Von Freiherr v. Schlicht
in „Jugend”, Münchner illustrierte Wochenschrift
für Kunst und Leben Nr. 44 vom 28.Okt. 1899,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 3.12.1899,
in: „General-Anzeiger für Hamburg-Altona” vom 12.10.1902,
und
unter dem Titel „Meiers Nase” in: „Alarm”
13. Oktober.
Die schönen Tage, die wir armen Soldaten nicht in Aranjuez, sondern Gott weiß wo in welchem Posemuckel zubringen, sind nun vorüber. Die soldatenlose, die köstliche Zeit ist nun zu Ende, übermorgen kommen die Rekruten. Mir graut vor ihnen. Aber was klage ich, der morgige Tag gehört ja noch mir. Ich werde den Tag festlich begehen.
14.Oktober.
Mir ist so, als wenn ich heute im Kasino etwas viel getrunken hätte, mir ist nicht ganz extra, sollte das von dem dry des Greno kommen? Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich den Sekt, den ich trank, gleich bezahlt — ich bin billig davon gekommen, ich habe die Anderen bei dem Knobeln mit der ganzen Zeche hineingelegt. Morgen kommen die Rekruten — mir graut vor ihnen.
15.Oktober.
Sie sind da. Entsetzlich.
16.Oktober.
Sie sind immer noch da, obgleich ich sie inzwischen wenigstens schon zwanzigtausendmal zum Teufel gewünscht habe.
17.Oktober.
Sie bleiben, ich sehe es ein. Ich entgehe meinem Geschick nicht und muß auch in diesem Jahr versuchen, aus der kostümirten Herde, die auf dem Kasernenhof herumläuft, Soldaten zu machen. Na, sie sollen es gut bei mir haben, sie sollen die Engel im Himmel pfeifen hören, wenn sie ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit nicht thun.
18.Oktober.
Heute habe ich von meinem Hauptmann den ersten Anpfiff bekommen. Er stellte mich darüber zur Rede, daß der Meier — einem Meier entgeht kein Rekruten–Offizier — die Nase nicht genau über der Knopfreihe trüge. Meier's Nase ist gerade, ganz gerade und sie sitzt ihm auch mitten im Gesicht. Es wird ein Leichtes sein, die Nase mit der Knopfreihe in Einklang zu bringen.
30.Oktober.
Meier's Nase sitzt immer noch schief. Ich bekam heute den zweiten Rüffel, und in längerer Rede setzte der Hauptmann mir auseinander, daß er Meier's Nase nun bald am richtigen Fleck zu sehen wünsche. Auch sonst war der Häuptling sehr wenig zufrieden, nach seiner Meinung müßten die Rekruten schon viel weiter sein. Wie der Hauptmann zu dieser Meinung kommt, ist mir ein vollständiges Räthsel. Wie man von einem neugeborenen Kind nicht verlangen kann, daß es auf Stelzen über den Niagarafall geht und seine Eltern in einer Schubkarre vor sich herschiebt, so kann man auch von einem Rekruten nicht verlangen, daß er nach kaum vierzehn Tagen schon weiß, wozu er vom lieben Herrgott seine einzelnen Gliedmaßen bekommen hat. Unsere Leute sind schwer, sehr schwer von Begriff. Kann man es ihnen verdenken? Ich bilde mir gerade nicht ein, klüger zu sein als irgend ein anderer Mensch, ich glaube aber die für einen Sekondleutnant nöthigen geistigen Fähigkeiten(1) zu haben und mit der Zeit auch noch einmal ein mittelmäßiger Kompagniechef zu werden — ein „guter” Kompagniechef werden zu wollen, ist ein Unding, denn gute Kompagniechefs gibt es überhaupt nicht, wenigstens nicht nach Ansicht der Vorgesetzten. Nun bin ich in's Philosophiren gekommen und habe, ohne mit Ariadne, geborene von Kreta, verwandt oder verschwägert zu sein, den von ihr erfundenen Faden verloren. Halt, ich weiß, was ich sagen wollte. Man darf den Rekruten nicht verdenken, daß sie nicht Alles verstehen, was die Vorgesetzten ihnen sagen — ich verstehe z. B. auch nicht Alles, was mir gesagt wird. Erst neulich hielt mir mein Oberst eine donnernde Strafrede, weil ich, ohne die Handschuhe angezogen zu haben(2), auf der Straße gegangen sei, und während der Kommandeur mich heruntermachte, als ob ich das Vaterland in Gefahr gebracht hätte, dachte ich: „Ich verstehe Dich nicht, wie kann man sich nur wegen solcher Kleinigkeiten aufregen? Wie kann man sich überhaupt aufregen.”
