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Inventur auch bei mir - Hausball mit Parademarsch - "Affenschaukel" und "Dörrgemüse" - Der Fall Jeßner - Max Pallenberg in "Eins, zwei, drei" - Zum Bockbier in die Neue Welt.
Mach' ich auch.
Nur schließe ich keinen Ausverkauf an, denn die Sachen, die ich finde, am Morgen des 3. Januar in meinem Schlafzimmer finde, gehören nicht mir. Ein Spitzentaschentuch. Ein Paar Damengaloschen. Ein Hermelinkragen mit sechs Schwänzchen. Und auf dem Teppich vor dem Spiegel ein Häufchen rosa Puder.
Pfui, wie schön.
Ob etwas davon der studiosa juris gehört ? Oder dem kleinen Mädchen aus dem goldenen Käfig ? Oder der Letteschülerin ? Oder der angehenden Orthopädin ? Oder der Sportlehrerin ? Oder der blondhaarigen jungen Filmdiva ? Oder einer von meinen beiden Nichten ?
Nein, gnädige Frau, was Sie denken , ist nicht.
Die Sache ist ganz einfach mit einem Wort zu erklären. Hausball. Nicht so Hausball wie früher, mit richtigem Ballsouper, nein, es gab nur kalten Aufschnitt und Bowle. Auch sind die "Räume" nicht verfügbar, die dazu gehören, nämlich in erster Linie eine "Garderobe", in der die jungen Damen, womöglich betreut von einer Zofe des Hauses, sich noch einmal vor dem Spiegel zurechtmachen. Wir haben nur den üblichen Berliner Hausflur, in dem man "sich aufhängt". Angesichts der jungen Herren sich da die Überstrümpfe abstreifen, mit Kämmchen oder gar Puderquaste hantieren, das tun die Mädchen aus unseren Kreisen nicht gern. Eine hat sich schon einmal darüber beklagt und eine andere wollte "nie wieder" zu uns kommen, weil, es ist schon Jahre her, zur Hohenzollernbombe alle Gäste kleine Eislöffelchen bekommen hatten, sie aber allein (sie war wohl die dreizehnte Dame) einen großen Kompottlöffel.
"Gelte ich etwa als so verfressen ?"
Ja, man hat schon seine Sorgen, wenn das junge Volk da ist. Also mangels eines besonderen Ankleideraums muß mein kleines Schlafzimmer herhalten, das gleich neben dem Flur liegt. Das ist aber auch das einzige Improvisierte, wir brauchen nicht wie so viele andere Großstadtfamilien, die eine moderne Liliputwohnung haben, zum Tanzen die Zimmer "auszuräumen", denn es ist ein altes Mietshaus mitten in der Stadt, das Herrenzimmer darin 7 : 7½ Meter groß, das Speisezimmer noch größer. Wir sind schrecklich fidel gewesen. Und da hat denn schließlich beim Aufbruch die eine oder andere der jungen Damen irgendeinen Ausrüstungsgegenstand vergessen.
Hausball ist "zu was nettes", wenn er nicht schablonenmäßig ist. Man muß nur allerlei anstellen, was man auf öffentlichen Bällen nicht haben kann. Irgendeinen "ausgefallenen" Ulk.
Von den jungen Herren bei uns waren sechs in Uniform, Fähnriche und so. Die ließ ich gegen 11 Uhr abends in einer Tanzpause, die auch dem Klavierspieler zu gönnen war, antreten und mimte mit ihnen "Instruktionsstunde". Man hat doch seine eigenen soldatischen Erinnerungen. Außerdem ist namentlich das 4. Bändchen der im Brunnenverlage erschienen Kaczmarek-Bücher eine Fundgrube für Kasernenhofblüten, daraus kann man die Erinnerungen auffrischen. Wir haben uns alle schief gelacht. Und den jungen Damen, die die alte lustige Zeit des Vorkriegskommiß nicht erlebt haben, war alles neu. Neu schon das "Zack" des Zusammenfahrens aus dem Rührt euch ins Stillgestanden, wenn einer gefragt wurde. Und als die Sechs dann nach den Klängen des Fridericus einen richtigen Parademarsch vor der Gesellschaft machten, war des Jubelns kein Ende.
Schon vorher hatte es eine Überraschung gegeben. Mit einem gepumpten Heimkinoapparat eine Vorführung von Bruchstücken aus dem "Niobe"- und dem "Emden"-Film. Ein Medizinkadett erkennt sich beim Segelflicken und prustet los. Die Mädels aber lachen wie toll, wenn sie vier ihrer gegenwärtigen Tänzer im Arbeitszeug beim Wäschewaschen sehen.
Ich sage nichts gegen die großen öffentlichen Bälle. Aber da müssen unsere jungen Mädchen die Mondäne spielen. Und sie möchten doch viel lieber harmlos ausgelassen sein. Großer Luxus ist gar nicht nötig. Meinen schönsten Hausball erlebte ich einmal als junger Mensch bei dem Maler Professor Steinhausen. In der Wohnung war kein Platz. Wir tanzten im Keller des Hauses, saßen zum Teil auf Kisten, und als "Ballsouper" gab es Würstchen und einen Kanten trockenes Brot.
Auf Hausbälle möchte ich, zu öffentlichen muß ich.
