"Rumpelstilzchen"

Piept es ?
(Jahrgangsband 1929/30)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1930

Glossen 16 - 18
19. Dezember 1929 bis 2. Januar 1930


16

"In der Heimat, in der Heimat" - Goldener Sonntag - Amerikaner und Kanadier unterwegs - Die "Emden" wieder da - Straßenhändler - Arbeitslose streiken - In einem Verlagsgeschäft vor Weihnachten - Schlüsselroman um Reinhardt.

"Die Vöglein im Walde, die singen so wunder-, wunderschön, in der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehn!"

Urplötzlich, niemand wußte woher, war dieses Einschiebsel im Lied vom guten Kameraden da. Eine Verballhornung natürlich. Ganz stillos. Aber wir im Felde empfanden es nicht so, als wir das sangen. Das Herz schlug den Takt bis zum Halse herauf: in der Heimat, in der Heimat! Heute, im sogenannten Frieden, ergreift die gleiche Sehnsucht wieder Millionen von uns, Millionen Zermürbter und im täglichen Ringen Abgekämpfter. Die Sehnsucht nach dem Vaterhaus. Die Familien rücken zusammen, für jeden Ankömmling wird Platz gemacht. Weihnacht zu Hause! An diesem Goldenen Sonntag, der nur durch einen Tag vom Christabend getrennt ist, fahren Hunderttausende Deutscher quer durch das ganze Reich, um heimzukommen, vom Norden zum Süden, vom Westen zum Osten und umgekehrt.

Just auf diesen Sonntag der Unrast ist da natürlich von Severing der Volksentscheid festgesetzt worden, so daß Hunderttausende nur unter Erschwernissen oder gar nicht ihre Stimme abgeben können. Auch den Handlungsgehilfen wird kein derzeit republikanischer Chef, trotz seiner angeblich freiheitlichen Grundsätze, eine Freistunde zum Gang ins Wahllokal gönnen. Es ist eine ganz abgefeimte Geschichte. Verfassungsbeugung und Terror ringsum, absolutistische Willkür überall: bis ein starker Arm einmal richtet und rächt.

Alles drängt nach Hause, nicht nur wir Deutschen.

Am vorigen Freitag, in dem Schnellzuge, der nach Bremen und Wilhelmshaven fährt, kommt in meinen Wagen, ganz vorn, ein amerikanisches Ehepaar. Der letzte Wagen, in dem die beiden gesessen haben, rüttelte zu sehr. Stück um Stück bringt der Schaffner das Gepäck ihnen nach.

"Ein Koffer fehlt noch!" sagt die Frau ängstlich.

Der Mann lächelt. "Germany ist allright!" sagt er. Nur keine Bange. Man ist im ehrlichen Deutschland.

Herrlich, herrlich; ich möchte den Mann umarmen. Dieses amerikanische Ehepaar hat sechs Monate Europabummel hinter sich, hat das Schönste gesehen, das Beste genossen, aber der Frau schmeckt nichts mehr, sie nimmt von Woche zu Woche ab, so übermächtig ist die Sehnsucht, Christmas zu Hause zu feiern, wieder einmal heimische Kost zu bekommen und den Nachbarn die Hände zu schütteln. Jetzt bringt das letzte Adventsschiff des Norddeutschen Lloyd diese Menschen nach Hause.

In umgekehrter Richtung eine wahre Völkerwanderung: von der pazifischen Küste Kanadas reisen 5000 Sehnsüchtige gen Osten, um endlich einmal wieder Christmas in Old-England zu feiern. "Das ist der Plumpuddingzug!" sagen die Amerikaner.

Mein Zug wird in Bremen fast leer, weil so viele Amerikaner aussteigen. Sie winken froh zurück. Berlin sei eine großartige Stadt, so sauber, so arbeitsam, je nun, neuerdings auch korrupt, aber es werde sich schon machen, nur freilich, gegen Brooklyn komme Berlin nicht an, daheim sei es doch am schönsten. Tata, tata, auf Wiedersehen!

Nun rattert der Zug weiter nach Wilhelmshaven, wo auch noch rechtzeitig vor dem Fest Menschenfracht angekommen ist. Die "Emden" ist wieder da! Einige Elternpaare, einige Väter fahren hin. Mir gegenüber sitzen strahlend zwei Männer, obwohl sie schon eine Reisenacht hinter sich haben. Der eine kommt aus jetzt polnischem Gebiet, um seinen Jungen zu begrüßen, der Ingenieur-Kadett ist, der andere Vater, ein kleiner Beamter, hat in Breslau zwei Tage Urlaub sich erwirkt, um seinen Sohn, der als Obermatrose die Weltreise auf dem Kreuzer mitgemacht hat, an Bord zu besuchen. Auch ich habe da ja einen Filius. Schweig still, mein Herze! Die Wiedersehensfreude nach 13 Monaten Trennung ist ja nicht die Hauptsache, sondern das Dankgefühl, weil in dieser Zeit die Reichsmarine aus unseren Jungen Männer gemacht hat, und der Stolz darauf, daß die "Emden" in fünf Erdteilen und drei Ozeanen den deutschen Namen zu Ehren gebracht hat.

Wie war es doch unten in Neuseeland ? Vor Ankunft des Schiffes haßerfüllte Artikel in der australischen Presse. Kapitän von Arnauld verzichtet auf das übliche Gepränge eines offiziellen Empfanges. Wir werden uns schon alleine durchsetzen! Ein paar Tage später liegt ihm sozusagen ganz Neuseeland zu Füßen. Völliger Umschwung der öffentlichen Meinung. Unsere prächtigen blauen Jungen werden erdrückt von der allgemeinen Volksgunst; der Pier bricht fast zusammen unter zehntausend Menschen, die dem deutschen Kriegsschiff und seiner Besatzung zujubeln.

