"Rumpelstilzchen"

Piept es ?
(Jahrgangsband 1929/30)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1930

Glossen 13 - 15
28. November bis 12. Dezember 1929


13

Zur Geschichte des Landwehrkasinos - Toni van Eyck - Film und Bühne - "Die weiße Hölle des Piz Palü" - Totensonntag - Das Gedenkmal in Freienwalde - Am 11.11. um 11 Uhr - Anglo-American Tea-Room.

Unten poltert es auf der Kegelbahn, oben spielt Toni van Eyck, dazwischen begrüßen sich Kriegskameraden, was ist das ?

Das ist das Landwehrkasino in der Jebensstraße in Berlin-Charlottenburg, einem Blinddarm der Hardenbergstraße, unmittelbar hinter dem Bahnhof Zoologischer Garten.

Wir alle haben das noch als freies Gelände gekannt, wo man im Sommer Tennis spielte und im Winter - Westeisbahn hieß es - auf Schlittschuhen schwerenöterte. Dann brachte etliche Jahre vor dem Kriege die Kameradschaftliche Vereinigung von 1872, die die Berliner Offiziere des Beurlaubtenstandes umfaßte, das nötige Geld für das riesige Kasinogebäude auf, das nach Fertigstellung der Kaiser persönlich einweihte.

Auf einem der Feste, die er alljährlich besuchte, nannte er die Herren der Reserve und Landwehr seine "Triarier", also im Sinne der alten Römer das entscheidende letzte Aufgebot der Durchbruchstruppe der Feldschlacht. Ein stolzer Ehrentitel, im Frieden schier zu viel für einen Stand, der es gewohnt war, Sommerleutnant genannt zu werden. Aber er ist des Namens wert geworden. Von Immelmann bis Seldte eine ungezählte Schar Tüchtiger und Tapferer, die zwar nicht die intensive Ausbildung der Aktiven hinter sich hatten und infolgedessen nicht so wie sie Erzieher des Heeres sein konnten, sondern immer Zöglinge blieben, aber im Felde meist besser ihre Pflicht taten als der manchmal allzuschnell fertiggemachte Kriegsleutnant. Unter den Heerführern hatten sie sozusagen ihren Sonderheiligen: auch der Feldmarschall v.Mackensen hat einst die Einjährigenschnüre getragen.

Vor dem Kriege dachte man freilich wenig an den Krieg. Das Reserveoffizierdasein war - man möchte "leider" dazu sagen - vielfach eine gesellschaftliche Angelegenheit. Eine Notwendigkeit für den Regierungsassessor. Eine Hebung für den jungen Bankangestellten. Und manchmal eine bittere Sorge für den aufstrebenden Geschäftsmann, dem seine natürlich überall bekannte Offizierseigenschaft häufig genug Briefe etwa des Inhalts eintrug:

"Und werde ich, falls bis zum Ersten die Rechnung nicht beglichen ist, nicht verfehlen, Ihrem Herrn Bezirkskommandeur davon Mitteilung zu machen."

Das ging bis zu den Röhrenstiefeln, die der angehende Oberlehrer bei irgendeinem Schuhmacher auf Kredit bezog. Dafür wurde das bißchen Glanz weidlich ausgenutzt, oft mehr, als dem im Grunde ernsten Beruf zuträglich war. An den Tagen der Kontrollversammlung, an denen Uniform getragen wurde, zogen manche jungen Leute in Berlin sie nach der Kontrolle nicht aus, sondern saßen noch um Mitternacht in ihr in einem Café, dessen Besucher dann auch Zeuge der bekannten "vorgerückten Stimmung" wurden; sozial gab es manches Ärgernis infolge der Überheblichkeit einzelner undisziplinierter Geister.

Aber im Landwehrkasino, da war man ganz unter sich. Und es war schön. Überall schwere Möbel und gute Bilder, Widmungsgeschenke wohlhabender Kameraden oder ganzer Offizierkorps. Der ranghöchste Berliner Reserveoffizier, der einzige Oberstleutnant d.R. im ganzen Heere, war der Fürst Radziwill; der reichste wahrscheinlich der Rittmeister d.R. Bankier v.Schwabach. Nach dem Kriege ist das Haus der Mittelpunkt für Zusammenkünfte der Offiziere aller Art geworden, überhaupt der Kriegsteilnehmer, nicht nur der Offiziere des Beurlaubtenstandes. Ein gutes Dutzend von größeren und kleineren Sälen steht für die Regimentsabende zur Verfügung und ist im Winterhalbjahr nahezu ständig belegt. Nur der große Kaisersaal oben hat, um das Landwehrkasino rentabel zu erhalten, in ein Theater umgewandelt werden müssen, und das Bierrestaurant, die Weinstuben, die Schwemme, die Kegelbahnen, die Hochzeitszimmer stehen auch jedem Zivilbenutzer offen. Hier haben die Bilderstürmer des neuen Deutschlands noch keine Gewalt.

Im Treppenhause steht ehern Friedrich Wilhelm III., grüßt die Landwehr von 1813 von den Wänden, und im Restaurant hängt ein mächtiges, sprechend ähnliches Bild Wilhelms II. in Admiralsuniform.

Das Theater im Landwehrkasino hat meist Pächter, die liebe Harmlosigkeiten, Altheidelberg und ähnliches, dem modernen Krampf vorziehen. Augenblicklich hat das "Deutsche Volkstheater" sein Heim hier aufgeschlagen und seine Ziele unter der Leitung Joachims v.Ostau höher gesteckt; es ist mehr als bloß Unterhaltungsbühne für höhere Töchter und es hat das große Verdienst, Toni van Eyck aus zeitweiliger Verborgenheit wieder hervorgeholt zu haben. Toni van Eyck ? Gewiß, sie ist ja noch heute Mitglied des "Deutschen Theaters", aber dort so gut wie ohne Beschäftigung, seit sie uns vor ein paar Jahren das große Wunder ihres Käthchens von Heilbronn hinbrachte. Damals schlug Rührung und Begeisterung über uns zusammen. Aber alsbald gingen dunkle Gerüchte: diese Toni sei eben doch noch ganz Kind; sie müsse, wie manche Flaschenweine, erst in jahrelanger Stille ihre Edelreife erhalten. Nun spielt sie bei Joachim v.Ostau die Titelrolle in Dario Nicodemis Komödie "Scampolo", spielt da nicht mehr das versonnene schwäbische Märchenkind, sondern eine scheue, zärtliche, italienische Wildkatze. Ist sie Kind ? Ist sie Weib ? Selbst alte Theaterkritiker machen ein Fragezeichen, schnalzen aber entzückt mit der Zunge, denn so etwas absolut Naturhaftes und Ungemachtes haben sie noch nie gesehen. Uns anderen aber ist sie eine herzhafte Freude, eine seelische Erholung, ein inneres Beglücktsein. Es ist so schön, einmal einen Abend nicht verkrampft, sondern ganz gelöst und fröhlich sein zu können.