Schon wirft auch der diesjährige Presseball, immer am letzten Sonnabend im Januar, seine Schatten voraus. Die Modehäuser haben alle Hände voll zu tun, noch einmal, vielleicht das letzte Mal, denn ob im nächsten Jahr die Berliner Gesellschaft sich noch verblüffende Toiletten leisten kann, weiß kein Mensch. Wir, ich meine meine Frau, bauen schon diesmal leise ab. Unsere Hausschneiderin verachtet uns, denn es wird, mit kleiner Verlängerung, das "vorjährichte" angezogen, das von der Domke. Aber etwas blinkender und farbiger als noch vor wenigen Jahren werden die repräsentativen Bälle doch, wenigstens, soweit die uniformierte Herrenwelt daran noch teilnimmt. Vor dem Kriege sagten die Zeitungen, in Kragenänderungen und dergleichen "Kinkerlitzchen" erschöpfe sich die ganze Tätigkeit der Monarchen. Nun haben wir die Republik - und es gibt neue Kinkerlitzchen. Der republikanische Reichswehrminister Gröner hat für sämtliche Heeresoffiziere, was früher nur Kennzeichen der Flügeladjutanten war, die silbernen Fangschnüre zum Gesellschaftsanzug dekretiert. Sie passen nicht recht zum schlichten Feldgrau, aber sie blitzen und sie kosten natürlich viel Geld. Der Soldat nennt sie die "Affenschaukel". Der republikanische Oberlandforstmeister Dörr aber, der Tag und Nacht über Uniform- und Titeländerungen nachsinnt, hat für seine Beamten sich funkelnd goldene Eichenblatt-Stickereien ausgedacht. Die strahlen noch beim letzten Büchsenlicht und vergrämen über weite Waldblößen hinweg das Wild. Man nennt diese Stickereien "das Dörrgemüse". Es ist wirklich hohe Zeit, daß das Republikschutzgesetz in Kraft tritt und solche Verächtlichmachung im Volksmund mit Gefängnis ahndet.
Eine der geistigen Größen des nachnovemberlichen Deutschlands hat man wegen vollendeter Unfähigkeit soeben in die Ecke stellen müssen. Der Generalintendant Jeßner ist sozusagen unbezahlbar geworden. Als er aus Königsberg nach Berlin kam, noch in der ersten roten Maienblüte, mit dem ihm vorauseilenden Ruf, er sei der größte Regisseur des Jahrhunderts, wurde er von der Linken umjubelt. Statt des, pfui Teufel, monarchischen Traditionstheaters (das hat es, notabene, nie gegeben; es wurde wirkliche Kunst geboten) wollte er uns, herrlich schön, das republikanische Gesinnungstheater bringen.
Es fiel ihm leider nur die schon seit Mozarts Zeiten antiquierte große Treppe ein und die Verstümmelung der Klassiker im bolschewistischen Sinne seines Freundes Piscator.
Er verwirtschaftete ungeheure Summen, das Theater aber wurde immer leerer; man hielt ihn, wie heute ein Ullsteinblatt offen zugibt, nur noch deshalb, weil er von der Presse der Rechten "angefeindet" wurde. Derweil ging das Defizit in die Millionen. Eine einzige glückliche Zeit hat das Staatstheater unter Jeßner erlebt, als ein großer Schauspieler, Werner Krauß, alles herausriß und in genialer Vielseitigkeit vom Napoleon bis zu Charleys Tante täglich seine Rollen herunterspielte. Die guten Darsteller wurden aber weggeekelt. Es blieb als Alleinherrscher, der die schleifenden Intendantenzügel an sich riß, Fritz Kortner, für deutsche Augen und Ohren schier unerträglich, aber mit 15000 Mark monatlich bezahlt. Zu jeder Erstaufführung kam ganz Assur und Ninive, zur zweiten die Partei, von der dritten an war es hundeleer im Theater: künstlerisch und finanziell die vollkommene Pleite.
Das alte Stammpublikum ist verschwunden, Ersatz ist nicht zu finden, denn man geht doch nicht deshalb zur Vorstellung, um sich eine Gesinnung einhämmern zu lassen. Außerdem ist alles überorganisiert. Jeßner war zuletzt überhaupt kein Künstler mehr, sondern gehörte sozusagen zu den Spitzen der republikanischen Behörden, der an Festakten teilnahm, in Ehrenkomitees saß und eine Beamtenschaft dirigierte, die die eines guten Privattheaters, sage und schreibe, um das neunfache an Zahl übertraf. Als der geistige Bankerott Jeßners schon offenkundig war,verlängerte der Kultusminister Becker trotzdem den Vertrag mit ihm wieder auf fünf Jahre, weil man den "zuverlässigen Republikaner" nicht preisgeben wollte; mochten die Steuerzahler doch für den Schaden aufkommen.
Mit diesem Vertrag in der Tasche hat Leopold Jeßner denn nun auch durchgesetzt, daß er jetzt nicht, was längst notwendig gewesen wäre, entlassen, sondern nur ein wenig in die Ecke gestellt wird, fortan Regisseur ist, nicht mehr Generalintendant.
Es ist schon ein Kreuz mit unseren Berliner Bühnen, auch mit den privaten. Sie sind längst nicht mehr "für das Volk" da, sondern, seit wir eine Republik haben, für die reich Begüterten. In Weimar oder sonstwo kann man für 5 Mark einen guten Parkettplatz haben, in Berlin, sobald ein Star - und nur die ziehen noch - im Programm steht, muß man 14 bis 20 Mark bezahlen, bei viel schlechteren Stücken. Die Ehepaare sind aber dünn gesät, die heute noch, die Kosten für Fahrt, Programm, Kleiderablage hinzugerechnet, insgesamt 35 bis 50 Mark für einen Theaterabend hergeben können.
Freilich, zu Molnars "Eins, zwei, drei" in Künstlertheater strömen die Menschen aus Berlin W noch hin, denn da ist Fleisch von ihrem Fleisch, Bein von ihrem Bein, da gibt es allerlei Saftig-Verfängliches, da spielt Max Pallenberg, der größte Wortjongleur der modernen Bühne und nebenbei ein wirklicher Menschendarsteller. Man bewundert die fabelhafte Technik. Aber man geht mit ganz leerem Gefühl aus dem Theater.
Jedenfalls ist kein "Volk" mehr da. Das Volk geht in den Kientopp. Und im Sommer in den Lunapark, im Winter in die Neue Welt. Gegend Neukölln. in der Hasenheide. Das Riesenlokal mit einer Fassungskraft für 9000 Personen in seinen Sälen. Der größte Rummel Europas. In der Zeit vom 31. Dezember bis zum 4. Mai auf bayrisch frisiert: Bockbiersaison!
