"Rumpelstilzchen"

Piept es ?
(Jahrgangsband 1929/30)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1930

Glossen 7 - 9
17. bis 31. Oktober 1929


7

Kriegsschulddebatte an der Litfaßsäule - Volksbegehren und gebildeter Mittelstand - "Die Frau im Mond" - Ein bißchen Astronomie - Thea v. Harbous Arbeitstag - In Carows Lachbühne.

"Mensch, bist du etwa am Kriege schuld ? Nein ? Du dummes Luder, dann sag's doch!"

Großartig. Mir ist noch nie etwas so schlicht und überzeugend in die Ohren geklungen. Zwei Arbeitslose stehen neben mir an der Anschlagsäule, ein junger und ein alter, und gerade hat der Alte dies zu dem Jungen gesagt. Herrgott, da können wir Schriftgelehrten alle einpacken! Dieser einfache Alte kann es dem Volke besser begreiflich machen als wir, um was es beim Volksbegehren geht. Noch niemals haben wir als Nation erklärt, wir seien nicht schuld am Kriege und verweigerten deshalb die Zustimmung zu unserer "Bestrafung" laut Versailler Diktat und jetzt zuletzt noch laut Young-Plan.

"Oder willst du in Ewigkeit stempeln gehn ? Nein ? Da wehr' dich, unterschreib' das Volksbegehren!"

Der Jüngere von beiden macht noch Einwände. Was nütze das alles, fragt er. Und der Alte antwortet, wenn alle so dumm fragten, nütze es allerdings nichts. Aber was es schade, wenn wir nicht das Volksbegehren durchbrächten, das könne er sagen. Dann würde nämlich die Entente frohlockend erklären, noch nicht einmal ein Zehntel der Deutschen habe die Hand dafür erhoben, daß sie einen reinen Verteidigungskrieg geführt hätten. Eine riesige Mehrheit habe also die Schuld bestätigt und anerkannt, daß die Strafe gerecht sei, daß das deutsche Volk mit allem, was es habe, die Lebenden und die Kommenden, büßen müsse. Auch die Armen, alle, alle. Die Reichen, überhaupt alle, die noch was haben, werden arm gemacht (das kann ich als Schriftgelehrter bestätigen: allein in den letzten beiden Jahren sind wieder 26 000 Vermögenssteuerpflichtige in Deutschland weniger geworden), und die Armen, die nur noch ihre Arbeitskraft haben, werden dann als Arbeitstiere ins Ausland verfrachtet, wo sie verderben und sterben. Da wagt der Junge den letzten Einwand: das sei ja ein alter Schwindel. Aber der Alte erwidert:

"Mensch, nun hör' auf! Weißt du nicht mehr, wie's dem Emil gegangen ist ? Keine Woche vergeht, wo nicht irgendwo irgendwelchen Deutschen dasselbe passiert. Sie unterschreiben einen Arbeitsvertrag als Erdarbeiter oder sonst was für Frankreich. Auf einmal sind sie, hast du nicht gesehn, in der Fremdenlegion. Nachher verrecken sie irgendwo. Denk' an Emil! Wenn das alle unsere Frauen und Mütter wüßten, bliebe keine vom Volksbegehren weg. Nur so ein dummes Luder wie du!"

Natürlich habe ich mich in das Gespräch nicht eingemischt. Ich hätte es ja nicht besser machen können. Aber wie viel Dummgemachte es bei uns gibt, davon habe ich jetzt eine Ahnung bekommen. Seit Jahren kann ich nur noch einen kleinen Teil der Briefe, die ich bekomme, überhaupt beantworten, aber seit acht Tagen schreibe ich mir, bis in die Nächte hinein, buchstäblich Schwielen an die Finger, um alle Nahestehenden und Bekannten zum Freiheitsbegehren heranzuholen, und da erlebe ich es, daß auch unter den sogenannten Gebildeten sehr viele noch ganz ahnungslos sind. Gewiß, draußen im Lande mag es anders sein, in Magdeburg hat sich ja sogar eine Versammlung der Deutschen Volkspartei mit allen gegen drei Vorstandsstimmen für das Begehren erklärt, weil es keine Parteisache, sondern eine Sache der Nation sei. Aber in Berlin ist die Ergebung und das Nichtstunwollen und der Stumpfsinn am größten. Da gibt es auch zu viel Ablenkung.