Etliche Zeit später im Samoa-Archipel, auf der Reede des uns entrissenen Apia, außerhalb der Hoheitsgrenze, weitab vom Lande, denn Kapitän v.Arnauld will nicht für die neuen fremden Herren Salut schießen. Das versteht jeder Engländer! Das geht ihm durch und durch! Nicht unsere Politiker ringen ihm Achtung ab, sondern diese Hüter männlicher Tradition, die Heger der kleinen uns verbliebenen Sprossen und Triebe der gefällten alten Wehrmacht.Das, das, nur das soll unser Stolz sein. Alles Persönliche wird da ganz klein. Es war im übrigen nicht, wie der Binnenländer wohl meint, eine Vergnügungsreise, die die "Emden" um die Welt gemacht hat, es war harter, sehr harter und schwerer Dienst, es ist nicht alles eitel Glanz gewesen, aber in Summa hat man den Ruf Deutschlands erhöht. Man hat unendlich viel Schönes gesehen, viel gelernt, vor allem Urteilen gelernt, aber daheim ist es am besten, auch wenn Wilhelmshavens Wettergott, nein, Wetterteufel, sein grämlichstes Gesicht zeigt. In der Heimat, in der Heimat! Und selbst diejenigen, die auf Urlaub nur in Großstadtlärm kommen, hören aus dem Kreischen der Straßenbahn und dem Hupen der Autos nur ein feines bezauberndes Klingen heraus: die Vöglein im Walde, die singen so wunder-, wunderschön!

Mitten in dem Berliner Getobe und Geschiebe bilden sich in diesen Tagen, wo die große Erlaubnis für jeglichen Straßenhandel heraus ist, immer wieder Inseln, schwimmende Inseln aus Menschenleibern. Einige reißen ab und kommen wieder in den Strom, andere werden neu angeschwemmt und haften eine Weile. Der feste Kern ist der Händler, der Ausrufer. Das ist billiges Theater, man bleibt immer wieder stehen, auch wenn man nicht kaufen will und wirklich nicht kauft.

In der Königstraße am Platz vor dem Rathaus:

"Hier die modernsten Krawatten, zwo Stück eine Mark fuffzich, garantiert Kunstseide, die Ware ist prima, gehnse man rüber zu Böß'n, solche Krawatten hat ihm selbst Willi Sklarek nicht verpaßt!"

Am besten gehen kleine Sächelchen für den Hausrat, Schälmesser, Fleckseife, Aufhänger, auch Leselupen und dergleichen, aber im großen und ganzen ist das Geschäft mäßig. In den letzten Monaten sind zu viele Gehaltsempfänger abgebaut, zu viele Lohnarbeiter arbeitslos geworden. Das Neueste: jetzt streiken schon Erwerbslose. In einem westlichen Stadtbezirk hat das Wohlfahrtsamt den Unterstützten vorübergehend Hand- oder Kopfarbeit je nach ihrer Vorbildung zugewiesen, aber die Leute haben "wie ein Mann" die Beschäftigung zurückgewiesen.

Einer hat vor Weihnachten bestimmt immer Arbeit, auch wenn es ihm das Jahr über "mies" gegangen sein sollte, nämlich der Verlagsbuchhändler. Das ist so fieberhaft gedrängte Arbeit wie das Kohlen auf einem großen Kriegsschiff.

Nur der Schriftsteller, und gerade er müßte es besser wissen, zuckt meist die Achseln und schätzt diese "mechanische" Arbeit kaum. "Ist der Verleger nicht mein Feind, mit dem ich um jede Mark kämpfen muß ?" sagt er sich, ganz im Jargon des modernen Gewerkschafters. Viktor Blüthgen scherzte einmal sogar: die einzige verdienstvolle Tat Napoleons sei die Erschießung Palms gewesen, denn Palm war Buchhändler.

Für meine Person kann ich aber nur sagen, daß ich eine ungemeine Hochachtung vor dem Verlagsbuchhandel und besonders auch seiner geistigen Arbeit habe und es sehr bedauere, daß diese Arbeit heute vielfach zu einem Lotteriespiel geworden ist.

Die meisten Bücher, auch die besten und seelenvollsten, bleiben geschäftliche Nieten. Die Keller der Verleger sind voll. Das alles ist teuer bezahlt, wird vielleicht einmal an Warenhäuser als "Restauflage" verramscht, ist gewöhnlich aber Makulatur. Jeder Verleger hofft auf das große Los, nämlich auf den Schlager der Saison. Die Mittelgewinne aus dem soliden gängigen Geschäft alter Art sind selten.

Selbst das größte Unternehmen, die Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart, hat unter etwa 30 Neuerscheinungen eines Jahres immer nur ein halbes Dutzend, das rentiert, und vielleicht nur ein einziges Buch, diesmal wieder aus Rudolf Presbers launiger Feder, für das mit jeder Post scheffelweise die Bestellungen kommen. Mit ungeheurem Opfermut, mit stets neuer Propaganda, mit immer verblüffenderen Cellophanumschlägen machen die Verleger ihre Experimente. In Amerika arbeiten sie jetzt sogar mit individuellem Duft. Bücher für den Junggesellen haben feines Tabakaroma, für das Mägdelein betörenden Blumenhauch. Ein Buch strömt Brandgeruch aus. Ich schlage es auf und lese auf der ersten Seite in großer Schrift:

"Wenn Ihr Haus nach verbranntem Holz riecht wie dieses Buch beim Aufschlagen, wird es wohl zum Abschluß einer Feuerversicherung zu spät sein."

Es ist die großartige Reklame einer Versicherungsgesellschaft. "Wie wäre es", sage ich nun meinem Verleger, der ja auch die Kaczmarek-Bücher herausgebracht hat, "wenn Sie für diese Kommißanekdoten den richtigen Kolonnenduft einfingen ? Konzentriert könnten Sie ihn vielleicht von dem heimgekehrten deutschen Kreuzer beziehen, aus dem kleinen Raum, in dem die 47 See-, Bau- und Zahlmeisterkadetten neben- und übereinander in ihren Hängematten schlafen." Der Gute schüttelt sich. Nein, lieber nicht; in diesem Jahre gehen seine Bücher ja auch ohne Reklameduft sehr gut.