15.November.
Wenn das lange noch so weiter geht, schieße ich mich todt. Meier's Nase sitzt immer noch schief. Heute Morgen erschien wie gewöhnlich der Hauptmann auf dem Kasernenhof. Ich eilte ihm entgegen, um ihm zu melden, und ging dann zu meinen Rekruten zurück, um anscheinend mit dem denkbar größten Interesse und dem wahnsinnigsten Diensteifer zuzusehen, wie die Leute Griffe übten. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick nach meinem Hauptmann — es ist ein weitverbreiteter Irrthum, daß die Vorgesetzten nicht der Beaufsichtigung seitens der Untergebenen bedürften. Paßt man auf die hohen Herren nicht auf, behält man sie nicht immer im Auge, so kann man leicht den schönsten Rüffel bekommen. Und das ist nicht angenehm. Mein Hauptmann stand vor der Mitte seiner Rekruten und blickte bewundernd auf seine Unterthanen.
„Ach, bitte, Herr Leutnant, kommen Sie doch einen Augenblick her zu mir.”
Natürlich kam ich.
„Bitte, Herr Leutnant, stellen Sie sich einmal hierher.”
Er wies mit der Linken auf einen Fleck unseres deutschen Vaterlandes, und trotz des mir innewohnenden Patriotismus war ich schlecht genug, die Heimat mit Füßen zu treten.
Ich stand, wo ich stehen sollte.
„Sehen Sie es wohl, Herr Leutnant?”
Wenn ich nur gewußt hätte, worauf sich das Wort „es” bezog. Ich sah so vieles — man sieht in solchem Falle Alles, nur natürlich nicht das, was man sehen soll.
„Wenn ich mir ganz gehorsamst die Frage erlauben dürfte, was der Herr Hauptmann meinen —”
„Mich wundert's, Herr Leutnant, daß Sie das nicht von selbst sehen,” klang es zurück, „der Meier hat schon wieder die Nase nicht über der Knopfreihe,” und gleich darauf ertönte das scharfe, bestimmte, keinen Widerspruch aufkommen lassende Kommando: „Meier, nehmen Sie die Nase gerade.”
Was befohlen wird, wird gemacht. Die Schwierigkeiten sind bekanntlich nur da, um überwunden zu werden, und so machte Meier denn auch die verzweifeltsten Anstrengungen, um seine Nase gerade zu nehmen. Er schnitt die unglaublichsten Gesichter, — aber die Nase blieb, wo sie war.
Eine ganze Weile sah der Hauptmann zu, wie Meier sich abmühte, den ihm gewordenen Befehl auszuführen, endlich wandte er sich ab: „Ich habe jetzt keine Zeit mehr, ich muß leider fort. Ich lege Ihnen den Meier ganz besonders an's Herz — der Mann muß noch viel lernen.”
Gelingt es mir, dem Meier beizubringen, wie man seine Nase gerade nimmt, nehme ich meinen Abschied und lasse mich mit meinem Zögling auf den Jahrmärkten sehen.
15. Dezember.
Meier's Nase ist immer noch schief, sie will nicht gerade werden. Die Nasenscheidewand steht nicht, wie sie es der Vorschrift gemäß soll, über der Knopfreihe, sondern immer etwas links seitwärts. Es ist nur wenig, kaum fünf Millimeter, aber es soll, es darf nicht sein, sie muß gerade stehen! O wäre Meier doch ohne Nase, oder überhaupt nicht geboren! Ich fange an, nervös zu werden, Wo immer ich mich auf dem Kasernenhof sehen lasse, necken und foppen mich die Kameraden. „Sie wollen die krümmsten Beine gerade machen,” ruft man mir zu, „und werden nicht einmal mit einer alten Nase fertig?”