Da hatte ich vor Jahren einmal, als gerade der schönste Bubikopf prämiiert werden sollte, das komische Zusammentreffen mit der Mulattin N'Gami, die in Wut geriet, als ihr Wollhaar nicht den ersten Preis bekam. Manchmal wird der blondeste Zopf oder das schönste Damenbein oder der eleganteste Hut herausgefordert. Dienstagabend dieser Woche war es das schickste Wintersportkostüm. Den ersten Preis kriegte ein junges Fräulein aus einem Buttergeschäft, das sich eine Art Norwegerdreß - aus hellblauem Satin genäht hatte! Den zweiten ein Mädchen in dunkelblauem Samtröckchen. Den dritten eine gänzlich Ahnungslose, die in weißleinenen Seglerhosen ankam. Das Publikum - ja, dieses Publikum, dieses ausgesprochene Neue-Welt-Publikum, dieses Oktoberfest-Publikum war begeistert.
Aber ich will lieber der Reihe nach erzählen. Also man landet Untergrund Hermannplatz, zahlt in der Neuen Welt eine Mark Eintrittsgeld und gibt für 30 Pfennig seine Garderobe ab. Der mächtige Vorplatz enthält vier große Pfeilerspiegel. Davor stehen, fast immer paarweise, Freundinnen und Kusinen, die gerade Ausgang haben, fahren sich noch einmal durch die Frisur und sehen im Spiegel zu, was für Herren kommen. Der Wiener würde sagen: ob "a Wurzen" dabei ist. Das ist nämlich ein Herr, der so aussieht, als werde er zahlen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.
So kann ich aussehen. Kann ich wirklich.
Also wir gehen zu dritt hinein.
Rutschbahn, juhu, Alpenglühen, juhu, Radioauto, juhu. Und Bier und Photomaton und bunte Mützchen und Monokel aus Marienglas und Würstchen und Cognac und Eisbein mit Sauerkraut und Schießbude und Würfel und Roulette. Kleingeld muß man schon haben; in entsprechender Kurve hebt sich die Stimmung. Ein bekannter Attaché einer Berliner Botschaft flitzt an mir vorüber und lacht; der Herr Graf haben auch zwei Mädchen. Überall schmetternde Blechmusik. Nicht weniger als 50 "bayrische Madln", Typ alte Kuhmagd, noch mit dem Mist unter den Fingernägeln, bedienen neben den einheimischen Kellnern, sprechen in harten Gutturallauten. Ich sage es immer wieder: Bayern müßte gegen diese Menschenausfuhr etwas tun. Das schädigt den Ruf des Landes. Auch die auf "Bua" verkleideten Musiker aus Küstrin oder Bautzen neben den paar echten. Und wenn ein Berlin-Neuköllner gar den Watschentanz auf der Bühne sieht, dann sagt er:
"Een Bayer is, wenn er bein Tanzen Backpfeifen kricht, sich selber uff'n Hintern haut und dem Mädel unner de Röcke kiekt."
Wir haben aber nicht so viel Zeit, um Völkerkunde zu treiben. Wir sind dabei, uns durch Zuwahl zu ergänzen, damit wir paarweise Radioauto fahren oder tanzen können; drei ist eine böse Zet A Ha El. "Meine Mutti ist so furchtbar lustig, sie wohnt ganz nahe, sollen wir die nicht mal rantelephonieren ?" sagt schon nach der ersten halben Stunde eine meiner beiden Damen. Bitte sehr. Zehn Minuten später ist Mutti da. Hilf, lieber Himmel, nun zittern mir die Knie: Mutti ist einen halben Kopf größer als ich und wiegt 254 Pfund. Nun ist die liebe Familie zusammen und trinkt immer noch eins und läßt sich immer wieder photomatonen. Schon stehen zwei Obergefreite vom 3. Artillerieregiment da, lehnen - es sind bescheidene, nette Leute - Trank und Atzung ab, nehmen nur eine Zigarette an und fragen, ob sie mit den Damen mal tanzen dürfen. Ich sehe, daß sie das Funkerabzeichen am Ärmel haben, also morsen können, und da quäke ich: te tä tä tä, te tä! "Danke sehr, aber woher wissense'n das ?" sagt der eine. Und ich antworte: "Ick hab mal so rinjerochen, ick war ooch mal bein Kommiß!" Und ich - walze mit Mutti los. Das gehört sich so für Vati. Beinahe hat Mutti mich im Versehen totgedrückt. Nachher entschädige ich mich etwas bei der Tochter und der Nichte; die beiden Obergefreiten machen längst schon am übernächsten Tisch ihren Kratzfuß.
Mutti - ich erfahre erst allmählich, daß sie selber eine kleine Bierwirtschaft hat - trinkt an diesem Abend im ganzen 8 halbe Liter Löwen-Böhmisch und 4 große Cognacs. Damit es kein Hektoliter wird, bezahle ich vor Schluß des Festes eine Droschke, die sie mit den beiden Mädels nach Hause bringen soll. Auch sonst wird es etwas unheimlich. Bei "Haut den Lukas!" genügt ein einziger Faustschlag von Mutti, den Zeiger auf 250 zu treiben. Ich habe es bloß bis zu 200 gebracht, bis zur Rubrik "Wie ein Mann!", während Mutti mit der obersten Stufe, "Ganz kolossal!", triumphiert.
Im großen Saal ist schon vorher ein ganzer Ochse am Spieß gebraten worden. Gott sei Dank, daß man mich nicht entdeckt hat. Sonst stäke ich als der größte anwesende Ochse am Spieß.
9. Januar 1930 (Donnerstag)
20
Aus dem Haag - Wozu Weltgeschichte ? - Uralzews Chlorophyll - Die Anfänge des Rundfunks - Medizin mit Parteibuch - Einige Ziffern zum Gaststätten-Elend - Gentlemen hüben und drüben.
