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Don Carlos bei Jeßner - Auf dem Sechstagerennen - Tribut an die Galerie - "Kletterbuchsen" - Turnerschaft und Studentenschaft - Der Alleingänger auf dem Ball - Bei Daisy d'Ora.
Gelegentlich überkommt einen die große Sehnsucht nach einer wirklichen Feierstunde im Theater, nach einem guten klassischen Stück, nachdem man sich an technischen, politischen, sexualproblematischen auf der Bühne den Magen verdorben hat.
Ha, das Staatstheater bringt den Don Carlos von Schiller!
Wie, wirklich ? Ach nein, es ist der Don Kortner von Jeßner
Wieder einmal ist hier der Dichter verstümmelt und nach berühmten Mustern - "Dreck, weg damit!" - in die Ecke gefegt worden. Die wichtigsten Szenen sind gestrichen. Es ist auch nicht etwa der idealistische Aufschrei des liebenswerten Schwärmers Posa "Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!" in den Brennpunkt gerückt, denn das könnte vielleicht heute als aktuell empfunden und als Beschimpfung der Republik gedeutet werden, die, ohne den Sieg des Volksbegehrens verhindern zu können, doch wenigstens bis zum letzten Augenblick die von ihr Abhängigen dräuend vom Wahltisch gescheucht hat. Nein, man ist auf etwas anderes verfallen. Hat König Philipp nicht dem Sohne die Braut abgejagt und selber sie geheiratet ?
Ha, also doch wieder Sexualproblem!
Das kommt wie gerufen.
Um so etwas zu unterstreichen, ist Kohn-Kortner aus Wien der gegebene Mann, der einzigartige große Darsteller. Auch im Leben. Seine Presse hat ja neulich mit großem Behagen den Skandal ausgemalt, in dem er und die Frau eines Kollegen die Hauptrolle spielten. Der Kollege tat, was Ratlose in solchen Fällen meist zu tun pflegen, er hieb dem Kortner nachher eine herunter und sagte, er spiele mit ihm zusammen nicht mehr Theater. Schließlich aber kam doch, ohne daß die verlangten gegenseitigen Ehrenerklärungen ausgetauscht wurden, eine Art Einigung zustande.
Es ist alles wieder in Ordnung. Und Don Kortner beteiligt sich jetzt an der Schändung Schillers durch Jeßner.
Dann schon lieber Sechstagerennen.
Zum Kampf der Waden und Gelenke, im Laufe der Jahre schon dem 22. in Berlin, bin ich diesmal in einer Art Verzweiflung gepilgert. Da wird nicht Geist verzapft. Da wird man nicht weltanschaulich vergewaltigt. Aber man sieht wirklichen Kampf. Wer bis zuletzt die Nerven behält und sich nie dem Defaitismus ergibt, der schafft es. Es gibt keine Friedensresolution. Aber plötzlichen heftigen Einsatz aller Kräfte bis zum Äußersten, wenn der Gegner antritt und einen überrunden, überrumpeln will. Wenn mans so nimmt, ist es eine nachdenkliche Geschichte für alle, die über das Jahr 1918 mitreden wollen. Oder über den Vertrag von Versailles. Oder über den Young-Plan.
Nur, wenn man da so nachts hereinkommt, prallt man zunächst zurück: es wird gejohlt, gezischt, gepfiffen, gebrüllt. Wie ? Was ist los ? ich drehe mich um. Nein, Oberbürgermeister Böß geht nicht hinter mir. Auch nicht der Demokrat Rosenthal, auch nicht die sozialistischen Helfer der Sklareks, auch nicht die von diesen bezahlten und bestochenen Kommunisten Gaebel und Degner. Was brüllen denn die 8000 Zuschauer ? Aha:
"Wo bleibt die Runde - für Ehmer-Kroschel ? Wo bleibt die Runde - für Ehmer-Kroschel ? Schie=bung! Schie=bung, Schie=bung!"
Die Leute meinen also, das Paar Ehmer-Kroschel habe eine Runde aufgeholt, sie sei aber vom Bahnrichter nicht anerkannt worden.
Nun wird es stiller. Auch die Musik schmettert gerade nicht. Man hört das gleichmäßige Surren der Kugellager in den Radnaben und das leise Dröhnen der gummibefahrenen Bretterbahn. Auf die große Tafel projiziert der Scheinwerfer den Text des nächsten Liedes, das "gemeinsam" gesungen werden soll. Der Vorsänger tut es durch den Lautsprecher:
"Erst trinken wir noch eins, |
I, wo werden wir denn! Nach Hause! Nich in die Tüte! Nur, merkwürdig, manche Plätze sind bezahlt, bleiben aber unbesetzt. Merkst du was, Zeitgenosse ?
Beim Barbier sitzt am nächsten Vormittag der "Herr Nachbar", irgendein kleiner Geschäftsmann, und erzählt strahlend: "Sechstagerennen, großartig! Meine Olle kann nichts sagen! Ich bleibe die ganze Nacht weg! Dann kaufe ich die Mittagszeitung und weiß alles! Jagden, Massensturz, alles! Einfach großartig!" Das Sechstagerennen als Entschuldigungszettel; auch gut.
Aber die wirklichen Stammgäste, die sind wirklich da und "gehen auch nicht nach Hause". Nur mit dem "noch eins trinken" steht es faul, wenn man auf der Galerie sitzt und kein Geld hat. Aber wozu ist der I. Rang vorgebaut ? Zum Besteuern der Bourgeoisie! Also baumelt hier und dort eine Schnur mit Schlaufe herunter und wedelt den Rangbesuchern vor der Nase. Dazu - im Sprechchor sind die Leute oben ja firm - unisono der Donnerlaut:
"Wir haben - Durst nach Bier! Vergeßt nicht - den Heuboden! Habt ihr nichts - zum Rauchen für uns ?"