Das muß ich mir mal ansehen. Die erste, die zweite Post bringt Berge von Bestellungen der Sortimenter, der Ladenbuchhändler im ganzen Reiche. Wieviel meiner Mussolinis darunter heute ? Sechshundertzweiundvierzig ? Sehr gut, sehr gut. Von der Großbuchbinderei rollt eine neue Kiste mit 2000 Stück heran. Alle Mann an Deck! Nicht nur die Packer - unter ihnen ein der Not der Zeit erlegener ehemaliger Rittergutsbesitzer aus Pommern - müssen zugreifen, sondern auch das Bureaupersonal. Zuletzt klettert das kleinste Tippmädel in die Kiste, beinahe hätte ich gesagt, in den Schiffsbauch, und reicht von unten her die Bände. Die Fakturen fliegen aus dem Packraum in die Registratur, aus der Registratur in die Buchhalterei, schon hält das Postauto vor der Tür. Die Post, die immer moderner wird, ist nämlich Selbstabholer geworden. Sie will sich nicht mehr in ihren Räumen von Hausdienern mit Paketbergen belagern lassen. Von früh morgens an bis abends ½8 wälzt sich so der Bücherstrom. Die restliche Post wird später von Markthelfern zum Nacht-Paketpostamt gebracht; Berlins Bücherversand wächst neben dem von Leipzig und Stuttgart immer riesiger heran.

Im Kabinett des Verlegers schrillt derweil fast pausenlos das Telephon wie auch im Kontor. "Unbedingt noch vor Weihnachten!", tönt es immer wieder her. Tempo, Tempo! Und es ist schier zum Verzweifeln, wenn da mal auch - ein Autor oder Projektemacher oder sonst ein Faselhans am anderen Ende der Strippe steht und sie nicht loslassen will. Sie sind so störend wie die Dichter bei einer Bühnenprobe. In dieser Großkampfzeit aber, die doch auch Erntezeit ist, haben jene Verleger, deren Bücher gut gehen, ein sehr menschenfreundliches Herz, offen für jeden Appell, besonders wenn er in der netten Form etwa der nachstehenden Verse kommt:

Meine Koffer sind gepackt,
Und mich locken weiße Wälder.
Nur das Portemonnaie ist nackt,
Denn ihm fehlen noch die Gelder.
Schamhaft senk ich mein Gesicht, -
    Hilfst du oder hilfst du nicht ?
Für die Arbeit, längst getan,
Darf ich jetzt Entlohnung heischen ?
Oder wird ein holder Wahn
Wie so oft schon mich enttäuschen ?
Honorierst du dies Gedicht ?
    Zahlst du oder zahlst du nicht ?

So oder so ähnlich geht es in manchem Berliner Buchverlage zu, bis wieder die Sorgen und die Sichtwechsel kommen. Die Lotterie wird immer phantastischer: großes Los oder Niete, wird es bald heißen. Ein kleiner gefälliger Erfolg ist eine Seltenheit. Ein ganz neues Buch von Bruno Frank, "Der Magier", frisch erschienen, heimst ihn in Berlin W jetzt ein. Der Magier ist - Max Reinhardt. Nur heißt sein Schloß Leopoldskron im Buche Schloß Odenberg, ist ihm eine Hakennase angewachsen, wird seine Lady zu einer Prinzessin gemacht, endet er als steinalter Schauspieler bei - einer Negertruppe in New Orleans. Ein bißchen gespenstisch und doch zum Gruseln deutlich; und nicht ganz ohne den am Kurfürstendamm unentbehrlichen Wildgeruch. Für das übrige Berlin ist der "Magier" ohne sonderliches Interesse, hier aber wird er für den Klatsch der Cocktail-Parties in den Weihnachtstagen ausreichen. Hier ist nicht Deutschland. Hier ist nicht Christnacht.

Die sind ganz anderswo. In der Heimat, in der Heimat . . .
19. Dezember 1929 (Donnerstag)


17

Ein 250jähriges Zeitungsblatt - Der Müller-Arnold-Prozeß - Kommt der Alte Fritz wieder ? - Das Ergebnis des Volksentscheids - An der Straßenecke - Zu Hause vor den Weihnachtstischen - Vom Hurrapatriotismus - "Flieg', roter Adler!"

Nun habe ich den Tag doch verdammelt.

Daß ich der einzige Entdecker und Künder sein würde, darauf war ich schon seit Monaten stolz. Ich wollte nämlich am 14. Dezember 1929 aus den "Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen" vom 14. Dezember 1779 etwas abdrucken. Dieses kleine Quartblättchen der, wie sie damals hieß, Haude- und Spenerschen Zeitung hatte ich in einem Antiquariat aufgestöbert, in dem ich nach Alt-Berliner Denkwürdigkeiten wühlte, und für billiges Geld als köstlichen Schatz erworben. Just vor 250 Jahren ist da doch die Geschichte - Sie wissen schon - vom Alten Fritz und dem Müller passiert. Nein, Sie wissen nicht! Sicherlich denken Sie an die "historische" Mühle von Sans-souci, an den Prozeß des Müllers gegen den König: "Es gibt noch Richter in Berlin!" Das ist aber nicht Historie, sondern Legende. Geschichtlich wahr ist nicht eine Sache Müller gegen König, sondern König für Müller; und darüber haben vor 250 Jahren die Berlinischen Nachrichten sachlich berichtet.

Ob ich das Blättchen einmal dem Oberst v.Bötticher, dem gegenwärtigen Kommandeur der Artillerieschule in Jüterbog, oder einem anderen hervorragenden Fridericusforscher schenke ?

Es ist wirklich köstlich zu lesen, besonders in unserer Zeit des nicht aufgeklärten Absolutismus jener Republikaner, die Macht vor Recht gehen lassen.

"Von Seiner Königl. Majestät Höchst Selbst abgehaltenes Protokoll, den 11ten December 1779. Ueber die drey Cammergerichts-Räthe, Friedell, Graun und Raunsleben."