Meier's Nase ist fruchtbar wie ein Kaninchen, unerschöpflich wie der tiefste aller Brunnen: aus Meier's Nase sind schon so viele Nasen für mich hervorgegangen, ich habe über die Ausbildung von Nasen schon so viel weise Lehren anhören müssen, daß sich kein Mensch wundern darf, wenn ich nächstens „naseweis” werde. Bin ich es aber, so ist auch das nicht recht, denn ein junger Offizier, wie ich es leider bin, soll sittsam, artig und bescheiden sein, den Mund nur dann aufmachen, wenn er gefragt ist, und wenn er gefragt ist, nichts anderes sagen als nur „Zu Befehl!”. Das sind zwei Worte, mit denen man durch die militärische Welt kommt, sie künden an, daß man stets den eigenen Willen unter den des Vorgesetzten unterordnet und so etwas hört der, der es hört, natürlich mit Vergnügen.
Heute rief der Hauptmann den Meier zu sich heran und setzte ihm in längerer Rede — warum nicht in kurzer? — auseinander, es wäre gar nicht daran zu denken, daß Meier auf Weihnachtsurlaub führe, wenn seine Nase nicht gerade würde. Ich stand in der Nähe und hörte die Rede mit an, sie war reich an Wiederholungen und Weitschweifigkeiten und nahm gar kein Ende. Davon abgesehen aber war sie einfach, knapp und kurz.(3) Erst in späteren Jahren lernt man es, sich so präzis auszudrücken. Man nennt das die Würze der militärischen Kürze.
Mit Thränen in den Augen versprach Meier, sich zu bessern — mehr konnte er doch nicht thun, es war ja auch das, was von ihm verlangt wurde. Aber ungläubig schüttelte der Hauptmann den Kopf: „Sie haben mir nun schon so oft versprochen, sich zu bessern, daß ich Ihnen nicht mehr glaube.” Das war hart, aber es ist ja leider eine Thatsache, die sich nicht ändern läßt, daß beim Militär Keiner dem Anderen glaubt. Wo sollte es auch hinführen, wenn man Alles für baare Münze hielte, was als Gold aus dem Munde der Vorgesetzten herauskommt? Das Gold würde dann so werthlos sein, daß man sich wünschen würde, nichts zu besitzen, um nicht als armer Schlucker zu erscheinen.
Auch in diesem Satz, obgleich er aus dem Munde eines Untergebenen kommt, sind Goldkörner vorhanden. Man suche sie nur, und wenn man Glück hat, wird man sie auch finden.
22. Dezember.
Nun ist Meier's Nase ganz schief.
In dem heißen Bemühen, den Stein des Anstoßes bei Seite zu schieben und ihn gerade zu richten, hat Meier des Guten zu viel gethan: er hat sich das Nasenbein gebrochen. Der Arzt meint, die Sache würde bald heilen und Meier's Felddienstfähigkeit würde nicht darunter leiden, aber der Glanz der Nase, der nie vorhanden war, ist nun dahin für alle Zeiten. Die Nase wird schief verheilen, das ist für den Hauptmann sehr traurig, es ist immer wenig angenehm, Leute in der Kompagnie zu haben, die allein schon durch ihr Aeußeres bei höheren und höchsten Vorgesetzten unangenehm auffallen. Das Bestreben eines guten Untergebenen muß stets sein, die Aufmerksamkeit der Vorgesetzten von sich abzulenken — niemals aber, sie zu erregen. Um den Schaden — Meier's krumme Nase — nach Möglichkeit wieder gut zu machen, hat der Hauptmann befohlen, daß die Knöpfe von Meier's Waffenrock etwas schräge aufgesetzt werden — er meinte es dadurch doch noch erreichen zu können, daß Meier's Nase genau über der Knopfreihe zu stehen käme. Der Kammerunteroffizier schickte sich an, den Befehl auszuführen, aber schon nach kurzer Zeit meldete er, daß der Befehl nicht ausführbar sei.
„Und warum nicht?” fragte der Herr Hauptmann.
„Die Knopfreihe ist schon ganz schief,” lautete die Antwort.
Ich glaube, in diesem Augenblick dämmerte es in dem Kopfe des Vorgesetzten, daß es einfacher gewesen wäre, gleich am ersten Tage Meier's Knopfreihe gerade zu richten, als darauf zu bestehen, daß der Mann die Nase, die ganz gerade war, noch gerader nähme.
(1) In der Buchfassung heißt es hier: „die für einen Leutnant geistigen Fähigkeiten”. (zurück)
(2) Das Thema der „nicht angezogenen Handschuhe” wird auch behandelt in:
(3) In der Buchfassung heißt dieser Satz: „Davon abgesehen, aber sie war einfach, knapp und kurz.” (zurück)