Etliche Galeriemänner haben sich große Papiertüten gedreht und brüllen durch dieses Megaphon. Sie versuchen sogar, die wirklich Sportbegeisterten zu überbrüllen, die von neuen Jagden gepackt sind, von Prämienjagden. Ein Konfektionshaus für das Volk (diese Reklame ist billig) lobt auf der Filmtafel 250 Mark für denjenigen aus, der die nächsten 5 Runden als erster schafft. Dajos Bela verspricht 50 Mark. Die Kokottenfiliale eines Hotels im Berliner Westen, ein neuer Tanzpalast, verheißt den ersten drei Paaren der Nacht ein Sektfrühstück im Werte von 200 Mark. Solche Ankündigungen machen immer noch mehr Durst, nicht wahr ? Das nächste Lied
"Am Sonntag will mein Süßer |
wird von den vereinigten Sprechchören der Galerie schon überdröhnt. Wie in einem Paternosteraufzug gehen Schachteln Zigaretten nach oben. Kellner bringen neue "Lagen" Bier, bis zu 15 Schoppen, hinauf. Eine neue Leine der sanften Erpresser geht morgens gegen 5 Uhr ganz in meiner Nähe nieder: vier zusammengeknotete Herren-Selbstbinder. "Ach, wie ojinell! Schatzi, da mußte was jeem!" flötet am Nebentisch ein Girl. Und Schatzi zieht seine Brieftasche und schickt 10 Mark. "Die da verdienen mehr als unsereins!", seufzt ein abgehetzter Kellner. Und wieder donnert es: "Vergeßt den - Heuboden nicht! Wir Arbeitslose - haben Durst!" Ein wunderbarer Tonfilm. Ein prachtvolles Zeitgemälde. Man braucht diese Dinge sozusagen nur wörtlich abzuschreiben, ohne jede Phantasie, dann schreibt man Kulturgeschichte.
Dabei bin ich vorher schon auf einem richtigen Ball gewesen, zum ersten Mal in meinem Leben auf dem der farbentragenden Turnerschafter. Davor zur Burschenschaft, danach zum Verein Deutscher Studenten konnte ich nicht, da hatte ich anderes zu tun. Aber zum "V.C." lockte mich die Aussicht, mit einem seiner Alten Herren, dem Bibliothekar des Kaisers, Dr. Bogdan Krieger, ein Stündchen zu verplaudern. Sein kleines Büchlein "Das Berliner Schloß in den Revolutionstagen 1918" habe ich immer wieder gelesen. Und manchen andern der Herren kenne ich oder habe ich gekannt: Hermann Löns, Albrecht Wirth, Professor Junkers.
Noch vor zwanzig Jahren hielt die Masse der jungen Akademiker die Turnerschafter für komische Nazarener. Bei der Einweihung des Universitätssportplatzes in Halle a.S. standen die drei dortigen Turnerschaften damals im weißen Sportanzug, die Bänder um die Brust, frische Schmisse im Gesicht, auf dem Plan, um Freiübungen und Geräteübungen zu machen. Ringsum die Chargierten der anderen Verbände. Die feixten. "Kiek einer die schwitzenden Kletterbuxen!" So ging es überall. Auch bei den großen Sportfesten der Turnerschafter in Gotha, wozu der stets eingeladene Herzog zunächst immer nur "i.V." einen Kammerherrn entsandte, weil arm- und beinschwingende Studenten doch keine richtigen Studenten seien, auch wenn sie die Mensur als richtigen Sport betrieben. Und heute ? Heute ist der Sport Gemeingut aller Waffenstudenten.
Damals, vor zwanzig Jahren, kam noch etwas anders hinzu: die Verbände standen zumeist im gegenseitigen "schweren Waffenverruf". Corpsier und Büchsier rümpften übereinander verächtlich die Nase, genau so taten es die anderen. Und heute ? Heute sind sie einig, stehen sie geschlossen - mitsamt der Professorenschaft - den Vergewaltigungsversuchen des gegenwärtigen "derzeit republikanischen" Kultusministers gegenüber. Die Jugend von Langemarck hat das "getrennt Marschieren und vereint Schlagen" endlich begriffen. Auch im bunten Balltrubel denkt man daran und freut sich.
Natürlich habe ich nicht die ganze Zeit an einem Honoratiorentisch gesessen. Also hinaus aus dem Marmorsaal, zur Roten Veranda, an den einsamen Platz gleich hinter der Tür! Nur von einem stillen Winkel aus kann man wirklich beobachten; es geht nicht, wenn man am Honoratiorentisch Konversation macht.
Ich möchte, daß alles achtlos an mir vorbeiflutet. Möchte auch etwas wirklich "studentisches" sehen, das für unsereins doch mit einem guten Männertrunk zusammenhängt. Da führt mir das Geschick einen Alleingänger in den Weg. Was das ist, weiß jeder alte Jäger. Also dieses schon etwas bemooste studentische Haupt, das offenbar keine Braut hier hat und auf das "Lämmerhüpfen" keinen Wert legt, hat sicher schon etzliches getrunken; man kann einen Ball ja auch als Kommers feiern. Naht sich mir also. Und es entwickelt sich folgendes Zwiegespräch. "Haben Sie eine Zigarre für mich, Alter Herr ?" "Gerne, aber ich bin nicht Ihr Alter Herr." "Na schön, nichts für ungut, Herr Doktor!" "Bin ich auch nicht." "Nicht ? Dann vielleicht früherer Offizier ? Bin ich auch, sozusagen Hauptmann, nur gerade Eka Eins nicht angebammelt. Außerdem Doktor juris, zur Zeit Kandidat der Medizin." "Donnerwetter, da möchte ich beinahe Exzellenz zu Ihnen sagen!" "Nicht nötig, Durchlaucht, aber ein Glas Wein trinke ich noch mit dir." Nun, und da tranken wir eben eins und noch eins. Bis eine junge Dame das bemooste Haupt ablöste. Aber das ist schon mehr Privatsache. War auch mit einem Autogramm in ein Büchlein schnell und schmerzlos erledigt.
Eine andere junge Dame aber sei Sensation für mich, wird mir neulich telephonisch gesagt.
Die Dame, die mir diesen Tip gibt, stammt aus der geistig-gesellschaftlichen Sphäre von Heiligengrabe, kennt in Potsdam jeden dritten Menschen. "Verlieben Sie sich bloß nicht!" sagt sie am Telephon. Bewahre, tue ich nicht; ich habe es in einem ziemlich langen Leben ausreichend getan. Ja, wer sei es denn eigentlich, frage ich.
"Passen Sie auf, sie ist in hohem Bogen aus dem Augusta-Viktoria-Institut hinausgeflogen, weil sie sich gegen Bezahlung für Elida-Reklame photographieren ließ, das ist doch was für Sie!"
Sicherlich. Nur stimmt die Legende nicht ganz: das junge Mädchen, erste Gesellschaft, heute 16½ Jahre alt, ist selber ausgetreten, um nachher das Gymnasium zu besuchen. Aber "Sei schön durch Elida!" stimmt. Eines Tages verbreitet sich in Potsdam das Gerücht, es würden von gut aussehenden Damen der Gesellschaft - das geschähe in der Londoner Society alle Tage, da sei nichts bei - Bilder für eine Zeitschrift gesucht; man bekäme auch noch 500 Mark dafür.
In unserer Zeit der Verarmung der Anständigen ist das allerhand. Eine Gräfin Wartensleben, eine Gräfin Schulenburg und noch ein gutes Dutzend anderer Damen fassen sich ein Herz, gehen zum angegebenen Photographen. Unter ihnen - ein kleines Schulmädel, Daisy Freiin von Freyberg zu Eisenberg. So ein Frechdachs! Aber hat man der Kleinen nicht hundertmal gesagt, daß sie schön wie ein Märchenkind sei ? Und ist ihr langes Haar nicht das lauterste gesponnene Sonnengold ? Es erweist sich, daß die Elida-Firma hinter der Sache steht; und von allen Bildern - wird nur das der jungen Daisy genommen.
"Ach Mutti, ich habe ja den ganzen Tag zum lieben Gott gebetet, daß es auskommt, nun kannst du ruhig deine Steuern bezahlen!"
Die Mutter ist Witwe, eine geboren Freiin v.Uexküll aus Estland; der Mann, Hauptmann v.Freyberg vom 3.Garderegiment z.F., ist schon 1914 gefallen, die Pension ist sehr schmal. Man kann in Potsdam kaum den notwendigsten Verkehr aufrechterhalten. Man wohnt draußen nahe beim Cecilienhof. Prinz Wilhelm, der Älteste des Kronprinzen, hat zu seinem 18. Geburtstag einen Schwimmsteg in den tiefen Jungfernsee hinein geschenkt bekommen, dort bringt er der jungen Freyberg das Schwimmen bei. Alles ist noch still und friedlich und idyllisch. Da sieht ein Filmregisseur das Elida-Bild. Daisy von Freyberg ist entdeckt! Als Sechzehnjährige filmt sie im Frühling 1929 zum ersten Male. Noch sind es Spielfilme für die Vorstadt. Einen davon habe ich mir draußen in Berlin O angesehen. Sie mimt im Gegensatze zu fürchterlichen Buhlerinnen die engelgleiche Jugend. Ihrer Première aber darf sie selber nicht beiwohnen: dieser Film - ist Jugendlichen nicht gestattet. Kinder, Kinder, was für eine tolle Welt! Dem Onkel Vizeadmiral ist das nicht recht. Aber Daisy wird ihren Weg machen.
Sie ist nicht nur ein leeres Puppengesicht, sie ist unter Jupiterlampen schnell gereift, sie ist nicht nur das berufene Gretchen und Kätchen, sondern die Friederike und wer weiß was sonst noch in kommenden Filmen.
Sie hats hinter den Ohren. Nicht nur das mächtige Goldhaar. Sondern da tuckt Theaterblut. Noch ist Mutti das federführende Ressort. Aber die junge Dame wird, schätze ich, bald ihr eigener Geschäftsführer sein. Sie hat Ausdruck, Spannkraft, Energie. Dieses schlanke Füllen weiß auch sehr gut, während die Mutter mir den Tee eingießt, daß es in diesem Augenblick - Rezensionsexemplar ist. Auf einmal dreht Daisy d'Ora, so nennt sie sich im Film, energisch den Kopf und blickt angestrengt zum Fenster hinaus. Aha, das Profil! Capito, capito. Im übrigen bin ich sehr vergnügt, endlich einmal, nach so vielen überreifen, einen kommenden Star gesehen zu haben, ehe er, das geschieht einmal sicher, an das Firmament von Hollywood kommt. Englisch kann der Engel schon.
7. November 1929 (Donnerstag)
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Vor der Garnisonkirche - Des Volksschullehrers Martyrium - Das Spiel vom Kaiserreich und vom Antichrist - Der Napoleon-Film - Zur Probezeit im Zirkus Busch - Ball der Laubenkolonisten.
Das Rundfahrtauto, vollbepackt mit Amerikanern, hält vor der Garnisonkirche in Potsdam. Gerade hebt das Glockenspiel an: "Üb' immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab!" Der Führer übersetzt den Text. Und dann sagt er augenzwinkernd:
"Dieses Glockenspiel, Ladies und Gentlemen, stammt natürlich noch aus kaiserlicher Zeit."
Man versteht ihn; die Amerikaner grinsen. Ein junger deutscher Realgymnasiast aus Halle, dem ich Berlin und Potsdam zeige, sieht es und empört sich. "In die Fresse sollte man sie hauen!" Aber warum denn, mein Junge ? Sie haben gar nicht überheblich gelacht. Sie wissen, daß es bei ihnen nicht besser aussieht, sie wissen, daß überall die Korruption die Schwester der Demokratie ist. Wir Deutschen sind nur etwas unvermittelt in die Barmat-Sklarek-Ära hineingeschlittert und sind - das ist es, was die Amerikaner amüsiert - zu dumm, zu erkennen, was wir auf Wilsons Rat angerichtet haben, als wir das ehrenfeste "alte System" aufgaben und uns der republikanisch-parlamentarischen Demokratie in die Arme stürzten.
Unser heranwachsendes Geschlecht wird darüber nicht aufgeklärt. Wehe dem Lehrer, der seine Knie vor dem roten Baal nicht beugt! Stillschweigend beugt; mehr verlangt man einstweilen nicht. Er darf den Kindern nichts aus der Vergangenheit erzählen. Er darf sie nicht für deutsche Großtaten begeistern und ihnen dann sagen: "Seid der Väter wert!"