So lautet die Überschrift. Der König hat die drei Richter Knall und Fall entlassen, kassiert, weggejagt, auch den ihnen vorgesetzten Groß-Canzler, weil sie einen Müller in der Gegend von Küstrin ungerecht verurteilt haben. Ein Edelmann hatte das Wasser des Flüßchens, das die Mühle trieb, abgeleitet, um seine Fischteiche zu füllen. Der Müller konnte nur noch bei Hochwasser im Frühling und im Herbst, je etwa 14 Tage, mahlen. Trotzdem sollte er, so hatten die Richter entschieden, dem Edelmann nach wie vor die volle Pacht entrichten; und wenn er das nicht könne, werde die Mühle verkauft. Da braust der König auf, da greift er energisch ein:

"Se. Kön. Majestät werden daher in Ansehung der wider den Müller Arnold aus der Pommertziger Krebsmühle in der Neumark abgesprochenen und hier approbierten höchst ungerechten Sentenz ein nachdrückliches Exempel statuieren, damit sämtliche Justitzcollegia in allen Dero Provinzien sich daran spiegeln und keine dergleichen grobe Ungerechtigkeiten begehen mögen: denn sie müssen nur wissen, daß der geringste Bauer, ja was noch mehr ist, der Bettler, eben so wohl ein Mensch ist, wie Se. Majestät sind, und dem alle Justitz muß widerfahren werden, indem vor der Justitz alle Leute gleich sind, es mag seyn ein Prinz, der wider einen Bauern klagt, oder auch umgekehrt, so ist der Prinz vor der Justitz dem Bauer gleich: und bey solchen Gelegenheiten muß pur nach der Gerechtigkeit verfahren werden, ohne Ansehen der Person: Darnach mögen sich die Justitzcollegia nur zu richten haben, und wo sie nicht mit der Justitz ohne alles Ansehn der Person gerade durchgehen, sondern die natürliche Billigkeit bey Seite setzen, so sollen sie es mit Seiner Königl. Majestät zu thun kriegen."

Es ist begreiflich, daß die heute Regierenden den 250. Jahrestag dieses Königlichen Erlasses nicht zum Thema einer Rundfunkrede gemacht haben.

Wenn der Alte Fritz aus der Gruft wiedererstünde: sie müßten vor seinem Krückstock ausreißen.

Sicherlich würden sie von ihm weggejagt werden, weil sie Macht vor Recht gesetzt hätten. Das Gesetz sage, daß beim Volksentscheid "die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen" den Ausschlag gebe, und die sei vorhanden, fast sechs Millionen gegen einige hunderttausend; trotzdem verlangten sie, die vom Volksgericht Angeklagten und Verurteilten, 21 Millionen Stimmen, und verlangten dies aus eigenem Machtdiktat heraus, nicht nach dem Gutachten irgendeiner überparteilichen Behörde. Wir haben keinen überparteilichen König mehr. Auch der Reichspräsident - Gott sei's geklagt, die Wahrheit sei gesagt - scheint nicht den Entschluß aufzubringen, wie der Alte Fritz die letzte Hoffnung aller Vergewaltigten zu sein und für das Recht auf deutsche Freiheit sich einzusetzen. Und er ist doch der oberste Hüter der Verfassung! Anfang Januar wollen unsere Unterhändler zu den Abmachungen über unsere endgültige Tributversklavung in den Haag; eine Neujahrsbotschaft Hindenburgs, aus seinem eigenen Rechts- und Nationalgefühl geboren, könnte das Verhängnis noch aufhalten. Aber das Volk glaubt nicht mehr an irgendein königliches Eingreifen von ihm. Auch das sei - in aller Ehrerbietung - nicht mehr verschwiegen: daß er allen Entscheidungen aus dem Wege gehe, um "Ruhe zu haben", das glaubt es nur noch; obwohl ich persönlich weiß, daß es nicht so ist, daß er nämlich nicht "Ruhe haben" will, sondern im Gegenteil in der Qual der Entscheidung in den Nächten keinen Schlaf mehr findet.

Das Volk geht dumpf und stumpf, mit Ausnahme jener 6 Millionen, die an der Wahlurne ein Bekenntnis ablegten, ins Verderben.

Nicht einmal die Kassenpleite des Deutschen Reiches in diesem Dezember, die im März verstärkt wiederkehren wird, trotz aller erhöhten Steuern, hat die großen Massen aufgerüttelt. Weihnacht war zu nah. Es gibt zwar Hunderttausende, die diesmal die sonst übliche Gratifikation nicht bekommen haben, weil schon das ganze Geschäftsleben stockt. Aber den Feinkostläden geht es noch gut, man hat durch Schmausen an zwei Tagen das Notgespenst zum Schweigen gebracht, hat wohl auch winzige erheiternde Kleinigkeiten neben dem Notwendigsten an Wäsche und Bekleidung einander auf die Gabentische gelegt. Christbäume sind diesmal nicht ausverkauft gewesen; zehntausende sind von Berlin wieder abgefahren worden oder einfach an Ort und Stelle liegengeblieben. Nur die Straßenverkäufer von Zehnpfennig-Artikeln sagen, es sei ganz leidlich gegangen. So mit den kleinen Plüschhunden, "garantiert stubenrein und steuerfrei".

"Der süße Hund, det kleene Aas,
Kost' 'n Jroschen, macht for 'n Daler Spaß!"

deklamiert unermüdlich ein Händler an der Ecke Kalckreuth- und Kleiststraße, sieht einen langen Artilleriefähnrich in Uniform, einen Weihnachtsurlauber, im Publikum, und ruft ihm sofort zu:

"Sie da, der Wachtmeester von de Feuerwehr, kennse nich 'n Wachhund brauchen ?"

Gleich darauf wendet er sich an ein Dienstmädchen:

"Na Frollein, 'n Kind von mir wollense doch nich, wie wär's mit 'n Hundchen ?"

Sogar ein alter Herr bleibt nicht unangesprochen:

"For Ihre Klinik, Herr Professor, den Hund derfense ruhig fifisezieren!"

Und eine elegante Dame bekommt zu hören:

"Jnä' Frau, for 'n Jroschen Ersatz zum´Knutschen, wenn der Herr Jemahl auf Jeneralversammlung jeht!"

Alles lacht und kauft; der Mann hat guten Umsatz.