Da ist es einem aber plötzlich, als habe man etwas ähnliches schon einmal erlebt oder gelesen. Scampolo ? Scampolo ?

Richtig, das war ein Film! Mit der gar nicht mehr kindhaften Carmen Boni als Scampolo. Und wie veräußerlicht war alles, wie ohne jede Innigkeit! Der Film eines hübschen Lazzaroni-Mädchens, das zum Schluß den reichen Freier hat; aber mehr noch der Film vom Hund, vom rasenden Auto, vom fahrenden Eisenbahnzug, vom Straßentreiben, von der bösen Tante, lauter entbehrlichen überflüssigen Dingen, die "Bewegung" hineinbringen sollen. Im Theaterstück sind dafür wir selbst innerlich bewegt, gepackt, belustigt, aufgeräumt, auch wenn auf der Bühne keine Hast gemimt wird. Am Tage darauf habe ich die Probe aufs Exempel gemacht. Ich schickte ein Kind aus dem Volke, das bisher nur Filme gesehen, auch Scampolo, in das Deutsche Volkstheater und holte es nach Schluß der Vorstellung ab. Um ein Haar hätte das junge Mädel mir die Hand geküßt. Und es sagte, dies sei das größte Ereignis seines Lebens gewesen.

Das Ideal wäre natürlich, wenn es in der Hauptsache nur solche Filme gäbe, die auf der Bühne unaufführbar sind, so "Die weiße Hölle des Piz Palü", das Erschütterndste aus der Alpenmajestät, das Dramatischeste, das ich je gesehen; und umgekehrt nur solche Theaterstücke, die, wenn man sie auf der Leinewand der Sprache und der lebendigen Persönlichkeit entkleidet, seelenlos werden müssen wie die kleine Scampolo oder Minna von Barnhelm. Dieses Ideal werden wir freilich nie erreichen. Wer Beethovens Eroica im Konzertsaal nicht haben kann, der greift eben zur Schallplatte; und umgekehrt bemüht sich heute mancher Theaterdirektor, die Bühne für das teuflische Maschinengedröhn zu erobern.

Wie im ersten Teil des Jahres Volkstrauertag und Karfreitag, so sollen im letzten Teil Bußtag und Totensonntag uns etwas zur Besinnung bringen, soll die Jazzmusik schweigen, nur ernste Kunst uns geboten werden. An diesem Totensonntag hat der Berliner Polizeipräsident zum ersten Male die Überlieferung gebrochen und das alltägliche Gequäk auf uns losgelassen. Trotzdem waren die Kirchen, die Friedhöfe, die Gedenkfeiern überfüllt, nur daß natürlich die roten Genossen des Polizeipräsidenten da nicht zu finden waren. Die Tage der Einkehr sind für das ganze Volk geschaffen, aber in unserer Zeit enthüllen sie nur die Kluft zwischen den beiden verschiedenen Lagern.

Am Totensonntag bin ich draußen in der Mark gewesen, im Bad Freienwalde, das gerade sein Gedenkmal für den Krieg einweihte. Bewilligt war es, soviel ich weiß, einmütig von den Stadtverordneten bis zu den Sozialdemokraten hin, aber bei der Eröffnung fehlte die "Masse Mensch", waren im wesentlichen doch nur wieder die Nationalen - und daneben natürlich Kriegshinterbliebene - erschienen. Zum ersten Male in meinem Leben bin ich in Freienwalde. Nein, was kann die verschriene Sandbüchse Brandenburg doch schön sein; das Land hier vor der Oder ist ja ein Stückchen Thüringerwald, die Stadt liegt angeschmiegt an bewaldete Berge, und hoch über ihr, im weiten Heldenhain, steht nun das Gedenkmal. Wenn man emporsteigt, scheint oben eine alte Burgmauer durch die Bäume zu lugen. Davor sieht man dann leuchtend vor dem dunklen Hintergrund die Figurengruppe: eine verhärmte junge Frau, die den Stahlhelm in ihrer Linken an die Brust drückt und mit der Rechten ihren kleinen Sohn segnet, der noch halb an die Rockfalte der Mutter gelehnt ist, aber keck mit geballtem Fäustchen dasteht. Vergangenheit und Zukunft. Meinetwegen: verlorener Krieg, kommender Sieg. Der Pazifist aber kann ruhig sagen, hier balle sich die Energie des friedlichen Wiederaufbaus. Wer die Gefallenen ehren will, braucht die Lebenden nicht zu spalten.

Auf der Rückseite des winkeligen Gemäuers die Ehrentafeln mit den Namen der 300 Freienwalder Gefallenen unter acht sehr realistischen Kriegertotenmasken, darüber die goldene Inschrift:

"Wenn Euer Geist nicht die Verwesung meistert, so meistert sie Euren Geist."

Mit der Eigenart dieses Bauwerks bin ich sehr zufrieden, nachdem man so viele nackte "idealschöne" Jünglinge und so viele tote Löwen mit dem Speerschaft im Bauch auf Kriegsdenkmälern gesehen hat. Einer meiner Söhne, den ein merkwürdiger sonst in der Familie nicht vorhandener Dämon zur Bildhauerei getrieben hat, hat es gemacht, während der ganzen Zeit vom Vater reichlich verulkt, sparsam anerkannt. Und nun stehe ich im Publikum, fern von den Honoratioren in Zylinderhüten, und habe meinen Spaß an den Gesprächen.

"Der junge Bildhauer ist noch zuletzt mit 17 Jahren in den Krieg gekommen, der weiß, wie schrecklich das ist."

"Ja, die Köppe sind gruselig, aber wir verstehen nischt davon, sagen die Herren, wir sollen bloß nicht meckern!"