Morgens die Zeitung. Ein Blick hinein: Haag, am 15. Januar 1930. Die Hand fährt zum Herzen. Eine Blutwelle stockt an einem Damm, schießt dann hinüber.
"Mann, was ist dir ?"
Nichts, nichts; laß mich.
An diesem 15. Januar haben die bevollmächtigten deutschen Minister Curtius, Wirth, Moldenhauer freiwillig zugestanden, daß Frankreich das Recht habe, bei uns einzumarschieren, wenn wir je den Youngplan zunichte machten. Frankreich habe dann seine "volle Handlungsfreiheit"; es könne halb Deutschland überrennen und besetzen, ohne daß wir dies als kriegerischen Überfall bezeichnen dürften. Bis zuletzt meinten die Engländer, dieses Sanktionsrecht könne nur der Gesamtheit des Feindbundes zustehen, wozu also dessen vorherige Einigung auf solche Gewalttat nötig wäre. Die Herren Curtius, Wirth, Moldenhauer aber waren es zufrieden, daß jeder einzelnen Macht, also auch Frankreich allein, die Züchtigung Deutschlands zustehe, und da erklärten die Engländer achselzuckend, man könne von ihnen nicht erwarten, daß sie deutscher als die Deutschen seien. Das, was im Haag vor sich gegangen ist, ist keine Außenpolitik mehr, sondern parteipolitischer Bürgerkrieg in anderer Form. Nämlich: für den Fall, daß einmal die Rechte bei uns zur Macht gelangt und die Erfüllungspolitik aufkündigen will, soll der Feind deutsches Land überfluten dürfen . . .
Eine schauerlichere Verblendung gab es noch nie.
Aber wo ist das Volk, das dagegen aufbegehrt ? Wo sind die Massen, die es sich nicht gefallen lassen, daß sie ans Messer geliefert werden ? Dumpf und stumpf werden sie den paraphierten Youngplan in Kraft treten lassen. Die Namen der drei Minister wird schon nach Jahr und Tag kaum jemand mehr im Kopfe haben.
Am Morgen des 16. ist ein junger Student bei mir mit meinem Buche "Der Schmied Roms" in der Hand. Seine Eltern ließen bitten, ich möchte da doch etwas einschreiben. "Freundlich sein, freundlich sein!" sage ich mir. Nichts merken lassen von dem Jammer der Verzweiflung um mein Volk, das ins Verderben taumelt. Freiwillig taumelt. Nach der alten Parole, die keinen Landesfeind kennt, sondern erklärt: "Der Feind steht rechts!"
Wie soll ich da etwas Stärkendes, Erhebendes, Aufrichtendes einschreiben können ? Es hämmert im Herzen, die Gedanken jagen sich. Zwei Zitate großer Deutscher tauchen auf, die trage ich ein:
"Das Beste an der Weltgeschichte ist der Enthusiasmus, den sie erregt." (Goethe.) |
Wir lernen ja nicht einmal etwas aus jedermanns Alltagsnot und aus der ungeheuren Verwüstung, in die jedermanns Eigentum seit der Revolution geriet, ja schon durch die ersten Kriegsschieber geriet; wir lernen nichts aus der Kette von Millionenverlusten, für die der Steuerzahler mit seinem Gelde, der Arbeitslose durch Lohnausfall aufkommen muß. Parvus-Helphand, Sklarz, Kutisker, Barmat, Sklarek, Uralzew: das sind nur die "prominentesten" Namen aus der Leidenskette unserer korrupten Zeit. Diese samt und sonders östlichen Einwanderer, fast durchweg hochgeschätzte Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, zum Teil intime Freunde der ehemaligen Minister Haenisch, Scheidemann, Bauer, haben Staat und Gemeinde und öffentlich-rechtliche Anstalten nach Kräften gerupft, haben geschoben oder betrogen oder bestochen, aber an keinem einzigen von ihnen ist das Strafgericht wirklich vollstreckt worden.
Auch Uralzew - ob er tatsächlich so heißt, weiß man noch heute nicht - steht bloß als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuß des Preußischen Landtages, in dem man nur ein Interesse daran hat, den Beweis dafür zu erhalten, daß - die Betrogenen, die Raiffeisendirektoren, schuldhaft nachlässig gewesen seien. Der kleine schwarze Uralzew, der bewegliche Mann mit den flinken Augen, wird nur als fabelhafte Intelligenz angestarrt. Genosse Leinert behandelt ihn sehr zuvorkommend, auch Genosse Kuttner tut nur so, als inquiriere er. Der Zeuge spielt mit diesen Amateur-Richtern wie die Katze mit der Maus. Nur ein bezeichnendes Szenchen möchte ich aus der Fülle der Eindrücke hier für die Zeitgeschichte festhalten:
Kuttner: "Sie sind mit 10 000 Pfund, sagen Sie, nach Deutschland gekommen. Nach Jahresfrist hatten Sie schon ein Vermögen von 10 Millionen Mark. Wieso ?"
Uralzew: "Ich habe gekauft und verkauft und die Inflation ausgenutzt."
Kuttner: "Aber die Warenbesitzer sind doch auch mal schlau geworden."
Uralzew: "Soll ich Ihnen ein Geschäft nennen ?"
Kuttner: "Bitte!"
Uralzew: "Ich kaufte in der Inflation 150 Waggons Brennesseln für ein Butterbrot und verkaufte sie nach der Schweiz."
Kuttner: "Sollte in der Schweiz da noch Kriegskleidung aus Nesselstoff - -"
Uralzew (verschmitzt lächelnd): "Nein, daraus hat man Chlorophyll bereitet. Das hat man in Deutschland damals noch nicht gewußt. Ich habe 40 000 Dollar daran verdient."
Kuttner staunt. Der Untersuchungsausschuß schweigt achtungsvoll. Welch fabelhafte Intelligenz dieses östlichen Geschäftsmannes! Nun ja, dann sei es kein Wunder. Nicht einer fragt, was Chlorophyll eigentlich ist. Das ist der grüne Farbstoff, den fast jede Pflanze hat; nur Pilze und einige wenige sonst haben ihn nicht. Die Schweizer brauchen also bloß in ihre Wälder oder auf ihre Wiesen zu gehen, da können sie Chlorophyll und andere Blattfarbstoffe, die in Weingeist löslich sind, nach Herzenslust einheimsen. Dazu waren Uralzews angebliche Brennesseln wirklich nicht nötig. Aber Kuttner staunt. Dieser Uralzew, dieser sein Glaubensgenosse aus Rußland, ist ja ein Genie. Fast freut man sich, daß er den Raiffeisenverband übertölpelt hat.
Jetzt kann Alfred Kerr - er hat ein Faible für kluge Leute - in seiner nächsten aktuellen Plauderei im Berliner Rundfunk das Hohelied auf Uralzew anstimmen. Wozu wäre der Rundfunk denn sonst da ? In Berlin ist er schon längst, neben seiner Tanzmusik, im wesentlichen nur Reklameorgan für die Novembergewinnler, für alle irgendwie mit den Roten Versippten.
Vor ein paar Tagen hat der Rundfunk wieder ein Jubiläum gefeiert. Dann gibt es in der Funkstunde oder anderswo Festartikel mit geschichtlichen Rückblicken und dem Bilde des Staatssekretärs Bredow sowie einiger republikanischer Größen. Aber von der Urgeschichte ist noch niemals etwas erzählt worden. Die fing einmal - in Deutsch-Südwestafrika an.
Kam da eines Tages an der Strecke Lüderitzbucht-Keetmannshoop zu dem deutschen Bahnmeister Stauch ein Eingeborener, öffnete die Hand und zeigte, was er da schönes gefunden habe.
Das waren Diamanten. Stauch ließ sich die Stelle weisen - wahrhaftig, da lagen sie lose und offen im Sande. Er erwarb die Stelle und damit ein Vermögen. Im Jahre 1914 kam Stauch in die alte Heimat nach Deutschland, nachdem er in Südafrika ein Großer von hundert Geschäften geworden war, wurde vom Kriege überrascht und stand nun - so erzählt es mir wenigstens ein alter Afrikaner, Professor seines Zeichens, jetzt in der Leitung der Deutschen Welle tätig - als Landstürmer eines Tages Posten in Königswusterhausen. Neben ihm ein anderer Landstürmer aus Deutschland selbst, der Knöpfke hieß. Man kam ins Plaudern. Ja, wenn man Geld hätte, sagte Knöpfke, mit Schallplatten und so was ließe sich heute etwas machen. "Wieviel Geld ?" fragte Stauch. "Hast du denn welches, Kamerad ?" versetzte Knöpfke. "Ich glaube, genug!" erwiderte Stauch.
Stauch erwarb dann das Vox-Haus, Potsdamer Straße, das später zur ersten Sendestelle des Rundfunks wurde, hatte aber kein großes Interesse an der Weiterentwicklung, sondern verkaufte seine Anteile. Er läßt sein Geld in Afrika arbeiten, wo er noch immer als gut nationaler Deutscher wirkt, tatkräftig und hilfsbereit.
Aber Knöpfle ist Direktor des Rundfunks geworden, ein tüchtiger Fachmann, und ist es noch. Nur hat er - wie auch Alfred Braun - in unserer freiesten der Republiken inzwischen äußerlich die Partei wechseln müssen. Beide waren deutschnational. Da haben ihnen die heute Allmächtigen die Pistole auf die Brust gesetzt: sie müßten Mitglieder der sozialdemokratischen Partei werden. Was denn auch geschah. Solchen Zwang gibt es nämlich nicht nur bei Arbeitern in Betrieben.
Es gibt ihn überall. Unter den Berliner Ärztinnen existiert eine ausgezeichnete Chirurgin. Sie ist rastlos, sie könnte neben ihrer Privatpraxis noch die Tätigkeit in einem Krankenhause versehen. Außerdem ist sie Jüdin, also doch wohl zuverlässig republikanisch. Man bietet ihr die Oberarztstelle in einer städtischen Berliner Anstalt an und fordert sie zur Vorstellung auf. Alles in Ordnung. Sie solle nur noch die Zeugnisse über ihre bisherige Verwendung einsenden. Gut. Sie geht, wird aber auf dem Korridor von einem der Allmächtigen wieder eingeholt.
Was er noch habe fragen wollen: ob sie in einer politischen Partei organisiert sei.
Nein, antwortet sie. Hm, ob sie dann aber jetzt eintreten wolle. Nein, sagt sie, sie habe nicht die Absicht, in das Parteigetriebe zu gehen, sie sei nur Ärztin. Da sieht der Mann sie groß an und erklärt:
"Atjeh, Frollein Doktor, denn brauchen wa auch Ihre Zeugnisse nich!"
Auf Schritt und Tritt dasselbe. Als Ärztin für die evangelischen Schulen eines Vororts wird eine Dame angestellt, die noch nie Kinderpraxis hatte. Tut nichts. Sie gehört zwar nicht der Sozialdemokratie an, aber wenigstens dem Zentrum. Das genügt. So wird in Berlin überall nur nach dem Parteibuch gefragt und nicht nach fachlicher Tüchtigkeit. In dieser Weise kommt die beste Großstadt schnell auf den Hund.
Einstweilen wundert man sich, daß es in den Vergnügungs- und Gaststätten so kracht.
Auch da ist der Fachmann, der noch als Kellner gelernt hat, was erspartes Geld bedeutet, selten geworden. Der Schieber, der "eine Idee" hat, drängt sich vor. Er besitzt nur 5 Prozent des nötigen Kapitals, aber die Lieferanten müssen herhalten, dazu die Pächter der Garderobe, des Zigarettenstandes, der Aborte, bis von den übrigen 95 Prozent die Hälfte beisammen ist. Dann ersteht etwas Verblüffendes, so die Gourmenia, für die täglich 975 Mark Steuern und 1870 Mark Miete entrichtet werden müssen. Jawohl: täglich.