Bei mir zu Hause sind wir leider jetzt alle schon so schrecklich erwachsen, daß es nicht einmal mehr Wunderkerzen zu geben braucht, die sonst die Kinder so gerne sprühen ließen. Zum ersten Mal keine Wunderkerzen! Dafür lassen wir uns von den Wundern der Südsee etwas - vorschweigen. Die Geschwister sind von dem Jüngsten, dem Herrn Weltumsegler, etwas enttäuscht, weil er wie ein ganz gewöhnlicher Deutscher nur lautlos und beharrlich sich Pfeffernüsse und sonstige Süßigkeiten sozusagen am laufenden Bande in den Mund stopft und daher nicht zum Sprechen kommt.

Es ist überhaupt wie immer. Die elf hochbepackten Weihnachtsteller werden unvermerkt flach, werden unvermerkt von der Hausfrau wieder aufgefüllt, werden unvermerkt wieder flach, denn jedermann hält in der Linken ein Buch und liest, während die Rechte ständig als Greifbagger über dem Teller pendelt. Was man liest ? Die Bücher, die - die anderen bekommen haben; Ehrensache. Für die eigenen ist später immer noch Zeit. Am meisten reißt man sich um das Vorrecht an Gräfin Salburgs "Die Nonnen von St. Hildegunden", den stärksten Roman, den je eine Frau geschrieben, und dabei einen Roman, in dem "sie" sich nicht einmal "kriegen". Kapitänleutnant Buschs "Kreuzerfahrten", Augenblicksbilder von unserer gegenwärtigen Reichsmarine, ein kleines sehr lebendiges Büchlein, macht auch sehr schnell die Runde. Von meinem eigenen Tisch wird Euringers "Fliegerschule 4" am häufigsten entliehen, weil dieses Werk des straffen Soldaten und glockenreinen Dichters - ich war mit ihm im Kriege einmal zur selben Fliegerschule kommandiert und war mit ihm auch eine kurze Zeit Marineflieger in der Nordsee - die ungeheure, auch todesmutige Arbeit der Heimat in diesem Kriege uns so vor Augen führt, wie es bisher noch keiner vermochte.

Überhaupt liegen diesmal auffällig viel Kriegsbücher, mit Zindlers "Auf Biegen und Brechen" als allerschönstem voran, in unserer Halle. Es sind ganz andere, unendlich viel reifere, als wir sie in den Kriegsjahren selbst hatten, wir haben endlich die richtige Distanz gewonnen. Meine Söhne, nicht nur die beiden Mitlkämpfer, die noch als Knaben mitzogen, der eine mit 15 Jahren, sondern auch die nachher herangewachsenen, sind mit mir ganz eines Sinnes, daß die Festedruff-Literatur der alten Zeit unerträglich ist. Wir sind für äußerste Pflichterfüllung, jeder Zeit zu jedem Ruf des Vaterlandes bereit, aber gar nicht für Hurrapatriotismus. Wir wollen uns schier ausschütten vor Lachen, als unser Ältester eine Parodie auf jene billigen Poetereien vorträgt, die damals von reklamiert Daheimgebliebenen verbrochen wurde:

"Was steigt denn dort am Horizont
Für schwarzer Qualm empor ?
Das ist des Kaisers Segelyacht,
Das ist der "Meteor"!
Der Kaiser steht am Steuerrad,
Prinz Heinrich lehnt am Schlot,
Und hinten schwingt Prinz Adalbert
Die Fahne Schwarzweißrot!"

Wahre Vaterlandsliebe und wahre Königstreue sind nie wortreich und überschwenglich gewesen.

Viele Kaisergeburtstagsredner von einst sind heute Kesselpauker der Republik geworden. Viele Schweiger von einst aber haben im Kriege still Unerhörtes geleistet und sind noch heute nicht um Haaresbreite von ihrer alten Gesinnung abgewichen. Ohne, daß sie "etwas davon haben".

Die Sozialdemokratie, die heute nicht weniger als 298 000 Beamtenpöstchen in Stadt und Land mit ihren Leuten besetzt hat, nutzt den Staat und die Gemeinden und die öffentlich-rechtlichen Anstalten ganz anders aus, als es jemals eine andere Partei getan hat. Der Erfolg - heißt Pleite. Solange die Steuerzahler, die doch an Wahltagen das System stürzen könnten, sich das gefallen lassen, bleibt das System Futterkrippe unerschüttert. Die einen, die 298 000 futtern, und 40 Millionen Menschen bezahlen dafür; wer Bonzen haben will, der mag sie behalten, denn jeder ist seines Glückes Schmied, und kein Gerede über Diktatur vermag daran etwas zu ändern.

Auch in der Weltpolitik bringt uns die Mischung "Reden und Nichtstun" nicht vorwärts. Unsere Diplomatie hat in den letzten fünf Jahren nicht einen einzigen Tatgedanken zur Welt gebracht. Sie war nur Mittler und Angleicher fremden Machtwillens.

Was nützt uns das schwächliche Gewimmer wegen Südtirols, das Schelten der Stammtische auf Mussolini ? Werdet doch wie er! Das ist besser. So war es schon im Weltkriege, wo wir den "Haßgesang" ausgerechnet eines Herrn Lissauer gegen England deklamierten, aber den uneingeschränkten Tauchbootkrieg gegen die Engländer scheuten.

Warum waren wir nicht rücksichtslos wie die Engländer ? Wer den andern blockierte, der hatte gewonnen; wir aber schimpften, blockierten nicht, sondern ließen über uns die Hungerblockade ergehen. Jetzt geht wieder eine solche "patriotische " Welle durch Berlin. Im Lessingtheater schreien Leute aus dem Publikum Bravo, wenn auf der Bühne ein "kühnes" Wort gegen Italien gesagt wird. Es ist ein wirklich hinreißendes Schauspiel von eines Volkes Not - und von seiner Härtung in der Not - nach dem großen Grenzraub, das uns Fred Angermayer in seinem "Flieg', roter Adler!" bietet. Es ist der rote Adler von Tirol. Ein Drama von der Art wie Schönherrs wuchtige "Erde" oder gar wie desselben Dichters "Glaube und Heimat". Wegen einiger Ausdrücke darin hat die italienische Botschaft (eine deutsche im Ausland täte es nie) Beschwerde erhoben. Offiziell erwiderte unser Auswärtiges Amt, es habe keine Zensurmittel, das Theater sei frei; aber unter der Hand wurde dem Drama, denn man hat doch freundschaftliche Druckmittel, nicht wahr, einige Zähne ausgebrochen.