Es sind zwei alte Frauen, die sich das erzählen. Sie sind mit Kränzen gekommen, irgendein Lieber ist ihnen gefallen. Sie haben vielleicht noch sein letztes freundliches Lächeln in der Erinnerung, als er auf Urlaub daheim war. So, nur so, lebt sein Bild weiter. Sie können sich die im Tode geschlossenen, ehedem lachenden Augen, sie können sich die dünngezogenen Lippen, die eingefallenen Wangen nicht vorstellen. Schadet nichts. Dafür mögen die Vollgefressenen und die Drückeberger vor der Majestät des Todes erschauern, die kommenden jungen Kämpfer davor ernst werden. Mit bloßen Schulbuchpatriotismus ist es nicht getan. Wir werden dereinst ein noch härteres Geschlecht brauchen, als es das von 1914/1918 war.

Wir brauchen nicht immer auf der Gloire herumzureiten, wie die Franzosen es tun, aber etwas von der ernsten Einmütigkeit täte uns not, mit der die Engländer in der ganzen Welt das Gedächtnis des Krieges begehen. Am 11. November um 11 Uhr vormittags blieb eine Gruppe junger Leute mitten auf dem Kurfürstendamm plötzlich stehen, zog die Hüte und verharrte zwei Minuten lang barhaupt und unbeweglich. Später hörte ich, daß es englische Sportler waren. Ob sie in London oder in Paris, in Shanghai oder in Kairo sich befinden: am 11. November um 11 Uhr vormittags stehen sie zu Ehren ihrer Toten aus den Weltkriege still; und zum Dank für die Errettung ihres Vaterlandes durch die deutsche Waffenstreckung an jenem Tage. Nirgends läßt der Angelsachse sich in seinen heimischen Bräuchen stören.

Auf dem ganzen Erdenrund muß auch jedes Hotel sich seinen Gewohnheiten anpassen. Selbst Museen schließen nachmittags, um mit der heiligen 5-Uhr-Teestunde nicht zu kollidieren. Tee, englischer Tee, das ist ein höllenschwarzes, schweres Gebräu, durch Milch gemildert, nicht die goldhelle leichte Flüssigkeit, die der Chinese und Russe liebt. Aber dieser englische Tee ist eine feierliche Angelegenheit, vor der sogar der Sport versinken muß. Um die 5-Uhr-Stunde wird selbst das aufregendste Cricket-Match unterbrochen. Auf dem Bahnsteig Tee, auf der Autostraße Tee, im Theater Tee, der in die Bänke im Parkett hineingereicht wird, überall Tee, wenn die gewohnte Stunde schlägt. In den Propyläen der Akropolis sah ich einmal eine Schar junger Engländer und Engländerinnen, die andächtig dem Vortrag eines Professors über griechische Kunst und Geschichte lauschten; aber kurz nach 4 Uhr wurden sie unaufmerksam, unruhig, standen auf und - entflohen schließlich in großen Sätzen zum Hof, zum heiligen Tee. Jede Arbeit wird, wie am 11. November um 11 Uhr für die Toten, täglich für den 5-Uhr-Tee verlassen.

In Berlin vermißt der Engländer und Angloamerikaner im Hotel am Tee noch die Schwärze und die Feierlichkeit, obwohl man sich Mühe gibt, es ihm recht zu machen. Da geht er denn zum Kurfürstendamm 180 in den Anglo-American Tea-Room, den eine betriebsame Dame der Gesellschaft, aus Boston U.S.A., hier errichtet hat, indem sie eine große Privatwohnung von zehn Zimmern nahm und im Geschmack ihrer Landsleute möblierte. Da gibt es den "richtigen" Tee. Da gibt es senfgewürzte Sandwiches und verlorene Eier auf Toast, da gibt es auch ständig Bridge-Partien, zu 2,20 Mark Kartengeld. Man ist fast ganz unter sich, nur daß bisweilen die eine oder die andere deutsche Lehrerin mit ein paar Lernenden herkommt, um englischen Klang zu hören. Jeder Amerikaner, der nach Berlin reist, geht zu diesem Tea-Room. Es ist da ganz "homelike", ganz heimelich-heimisch für ihn. Zu Weihnachten findet auch der Engländer, der Schotte sein gewohntes Christmas-Dinner daselbst. Und hin und wieder - geöffnet sind die Räume von einhalb drei Uhr nachmittags bis in die Nacht - wird da auch getanzt.

Kommt der Berliner ins Ausland, dann macht er es umgekehrt. Dann bekennt er so gut wie nie, daß er Deutscher sei, lehrt die Gasthalter nie das Eingehen auf deutsche Bedürfnisse, sondern tut so "eingeboren" als nur möglich. Das hat sein Gutes: er lernt viel. Das hat aber auch sein Schlechtes: er lehrt die Fremden nie Rücksicht auf Deutsches.
28. November 1929 (Donnerstag)


14

Leere Theater - Familienrat für Weihnachten - Kunstgewerblerinnen in Überzahl und Nöten - Ein neues Flottenbuch - Das typische Offiziersschicksal - Werbekunst und Reklame - Wohnkultur durch Frauenhand - Christa Tordy.

Die Theater, die sonst mit Kind und Kegel, die Kabaretts, die mit Mann und Maus ihre Ränge füllten, gähnen halbleer, sobald das erste Tannengrün, der erste Silberstern in den Schaufensterdekorationen auftauchen. Die großen Bälle sind im Dezember zwar wie immer gut besucht, im übrigen aber ist schlechte Zeit für die Vergnügungsstätten. Man ist, selbst in Berlin, auf einmal wieder Familie geworden. In unserer Kinderzeit wurde da, heimlich und beglückt, in jeder Zimmerecke geflickt, gestickt, gestrickt. Der Dezember war der Monat der Handarbeiten. Heute, wo die Töchter schon in jungen Jahren berufstätig werden, ist das Haus nicht mehr so werkfröhlich. Arbeitsteilung, Spezialisierung! Die jungen Mädchen, die monatlich ihr Gehalt bekommen, machen die Sächelchen für Weihnachten nicht mehr selbst, sondern kaufen sie bei anderen weiblichen Wesen, die sich Kunstgewerblerinnen nennen. Auch der Vater bastelt nicht. Er rechnet nur noch. Wieviel kann ich im Durchschnitt für jedes Kind, für die Gattin, die Schwägerin, die Nichte, das Dienstmädchen ausgeben ? Daran schließt sich dann ein längerer Kabinettsrat.

Zu dem unserigen steht eine Flasche Wein mit zwei Gläsern da. Keine sehr berühmte Flasche. "Sauer macht lustig!" tröstet meine Frau mich mit dem alten rheinischen Spruch. Sie verzieht aber selber den Mund und sagt angesichts der etwas grell bebilderten Flasche: "Ich kann diese bunten Etiketten nicht leiden!" Sie hat recht. Das wirklich vornehme ist schlicht. Ich nicke und bemerke: "Mir sind die einfachen schwarzweißen Schildchen auch lieber, in der Ecke oben links mit dem alten preußischen Wappen, und dazu die Inschrift -"

"Jawohl", platzt meine Frau dazwischen, "mit Gott für König und Vaterland!"

Da muß ich wirklich lachen.

"Ach, du Dummes", sage ich, "ich meine natürlich: 1893er Steinberger Kabinett Auslese!"

Frauen sind immer mit dem Mund so schnell vorneweg; unsereins ist bedächtiger. Aber bei dem Kabinettsrat für Weihnachten sind sie gut zu gebrauchen, weil sie erstens die Wünsche jedes einzelnen besser kennen und fachmännischer beurteilen (so werden sie einem fernen Sohn, der auf eine nachlässige Wäscherin angewiesen ist, nie feine wollene, sondern nur baumwollene Socken schicken) und weil sie zweitens gerechter als der Mann sind, gewissenhaft darauf bedacht, daß nicht etwa eines der eigenen sechs Kinder mehr bekommt als einer der beiden Pflegesöhne.

Wenn ich so aus der engsten Umgebung etwas erzähle, so ist das immer, weil ich meine, es ist typisch auch für tausend andere Berliner Familien, in die ich in der Adventszeit nicht so hineinblicken kann. Der Durchschnittsbetrag, der von unserem Kabinettsrat genehmigt wird, im ordentlichen Etat für die Angehörigen, im außerordentlichen für fremde Notleidende, ist diesmal etwas höher als sonst. Da kann man sich schon was leisten. Ich will ein übriges tun, ich will das gute Dutzend von Bazaren besuchen, die mir von den Vereinen "dringend ans Herz gelegt" sind, auch die vielen einzelnen Kunstgewerblerinnen, deren Not zum Himmel nach Weihnachtskäufern schreit. Mir ist nur der Gedanke unbehaglich, daß einst vielleicht sogar kunstgewerblich verniedlichte Urnen Mode werden. Da muß ich denn doch noch einen Zusatz zum Testament machen, etwa dazuschreiben:

"Und, meine Lieben, wenn ich einmal sterbe,
Schützt meine Asche vor dem Kunstgewerbe!"

Aber ich meine es in Wirklichkeit nicht bös. Ich gehe schon, ich gehe schon. Und es ist doch ein schwerer Gang. In den Sälen, in den Ateliers, in den Hofwohnungen bricht mir der Angstschweiß vor dieser Überproduktion an unnützem bric-à-brac aus. So viel Vitrinen oder gar Möbelvorsprünge hat ja kein Mensch, um da alle die Keramik-Fabeltiere unterzubringen! Oder die Puppen aus Stoff mit langen Baumelbeinen. Die eingelegten Schälchen und Kästchen. Die Perlenstickereien. Die bizarren Kerzenhalter. Die - was weiß ich. Es ist eine sinnverwirrende Fülle.

Eine Dame, in deren Atelier mir besonders einige reizende kleine Wachsplastiken auffallen, darunter die heilige Pelagieia, die Schutzpatronin der Tänzerinnen, die hier nur schon sehr heilig und fast ohne sündiges Fleisch hagert, klagt:

"Eigentlich bin ich Spezialistin für künstlerische lederne Damenhandtaschen; aber mich kosten die Zutaten mehr, als die fertigen Taschen im Warenhaus kosten!"

Eine andere Kunstgewerblerin, eine schon ältere, einst sehr wohlhabende, jetzt gänzlich verarmte Frau hat sich auf Schulterrosen für Damenkleider verlegt. Zunächst nahm jeder Bekannte ihr einige ab, aber schließlich gibt es doch eine Grenze für verfügbare Damenschultern. Dann stockt das Geschäft. Das dumme kunstunverständige Publikum sei schuld, meint verbittert diese unermüdliche Arbeiterin; ich solle das Stachelschwein mal kitzeln. Nein, meine Liebe, so ist das nicht; sondern wir sind ein ganz armes Volk geworden, und wir haben meinetwegen keine Überproduktion, aber jedenfalls einen Unterkonsum.

Und wenn man mich einen Kunstbanausen nennen sollte: in den heutigen Zeitläuften bin ich für sogenanntes Nützliches und für Bücher, Bücher, Bücher. Mit Ausnahmen natürlich. Gegen Kunstgewerbe habe ich gar nichts, ich wünschte sogar, aber das bleibt frommer Wunsch, daß es die Fabrikware ausstäche. Ein entzückendes junges Mädel hat mir dieser Tage einen Scheerenschnitt ("Rumpelstilzchen") geschenkt, ein nicht minder liebes meine Frau einen benähten Seidenschal. Das ist dann wirklich eine Wonne. Aber sonst: Bücher, Bücher, Bücher!

Neulich habe ich Familien mit noch kleinen Kindern Professor Wilhelm Steinhausens "Schneewittchen" empfohlen, das nur leider nicht im Ladenbuchhandel erschienen ist, sondern direkt vom Steinhausen-Archiv in der Wolfsgangstraße in Frankfurt a.M. bezogen werden muß. Heute möchte ich für große Jungen - aber auch für alle Erwachsenen - zu einem Flottenbuch raten, das ich buchstäblich unter Lachen und Weinen verschlungen habe. In unserer Kinderzeit fand sich überall Admiral Werners Buch von der deutschen Flotte auf den Weihnachtstischen. Ob ein Junge zur Flotte wollte oder nicht, aber meist wollte er, jedenfalls wollte er dieses Buch. Allmählich veraltete es. Zwei Jahre vor dem Kriege schrieb ich dann, vom Reichsmarineamt darum ersucht, unter dem Namen Gerd Fritz Leberecht mein "Auf, über, unter Wasser" mit allerlei Kriegsschiff-, Zeppelin- und Tauchbootfahrten. Heute ist ein Werk, das den Krieg noch nicht einbegreift, natürlich nicht mehr modern. Ich mache auch keine neue Auflage mehr; nur einige besonders dramatische Kapitel daraus habe ich in dem vorjährigen Sammelbande "Rumpelstilzchen: Politisches, Militärisches, Weltanschauung" aus der Vergessenheit gerettet. Aber nun ist ja Ersatz da: Kapitänleutnant a.D. Teltz' "Zur See" aus dem Verlage von Wilhelm Köhler, Minden; ein stattlicher, bilderreicher Band für den billigen Preis von nur 6 Mark.

Das Buch hat mich gepackt und geschüttelt; eben noch platzt man über irgend etwas fabelhaft Lustiges, im nächsten Augenblick werden einem die Augen feucht über heldenhaft Erhebendes. Der Verfasser ist ein Ausnahmemensch. Man denke: trotz eines "Ungenügend" in Mathematik im Abiturium auf der Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde - und die Marine verlangt doch "Gut" - kriegt der glückliche Frechdachs es fertig, ohne hochmögende Verwandte, ohne Konnexionen, aber durch persönliche Fürbitte beim Kaiser, angenommen zu werden. Er hat dauernd, auch noch später als Offizier, mit Seekrankheit zu kämpfen, füllt aber trotzdem tüchtig jeden Posten aus, auf dem Tauchboot wie auf dem Linienschiff, ist bei Kriegsausbruch in Ostasien, schlägt sich über Amerika zur Heimat durch, macht Skagerrak und Oesel mit, erlebt in allen Meeren viel, behält alles im Gedächtnis - und versteht zu erzählen.

Was er nach dem Kriege war ? Wie so viele junge Offiziere: fast alles.

Zuerst in offizieller Stellung bei der Schiffahrtsgruppe West, dann ein paar Jahre beim Kölner Messeamt, dann Leiter eines Golfklubs, dann unglücklicher Gründer einer Großgarage, dann in einer unfreiwilligen Ruhepause in diesem Sommer Verfasser des vorliegenden köstlichen Buches, gegenwärtig auf Probe angestellt in einer Mineralölgesellschaft. Noch getrennt von seiner Frau. Die ist anderswo berufstätig. Hoffentlich bringt der Ertrag des Buches den beiden lieben Menschen wieder die gemeinsame Wohnung; das wäre für sie das schönste Weihnachtsgeschenk. Von den Nachkriegs-Irrfahrten steht natürlich in dem Buche nichts. Es ist ja ein Flottenbuch, keine Biographie. Aber Teltz hat noch ein Mütterchen in Potsdam wohnen, also für mich erreichbar, und dieses Mütterchen hat ein bißchen ausgeplaudert. Einen famosen Jungen hat sie. Und ein famoses Buch hat er geschrieben. Zehn Jahre lang hat er, an Großstädte gebannt, zuerst Köln, dann Berlin, die See nicht mehr gesehen, an die doch sein Herz gekettet ist. Nun zum erstenmal wieder eine Reise nach Hamburg, nach Kiel: da steht sein ganzes Seemannsleben wieder vor ihm auf, da kann er nicht anders, da setzt er sich hin und schreibt, die Wangen heiß vor Freude.

Man bleibt in diesen Tagen, wenn man es auch noch so eilig hat, nicht nur vor Buchläden, sondern auch vor anderen Auslagen stehen. Man sieht sich auch die Prospekte an, die die Post einem ins Haus bringt, man studiert sogar die Anzeigen in den Zeitschriften. Überall eine außerordentliche Entwicklung der Werbekunst. Was sie bedeutet, das hat die Ala, die große Annoncenfirma, in den letzten Monaten uns immer wieder durch Ausstellungen und Vorträge gezeigt. Der Geschäftsmann, der heute nicht wirbt, durch Zeitung, Katalog, Schaufenster, der kommt unter die Räder. In den Vereinigten Staaten von Amerika sind im vorigen Jahre rund 2,4 Milliarden Mark für Reklame ausgegeben worden. Wir in Deutschland geben nur einen kleinen Bruchteil dieser Summe dafür aus, steigern ihn aber notgedrungen von Jahr zu Jahr. Berlin marschiert da an der Spitze, denn hier muß man einander schon überschreien, um aufzufallen. Die beste Werbekunst braucht aber nicht zu schreien. Sie braucht uns nur leise die Hand auf den Arm zu legen; das übrige kann sie unserem Auge überlassen, wenn es sich nicht Warenstapeln gegenübersieht, sondern wohltuend-bestechender Zusammenstellung.

Da haben es Möbelfabriken leicht: sie zeigen eingerichtete Zimmer. Aber seit sie es alle tun, muß der Wettbewerb auf Neues kommen. Ein solches Möbelhaus am Alexanderplatz hat jetzt zwei Wochen lang unter dem Titel "Wohnkultur durch Frauenhand" 33 Fest- und Alltagsräume ausgestellt. Zu Gunsten der Kinderfürsorge der Berliner Frauenvereine. Unter dem Protektorat Anna v.Gierkes. Immer nobel; die kleine Notiz, daß die benutzten Möbel alle von der Firma bezogen sind, genügt, im übrigen spricht man nur von Kultur, nicht vom Geschäft.

Manches ist da wirklich sehr lehrreich und geschmackbildend, so "das möblierte Zimmer, wie es ist" und "das möblierte Zimmer, wie es sein sollte"; da sieht man bei allen Besuchern wirklich nur schmunzelnde Gesichter. Cilly Feindt, die Turnierreiterin und Filmdiva, die soeben auch den ersten Preis in der Europameisterschaft für Amateurtänzer bekommen hat, zeigt ihr Jungmädchenzimmer, das ich freilich nur unerträglich rosa finde. Fritzi Massarys gute Stube ist ein wenig altbacken-stillose Plüschherrlichkeit. Schon besser "Vor dem Presseball" Henny Portens Schlafzimmer mit dem Spitzenkleid über der Stuhllehne, dem sonstigen Behang, der offenen Schmuckkassette mit herausquellenden Perlenschnüren. Da gafft man freilich. Von einem Mittelstandsehepaar erhasche ich gerade zwei Sätze. "Möchtest du solch' ein Juwelenkästchen haben ?" fragt er. Das ist die stereotype Frage. "Wozu, ich habe ja keine Juwelen!" antwortet die Frau mit zuckenden Lippen. Das ist wohl auch stereotyp.

Nun reizte mich dieser Horchposten, ich blieb eine längere Weile da. Immer wieder fast wörtlich die gleiche Frage, die gleiche Antwort. Aber dann ein Paar, auch zersorgt, auch nicht wohlhabend, aber innerlich fröhlich. Wieder dieselbe Frage. Als Antwort aber ein Händeklatschen:

"Ei ja doch, das Kästchen, aber die Juwelen dazu, und dann würde ich sie sofort verkaufen, und das Geld kriegst du, und dann haben wir keine Sorgen mehr!"

Ich schlendere noch weiter umher, sehe mir das etwas preziöse Amtszimmer der "Oberstudiendirektorin Dr. Elsa Matz M.d.R. an, das kurfürstendammerische "Cocktail und Bridge" der Modeschriftstellerin Elsa Herzog, das Zimmer der Hausschneiderin, das Zimmer eines Tertianers, das Zimmer einer Musikfreundin, "Intimes Diner", "Silvester", lauter gesättigte Sachen reicher Leute. Im Gegensatz dazu Marianne und Elisabeth Urbigs Hochgebirgs-Gaststube mit Kachelofen, einfachstem Hausrat, Wintersportgerät und netten Wandinschriften wie

"A Mittel, daß koan Streit gibt
Und alles abgeht in Ruah,
Is, wenn oaner nix redt,
Und die andern hör'n zua!"

Das Beste in der Ausstellung ist nach meinen Begriffen die "Einzimmerige Musterwohnung für ein Beamtenehepaar", ungemein praktisch und doch wirklich schön; das schalkhaft-lustigste aber der von Dr. Christa Tordy, Harry Liedtkes Frau, aufgebaute Raum: "Harry hat Geburtstag". Sie ist nicht die erste Frau Liedtkes. Aber die erste, die seiner sicher zu sein scheint, Vergnügt baut sie da alle die Päckchen auf, rosa kartonniert, goldverschnürt, die ihr Mann von Verehrerinnen bekommt. Nur keine Eifersucht! Bitte, seht alle her: "Dem Herzensbrecher Harry Liedtke", "Meinem süßen Harry", so oder so ähnlich lauten die Aufschriften auf vielen der Pakete. Fein, wenn Frauen - so in Werbekunst machen, wie es Christa Tordy tut.

Eigentlich heißt sie ja nicht Christa Tordy, sondern Anneliese Uhlenhorn. Kam vor einigen Jahren, um Kunstgeschichte zu studieren, nach Berlin. Die Achtzehnjährige, scheu, schüchtern wurde zu dem Kunsthistoriker Professor Schuchardt nach Lichterfelde in Pension gegeben, wurde von "Onkel" und "Tante", dem Professorehepaar, wie ein Eigenkind gehütet, dichtete, malte, stritt mit dem Primaner Schuchardt über Weltanschauung, balgte sich mit ihm nach Knabenart. Besuchte auch die Universität, wo sie schließlich sogar ihren Doktor gebaut hat.

Nur war inzwischen eines Tages plötzlich eine große Veränderung über Anneliese gekommen. Das frische junge Ding wurde zur mondänen Dame, hatte auf einmal der Kusine Mady Christians sogar Puderquaste und Lippenstift entliehen und war so tollkühn, einmal die ihr sehr ähnliche Mady, die gerade erkrankt war, bei einer Filmaufnahme zu vertreten. (Notabene, ich erzähle - so boshaft bin ich - dies alles als Antwort auf zahlreiche Anfragen junger Damen, wie man zum Film kommt.) Und eines Tages fährt Anneliese Uhlenhorn, die zuletzt zu ihrer Kusine übergesiedelt war, in schneeweißem Auto und höchster Eleganz bei Schuchardts vor, schickt ihre Visitenkarte hinein, auf der "Anneliese Liedtke, geb. Uhlenhorn" steht, sagt, sie habe gestern Harry Liedtke geheiratet, und nun - sollten Professors ihr helfen, ihre Eltern in Wiesbaden nachträglich herumzukriegen. Sie möchten doch am selben Abend mit ihr und Liedtke hinreisen.

Die Sache ist damals in Ordnung gekommen. Alles gerät Doktor Anneliese. Mit dem Filmen hat sie Schluß gemacht, als sie heiratete. Und ihre beste jetzige Freundin heißt Käthe Dorsch. Das ist die vorige Frau von Harry Liedtke.
5. Dezember 1929 (Donnerstag)


15

Der Mohr im Schaufenster - Neuerburg-Film - Berliner Jugend - Im Kabarett der Siebzehnjährigen - Die Wallfahrt nach Südende - Hünefelds Vermächtnis.

Als kleine Kinder haben wir natürlich auch, ganz wie heute die unsrigen, die Nasen an den Schaufenstern plattgedrückt.

Vor allem lockten Kolonialwaren. Denn dazu gehörte der lebensgroße Neger aus Terrakotta. Dieser kaffeebraune Mann, zu dessen Füßen sich gewöhnlich eine schmale, lange Reis- oder Mehlstreu mit hineingedrückten Backpflaumen befand, hatte zwischen den Lippen ein rundes Loch, in das eine Zigarre hineingesteckt war. Es war einfach zum Gruseln schön. Jetzt gibt es nur noch sehr wenige kleine Landstädtchen, in denen diese sonst ausgestorbene Reklame sich erhalten hat. Inzwischen haben wir schon die modernere Form erlebt, daß im Schaufenster junge Mädchen aus dem Ort oder "richtige Türken" saßen und Zigarren rollten oder Zigaretten stopften, und sich sogar Scharen Erwachsener davor ballten.

Auch das hat eine Reihe von Jahren angehalten, bis aus dem Handwerk der industrielle Großbetrieb wurde; man kann eine durch fünf Stockwerke gehende riesige Maschinenanlage, die mit Eilzugsgeschwindigkeit ganze Tabakballen frißt und aus ihnen täglich 13 Millionen Zigaretten herstellt, nicht mehr im Schaufenster zeigen. Sondern nur noch - im Film.

Da sitzen wir denn zum Nachmittagstee im Hotel Esplanade in Berlin, während der Reklamechef des Hauses Neuerburg uns einige Erläuterungen gibt, und lassen dann den Film der Firma an uns vorüberflimmern. Sehr geschickte Sache das. Wir machen eine Reise nach Griechenland und in die Türkei, zuerst an die klassischen Stätten mit ihren herrlichen Bauwerken, dann in die Zentren des Edeltabaks in Mazedonien, Kleinasien, Samos. Wir sehen die Kultur der Pflanze und ihre Bearbeitung bis zum Bauernballen durch die Eingeborenen des Landes, wir machen die Seereise zurück durchs Mittelmeer und um Europa herum nach Hamburg, gucken dort in die Faktorei und schließlich in Köln in die Fabrik und haben einen überwältigenden Eindruck von Massenhaftigkeit, Windeseile, Sauberkeit, Erfindergeist.

Beim Wiederaufflammen der Lichter greift jedermann nach einem der netten Schächtelchen auf dem Teetisch vor sich und raucht bewußter als je eine Zigarette des Hauses Neuerburg. Oder zieht sein eigenes Etui und raucht "seine" Marke; der Film, der angeblich insgesamt 17 Millionen Deutschen vorgeführt werden wird, kommt ja, wenn auch den Hauptgewinn der Reklame das Haus Neuerburg davontragen wird, indirekt allen Zigarettenfabriken zugute, von denen heute nur noch die größten im Wettbewerb und im Steuerdruck sich behaupten können.

Ich selber verstehe von der Neuerburg, Abdulla, Waldorf-Astoria, Queen, Massary, Manoli, und wie sie alle heißen mögen, sehr wenig, habe nur einmal in meinem Leben mit schuldiger Hochachtung ellenlange Zigaretten geraucht, die ich vom Sultan im Jahre 1918 geschenkt bekam, und habe im selben Jahre mir an Ort und Stelle 6 Pfund Ismid-Tabak der besten Sorte gekauft, der dann in den nächsten Jahren ins Pfeifchen gestopft wurde. Aber sobald die Zigarrenknappheit behoben war, bin ich wieder zur Zigarre zurückgekehrt, der großen ruhigen Zigarre aus noch nicht nervöser Zeit, wie Bismarck und Brahms sie liebten.

Bismarck hat sogar während der Friedensverhandlungen mit Jules Favre 1871 geraucht. Er schildert selber launig, wie die Zigarre in der Hand, mit der man dann an heftigen Bewegungen verhindert ist, einen beherrscht mache, und wie der Ringelrauch, dem man gelegentlich nachschaue, die Gedanken sammle und konzentriere.

Die Rauchrolle, das Urbild unserer Zigarre, sah zuerst 1492 Kolumbus bei den Männern und Frauen der Antillen-Indianer. Chinesen und Araber kennen, wie aus alten Bildwerken hervorgeht, das Rauchen seit Jahrtausenden. Mit einiger Sicherheit kann man annehmen, daß auch die alten Germanen rauchten, freilich keinen Tabak, sondern ein sehr minderwertiges Kraut. Heute hat die Zigarette sich alle Erdteile erobert. Ihre "deutschen" Erzeugungsfirmen, so Reemtsma und andere, sind aber vielfach bereits in vorwiegend ausländischem Besitz, so daß der Raucher doppelten Reparationstribut an die Fremden zahlt. Raucher sind die geduldigsten Steuerträger, die letzte Hoffnung Hilferdings, insofern Stützen auch des heutigen Staates, der sie schätzt und liebt, während vor Jahrhunderten der erste Raucher in Spanien noch als Teufelsverbündeter in das Gefängnis geworfen wurde und erst vor wenigen Wochen eine Märtyrertafel in seinem Heimatsort bekommen hat.

So richtig gepafft, dann aber auch wie ein Fabrikschlot, habe ich Gott sei Dank erst seit meinem 21. Jahre bis heute, vorher nur ganz selten ein wenig versucht. Wir rauchen heute zu viel schon in jungen Jahren. Die 15jährigen Mädels mit gelben Zigarettenfingern sind mir ein Greuel. Für die Halbwüchsigen ist das nicht immer ein Genuß, aber häufig Emanzipation, Aufbegehren, manchmal gewollte und markierte Frechheit. Man sehe sich das nur einmal bei den Jugendveranstaltungen unserer roten Berliner Kommunalbehörde an. Aus Görlitz, aus Stolp, aus Siegen, aus Stralsund, überhaupt aus Dutzenden deutscher Nicht-Großstädte bekomme ich in der letzten Zeit Briefe von Lehrern und Lehrerinnen, die da meinen, ich schildere dergleichen zu schwarz. Sie machten ganz andere Erfahrungen. Das glaube ich gern. Aber, meine Lieben, ich sage ja doch nur, was ich - in Berlin erlebe. In eurer Heimat, das bezweifle ich gar nicht, wird der Alte Fritz im Geschichtsunterricht noch nicht unterschlagen und kommt es auch nicht, wie in der vorigen Woche bei einer Veranstaltung des Jugendamtes Berlin-Weißensee, vor, daß auf offener Bühne deklamiert wird: "Vater unser, der du stinkst im Himmel." Natürlich haben wir auch einen Paragraphen gegen Gotteslästerung im Strafgesetzbuch. Nur machen die Berliner Staatsanwälte davon keinen Gebrauch. Das in Weißensee war ein Kasperletheater auch für ganz kleine Kinder. Die Puppen waren in geistlicher Tracht, die "Pfaffenköpfe" wurden zuletzt abgehauen und rollten unter Jubeln und Johlen in den Saal.

Und wie steht es mit den Schülern und Schülerinnen höherer Lehranstalten ? Da gibt es, dank einem vielfach trefflichen und noch nicht unter dem Terror entmutigten Lehrerkollegium alter Art, hie und da, namentlich in den Vororten, noch Zucht und Sitte und reinen Idealismus. Aber Berlin W ist dafür, mit wenigen Ausnahmen, ganz von fremdem Ungeist infizíert.

Gestern lockte zum erstenmal "Das Kabarett der Siebzehnjährigen" im Logenhaus in der Kleiststraße zum Tanztee. Zunächst: das gewöhnliche Lämmerhüpfen. Es sind wirklich lauter 14- bis 18jährige Schüler und Schülerinnen, schon an der Kasse stehen sie lümmelnd und zigarettenmümmelnd. Nach einer Stunde aber geht das Programm los. Auf der Bühne erscheint der Junge, der den Conferencier macht. Meyer heißt er und sieht auch so aus; ein kleiner gesalbter Hethiterkopf hängt an zwei langen Ohren. Meyer kennt sein Metier. In der uns, ach, leider so vertrauten saloppen Manier schnöselt er sein Publikum an.

"Na also, was machen wir nu ? Soll ich sagen, daß wir zusammen singen: Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre ? Das könnse ja doch nicht. Oder: Tante Paula trägt am Bruchband den Revolver ? Bloß nich zweideutig, heißt es immer noch zu Hause."