Und dann kracht es.
Auch etliche andere Berliner luxuriöse Tanz- und Schlemmerstätten befinden sich in Schwierigkeiten. In den letzten beiden Jahren sind für Vergnügungssüchtige in Berlin im ganzen 74 800 neue Sitzplätze in allerlei Lokalen geschaffen worden, die, wenn das Geschäft rentieren soll, doch mindestens dreimal täglich von einem zahlenden Gast besetzt sein müssen. Das wären also rund täglich 225 000 Konsumenten mehr als früher.
Wo sollen die herkommen ? In diesen knappen Zeiten ?
Die Ausflugslokale rund um Berlin hatten im vergangenen sonnigen Sommer mehr Besucher als sonst, aber deren Durchschnittsverbrauch sank gleichzeitig von 1 Mark auf 55 Pfennige. Es gibt sogar Autobesitzer, die da vorfahren, nur eine Flasche Selters bestellen und dazu - von Hause mitgebrachten Kuchen verzehren.
Ganz wie in der Inflationszeit strömen jetzt, ich sehe es schon seit Monaten, wieder Ausländer her, um zwar nicht mehr Häuser, aber Unternehmungen billig aufzukaufen. Sie wundern sich, daß ganz Berlin heute, wo das Haager Vernichtungsurteil schon bekannt ist, einen ganz anderen Gesprächsstoff hat, nämlich ausschließlich von dem Eishockeymatch zwischen der hiesigen und der japanischen Mannschaft spricht. Der Sport ist Narkose für uns. Unsere englischen Inselvettern, die zur Zeit stark in Berliner Hotels vertreten sind, halten uns für geistig erkrankt. "Bei Ihnen piept es!" würden sie sagen, wenn sie berlinern könnten. Im übrigen sehen sie sich mit großen Augen um und "nehmen Anstoß", nicht etwa an der scheinbaren Vergnügungssucht, sondern an dem Berliner Benehmen. "Ein Mensch, der den Eßlöffel mit der Spitze zum Mund führt, statt mit der Breitseite, ist kein Gentleman!" sagt ein baumlanger rostroter Engländer halblaut zu seinem Landsmann, während sie sich im Speisesaal des Hotels über ihr Gegenüber unterhalten. Derselbe Engländer aber liegt mehr, als er sitzt, im Stuhle, käßt ein hochgeklapptes Bein seitwärts über die Lehne hängen und würde sich trotzdem sehr wundern, wenn wir daran zweifelten, daß er ein Gentleman sei.
Es wird wohl hüben wie drüben ungefähr die gleiche Zahl von Gentlemen geben. Nur das ist sicher, daß wir die Dümmeren sind. Und im innerpolitischen Kampf gegen die eigenen Landsleute die Niederträchtigeren. Aber Dummheit und Niedertracht sind Großmächte, hat schon Treitschke gesagt.
16. Januar 1930 (Donnerstag)
21
Die Bauerfrauen in der Burgstraße - Reichsgründungsfeiern - "Auf Unkostenkonto" - Steuervigilanten überall - Die Sektfirmen in Sorgen - "Bimini" - Wir werden bescheidener - Böß unsichtbar - Das Richterjubiläum des Alten Fritz.
Zwei typische Bauerfrauen, wie man sie in München noch häufig, in Berlin fast nie mehr sieht, schlendern am 18. Januar in der Burgstraße daher, an der Spree entlang. Sie bleiben stehen und schauen hinüber zum ältesten Teil des Königlichen Schlosses. Das ist ein Stück von ihrer Welt, ist ein Stück ihres Besitzes, denn Herrscher und Land waren eins. So etwas versteht der neudeutsche Städter freilich nicht. Nun sehe ich die beiden Bauerfrauen weitergehen und folge ihnen. Am Hause Burgstraße 20, dem Heim des Vereins Deutscher Studenten, entdecken sie eine große schwarzweißrote Fahne, und da leuchten ihnen die Augen. Dieser Sache muß man auf den Grund kommen! Schon sind die beiden in der Einfahrt und klimmen bedächtig, mit langen Hälsen, rechts die Treppe hinan. Von oben herunter poltert eilig ein Bruder Studio ihnen entgegen.
"Junger Mann, was is'n hier los ?"
"Och, wir feiern nur ein Fest!"
Und weg ist er. Jungchen, Jungchen, das hast du falsch gemacht. Hier hättest du verhalten müssen, die beiden Bauerfrauen so recht von Herzensgrunde anstrahlen müssen und ihnen sagen:
"Heute vor 59 Jahren ist das Deutsche Reich gegründet, König Wilhelm von Preußen Deutscher Kaiser geworden! Heute vor 59 Jahren waren endlich einmal alle Deutschen einig, schufen sie dich ihren starken Staat!"
Jungchen, mit diesen zwei Sätzen hättest du die beiden Frauen glücklich und dankbar gemacht; ihnen gezeigt, daß doch auch in diesem entarteten Berlin noch Wellen des gleichen Blutes pulsen wie draußen in der Mark oder in Pommern oder sonstwo, wo in deutschen Landen noch der Zusammenhang mit der Geschichte lebendig ist. Warum wird alles bei uns immer "vereinsoffiziell", statt zur Volkssache gemacht zu werden ? Im offiziellen Teil sprechen offizielle Redner. Meist akademisch, wie man sich eben des "officiums", der Pflicht, entledigt, hie und da einer wohl auch hinreißend. Aber wenn von solchen Feiern nicht ein lebendiger Strom ausgeht und alles Verkrustete in uns löst, dann sind sie doch sinnlos. So sinnlos waren früher vielfach die Kaiser-Geburtstag-Feiern im Beisein der "Spitzen der Behörden", und so sinnlos sind durchweg heute die Verfassungsfeiern "par ordre du Moufti". Unsere Festordner müßten einmal am 14. Juli den Betrieb in Paris ansehen oder am 23. April die Gründungsfeier Roms irgendwo in Italien, das wäre der beste Kursus für sie.
Unsere heute Regierenden, auf das Versailles von 1919 eingeschworen, wollen das Versailles von 1871 nicht mehr kennen. Von den öffentlichen Gebäuden sind nur die der Hochschulen und die der Reichswehr in Berlin beflaggt; letztere mit der schwarzweißroten Eiserne-Kreuz-Flagge mit schwarzrotgelbem Obereck. Der Soldat soll wenigstens daran erinnert werden, was das deutsche Heer einst erkämpft hat.
Wir Deutschen feiern seit altersher noch mehr als andere, aber leider immer unter dem Zeichen irgendeiner Verpflichtung. Man lädt ein, weil man damit einem gesellschaftlichen Zwange folgt; und Einladungen müssen "umschichtig" Schlag auf Schlag erfolgen, als wäre es eine Schlägermensur. Es gilt geradezu als Schande, zweimal bei denselben Leuten zu Gast zu sein, ohne daß man sich dazwischen "revanchiert" hat. Revanche ist manchmal wirklich der passende Ausdruck. Wir feiern pflichtgemäß den 60., neuerlich schon den 50. Geburtstag jedes Dichters, Ministerialrats, Abgeordneten, Professors, als ob die Jahresziffer 50 oder 60 an sich schon ein Verdienst wäre, das nicht ohne Reden und Telegramme abgehen darf. Der Silvesterabend ist nicht nur Karneval für Berlin, sondern mehr noch der Tag, an dem man seinen "Verpflichtungen" gegenüber Kunden, Klienten, Geschäftsfreunden durch ein Schlemmeressen in einem "ersten" Hotel gerecht wird. Das gehört nicht zu den Freuden des Lebens, sondern zum Unkostenkonto; so wie ja auch die Mehrzahl der Autos in Deutschland erstens auf Gummi, zweitens auf Stottern, drittens auf Geschäftsunkostenkonto läuft.
Vor ein paar Tagen habe auch ich einmal auf Unkostenkonto gegessen.
Mein Verleger - das geht mir glatt herunter - umwarb mich mittags bei Kempinski mit einer guten Flasche Wein (es blieb bei der einen, denn wir hatten beide nachher in unserem Beruf noch tüchtig bis zum Abend zu arbeiten) und gutem Kaviar auf Röstbrot. Das fällt heute schon auf. Der Nebentisch beschäftigt sich sichtlich mit uns. Man gibt sich gar nicht die Mühe, es heimlich zu tun, man beobachtet offen unsere Teller und unsere Mäuler und zählt jeden Bissen. Daß wir nachher nur noch ein Stück gekochtes Rindfleisch zu uns nehmen, das fällt weniger auf. Da erheben sich die Herren vom Nebentisch schon und fixieren uns noch einmal lächelnd beim Abschied.
Es sind junge höhere Beamte aus dem nahen Finanzministerium. Gott sei Dank. Ich dachte schon, es seien mittlere Beamte aus dem ebenfalls nahen Landesfinanzamt.
Das ist heute ein einträglicher Beruf für manchen eleganten Berliner, der alle vornehmen Gaststätten des In- und Auslandes besucht, auf Staatsunkostenkonto gut lebt und dafür - in Berlin und St. Moritz, in Rapallo und Baden-Baden, In Zoppot und Ostende, In Paris und Partenkirchen - nur festzustellen hat, ob da noch andere Deutsche gut leben, aber auf Privatkonto; und zwar in einem ungebührlichen Verhältnis zu ihrem offiziell gemeldeten Einkommen. Die Steuervigilanten bekommen Prozente von dem, was sie durch ihre Denunziationen dem Staate einbringen; einer von ihnen hat kürzlich in einem Prozeß zugeben müssen, daß er im letzten Jahre 88 000 Mark eingenommen habe.
Also: Vorsicht, Väter! Ihr reist vielleicht mit zwei Töchtern, die ihr gerne verheiratet sähet, nach Engelberg zum Wintersport, der euch selber greulich ist und viel Geld kostet, aber, je nun, da ist ein netter Doktor Soundso, anscheinend wohlhabend, der mit euren Töchtern tanzt und jede Annäherung an die Familie begrüßt. Nochmals: Vorsicht, Väter! Vielleicht spendet ihr bei Gelegenheit eine Flasche Sekt, um den jungen Mann warm zu machen, laßt euch auch wegen ein paar Royal Natives nicht lumpen, die ihr selber seit Menschengedenken euch nicht gegönnt habt, und, siehe da, wenn ihr heimkehrt, weiß euer Finanzamt alles und rechnet euren Luxus euch vor, denn der Herr Doktor - war Vigilant.
Solche Existenzen sind die Begleiterscheinung aller Zeiten, in denen die Geschäfte schlecht gehen und die Steuern sehr hoch sind. Die Schwelgerei selbst wird bei uns, wie ich seit 1923 regelmäßig feststelle, von Jahr zu Jahr geringer. Im abgelaufenen Jahr 1929 hat beispielsweise der Umsatz der deutschen Schaumweinindustrie seinen tiefsten Stand erreicht; drei Sektkellereien haben Bankerott gemacht, mehrere andere zahlen keine Dividende.
Ich bin nicht daran schuld. Nach meinen bescheidenen Mitteln leiste ich mir immer noch eine Flasche bei den Gelegenheiten, wo sie herkömmlich ist, also etwa am Skagerrak-Tage oder auf manchen Bällen, wenigstens auf Kostümfesten, die ich "pflichtgemäß" besuchen muß. Das gehört also zu meinem Geschäftsunkostenkonto, auch wenn es in meine private Kehle rinnt. Genau so wie der Frack, den ich privatim hasse, aus Berufsgründen manchmal aber anlegen muß. Auf Kostümfesten ist er zum Glück nicht nötig, da genügt ein unscheinbares Pierrotkostüm und ist bequem; und wenn man auf einem Kolonialfest oder dergleichen durchaus stilecht sein soll, so holt man sich aus der Truhe eben irgendeine fernöstliche Landestracht hervor, die man einmal von Reisen sich mitgebracht hat.
Von den 16 großen Berliner Bällen des letzten Sonnabends habe ich den des Vereins Berliner Künstler in der Bellevuestraße mitgemacht. An sich sind Künstlerkostümfeste gefährlich. Da sind mir die Leute zu echt. Der Apache bleibt in seiner Rolle und verschwindet, während du dich umdrehst, mit deiner eben aufgekorkten Henkell-trocken. Und die Eingeborene aus dem Sudan, das merkst du nachher an dem weißen Satin deines Anzuges, hatte sich den großenteils entblößten Körper mit einer Speckschwarte eingerieben. Aber dieses "Bimini", das alljährliche Fest der Berliner Künstler, ist noch das solideste, am wenigsten extravagante. Da freuen sich älteste Ehepaare wie die Kinder und walzen mit der Jugend um die Wette; und die Hälfte der vielleicht 800 Erschienenen kennt einander.
Zuerst sitze ich diesmal ganz einsam da. Dann entdeckt mich plötzlich ein lieber junger Kriegskamerad, dessen Laufbahn vom Unteroffizier zum Leutnant ich habe mitfördern können, und da muß die zweite Flasche heran und des Plauderns ist kein Ende; und mit dem Kameraden kommt ein lustiges junges Mädel, Edeltipse mit Gymnasialreife, und dann ist auf einmal noch eines da, eine Studentin, und dann, wie war das doch, ja, eigentlich wollte ich doch überhaupt nicht tanzen, nur ein bißchen beobachten, und schon um 1 Uhr zu Hause sein ?
Mit dem Beobachten geht es nicht mehr so leicht, wenn die Zeit erst so fortgeschritten ist, daß die verheirateten Frauen schon in Debatten über Lindsey und van de Velde sich wagen und die Männer in ihrer klassischen Ruhe und Bildung nicht mehr ganz so kapitelfest sind.
"Wilhelm Tell! Wilhelm Tell!" ruft einer von ihnen durch den Saal.
Und noch einmal, noch lauter: "Wilhelm Tell! Wilhelm Tell!"
Nichts rührt sich. Wo er hinsieht, da steht ein Mädel mit Pfeil und Bogen in der Hand. Armer verkannter kleiner Amor!
Auch klassische Götter müssen heute auf Nektar und Ambrosia verzichten. Endlich, endlich hört das Protzen mit Speise und Trank bei uns ein wenig auf. Sogar auf dem grßen repräsentativen Presseball, der an diesem Sonnabend steigt. Zum erstenmal seit langen Jahren hat man auf Hummer oder ähnliche teure Vorspeisen verzichtet. Das vereinfachte Ballsouper, immer noch zu kostbar für Young-Deutschland, ist diesmal um 40 v.H. gegen früher im Preise herabgesetzt.
In diesem Jahre fehlt Oberbürgermeister Böß bei allen solchen Gelegenheiten, wo er sonst stets zu erblicken war. Er ist "beurlaubt", solange die Disziplinaruntersuchung gegen ihn schwebt, und während der Beurlaubung bekommt er keine Repräsentationsgelder. Vom Gehalt aber zahlen alle unsere Neuregierer nur ungern. Für Böß wäre es jedenfalls peinlich, wenn er in irgendeinem Ballsaal die in Berlin jetzt so beliebte Verballhornung eines bekannten Schlagers trällern hörte:
Wenn du einmal 'nen Nerz verschenkst, |
In allen Kabaretts, für deren schleimige Conferenciers er früher schlechthin der ehrenfeste Republikaner war, den man kaum bewitzeln durfte, ist er heute vogelfrei und wird durch gute und schlechte Bemerkungen und Verse gehetzt. Es ist noch keine zwei Jahre her, daß er erklärte, er boykottiere jedes Berliner Hotel, das schwarzweißrot flagge. Heute ist er froh, wenn man ihn in den Hotels nicht boykottiert, sondern ihm eine Unterkunft gibt, damit er dort Ruhe vor dem hämischen Publikum hat, das ihn in seiner Wohnung nicht in Frieden läßt. Wer immer nur im Geschiebe der Massen geht, der darf sich nicht wundern, wenn sie ihn einmal absprengen. Das ist ja unser Elend, daß unsere Herrschenden keine Führer sind, auch auf der Linken nicht, keine Männer, die Weltgeschichte machen, indem sie sich - an "Aussichtsloses" wagen. Die Böß und Genossen sind immer den breiten Weg auf dem "Boden der Tatsachen" gegangen, haben niemals, wie der Alte Fritz, gegen eine Übermacht sich durchgesetzt: unter der Monarchie hielten sie Kaiserreden, unter der Republik machen sie Verfassungsfeiern, immer trotteten sie mit, niemals stürmten sie, und aus der sicheren Mehrheit heraus bewarfen sie die Minderheit mit Steinen. Seit Menschenaltern hatte Berlin nie einen wirklich populären Oberbürgermeister, so wie es Jimmy Walker für Newyork ist. Das ist sehr begreiflich.
Apropos, Alter Fritz: vor ein paar Wochen habe ich die Leser aufs Glatteis geführt, indem ich erzählte, seit seinem Richterspruch von 1779 seien nun gerade 250 Jahre verflossen. Jedem hundertsten Leser, der das merke und mir schriebe, gelobte ich ein Buch mit handschriftlicher Widmung. Es sind vier Gewinner geworden. Außerdem schicke ich denen, die "nahe daran" waren, einen kleinen Trostpreis. Viel Vergnügen! Die mit den 250 Jahren oder in der Mitte der verschiedenen "Hundertsten" Hereingefallenen aber kann ich nur bitten: Nichts für ungut!
23. Januar 1930 (Donnerstag)
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