Es bleibt noch genug übrig. Es bleibt die wundervolle Gestalt der kantigen alten Eggthalerin, die sich zum Deutschtum durchgerungen hat, von Agnes Straub in atemraubender Größe verkörpert. Die stammt selber vom Dachauer Moos, also nicht gerade hundert Meilen weit von Tirol, und vermag schon so etwas Erdverbundenes und Knorriges darzustellen. Ein Urzeitmensch, diese grauhaarige Alte vom "Grenzhof", und auch ihr Sohn,, der schnaufende Wirt, wie aus Holz geschnitzt, Heinrich George; und die Magd Rosl, Franziska Kinz, in ihrer blonden Zöpfe Pracht und mit ihren tiefen Kehllauten ein Mädel wie von Defregger gemalt. Es ist alles fabelhaft echt, die Menschen, die Sprache, der Hausrat; auch das zeitgeschichtliche Kolorit mit dem Martyrium der Jenseitsdeutschen. Der Eggthalerin wird der Enkel und Erbe, der Toni, drüben von den Italienern verhaftet, als er ohne Ausweis über die Grenze geht, und er entgeht zwei Jahren Kerker nur dadurch, daß er einen Schein unterschreibt, in dem er sich zum dereinstigen Verkauf des "Grenzhofs" an einen Italiener verpflichtet.

Die Alte ist es zufrieden, daß sie den Toni wiederhat. In ihrer Bauernpfiffigkeit glaubt sie, es genüge, wenn sie die Wirtschaft in "Tiroler Hof" umtaufe, denn den habe der Toni nicht verkauft. Und sie schwingt das neue Schild mit dem Tiroler Adler:

"Flieg', roter Adler!"

Ein gerührtes Publikum applaudiert wie besessen. Das ist Theater, schlechtestes Theater. Deutsche Vereinsmeierei: hoch, hoch, hoch!

Ich habe darauf gefiebert, daß die Eggthalerin statt dessen gesagt hätte:

"Geh' wieder 'nüber, du Mistbua, elendiger! Und wennst verrckst, sitz' deine zwoa Jahrln ab! Der Hof bleibt deutsch!"
27. Dezember 1929 (Freitag)


18

Großstadt-Flüchtigkeit - Wir können nicht mehr erkunden - Weihnacht in der Blindenanstalt - Der Entschuldigungszettel - Silvestertrubel - Unsere Jungens auf dem "Sturmball" - Laßt Blumen sprechen!

"So etwas müßte doch in der Zeitung stehen!" sagt mir manchmal entrüstet der oder jener, der nicht weiß, wo er abstimmen muß, oder sich darüber ärgert, daß irgendein weitverbreiteter Schwindel angeblich keine Erwiderung findet. Hat gestanden, hat gestanden, mein Lieber! Nur du hast eilig und gedankenlos darüber hinweggelesen.

Es ist ganz toll, dieses Dahergleiten der Augen im Schnellzugstempo, daß die Buchstaben vorüberflirren, ohne zu Begriffen zu werden.

In der Plauderei der vorigen Woche habe ich die Probe auf das Exempel gemacht. Gleich in der ersten Betrachtung steht da, am Anfang, in der Erinnerung an Friedrich den Großen, etwas ganz Unmögliches. Niemand von den Meinigen, die die Plauderei immer schon am Donnerstag Abend lesen, hat es gemerkt. Auch die Stenotypistin ist beim Korrekturlesen darüber hinweggeglitten. Dann habe ich mich den Meinigen offenbart und ein Buch mit eigenhändiger Widmung für jeden hundertsten Leser ausgelobt, der das "Unmögliche" merken und es mir in einer Zuschrift an die Redaktion mitteilen werde. Da müßten doch Tausende mir "Etsch, etsch!" schreiben, nicht wahr ?

Ein einziger hat es bisher getan. Ein Leser aus Chemnitz. Die Sachsen sind helle.

Man kann wirklich Tausende von Leuten fragen, ob sie die Geschichte von Friedrich dem Großen und dem Eisenbahnschaffner kennen, und kaum einer antwortet nüchtern: "Damals gab es doch noch gar keine Eisenbahn!" Wir sind gedankenfaul geworden, wir sind mit Eindrücken übersättigt, aber keiner haftet; nur das Lauteste und Grellste eine Weile. Die fast zwei Kilometer lange Wilhelmstraße hat an einer einzigen Stelle zwei Bäume. Es gibt Leute, die das tausendmal gesehen haben, weil ihr Berufsweg sie täglich da vorüberführt, aber doch können sie nicht sagen, an welcher Stelle die Bäume stehen. Wir sehen zu viel, wir hören zu viel, wir merken nichts, wir behalten nichts.

Schickt ein Großstädter sein Kind auf irgendeine Erkundung aus, so kommt es in neun von zehn Fällen mit unvollständigen Meldungen zurück.

Als unsere Kinder noch klein waren, habe ich sie daher häufig sozusagen Patrouille gehen lassen. Die Augen auf! Nicht immer nur vor sich nieder oder weit voraus geschaut, sondern in die nächste Umgebung! Und sofort mit dem Gedächtnis wie mit einer Kneifzange zugepackt! Die Sherlock-Holmes-Geschichten imponieren nur jener Jugend, die in den Großstädten auf nichts mehr achtet, sogar das Kreuzen einer Straße durch Lampensignale mechanisiert bekommt. Jeder Landjunge weiß von einem Käfer, einem Staketenzaun, einem Wacholderstrauch mehr, als wir aus dem Bereich von 100 Quadratmetern vor der eigenen Haustür. Wir beobachten nicht, wir denken nicht; wir gehen wie Nachtwandler ohne Erinnerung durch das Leben.

Erst wenn wir blind werden, werden wir sehend.

Hier und da steht in Berlin ein Blinder mit der Armbinde, die ihn kennzeichnet, und hält Streichhölzer oder sonst etwas feil. Er kennt die Leute, die ständig vorüberkommen, an ihrem Schritt. Er kennt den Klang und die Größe jedes Geldstücks. Er weiß genau, wieviel Meter es bis zur nächsten Straßenecke sind. Er macht sich ein Bild von jedem Gegenstand, das nicht überblendet wird. Ohne je Professor Jägers Schriften gelesen zu haben, kann er die Menschen nach ihrem Seelenduft registrieren. Ohne ihre Mienen studieren zu können, sieht er doch ihre Lust oder Unlust. Und weil er das Dunkle im Leben nicht sieht, ist das Leben für ihn licht; fast jeder Blinde macht, wenn es ihm nicht gar zu jammervoll geht oder wenn er nicht berufsmäßig Elend mimen muß, den Eindruck eines Glücklichen.

Das ist die große Offenbarung auch für die sehenden Besucher etwa der staatlichen Blindenanstalt in der Rothenburgstraße in Steglitz. Eine Gräfin Rothenburg hat einst - das war wohl vor hundert und mehr Jahren - das Geld dazu gestiftet. Schade, daß die heutigen Gräfinnen nicht mehr so reich sind. Die Anstalt, deren Gebäude veraltet sind, könnte neue gebrauchen, vor allem ein anderes Grundstück, weil das jetzige - der große Garten daran - stark hügelig ist. Es ist erstaunlich, mit welcher Sicherheit die blinden Kinder sich da bewegen, aber man möchte doch einen ebenen Sportplatz haben, damit sie sich richtig wie Sehende austollen können. Neben der Schule für rund 150 Kinder birgt die Anstalt Werkstätten für Erwachsene, die erst recht den Ehrgeiz haben, es den Sehenden gleichzutun. Verblüffend, wie sicher sie beispielsweise beim Bürstenbinden mit dem flüssigen Pech hantieren! Dabei haben sie strahlende Gesichter, denn überall ertönt Musik aus Lautsprechern, und die empfinden sie weit mächtiger als wir.

Leider wird nur die Möglichkeit, den Blinden Verdienst zu schaffen, von Jahr zu Jahr geringer. Sie werden selbst bei ihren "spezifischen" Arbeiten immer mehr von der Maschine abgelöst, so bei der Herstellung von Pappschachteln für Zigaretten, Konfituren usw. So leiden sie auch unter der Not der Zeit, auch wenn sie fast durchweg mit wenigem zufrieden sind.

In der Schule der Blinden ist erschütternd nur der todestraurige Ausdruck jener Kinder, die erst seit kurzem im großen Dunkel gestrandet sind; wer unter ihnen schon längere Zeit unter der gütigen und verstehenden Führung der Leiter und Lehrer steht, der schaut zufrieden und fröhlich drein. Dabei haben es die Herren nicht leicht. Heute sind doch Kinder viel undisziplinierter als früher, und die Öffentlichkeit argwöhnischer als je: wie soll man da strafen ? Es ist eine gesegnete, aber mühevolle Arbeit in täglicher ernster Selbstprüfung.

Herrlich, dieses Weihnachtsfest unter den kleinen Blinden. Nirgends funkelte der Stern von Bethlehem so hell. Jubelnd betastet und befingert eine Kleine ihre Puppe, bis sie sich sozusagen jeden Gesichtszug eingeprägt hat. Die Fingerchen laufen so schnell entlang wie bei einem Klaviervirtuosen über die Tasten. Es ist ein Trillern der Freude. Genau so macht es ein Junge, der einen Karton mit Spielzeug vor sich hat, einen Hühnerhof. "Hast du auch einen Hahn ?" Sofort fangen die Finger des Bübchens an zu laufen, ganz schnell, aber ganz weich, - alsbald hat es an einem der Holztierchen den längeren Schwanz erfühlt und zeigt den Pascha des Hofes dem Frager. "Jawohl, auch einen Hahn!" Und jauchzt sein Kikeriki.

Ihre Tastschrift, die aus erhaben gepreßten Punkten verschiedener Anordnung besteht, lesen die Blinden so schnell vor, wie wir irgendein Buch. Es gibt blinde Maschinenschreiberinnen, die sich nie vertippen. Unser blinder Klavierstimmer ist ein Patriarch, dessen inneres Leuchten uns fast blendet. Ein blinder Masseur ist einem sehenden oft vorzuziehen, weil er von vornherein nur körperhaft, nur dreidimensional denkt. Das Unerklärlichste ist mir der Fernsinn der Blinden. Meine Frau, die sehr gute Augen besitzt, hat eigentlich immer irgendwo einen blauen Flecken, weil sie alleweil geschäftig irgendein Möbel anrennt. Der Blinde in der Nachbarstraße aber riecht - wenn man es so nennen darf - eine Wand, einen Rinnstein, ein Hindernis auch in fremder Gegend schon von weitem.

Beinahe möchte ich sagen, daß Blinde logischer denken als Sehende. Jedenfalls drücken sie sich über das, was sie denken, klarer aus. Sie würden nie etwa einen solchen Entschuldigungszettel schreiben. wie ihn kürzlich eine sehende Berlinerin, deren Tochter eine Volksschule in Berlin N besucht, ihrer Lehrerin eingereicht hat:

"Da meine Tochter von Geburt an Nabelschmerz leidet, und auch mit Hilfe des Artztes nicht beseitigt werden konnte, die Meinung des Artztes mit der Zeit verwachsen wird, dieselbe wieder an Nabelschmerzen leidet, vom Turnen dißpinsieren zu wollen."

Es ist schon eine wunderliche Welt, in der wir Sehenden leben. Wenn wir lustig sein wollen, machen wir uns unkenntlich. Am Silvesterabend gehen viele Berliner Damen auf Kostümbälle, die ihren Namen davon haben, daß die Damen fast gar kein Kostüm anhaben. Sie zeigen dafür in Lebensgröße ihre unbekleideten Oberschenkel, die wir uns ganz anders vorgestellt hatten. Nur bei Damen in orientalischem Kostüm ist der Bauchnabel sehr ähnlich. Bekannte von uns, die von dem Mitternachtsgottesdienst in der Stadtmissionskirche heimkehrten, fanden es shocking, daß ihnen in der Untergrundbahn ein Herr mit einer Pappnase gegenübersaß, auf dessen Schoß ein Mädchen in Apachengewandung sich an ihm festhielt. Das ist - wegen der Kurven. Das Paar hätte natürlich auch mit einer Autodroschke fahren können, aber erstens muß man die Untergrundbahn noch ausnutzen, ehe sie im neuen Jahre teurer wird, und zweitens kann man in der Autodroschke die Menschen nicht shockieren. Es gehört nun einmal zum sogenannten feinen Benimm des Berliners, daß er sein Vergnügen nicht in der Stille sucht, sondern darin findet, öffentlich Ärgernis zu geben. Nachher auf dem Kostümball ärgert sich kein Mensch mehr über das Knutschen, und wenn keiner sich ärgert, macht es keinen Spaß mehr.

Wir haben die Jahreswende wie üblich daheim in der Stille (nur daß die Raketen, Frösche, Kanonenschläge draußen sehr deutlich hereinklangen) begangen, mit einem kurzen Wort des Ernstes und der Liebe nach etliche heiteren am Familientisch. Dann aber, um 1 Uhr, nahm ich die beiden jüngsten Herren Söhne und brachte sie auf den Sturmball ins Hotel Esplanade. Allmählich sind sie doch erwachsen. Nun sollen sie sich selber ein Urteil bilden.

"Also, Jung's, ihr werdet ja sehen, daß ihr hier mit jeder wildfremden Dame lostanzen könnt. Amusiert euch gut, aber Punkt halb und Punkt ganz meldet ihr euch jedesmal hier bei mir im Vorraum an der Tür!"

Kaum hatte ich dies gesagt, da tanzten wir schon - alle drei. Es war ein Dampfbad. Bei den Herren glänzten die Gesichter, bei den Damen, wegen Puderersparnis, die Oberschenkel. Einmal eräugte ich den blonden Schopf eines meiner Buben, der tanzte (und promenierte nachher) mit einem jungen Mädchen, das nicht von dieser Welt zu sein schien, denn es trug ein langes richtiges Kleid aus lachsfarbener Seide. Punkt halb und Punkt voll - bei uns geht es immer auf die Minute - trafen wir uns immer, und beim sechsten Treffen fragten die Buben, ob wir nicht noch länger bleiben könnten: sie hätten die beiden einzigen wirklich anständigen Mädchen des Sturmballes, die eine sei Studentin in München und die andere habe zu Weihnachten sogar eines meiner Bücher von ihren Eltern in Brandenburg geschenkt bekommen. Nein, meine Lieben, jetzt fahren wir nach Hause! Nun habt ihr auch diesen Rummel gesehen, nun habt ihr einen Blick in die Berliner Amusierwelt getan, und wenn übermorgen an eurem letzten Urlaubstag daheim getanzt wird, paßt auf, wieviel netter das sein wird!

Man kann dabei wirklich wieder feststellen, daß die Berliner Silvesterfeier, wenn auch leider die rein politischen Messerstechereien zunehmen, von Jahr zu Jahr weniger Ausschreitungen aufweist.

Im Grunde sind die Leutchen harmlos und tun nur orgiastisch. "Am Kottbuser Tor ist es knorke, da gehen wir hin, in die gemütliche Stampe, wo der Koks nur anderthalb Mark kostet!" Der junge Mann, der das laut ruft, will nur Aufsehen erregen; er hat gesunde rote Backen, er hat sicherlich noch nie Kokain geschnupft.

Am offenen Fenster im ersten Stock eines Hauses steht in der Silvesternacht ein etwa zehnjähriger Junge und kräht, während einige Kameraden draußen emporstarren, wie ein Gockel: "O, ich bin besoffen, ich habe drei Glas Punsch gekriegt!" Du Wichtigtuer, du, die Gläser waren ja zu drei Vierteln voll Selterwasser!

Es wäre auch sehr merkwürdig, wenn wir das Nahen eines Jahres, über dem der Pleitegeier rauscht, mit besonders starker Alkoholfeier begrüßen wollten. Es ist wieder "weniger als je" getrunken worden. Schieber und Prominente und sogenannte Spitzen der Behörden haben zwar vielfach in den großen Hotels zur üblichen Poularde sich getroffen, aber während noch vor wenigen Jahren das trockene Gedeck dort überall einheitlich 40 Mark kostete, ging es diesmal bis zu 12 Mark herunter. Dazu lockten und barmten verschiedene Gaststätten mit besonderen Anzeigen:

"Kein Gedeck! Kein Eintritt!"

Komisches Deutsch; wo kein Eintritt ist, da kann man doch nicht hingehen.

Am Neujahrsmorgen gibt es am Frühstückstisch bei uns eingelegten sauren Hering. Das ist aber nur symbolisch. Niemand von uns hat ihn nötig, wir sind munter und arbeitsfrisch. Ein leibhaftiger Professor der Medizin aus Concepcion in Chile, zur Zeit in Berlin, könnte dies auf Wunsch ärztlich bestätigen.

Und drei dunkelrote Rosen in langem Kelchglas verbreiten köstlichen Duft.

Der Geber wohnt in weiter Ferne. In alter Zeit hätte er ein Eilpäckchen geschickt, wir hätten seine gute Absicht gelobt, aber die welken Blumen bald wegstellen müssen. Heute haben die Gärtnereien unter dem Motto: "Laßt Blumen sprechen!" eine Organisation in allen Erdteilen geschaffen, die frische Blumenspenden dank den vielen angeschlossenen Kollegen ermöglicht. Man geht in seiner Stadt zu einem der Blumenhändler, gibt die Adresse und den Preis, den man anlegen will; ein kurzes Codewort genügt für das Telegramm, und morgen findet dein Freund in Honolulu, Lima, Casablanca, Durban, Port Lincoln oder Wladiwostok den Strauß auf dem Tisch. Es kann auch deine Frau in Engelberg sein. Oder dein toter Sohn bekommt vor Verdun einen frischen Kranz auf das Grab.

Angeblich sind wir Deutsche an unseren Festtagen zu feuchtfröhlich und rauh. Aber im Sinnigen sind wir gerade zu Weihnachten und Neujahr den Fremden doch noch über.
2. Januar 1930 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts