Alarm.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Simplicissimus”, V.Jahrgg. Nr. 12, S. 94, 12.6.1900,
in: „Leitmeritzer Zeitung” vom 16.6.1900,
in: „Preßburger Zeitung” vom 17.6.1900,
in: „Mährisches Tagblatt” vom 23.Juni 1900,
in: „Nebraska Staats-Anzeiger” vom 4.10.1900
(unter dem Titel: „Verfehlter Alarm”)
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 30.12.1900 und
in: „Teplitz-Schönauer Anzeiger” vom 1.Okt. 1904 und
in: „Alarm”


Der Herr Major von Enberg, der als Beherrscher aller ihm unterstellten Reußen — es waren ungefähr fünfhundert — als selbständiger Bataillonskommandeur in der kleinen Garnison ein Leben führte, um das selbst die seligen Götter ihn beneiden konnten, befand sich heute in der denkbar schlechtesten Laune.

Wenn ein Vorgesetzter sich ärgert, so sucht er dadurch wieder gesund zu werden, daß er seinen Untergebenen grob wird — an dieses Wort hatte der Major nicht nur gedacht, sondern er hatte auch demgemäß gehandelt. Er war seinen Unterthanen nicht nur grob, sondern sogar s—ehr grob geworden, aber es nützte alles nichts, die schlechte Laune blieb bestehen, und nicht ohne Grund.

Der Herr Major hatte einen Brief von dem Herrn Oberst erhalten.

Wenn solche hohe Herren an ihre Untergebenen schreiben, so pflegen die Schreiben meistens noch etwas anderes zu enthalten, als nur die üblichen Redensarten: „Hoffentlich geht es Ihnen gut. Hier ist alles beim alten und ich bedaure, Ihnen keine interessanten Stadtneuigkeiten mitteilen zu können.”

So etwas schreibt ein Oberst nicht, ach nein, der schreibt ganz andere Sachen.(1)

Der Major hatte den Brief seines Kommandeurs schon so oft gelesen, daß er ihn nicht nur von vorne, sondern auch rückwärts auswendig wußte, trotzdem nahm er ihn, als er nun zu Hause sich der Länge und Breite nach auf seiner Chaiselongue ausgestreckt hatte, noch einmal zu Hand und las: „Aus den mir übersandten Dienstzetteln habe ich zu meinem größten Leidwesen ersehen müssen, daß der Dienst bei dem Euer Hochwohlgeboren unterstellten Bataillon in der letzten Zeit nicht in der Art und Weise abgehalten worden ist, wie ich das im Interesse einer kriegsgemäßen Ausbildung der Truppe für unbedingt nötig halten muß. Nicht nur mit Erstaunen, sondern sogar mit Mißfallen, habe ich ersehen, daß in den letzten drei Wochen nicht eine einzige Übung im gechlossenen Bataillon stattgefunden hat, und trotz meines ausdrücklichen Wunsches, um keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen, ist das Bataillon nicht ein einziges Mal alarmiert worden. Euer Hochwohlgeboren mache ich erneut darauf aufmerksam, daß unsere Vorgesetzten auf die Alarmbereitschaft der Truppe mit Recht einen großen Wert legen. Euer Hochwohlgeboren ersuche ich demgemäß, an einem der allernächsten Tage Ihr Bataillon zu alarmieren und im Anschluß daran eine Übung abzuhalten. Einem Bericht Euer Hochwohlgeboren, eine wie lange Zeit das Antreten des Bataillons nach dem Alarmsignal in Anspruch nahm, sehe ich entgegen.”

Umutig warf er den Brief in die Ecke: „Wenn der Teufel den Oberst doch nur ein einziges Mal holen wollte, aber leider gehen ja selbst die bescheidensten Wünsche der Untergebenen nicht in Erfüllung.”

Er zündete sich seine Cigarre, die ihm ausgegangen war, von neuem an und dachte über sein Geschick nach: der Oberst hatte recht mit dem, was er schrieb, ach zu viel(2) Dienst hatte er in der letzten Zeit nicht angesetzt, seine Kerls und seine Herren Kerls, die Offiziere, liebten die Bequemlichkeit, das wußte er, und er selbst liebte auch die Ruhe.

Arbeit und Thätigkeit vor der Mahlzeit störte den Appetit und nach der Mahlzeit die Verdauung. Gut essen und viel trinken aber hält Leib und Seele zusammen. Das war sein Glaubens­bekenntnis, nach dem er handelte.

Aber jetzt half es alles nichts, er mußte in sich gehen, sich bessern und vor allen Dingen sein Bataillon alarmieren. Der Herr Oberst wünschte, daß dies an einem der allernächsten Tage geschehe — wer Soldat ist, weiß, daß dies so viel wie heute bedeutet.

Der Major stöhnte — heute hatte er noch weniger Lust, als er nach menschlicher Voraussetzung morgen haben würde, heute paßte es ihm aus Gründen, über die er sich selbst nicht klar war, absolut nicht, aber es nütze alles nichts, es ging nicht anders.

Er nahm die General­stabs­karte, die stets auf dem Rauchtisch neben der Chaiselongue liegen mußte, zur Hand und dachte sich eine Übung aus.

Der Bursche machte ein sehr erstauntes Gesicht, als er am Nachmittag um fünf Uhr Befehl erhielt, beide Pferde zu satteln. Daß sein Herr um diese Zeit spazieren reiten wollte, war noch nicht dagewesen, so lange er denken konnte, und er zerbrach sich den Kopf darüber, was wohl seinem Gebieter passiert sein möchte.

Aber sein Erstaunen wuchs, als der Herr Major nicht in Überrock und Mütze, sondern in Waffenrock und Helm auf der Bildfläche erschien und sich in den Sattel schwang.

„Um Gottes willen, es wird doch nicht Krieg erklärt sein,” dachte der Bursche, dann setzte er sich schnell ebenfalls seinen Helm auf und ritt drei Schritt hinter seinem Herrn her.

Wenig später hielt der Major vor der Kaserne, und kaum hatte der Posten vor Gewehr, der wie ein Löwe in seinem Käfig vor seinem Schilderhaus auf und ablief, den Vorgesetzten gesehen, als er mit der ganzen Kraft seiner jugendlichen Lungen „Herrrrraus” brüllte.

Sein Schrei weckte die Leute, die drinnen in der Wachtstube auf der Pritsche lagen und „dösten”(3), und gleich darauf trat die Wache ins Gewehr.

„Stillgestanden — Richt Euch — Augen geradeaus — Das Gewehr über — Achtung präsentiert das Gewehr” kommandierte der Unteroffizier, und erwartungsvoll sahen alle den Vorgesetzten an.

„Wo ist der Spielmann?” fragte der Major.

„Er holt den Kaffee aus der Küche, Herr Major,” lautete die Antwort.

„Der Teufel soll Sie holen,” fuhr der Major den Unteroffizier an, „wie kommen Sie dazu, den Spielmann fortzuschicken? Haben Sie denn keine anderen Leute? Lassen Sie die Wache forttreten und lassen Sie sofort den Spielmann kommen. Das Weitere findet sich.”

Wenige Minuten später stand der Hornist dem Vorgesetzten gegenüber.

„Hornist, blasen Sie Alarm,” befahl der Major.

Der Untergebene sah seinen Vorgesetzten an, als habe er ihn nicht richtig verstanden.

„Haben Sie krumm gebogene Mondsichel nicht gehört, was ich gesagt habe?” donnerte der Herr Major, „Sie sollen Alarm blasen. Begriffen?”

„Zu Befehl, Herr Major.”

„Blasen Sie gefälligst Alarm.”

Aber der Mann blies nicht.

„Drei Tage Arrest, wenn Sie nicht sofort blasen.”

Aber der Mann blies immer noch nicht.

„Der Mann ist verrückt,” tobte der Major, „total verrückt oder obstinat und widerspenstig. Warum blasen Sie nicht? Ich will Antwort haben oder ich lasse Sie vor ein Kriegsgericht stellen, warum blasen Sie nicht?”

„Ich kann nicht, Herr Major.”

Der Major hielt sich, um nicht vom Pferd zu fallen, mit beiden Händen an dem Sattelknopf fest. Mit starren Augen sah er den Untergebenen an: „Was können Sie nicht? Sie können nicht blasen?”

„Zu Befehl, Herr Major, ich kann blasen, aber nicht alles. Ich bin Reservespielmann, da kann ich man(4) bloß die Kompagniesignale, Zapfenstreich und Reveille, das Alarmsignal habe ich noch nicht gelernt.”

Der Major war sprachlos, einfach sprachlos, so etwas war ihm denn doch noch nicht vorgekommen.

Er winkte schließlich den Unteroffizier zu sich heran: „Schicken Sie einen Mann in die Kaserne, es soll sofort ein gelernter Spielmann zu mir kommen.”

„Zu Befehl, Herr Major,” gab der Unteroffizier zur Antwort, er selbst lief davon, aber schon nach wenigen Minuten kam er mit der Meldung zurück, daß die Spielleute noch auf dem Übungsplatz wären.

„So soll sofort einer geholt werden,” befahl er, aber gleich darauf änderte er seinen Entschluß. Der Übungsplatz war weit entfernt, ehe ein Spielmann zur Stelle war, konnten immerhin gut zwanzig Minuten, wenn nicht noch mehr vergehen, in der Zwischenzeit aber würden die Feldwebel ihre Leute bereits antreten lassen, und der Zweck des Alarms wäre vollständig verfehlt. Daß er vor der Kaserne hielt, um zu alarmieren, hatte sich mit Blitzesschnelle verbreitet — er sah, wie in den Stuben die Mannschaften hin- und herliefen, um ihre Sachen zusammen zu suchen.

Ein Alarm aber soll und muß völlig überraschend kommen, und das war ihm „vorbei gelungen”.

Langsam wandte er sein Pferd und ritt von dannen, nicht in der rosigsten Laune. Was sollte er nun dem Regiment melden? Sollte er dem Herrn Oberst mitteilen, daß sein Versuch, zu alarmieren, gescheitert sei? Es war für ihn nicht leicht, eine passende Ausrede zu finden, er wollte morgen mit seinem Adjutanten sprechen, der würde schon einen stichhaltigen Grund, mit dem er den Hernn Oberst beruhigen konnte,finden. Für die nächste Zeit konnte er an einen neuen Alarm nicht denken, daß die Leute, in Sonderheit die Feldwebel, auf dem „Qui vive” sein würden, war sicher, eine Überraschung war ganz ausgeschlossen, und doch gerade darauf kam es an.

Der Herr Major raste, er hatte sich unnötigerweise seine Nachmittagsruhe rauben lassen. Ohne daß die Sache einen tieferen, praktischen Nutzen gehabt hätte, hatte er sich den unbequemen Dienstanzug angezogen, seine Pferde waren umsonst gesattelt worden, na, der Herr Hauptmann, dessen Kompagnie auf Wache war, und der Herr Bataillonstambour konnten sich auf morgen freuen.

Aber unbegreiflicherweise freuten sie sich gar nicht, sie hatten Mitteilung bekommen von dem, was vorgefallen war, und sahen dem lendemain voller Schrecken entgegen: nicht nur die Kniee, sondern auch ihre Haare und Zähne zitterten vor Angst.

Die wenigsten Menschen haben das Glück, daß ihre Erwartungen in Erfüllung gehen, die Erwartungen der Soldateska aber werden sogar übertroffen.

Auf eine gewisse Dosis Grobheit hatten sich die Schuldigen für den nächsten Tag präpariert, auf einen so starken Tabak, wie er ihnen verabfolgt wurde, aber nicht.

„Herr Hauptmann,” tobte der Major, „wie können Sie es wagen, einen Spielmann auf Wache zu schicken, der nicht Alarm blasen kann? Es kann Feuer ausbrechen, sei es in der Kaserne oder in der Stadt, Seine Majestät der Kaiser kann plötzlich eintreffen, wir können Hochwasser bekommen, eine Revolte kann ausbrechen, was weiß ich alles, und dann hat der Wachthabende einen Spielmann bei sich, der nicht einmal Alarm blasen kann? Bitte, Herr Hauptmann, wollen Sie die große Güte und die unendliche Liebens­würdigkeit haben, mir unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit anzuvertrauen, was Sie sich davei gedacht haben? Wollen Sie bitte so freundlich sein, mir das mitzuteilen? Ich bin wirklich nicht neugierig, aber das möchte ich denn doch gerne wissen!”

„Mein Gott, wie soll ich dir denn antworten, wenn du mir dazu keine Zeit läßt, sondern beständig weiter redest,” dachte der Hauptmann, „halte nur einmal für eine einzige Minute den Atem an, dann will ich mich schon verteidigen.”

Aber der Vorgesetzte dachte gar nicht daran, seinem Untergebenen den Gefallen zu thun und den Mund zu halten. Er redete ruhig weiter, bis er nichts mehr zu sagen wußte, und dann fing er wieder von vorne an.

Wenn er dennoch endlich „Schluß machte”, so lag das lediglich daran, daß in einer stillen Ecke des Kasernenhofes auch noch der Bataillonstambour stand, der nur darauf wartete, ebenfalls noch abgekanzelt zu werden.

Und auch er bekam seinen Teil zu hören, es waren keine lieblichen Laute, die an sein Ohr schlugen. Im Vergleich mit den Tönen, die der Major von sich gab, war das falsche Tuten, Blasen und Trommeln seiner Spielleute, die Menschen rasend machen konnten, die schönste Himmelsmusik.

„Zum zweitenmal soll mir das nicht wieder passieren,” schloß der Herr Major, „daß ich einen Hornisten finde, der das Alarmsignal nicht kann, und deshalb befehle ich hiermit, daß Sie von heute ab jeden Nachmittag von fünf bis sechs Uhr eine geschlagene Stunde mit Ihren Leuten das Alarmblasen üben.”

Und das Alarmblasen begann. Jeden Nachmittag, den der Himmel in seiner Gnade werden ließ, standen die Spielleute auf dem Kasernenhof und übten und bliesen und trommelten immer nur das eine Signal: Alarm.

Es war zum wahnsinnig werden, sowohl für die, die da bliesen, wie für die, die da das Getute und Getromel anhören mußten, aber das war dem Herrn Major ganz egal, er wollte, daß allen Leuten seines Bataillons das Alarmsignal in Fleisch und Blut übergehen sollte.

Nach vierzehn Tagen, während deren sein Adjutant immer neue Ausflüchte für einen hohen Herrn Oberst hatte erfinden müssen, glaubte der Herr Major, daß nun des grausamen Spiels genug sei, und Kraft seines Amtes und der ihm innewohnenden Weisheit, erließ er den Befehl: „Von heute mittag ab findet kein Alarmblasen mehr statt.”

Darüber freuten sich alle, die diesen Befehl lasen, aber der Herr Major dachte: „Kinder, freut euch nur nicht zu früh, denn heute mittag alarmiere ich euch wirklich.”

Nachmittags um fünf Uhr machte sich der Herr Major auf den Weg zur Kaserne, er ging zu Fuß, denn er wollte sich möglichst wenig bemerkbar machen — seinen Burschen mit den Pferden bestellte er für eine Viertelstunde später.

Der Alarm sollte ganz überraschend kommen, deshalb ging er auch nicht durch das Hauptportal bei der Wache vorbei, sondern durch ein Nebenthor auf den Kasernenhof und rief den ersten besten Soldaten heran.

„Mein Sohn,” sagte er zu diesem mit möglichst gelassener Stimme, „gehen Sie doch einmal in Ihr Kompagnierevier, und schicken Sie mir einen Hornisten, der Mann soll sein Instrument mitbringen.”

Einige Minuten später stand der Spielmann dem Vorgesetzten gegenüber.

„So, mein Sohn,” befahl der Herr Major, „nun blasen Sie einmal Alarm — warten Sie noch einen Augenblick, ich will mich hier hinter diese Thüre stellen, um unbemerkt die Wirkung Ihres Signals beobachten zu können, so, nun blasen Sie.”

Der Mann blies, und von seinem Versteck aus beobachtete der Herr Major die Wirkung.

Aber die Wirkung blieb aus, nichts rührte und regte sich, die Leute, die über den Kasernenhof gingen, ließen sich in ihrer Ruhe absolut nicht stören, in der Kaserne blieb alles still.

„Blasen Sie noch einmal,” befahl der Major, „blasen Sie lauter.”

Der Mann stieß in sein Horn, daß ihm die Augen aus dem Kopf traten und das Messing seines Instrumentes sich verbog.

Nichts rührte sich, nichts, gar nichts.

„Blasen Sie noch einmal,” befahl der Major.

Und der Hornist blies noch einmal — die Erde zitterte, aber in der Kaserne blieb alles still, kein Mensch kümmerte sich um das Signal.

Noch einmal stieß der Mann in sein Horn, und dieses Mal wurde es gehört — ein Fenster wurde geöffnet, und die Stimme eines Feldwebels schrie den Spielmann an: „Meier, Sie krummer Teufel, sind Sie denn ganz verrückt geworden? Was tuten Sie denn da immer? Laut Bataillonsbefehl ist heute gar kein Alarmblasen.”

Das Fenster wurde zugeschlagen, und heimlich schlich der Major nach Haus — er gab den Versuch, sein Bataillon zu alarmieren, definitiv auf.


Fußnote:

(1) In der Fassung des „Mährischen Tagblattes” fehlt dieser Absatz. (zurück)

(2) In der Buchfassung heißt es hier: „allzuviel”. (zurück)

(3) In der Fassung des „Mährischen Tagblattes” fehlen die Worte „und dösten”. (zurück)

(4) In der Fassung des „Mährischen Tagblattes” fehlt das Wort „man”. (zurück)


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© Karlheinz Everts