Die früher so erhebenden Kapitel unserer Geschichte werden schnell übersprungen. Im Sinne unserer Schulpäpste sind nur die Jahre 1525, 1848, 1918 des längeren Verweilens bei ihnen wert. Geschichtslos und ehrfurchtslos - in den höheren Schulen ist es noch etwas besser - wächst vor allem der Volksschüler heran. Für die Lehrer, besonders in Großstädten, ist es ein Martyrium. Die Schule sollte den Kindern einst Kenntnisse und Urteil mitgeben, nicht zuletzt aber auch Haltung und Selbstzucht. Heute: nichts davon. Heute ist der großstädtische Lehrer der Angestellte der randalierenden, sich lümmelnden, faulenzenden kleinen Gesellschaft; greift er mit einer Backpfeife ein, so ist er geliefert.
Das wissen die Rangen. In einer Volksschule in der Seestraße in Berlin reizt ein Junge durch passiven Widerstand und durch gelegentliche freche Antworten den Lehrer bis aufs Blut und sagt dann in niederträchtiger Ruhe: "Lassense die Poten vom Lineal! Oder kennense den Erlaß vom Kultusminister nich ?"
Dazu ein Seitenstück aus einer Mädchenschule am Görlitzer Bahnhof. Die technische Lehrerin läßt aus Zeitungspapier Hemdenschnitte machen und sagt gegen Schluß der Stunde einem dreizehnjährigen Mädchen, es möge nun die Schnitzel wegräumen. Sie erhält die Antwort: "Heben Sie sie doch selber auf! Wozu wernse denn bezahlt ?"
Das sind tägliche Erlebnisse. Jede Autorität wird untergraben, die Freudigkeit am Berufe den Lehrern genommen; sie, die nach gründlichem Fachstudium und gehöriger pädagogischer Ausbildung ihr Bestes der Jugend geben möchten, werden zu Mietlingen degradiert.
In den höheren Berliner Schulen hat der Lehrer noch etwas mehr Atemluft, aber auch da gibt es vereinzelt schon kommunistische Direktoren oder sozialistische Studienräte, die die Kollegen bespitzeln und ihnen "die Kniebeuge beibringen". Wie erhält man sich da selber und den Schülern noch deutschen Idealismus ? Er führt ein Dasein wie die verfolgte erste Christenheit in ihren Katakomben. Er verbirgt sich hinter dem Altertum und deklamiert Sophokles. Er gräbt sich in das Mittelalter ein und führt Mysterienspiele auf. Das Friedenauer Gymnasium hat jetzt viermal hintereinander, zuletzt in fast lebensgefährlich überfülltem Saal, das Spiel "Vom Kaiserreich und vom Antichrist" gebracht. Vom Kaiserreich ? Vom Antichrist ? Ungezählte Nasen schnüffelten: wird hier die Republik gefährdet ? Ach nein; es ist ein altes, ursprünglich sogar lateinisch geschriebenes Laienspiel aus der Zeit des Hohenstaufen Friedrich II. und handelt vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und seinen Feinden: Franzosen, Juden, Heiden, die sich schließlich alle deutscher Ritterschaft beugen müssen. Der letzte, größte Feind ist der rote Antichrist, dem nach kurzem Kampfe alle huldigen, nachdem er "alle Lande in Frieden gezwängt durch sein Gebot" und nun verkündet:
"Verstummt im Tod die Toren, in ihres Wahnes Blende! Frieden und Behagen bis an der Welt Ende!"
Aber diese Lügenbotschaft zerbricht beim Erscheinen des sieghaften wiederkehrenden Heilands, der Antichrist verschwindet, die Gemeinde singt den Lobgesang auf den Herrn, den mächtigen König der Ehren. Es ist ein naives, aber erschütterndes Spiel, verständlich nicht für die Masse, wohl aber für humanistisch und historisch Gebildete, von den anderen nur dumpf, aber auch nicht ohne Wirkung empfunden; und von den frischen schlanken Jungen des Gymnasiums wird es mit solcher Hingabe und solcher Disziplin in den Sprechchören gegeben, daß man seine helle Freude daran hat. Es ist mit verhältnismäßig bescheidenen Mitteln der Szenerie und der Kostümierung aufgebaut, aber künstlerisch gerade in seiner Primitivität ungeheuer eindrucks- und andachtsvoll, so daß der Wunsch nach Wiederholung - in Aulen und Kirchen auch außerhalb Berlins - verständlich erscheint. Der Direktor, der Zeichenlehrer, der Gesanglehrer der Anstalt haben die Hauptarbeit dabei gehabt; die altertümelnde, seltsam ergreifende Musik ist von einem früheren Schüler des Friedenauer Gymnasiums, Linde, Osterabiturient von 1927, dazu komponiert. Selbst das steinerne Gesicht des Generalobersten v.Seeckt, den ich in meiner Nähe unter den Zuschauern entdeckte, kam in Bewegung; für uns alle war es ein Mysterium, ein Wunder, ein geheimer deutscher Gottesdienst.
Vor einem Jahre sah ich annähernd Ähnliches, nur nicht so künstlerisch, von der Jugendschar Roßbach aufgeführt, im Bergwinter in Oberschreiberhau. Die Sehnsucht nach Sang und Sage aus alter Zeit ist groß, namentlich unter dem jungen Geschlecht. Und wir hocken ja alle in Katakomben. Oder in Barbarossas träumenden Zauberberg. Kreisen die Raben noch immer ? Von wannen kommt endlich der deutsche Heiland ?
Und wenn er käme: die Massen von heute würden ihn verhöhnen. Sie sind jedes geschichtlichen Denkens bar.
Was sie von der Geschichte wissen, das ist bestenfalls Anekdote, durch das Medium des Films ihnen übermittelt. Und es sind zumeist fremdländische Anekdoten. Außer dem einen Fridericus-Wagnis hat es aus deutschem Erbgut kein anderes gegeben. Nun wird Napoleon Mode, wird mit der ganzen Wucht von Spiel und Erscheinung, über die Werner Krauß verfügt, vor uns aufgebaut. Napoleon auf St. Helena. Napoleon - sentimental gesehen. Das von den Engländern gekettete Genie! Gegen Technik und Aufbau dieses Films will ich nichts sagen, er ist natürlich "wundervoll", aber er ist von Grund auf verlogen. Napoleon als guter Paneuropäer und Pazifist! Wäre dieser gute Europäer, von dem der Filmtext in Riesenschrift erzählt, daß ihm der Geist über dem Säbel stand und daß er der Welt den Frieden bringen wollte, von St. Helena entkommen, so hätte doch ganz Europa wieder in Flammen gestanden. Unsere Vorväter haben unter ihm geblutet und gelitten und sind von ihm - die heutigen Franzosen verstehen es seit damals - bis zur völligen Verarmung ausgesogen worden. Noch bis zum Jahre 1898 hat Königsberg in Preußen und noch manche andere deutsche Stadt an den "kommerzialisierten" Reparationen von 1807 abgetragen. Die ausgeplünderte, zerrissene, geschundene Nation kannte daher, als Napoleon noch lebte, auch nur ein Gefühl: Rache! Für sie war Napoleon der Feind, das Untier, der Antichrist. Jedermann drängte zum Freiheitskampf.
Der englische Gesandte meldete seiner Regierung: "Wenn der König länger zaudert, sehe ich die Revolution in Preußen als unvermeidlich an."
Blücher schrieb Scharnhorst: "Wenn es jetzt nich der ganzen Nation Fürnehmen ist, alles Schelmenfranzosenzeug mitsammt dem Bonaparte zu vertilgen, so scheint mich, daß kein deutscher Mann mehr des deutschen Namens werth sei."
Und Kleist sang: "Schlagt sie tot! Das Weltgericht fragt Euch nach den Gründen nicht!"
Nun sitze ich in dem Filmpalast, in dem uns ganz anders die Weltgeschichte erzählt wird und denke mir: wenn die Gepeinigten von 1806 bis 1812 auferstünden und diese Bilder sähen, rissen sie nicht alsbald die Leinwand in Fetzen ? Man kann Napoleons Größe auch im Sterben, wenn sie da war, anerkennen; aber die letzte pazifistische Lüge seines Lebens als Wahrheit auszuposaunen, das geht über unsere Begriffe von deutscher Selbstachtung.
Neben dem Film der Funk; das sind die beiden stärksten Seichtmacher. Parole: belügt die Leute, aber amüsiert sie! Sicherlich ist der Rundfunk, wenn er sich als Reporter gibt, manchmal sehr amüsant. Nur er verniedlicht und verlächerlicht fast alles. Außerdem ist die Reportage nicht immer zuverlässig, noch zu sehr an Zeitungsphrasen gebunden. Während der Berichterstattung über den Tenniskampf Deutschland-England konnte man so unmittelbar hintereinander Zeitungsphrase und Wirklichkeit hören: "... es herrscht Totenstille unter dem gespannten Publikum ... der Leiter bittet dringend um größere Ruhe ..." Manchmal, sehr häufig sogar, ist es gestellte Kunst, nicht natürliche Schilderung. Bestellte Witze, honorierte Streitigkeiten´, einexerzierte Zwischenfälle. "Was wollen Sie,das Publikum verlangt doch, daß Quatsch gemacht wird!" sagt Alfred Braun. Schön.
Also wenn dieser Tage "Eine Probe im Zirkus Busch" verfunkt wird, so ist das eine nie dagewesene, ist das keine Probe, sondern - eine eingeübte Vorführung für den Rundfunk. "So also geht es vormittags im Zirkus zu!" sagt sich gesättigt der Hörer, aber er ist beschwindelt worden: in Wahrheit sind die Zirkusproben sehr still. Die große Arena selbst ist vormittags leer. Die Sitzreihen rundum sind mit Zeltplanen bedeckt, um nicht zu verstauben, auf dem Vorplatz ölt einer den Fußboden, alles liegt im Dämmer. Aber irgendwo in der Ecke eines Nebenraumes übt lautlos ein Parterreakrobat den Handstand. Anderswo jongliert jemand ebenso unbeachtet. Es ist alles gänzlich untheatralisch, überall ruhige, ernste, angestrengte Arbeit.
Ich gehe mal in die kleine Reitbahn oberhalb des Stalles, da läßt der Schulreiter Heß gerade einen stattlichen mecklenburger Braunen an der Hand piaffieren. Der Gaul ist naß. Der Schulreiter, der schon drei Stunden im Sattel auf verschiedenen Pferden hinter sich hat, auch. Üben, üben, üben! Heß, dessen Familie ursprünglich aus Bayern stammt, war Akrobat und Trampolinspringer, bis er sich im Laufe der Jahre so ziemlich alle Knochen gebrochen hatte und dann zur Reiterei hinüberwechselte, noch beim alten Schumann. Wenn unter ihm die Pferde in den Gelenken federn, im spanischen Schritt dahermarschieren oder die Croupade exekutieren, lacht jedem Reiter das Herz.
Eine Zeitlang war der Zirkus Busch in Gefahr, sich ganz an Pantomime und Revue zu verlieren, ist aber jetzt wieder "richtig Zirkus" geworden, so wie er es früher als Anziehungspunkt für Millionen gewesen ist. Natürlich sind nicht alle Besucher sachverständig. Der Prozentsatz solcher war früher höher. Berlin-Potsdam mit acht Kavallerieregimentern, dazu Rathenow, Fürstenwalde, Demmin und andere Garnisonen bargen so und so viele Reiteroffiziere, die immer wieder zum Zirkus kamen. Um der Reiterei willen natürlich. Oder was dachten Sie ? Wegen Miß Apollonia oder Fräulein Diana oder wie die Damen vom Panneau oder Trapez alle hießen ? Gewiß, auch das; und die Blumengeschäfte und die Juwelenläden waren des froh, bedauern noch heute den Wandel der Zeiten. Das war damals, als man noch Zirkusromane verschlang. Die bunte Welt unerhörter körperlicher und auch künstlerischer Leistungen regt auch heute manche bekannte Feder an; Carl Zuckmayers "Katharina Knie", Gerhart Hauptmanns "Wanda" sind ja bekannt.
Was man aber außerhalb der fahrenden Welt der Artisten, die in täglicher Kasteiung und Übung sich "fit and well" erhalten, nicht weiß, ist, daß manche dieser Artisten eigentlich aus einer ganz anderen Welt stammen und nur durch ihren Hang zur Romantik in den Beruf gekommen sind.
Der Vater der berühmten drei Clowns Fratellini war Arzt und wurde dann selber Seiltänzer, Parterreakrobat, Clown. Der nicht minder berühmte musikalische Clown Grock, Sohn eines schweizerischen Uhrenfabrikanten, war Erzieher auf einem Grafenschloß und heißt bürgerlich Dr. Adrian Wettach.
Die große Mehrzahl der Leute vom Bau ist freilich nur Muskelintelligenz, kann durchschnittlich sieben Sprachen radebrechen und keine einzige richtig schreiben, ist aber nüchtern, arbeitsam, treu und so aufopfernd für einander, wie es gemeinhin nur Menschen sind, die täglich dem Tode ins Auge sehen. Dabei ständig auf Steigerung der Leistungen bedacht. Nirgends werden so häufig Rekorde gebrochen - und, notabene, Hals und Bein. Wer wie ich seit dreißig Jahren beispielsweise den Zirkus Busch kennt und immer wieder aufsucht, der ist auch jetzt wieder des Staunens voll über neue, bisher unerhörte Darbietungen auf allen zirzensischen Gebieten. Und: man kann ruhig seine Angehörigen mitnehmen; auch die Kinder, auch die Dienstboten mal zu einer Nachmittagsvorstellung hinschicken. Nichts Obszönes wird geboten. Aber neben dem athletisch Erstaunlichen und reiterlich Edlen viel volkstümlich Komisches. Man schüttet sich aus vor Lachen. Es ist eine gesunde Luft trotz Stallgeruch und Schweiß.
"Wenn man schon schwitzt, dann lieber vom Tanzen!" sagt freilich unsere Lucie. Neulich kommt sie von einem Ball, ich glaube, der ehemaligen Gardepioniere, frühmorgens zurück und strahlt: sie habe am allermeisten von allen getanzt, so viel wie noch nie in ihrem Leben. Es seien auch noch andere, vielleicht hübschere Dienstmädchen aus der Nachbarschaft dagewesen, aber just nach ihr seien die Herren wie verrückt gewesen. Sie glaube, wohl deshalb, weil sie die einzige ohne Bubikopf, noch mit vollem Knoten im Nacken, gewesen sei.
Das mag schon sein. Das Seltene reizt. Ich will nicht wieder Goethe zitieren und von der Hand, die samstags ihren Besen führt, erzählen, daß sie sonntags einem am besten karessiere. Heutzutage findet man diese Hand nicht mehr heraus. Unsere Dienstboten wissen, was Körperpflege ist, tragen vielfach bei grober Arbeit schon Handschuhe, um ihre Patschen nicht rauh werden zu lassen, und sind in ihrer Kleidung von unsereins kaum zu unterscheiden. Nur in der Sprache sind sie mehr geradezu. Dieser Tage war ich auf einem Ball von Laubenkolonisten. Mir gegenüber saß am Tisch ein Mädel, das es auf einen jungverwitweten Chauffeur abgesehen hatte. Er saß neben ihr, nahm aber wenig Notiz von ihren Bemühungen. Sie zuckte so lange mit der einen Schulter, bis das Tanzkleidchen dort verrutschte, und flötete sehr gebildet: "Ich möchte Ihnen so gerne Einblick in mein Seelenleben geben!" Er aber sah ziemlich geringschätzig hin, sah die Achselbänder von Büstenhalter und Hemd und sagte gleichmütig:
"Frollein, Ihr Bandwurm macht 'n Fluchtversuch!"
14. November 1929 (Donnerstag)
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Für sechs Mark "anerkannter" Künstler - Die Frau von heute - Ein Buch von Steinhausens Hand - Professor Tilke - "Der hungrige Pegasus" - Die Katakombe in der Bellevuestraße - Ruth Iris Witting.
Die Kunst geht nach Brot, hieß es einst. Aber es fehlte auch nicht an Brotgebern. Wer es zu etwas gebracht hatte, zu Namen oder zu Stellung oder zu Geld, der ließ sich porträtieren.
Außerdem war es sehr nobel, Maecen zu sein. Man mag über die 32 Denkmäler der Berliner Siegesallee sagen, was man will, Tatsache bleibt, daß der Kaiser aus eigener Schatulle 3,2 Millionen Mark dafür ausgab und so den Künstlern Brot verschaffte.
Heute geht die Kunst kaum mehr nach Brot, denn der Fall ist hoffnungslos. Sie geht nach Sensation, sie schreit revolutionär, mit der vagen Aussicht, so wenigstens die Aufmerksamkeit zu erregen. Am Ende kauft dann doch, wenn auch die privaten Maecene fehlen, der Staat oder die Stadt irgendein Werk, das so brüllt. Das irgendeinen Ismus vertritt.
Das Gros unserer Künstler ist verzweifelt. Eine Zeit lang wurde das Publikum noch durch die Reibung zwischen Akademikern und Sezessionisten interessiert, aber auch das ist schon längst vorbei, und in dem Glaspalast am Lehrter Bahnhof birgt die Große Kunstausstellung schon seit Jahren Werke aller Richtungen, bis zur Noevmbergruppe und den Juryfreien, einträglich nebeneinander. Diesmal ist man - wirklich aus Verzweiflung - auf einen ganz neuen Dreh verfallen. Es gibt gar keine "Richtungen" mehr. Wer was bringt, der kann was aufhängen oder aufstellen, Kostenpunkt sechs Mark; die Plätze werden einfach verlost. Neben ein paar wirklichen Künstlern ist da nun die Horde der Dilettanten erschienen. Onkel Paul und Tante Emmi, sonst gänzlich amusisch, kommen mit allen Vettern und Basen, bezahlen das Eintrittsgeld und staunen die Kleckserei des Neffen an. Tiefer geht's nimmer; das ist schon das Ende der Kunst.
Noch einen Vorstoß hat derweil der Verein der Künstlerinnen zu Berlin versucht. Frauen haben eben eine besondere Glaubensstärke. Außerdem: "Frau", das zieht. Also veranstaltet der Verein in seinen Räumen am Schöneberger Ufer eine Ausstellung von Gemälden und Graphik und Plastik unter dem Titel: Die Frau von heute. Unter dem Protektorat der Frau v.Kardorff-Oheimb, genannt Kathinka, die jetzt nicht mehr die dämonische ist, sondern in das Mütterfach gewechselt hat. Auch das steht ihr gut. Wie sie da, mollig und gepflegt, arriviert und gesättigt, von der obersten Treppenstufe zum Saal aus ein paar freundliche Worte sagt, finden jene Frauen, die nur um ihretwillen gekommen sind, sie sehr sympathisch. Umso entsetzter sind sie angesichts - ihres Bildes. Da hängt nicht sie, sondern die große Aufmachung mit Ordensband und sonstigem Behang. Total unähnlich. Geradezu scheußlich und ganz schludrig.
Auch bei den anderen Porträts hat der Fremde den Eindruck: die Frau von heute verdient es nicht, gemalt zu werden; oder die Künstlerinnen von heute verstehen es nicht, ihr Geschlecht zu malen.
Allenfalls ein entzückendes Aquarell kann ich ausnehmen, von Julie Wolfthorn, das Klabunds junge Witwe, die Schauspielerin Carola Neher, darstellt. Auch das Bild der Frau Dr. Heller von derselben. Alles andere ist Schreckenskammer. "Ich möchte nie heiraten!" sagt mir beklommen ein kleiner Gerichtsassessor, nachdem er sich diese Galerie der Frau von heute angesehen hat, der Politikerin, der Schauspielerin, der Landwirtin, der Sekretärin, der Richterin, der Sängerin, der Malerin, der Ärztin, der Bardame, der Schuldirektorin, der Autolenkerin, der Turnierreiterin, der Tänzerin, der Arbeiterin, der Modeschriftstellerin und der Nichts-als-Kurfürstendammerin. Es ist die Häßlichkeit schlechthin. Gewiß sieht man auch im Leben zuweilen Klobiges, Verzerrtes, Schiefes, Flackriges, auch im Leben die kakaofarbene Schminke beispielsweise der einen der beiden "Freundinnen" aus der Verona-Diele oder die nichtssagende Bedeutungslosigkeit der "Frau von Bedeutung", aber es ist doch nicht das einzige. Hin und wieder begegnet einem doch noch ein normalgliedriges weibliches Wesen mit allen fraulichen Attributen ohne die Zeichen des Verfalls und der Zerstörung, manchmal sogar ein Märchenkind, in dessen Augen alles Glück der Erde blaut und das dann eben weggeheiratet wird, ehe es sich die Runen der Frau von heute eingegraben hat.
Etwas von deutschem Märchensinn müssen unsere Künstler in sich haben, wenn uns das Herz warm werden soll. Die "Künstler von heute" sind zu großem Teil ganz kaltschnäuzig. Sie sind Rechner, nicht Schöpfer. Durch mein Leben sind, Gott Lob, viele gegangen, die aus dem Innersten gaben. Noch ist mir die Erinnerung an Wilhelm Steinhausen wie Feierstunde an goldenem Sommerabend. Aus dem Steinhausen-Archiv in der Wolfsgangstraße in Frankfurt a.M., das von den sechs Kindern des großen Malers betreut wird, fliegt mir jetzt ein Büchlein auf den Tisch, "Schneewittchen bei den sieben Zwergen", 17 wunderliebe Tuschzeichnungen von des Meisters Hand, dazu der Text des Märchens in putzigen Versen. Für seine eigenen Kinder hat er einst die Bilder gezeichnet, die fast das deutscheste sind, was ich je gesehen habe. Sie geben Schönheit und lehren Güte, obwohl nichts Lehrhaftes sich nach außen drängt; gibt man dieses Buch, das nur einen Taler kostet, zu Weihnachten einem kleinen Mädchen in die Hand, ich wette, es entnimmt daraus ganz unbewußt den Vorsatz, der Mutter zur Hand zu gehen und allen Hausgenossen das Dasein so behaglich zu machen, wie Schneewittchen den guten Zwergen. Es ist bezeichnend, daß von diesem Steinhausen-Märchen auch gleich eine englische Ausgabe erschienen ist; drüben schätzt man noch mehr als bei uns das Heimisch-Schöne.
So wie man heute gar nicht mehr zeichnet, so mit liebevoller Versenkung in das Einzelne, so malt noch ein Berliner Professor, dessen Werke über osteuropäische und orientalische Kostüme heute nicht nur die staatliche Lipperheidesche Modesammlung und das Völkerkundemuseum, sondern auch viele Gewerbelehrerinnen trotz des hohen Preises besitzen. Von diesem Professor Tilke, der noch zu Zeiten Anton v.Werners die Akademie besucht hat, sah ich einmal ein Ölbild meines Verlegers. Modern breitpinselig, und doch so unverkennbar ähnlich, daß zum ersten Male in meinem Leben in mir selber der Wunsch erwachte, auch so für die Kinder "verewigt" zu werden. Zum ersten Male. Und vielleicht bei letzter Gelegenheit; solange man noch nicht ergraut ist und die Stirn noch volles Haar hat.
Hin in die Großbeerenstraße! Mittags um zwölf Uhr, also zu anständiger Besuchsstunde. Für Tilke ist das noch Nacht. Ich hole ihn aus dem Bett, nenne meine Wünsche, bekenne stockend, daß ich auf Ähnlichkeit Wert lege, kein Fältchen fehlen darf. "Mach' ich, mach' ich", sagt er, "aber wie steht's mit dem Vorschuß ?" Bitte sehr. "Ich muß doch einen Blendrahmen für die Leinewand machen lassen." Nun gut, was kostet der ? "Sechs Mark!" Da bin ich aber starr und ringe nach Atem. Also so sehr geht die Kunst selbst eines großen Könners nach Brot ? Wir einigen uns schnell über Ratenzahlungen in den nächsten Monaten, natürlich nicht der sechs Mark, sondern der paar hundert für das ganze große Bild, und die ersten Sitzungen beginnen, die ersten Ähnlichkeiten kommen heraus, die Freude wächst. Und nicht nur an dem Bilde, sondern auch an diesem weltweit gereisten Künstler mit seinen profunden Kenntnissen, seinem guten Urteil und seinen tausend Schnurren. Ich blättere in seinem ulkigen "Kaukasus", den hundert zweibeinigen Jamben mit Bildern, die also anheben:
Das schöne Land, genannt Kaukasien, |
Ha, wäre dieser lustige Professor Tilke nicht der geborene Ansager für ein wirkliches Künstlerkabarett ? Natürlich; aber das ist er natürlich auch schon längst gewesen. Die besten Kabarettisten, schon auf dem Montmartre in Paris, sind immer die Maler gewesen, und dieser mein Professor Tilke, der auch als Schauspieler auf einer "wirklichen" Bühne eine Zeit lang aufgetreten ist und beiläufig prachtvoll die Laute meistert, hat überhaupt - das erste Künstlerkabarett in Deutschland ins Leben gerufen.
So vor etwa dreißig Jahren. In dem Hinterzimmer einer italienischen Weinkneipe in Berlin. Es hieß "Der hungrige Pegasus". Tilke konferierte, sang, spielte, ulkte, malte, die Dolorosa sprach, mit der Chrysantheme hinter dem blassen Ohr, als deutsche Sappho ihre schmerzvollen Erotica, von Georg David Schulz, dem späteren Leiter des "Siebenten Himmels", wurde das liebe Märkisch Minnelied gesungen, eine reizende Französin trug Keckes vor, der junge Wolfgang Hamann (der Sohn des bekannten Pressechefs der Regierung) ernstere Poesie, dazwischen tollten Tänzer und Banjospieler, wurden aus dem Stegreif Reime und Witze gemacht, und hinein in diesen Strudel kam man nur - auf Einladung. Für 60 Personen mochte Raum da sein, 100 hockten aber aufeinander. Der Kellner kam von der Tür an gar nicht weiter; die Flasche Chianti und die Schnitzel wurden vom Publikum selber bis zum Besteller balanziert.
Als dann die Idee des Überbrettls industrialisiert wurde, war es auch bald entgöttert. Der "Hungrige Pegasus", der auf einer der stets neuen und komischen Eintrittskarten nicht Dukaten, sondern Gerichtsvollziehermarken stallte, verblich, und seine Wärter zerstoben.
Einen der letzten, damals noch ganz jungen Schüler Professor Tilkes, den Maler und Illustrator Kießlich, der im Berliner Westen wohnt, kenne ich seit Jahren und bitte ihn zu den seltenen Gelegenheiten bei uns, wenn wir "Gesellschaft" haben und etwas besonderes bieten wollen. Da spielt er die Laute und singt dazu. Die Landsknechte im Himmel. Kaukasischer Hochzeitszug. Fantasia im Sudan. Die Negerin und das Baby. Wir sind immer ganz hingerissen.
Jetzt wird wieder der Versuch mit einer Art Künstlerkabarett gemacht. Es heißt "Die Katakombe" und befindet sich im Keller des Künstlerhauses in der Bellevuestraße. Hervorgegangen ist es aus einem gut gelungenen Herrenabend des Vereins Berliner Künstler vor acht Wochen. Auch würdige alte Herren freuten sich damals an der künstlerischen Ausgelassenheit der Jugend. Heute macht man es allabendlich gegen Bezahlung. Im eigenen Kreise wirkt selbst sehr Gewagtes nicht häßlich, aber für ein Eintrittsgeld von drei Mark und den Preis einer Flasche Weines wird die beschwingte Gelassenheit leicht zur platten Zote. Dann kann man ja auch gleich zu den Verdauungsangestellten des Charlott-Casinos am Kurfürstendamm gehen und sich alles, was für einige unter uns immer noch Ideal ist, verpöbeln lassen. Das Publikum ist hüben und drüben sowieso schon dasselbe: Schieber, Jünglinge aus der Großkonfektion, Pelzdivas.
In diesem Amüsierbetrieb bedeuten Bußtag und Totenfest keinen Einschnitt, sondern nur eine Pause. Dazwischen und danach geht es weiter wie zuvor. Nur merkt man die nahende Adventszeit an der Zunahme der Märchenvorstellungen für Kinder in den Theatern. Ich bin kein Freund davon. Die kindliche Phantasie, die der Erzählung der Mutter vorauseilt, ist viel strahlender als alle Theatertechnik. Gib dem Kinde ein Stück Holz, einen Bindfaden, ein Taschentuch, dann hat es im Handumdrehen eine goldgeschmückte Prinzessin in der gläsernen Hochzeitskutsche. Im Theater aber werden die Kleinen übersättigt und müde.
In eines der Stücke bin ich jetzt mit der festen Absicht hingegangen, mich eines Besseren belehren zu lassen und es zu loben. Es ist das "Peterchens Mondfahrt" von Gerd v.Bassewitz. Gewiß ein herziges Stück. Viel, viel besser als die meisten anderen. Nur die Szene im Himmel mit der Nachtfee und der Sonne und ihren Mitarbeitern und Gegnern geht zum Teil über Kinderverständnis hinaus, das mit "Milchstraße" und "Jungfrau" noch nichts anzufangen weiß. Aber was immer wieder alt und jung in Begeisterung versetzt, das ist die jüngste Berliner Schauspielerin, die kleine Ruth Iris Witting, die schon mit vier Jahren - jetzt ist sie wohl acht - mit Peterchen zum Monde gesaust ist. Ganz ohne Tuerei, ein richtiges goldiges Kind. Vati, der Opernsänger Witting, spielt ja auch mit, er ist der große fliegende Maikäfer. O, mit Vati kann man schön spielen. Auch wohl mal schelmisch extemporieren. Was das ist, weiß Ruth nicht, aber sie tut es gern. Ich kenne sie und ihren Vater persönlich nicht. Ich weiß nur durch ihren Onkel Oberstleutnant und andere Berliner Verwandte, daß das Theater ihr nichts anhaben kann, daß sie ganz Kind bleibt, fröhliches, wohlerzogenes Kind daheim. Nicht um der prunkenden Vorstellung, aber um dieses begnadeten Kindes willen lohnt es für große Menschen, in "Peterchens Mondfahrt" zu gehen.
21. November 1929 (Donnerstag)
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