Und da wird der Primaner Meyer denn sehr - eindeutig und singt, von den vierzehnjährigen höheren Töchtern begeistert beklatscht, ein Lied in, wie er selbst sagt, Alexanderplatz-Art:

"Was hast du mit der Lilli vorgehabt ?
Du hast sie nachts ja im Kontor gehabt!
Was hast du mit der Lilli vorgehabt ?
Sie hat ja heut ein Fleckchen hinterm Ohr gehabt!"

So ein Programm just in der Adventszeit, mehr kann man von der fortschrittlichen Jugend wirklich nicht verlangen. Ein junges Herrchen tritt in Jolson-Manier als englischer Chansonnier auf, zwei Mädels als Exzentrictänzerinnen, eines als Revuediva, eines als Brettlsängerin, ein Junge und ein Mädel in saftig parodistischen Duetten, kurz, es ist ganz wie bei den Erwachsenen im Charlottkasino oder sonst irgendwo dort, wo Berlin W am westlichsten ist. In der Leitung des Ganzen selbstverständlich die bekannten Rattenfängergesichter. Unter dem Publikum aber auch sehr viel rein deutsche Kinder. Diese Mischung und dazu die heutige Zuchtlosigkeit kann uns ins Verderben führen, wenn wir nicht eines Tages, und das kann ganz elementar kommen, das "Recht der Minderheiten" in Deutschland neu ordnen: sie sollen ihre eigenen Schulen haben!

Am selben Vormittag habe ich - ich kann es nicht anders nennen - eine Wallfahrt unternommen, die mich trotz allem wieder fest und fröhlich werden ließ, eine Wallfahrt zu der Hinterlassenschaft eines Frühvollendeten, die von seiner Mutter betreut wird. Nicht jede Mutter hat, wie einst die 86jährige Mackensens, das Glück, ihren Sohn noch als Feldmarschall oder sonstwo an der Spitze der menschlichen Ruhmesleiter zu erleben. Die liebe kleine alte Frau v.Hünefeld hat ihren Sohn noch jung hergeben müssen; aber doch war er ein Vollendeter.

Das tröstet sie und hält sie frisch und aufrecht.

Eines der kleinen Stübchen in ihrem Hause in Berlin-Südende ist ganz seinem Andenken gewidmet, ist ein richtiges kostbares Museum geworden, das alles historische Material, auch die Originalbordbücher seines Amerika- und Ostasienfluges, und alle Bilder und Büsten von ihm und alle Geschenke an ihn und alle seine eigenen Gebrauchsgegenstände enthält. Ich habe wohl eine Stunde lang, während die gütige alte Dame ihr frühes Mittagessen darob vergaß, mich in diese Schätze versenkt. Da ist ein rührendes kleinwinziges Porzellanpüppchen, Friedrich den Großen darstellend, das schon immer auf dem Schreibpult vor Günther v.Hünefeld stand, seine Lieblingsnippsache, und die steht auch heute noch da. Dahinter manche Bilder noch lebender Fürstlichkeiten mit eigenhändiger Widmung. Aber ein Schwänzler und Scharwenzler war Hünefeld nie; es erwartete ihn ja auch kein Wohlleben, als er freiwillig zum Kronprinzen in die Verbannung nach Wieringen ging. Er ist zeit seines Lebens, trotz seiner immensen Gaben und immensen Leistungen, ein innerlich demütiger und bescheidener Mensch geblieben, der auch noch dem letzten Bändchen seiner Schriften den Geleitspruch mitgegeben hat:

"Für die junge Generation will ich nur die Stufe sein, über die sie zu einer neuen lichteren Zukunft hinwegschreitet."

Er wußte, daß der von Krankheit zermürbte, von feindlichen Schrapnells zerbrochene, von Ärztemessern immer wieder zerfetzte Körper ihm nur noch kurze Zeit dienen würde.

Und er griff nach jeder Stunde wie nach einem Geschenk und verwandelte sie in Ringen und Arbeit und Helfen und Leistung.

An einem Dienstag starb er in Berlin, am Sonnabend zuvor hielt er noch zugunsten eines Krankenhauses in Holzminden einen Vortrag, davor in Potsdam zugunsten eines Damenheims, davor an Kaisers Geburtstag eine Festrede zu Gunsten des Stahlhelms, überall willig, die Zugkraft seines Namens zu wohltätigen Zwecken herzugeben.

Den Tod im Herzen, reiste und wirkte er, bereitete er einen neuen Riesenflug vor, auf allen Reisen ständig begleitete von einem Buche: der Bibel. Die amerikanische Bibelgesellschaft hat ihm eine in weichem, schwarzem Leder mit in Gold aufgeprägter englischer Widmung geschenkt, darunter aber auf seinen Wunsch in deutscher Druckschrift:

"Durch Gottes Gnade gerettet!"

Unter den Geschenken sind natürlich eine Menge Kostbarkeiten und auch schöne Kunstgegenstände, besonders die vom Kaiser von Japan und von einem Marschall von China. Amerikanische Städte überreichten ihre Schlüssel aus purem Golde, einen Rasierapparat aus purem Golde, goldene Uhren und allerlei sonst noch; sie habens ja dazu.

Am liebsten war ihm, der für sich selber so gut wie nichts brauchte, ein Augenaufleuchten der Mutter, ein Händedruck von Kameraden, ein Wort seines obersten Kriegsherrn. Wer diesen Hünefeld in seiner Mannentreue kennen lernen will, dem kann ich immer wieder nur sagen: am besten aus dem schmalen Gedichtbändchen "Ich schwur einen Eid". Das letzte Brieftelegramm des Kaisers hat Hünefeld nicht mehr bekommen. Darin stand die herzliche Bitte, sich doch endlich schonen zu wollen; er solle und müsse sich dem Vaterlande erhalten. Aber das gerade ist das einzige, wo Hünefeld den Gehorsam verweigerte. "Ich muß wirken, so lange es Tag ist."

Zwischen ihm und Köhl erkältete sich die Freundschaft an dem Tage, an dem Köhl einen Kranz mit schwarzrotgelber Schleife an Eberts Grab niederlegte. Das begriff Hünefeld von diesem Manne nicht. Hünefeld selber wollte immer nur etwas leisten, nie etwas werden; daher ist er nie Kompromißler gewesen. Aus seinem Stübchen in Berlin-Südende wird diese unbändige Kraft einst in Millionen um das Dritte Reich kämpfender junger Deutscher übergegangen sein.
12. Dezember 1929 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts