aufquiekt und hinten ausschlägt.

„Galopp,” donnert der Herr Major, und wie die wilde Jagd stürmt der Adjutant davon. Sein Weg führt ihn bei der Artillerie vorbei, und neugierig fragt der Herr Oberst: „Wohin so eilig?”

„Zum Adjutanten Sr. Exzellenz,” lautet die Antwort, und mit lakonischer Kürze sagt der Herr Oberst zu seinem Adjutanten: „Ihm nach.” Der Adjutant saust davon, der Herr Oberst aber sagt zu seiner Umgebung: „Sicher erhalten wir den Befehl, endlich diese Stellung zu räumen. Passen Sie auf, ich irre mich nicht, lassen Sie nur gleich aufprotzen, damit wir, sobald der Adjutant zurück ist, im Galopp abfahren können.”

Nun haben die Adjutanten den Abgesandten Sr. Exzellenz erreicht, in wilder Pace jagen sie neben ihm, der sein Pferd nach rechts gewendet hat, einher. Sie sprechen lebhaft miteinander, fast gleichzeitig zeigen alle mit der ausgestreckten Rechten nach einem einsamen Gehöft, und aufmerksam beobachten die von ihren Adjutanten verlassenen Kommandeure die Vorgänge durch das Glas.

„Aha, da also liegt die Entscheidung,” sagt sich ein jeder, „das nimmt mich nicht wunder. Mir ist das Gehöft schon von Anfang an verdächtig vorgekommen, so habe ich mich also doch nicht getäuscht, das war ja auch ganz klar, daß sich dort etwas Wichtiges ereignen mußte,” und mit sich und ihrem Scharfblick sehr zufrieden, rufen die Kommandeure ihre Unterführer herbei, um sie auf das Gehöft aufmerksam zu machen. Dort fällt die Entscheidung.

Nun kehren die Adjutanten zurück. Die Erde erdröhnt unter dem Hufschlag der galoppierenden Pferde, über Gräben und Hecken geht der wilde Ritt, und die scharfen Sporen treiben zu immer schärferer Gangart an. Der wahnsinnige Galopp, den die Herren reiten, scheint ungemein wichtiges anzukündigen. Die Kommandeure können ihre Ungeduld nicht mehr bezähmen, sie rufen ihren Unterführern zu: „Bitte mir zu folgen, meine Herren,” und im caracho jagen sie ihren Adjutanten entgegen.

Mit scharfem Anzug pariert der Adjutant Sr. Exzellenz sein schäumendes Pferd neben seinem „Brotherrn”, er legt die Hand an den Helm: „Befehl ausgeführt.”

Erwartungsvoll sieht die Exzellenz ihn an: „Nun?” Von dem scharfen Ritt erschöpft, ringt der Adjutant einen Augenblick nach Atem. „Der Bursche Euer Exzellenz, der, wie mir die Adjutanten mitteilten, sich bei dem einsamen Gehöft aufhielt, sagte mir, die Zigarrentasche Euer Exzellenz befinde sich in der rechten Satteltasche.”

„Richtig, richtig, das hatte ich ja ganz vergessen” – und ein glückliches Lächeln umspielt den Mund Sr. Exzellenz, während er sich dem Genuß der langersehnten Zigarre hingibt.


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© Karlheinz Everts