Da will man vielleicht, möglicherweise, na ja, wenn's gerade paßt, es hat ja noch Zeit, sich auch einzutragen, morgen, übermorgen. Aber dann kommt man von der Arbeit, da überfällt einen die Lichtreklame, da will man noch dies und jenes sich ansehen, "auf meine eine Stimme kommt's ja nicht so an" (aber wenn Millionen so denken ?), und schließlich ist die Zeit vorbei. Aber dafür ist man, es ist doch eine fabelhafte Sache, unter den Ersten gewesen, die "Die Frau im Mond" gesehen haben.

Selbstverständlich ist es eine fabelhafte Sache, fabelhaft in jeder Beziehung, nur läuft die nicht davon. Dieser Film wird sich halten. Er wird zwar nicht im Raketenflugzeug bis zum Monde gelangen, aber bis in das kleinste Kino in Deutschland, in Europa, auf der ganzen Welt.

Dafür, "wovon man spricht", hat das Ehepaar Lang-Harbou nun einmal die große Witterung. Das, "was man fühlt", als Einzelner oder als Volksseele, dem sind sie früher nachgegangen.

Für mich sind Müder Tod und Nibelungen das Unüberbietbare ihres Schaffens. Metropolis war schon Krampf, mit einer sozialen Kindlichkeit am Schluß. Dann der große Spion-Film; auch noch unerhört packend, aber wieder von der beinahe piscatorhaften Besessenheit für technische Phantasterei. Freilich, zeitgemäß ist das. Jedermann bastelt, jedermann phantasiert. Alle Tage werden neue Wunder Ereignis. Warum soll nicht mal eine Frau, eine junge Studentin der Astronomie, mit ihrem Verlobten und einem Ingenieur, einem Professor, einem Geldmachtvertreter, einem kleinen blinden Passagier im Weltraumschiff zum Monde fliegen ? Ja, "warum soll se nich ?" Ich fürchte nur, sie hat mehr poussiert als studiert. Auf keinen Fall hat sie Astronomie studiert, nicht einmal auf der Schule sich die Grundlagen dieser Kenntnis angeeignet. Wie hat sie nur die Reifeprüfung bestehen können ? Auch wer nur einmal durch das Fernrohr, für 20 Pfennige auf der Straße, den Mond sich angeguckt hat, der weiß, daß er - keine Atmosphäre hat. Die Sterne dahinter, an denen er vorbeirutscht, kommen klar bis zum Rande, verschwinden dann im Bruchteil einer Sekunde hinter der Scheibe, ohne daß die geringste Trübung, Verfärbung, Strahlenbrechung erfolgt. Es ist also kein Quentchen Luft zum Atmen auf dem Monde vorhanden.

Außerdem sind wir nicht gerade für die dort herrschenden Temperaturen geschaffen. Nach den radiometrischen Messungen der letzten Jahre herrscht auf den Schattenpartien des von keinem Luftmantel geschützten Mondes eine mehr als sibirische Kälte, auf der vollbeleuchteten Scheibe aber - und da "landen" doch unsere filmischen Mondhelden - 127 Grad Wärme. Da wäre also die Studentin der Astronomie im Augenblick geröstet und könnte ihrem Geliebten gar nicht erst (Großaufnahme) einen Fünf-Minuten-Kuß geben.

Doch das ist ja alles so gleichgültig. Der Film "Die Frau im Mond" wendet sich an das Jungenherz in uns. Ein bißchen hat es jeder.

Als bei der Uraufführung im Ufa-Palast am Zoo auf der Leinewand das Weltraumschiff, mit dem Heck im Wasser, dem Bug senkrecht nach oben, abgeschossen wurde, krach-bumm, eine Riesenwassersäule wie nach dem Einschlag eines 42er Haubitzengeschosses sich erhob und das Raketenschiff zum Sternenhimmel feurig emporsauste, da brach spontan ein wilder Beifall los. Da waren wir alle zu Jungens geworden, die ihre Nick-Carter-Geschichten intus haben. Und dabei waren es doch würdige Herren und vornehme Damen und skeptische Pressevertreter und hohe Beamte. Lauter "Spitzen", lauter Ehrengäste, keine Volksschulklasse Dreizehnjähriger. Man tobte vor Begeisterung. Urzeitinstinkte werden wach: der Adelsbrief aus der Bibel, daß wir die Erde (und alle ihre Kräfte) uns untertan machen sollen. Und deutscher Stolz wird wach: man applaudiert dem phantastischen Weltraumschiff, weil man Eckener und Hünefeld erlebt hat.

Der Film trifft den Weltgeschmack. Der Film erregt das Weltinteresse.

Am Anfang die sentimentalen Szenen von dem hungernden Professor, der seit dreißig Jahren seine Theorie von dem Goldreichtum des Mondes verficht, darnach die ungeheuer erregende Verbrechergeschichte, die von den fabelhaften Geldmagnaten (den "Gehirnen" und "Scheckbüchern") ausgeht, vulgo dem Kapitalismus, in der Mitte die phantastische Technik, dann das Märchenhafte auf dem Monde (ach, wäre ich doch noch zwölf Jahre alt; so aber habe ich oft gelächelt), zum Schluß der "gerechte" Ausgang der Liebesgeschichte, daß der Feige seine Braut verliert und der Tapfere sie kriegt: ist es nicht zum Heulen schön für alle empfindsamen Herzen ?

Thea v.Harbou ist in ihrer Schaffensfreude darob selber wieder zum Kinde geworden, ist wieder jene Kleine im roten Hemdchen aus dem Elbsandsteingebirge, die, wenn der Zug aus Böhmen im Flußtal herkeucht, die Lokomotive für ein lebendiges Drachenuntier hält. Ihr Mann, der Maler-Regisseur Fritz Lang, kann ihrer Phantasie folgen, der weiß, was Bildwirkung ist und wie man die Herzen ins Pochen bringt. Die Architekten haben ebenfalls ungeheuer Eindrucksvolles vollbracht. Kurz, man ist so im Bann, daß man die ganze Umwelt vergißt, auch den humorvollen Unsinn in dem Stück, daß beispielsweise der kleine Junge im Weltraumschiff (der blinde Passagier) auf dem Monde "wegen Fehlens der Schwerkraft" auf einmal zu schweben beginnt; man ist mal so richtig "drin", man ist mal so richtig dem ganzen Ärger der Zeit entrückt wie Bismarck, wenn er, weil es damals Filme noch nicht gab, die abenteuerlichsten Detektivgeschichten las.

Erst allmählich ebbt nachher alles ab, ist man nicht mehr der begeisterte Junge, sondern wieder der Alltagszyniker. Alles strömt nach der Première in die umliegenden Weinhäuser, um das große Ereignis nun zu besprechen und zu begießen, sich wieder zurückzufinden auf die Mutter Erde, wo es auch mal ganz nett sein kann. Am Nebentisch bei Traube drückt gerade einer der Premièrenbesucher, eine Berliner kommunale Größe, mit der Gabel zwei dicke spargelartige Stangen Palmenmark genießerisch so platt, daß sie wie Seezungenfilet aussehen, tut zerlassene Butter darauf, nimmt einen Schluck Rheinwein und sagt:

"Wenn die Harbou aber nachts zu phantasieren anfängt, möchte ich nicht neben ihr liegen!"

Vermutlich phantasiert sie nachts ebenso wenig wie andere Sterbliche im Durchschnitt, das wird ihr Mann einem wohl bestätigen können. Aber tagsüber arbeitet sie vom frühen Morgen bis zum sinkenden Abend mehr als jeder Durchschnittsarbeiter. Das ist sogar dem letzten Kulissenschieber draußen auf dem Ufagelände in Babelsberg klar. Der neue Film ist die Frucht zweijähriger angestrengtester Arbeit, nicht etwa bloß aus dem Ärmel geschüttelte Phantasie, und so bleibt dann hoffentlich auch die goldene Ernte in allen Erdteilen dafür nicht aus.Für die experimentelle Wissenschaft fällt dabei auch erkleckliches ab, denn die erste Weltraumrakete, die demnächst - natürlich eine kleine, ohne Menschen, ja zuerst ohne Registrierapparate - losgelassen werden soll, ist von dem Ehepaar Lang-Harbou und der Ufa finanziert worden.

In Amerika steht die Filmproduktion unter den Großindustrien - an erster natürlich Stahl und Eisen - an dritter Stelle. Bei uns, von Kapitalmangel und Lustbarkeitssteuer und hundert anderen Dingen eingeengt, erst an der soundsovielten. Jeder deutsche Großfilm, der seinen Weg macht, ist da volkswirtschaftlich ein guter Schritt vorwärts. Und können, - können können wir mehr als alle Filmhersteller der Welt einschließlich der Amerikaner, Russen, Schweden. Davon weiß die große Masse, die nur Unterhaltung sucht, freilich nichts. Die läßt sich behaglich in der Strömung der Großstadt treiben, geht mal hierhin, geht mal dahin. Überall zu einer Sache, "von der man spricht".

Im Osten kann "Carrows Lachbühne" am Weinbergsweg, in dem Kellergeschoß des Walhallatheaters, wirklich lachen, denn der Riesenraum ist alle Tage brechend voll von kleinen Leuten aus der Umgegend. Es ist eine Variété-Bühne, die auch kleine Singspiele als Einlage bringt und - "Das Beste ist für das Volk gerade gut genug!" - einige Nummern aufweist, die man besser auch im Wintergarten oder in der Scala nicht sehen kann. Dabei zum einheitlichen Eintrittspreis von nur 60 Pfennigen. Das Parkett ist zumeist mit Marktfrauen, Handwerkerfrauen, Ladenmädchen gefüllt, die breit und herzlich lachen, wenn ihr Geschlecht verulkt wird.

"Ehret die Frauen,
Sie säen nicht, sie ernten nicht,
Sie stopfen in ihrem Strumpf kein Loch -
Und der liebe Gott ernährt sie doch!"

singt das Hausquartett der vier Männer im mausgrauen Frackanzug und erntet für dergleichen Anzüglichkeiten lebhaften Beifall.

Natürlich läuft gelegentlich auch etwas Derbes mit unter, aber im großen und ganzen ist es eine sehr anständige Unterhaltung. Hier führt der Jüngling aus Berlin O auch seine Schöne her, setzt sich mit ihr auf die Weinterrasse, legt ihr den Arm um die Schulter, um die Hüfte oder noch etwas tiefer, trinkt eine billige Flasche und ißt in der Pause im Foyer - man ist sehr foin, man hat alles - mit ihr eine Bockwurst. Es ist drei Meter unter der Erde, aber ganz so wie in den vornehmen Lokalen, sogar die elektrischen Tischlampen mit rotem Schirm fehlen nicht. Eine Kautschuktänzerin, wirklich erstklassig, so daß man sich wundert, wie sie nach Berlin O kommt, wird von dem Conférencier mit den Worten eingeführt:

"Die Tänzerin hat in Paris berauschende Erfolge gehabt; nun zeigen Sie man, daß Sie ebensoviel Urteil und Geschmack besitzen wie das Pariser Publikum!"

Da fühlt sich Berlin O gehoben, da kennt der Beifall keine Grenze. Aber am herzlichsten ist er, wenn die Wirtin selber, die schon mehr als mollig ist, als junges Mädel in einem Singspiel auftritt. Das Geschäft geht glänzend. Und der Wirt ist generös, was sich auch sehr herumspricht. In meiner Gegenwart kommt neulich ein junger Mann zu ihm, zeigt einen Riß an seiner Hose vor, sagt, das sei die Folge eines hervorstehenden Nagels an seinem Stuhl im Parkett. Unbesehen kriegt er eine Anweisung an ein Kleidergeschäft auf eine neue Hose. So etwas - braucht ja nur einmal sich zu ereignen - weiß heute die ganze Stadt; und an der Eintrittskasse ist das Gedränge schon fast baupolizeiwidrig.
17. Oktober 1929 (Donnerstag)


8

Mutti möchte tanzen - Kinderparadies - Emelka-Skandale - Lustig, Hilfreich, Kohn - Terror gegen Wahlrecht - v. Egan-Krieger - Nun erst recht - Fritzi Massarys Fachwechsel - Luderchen.

Vati ist im Geschäft. Mutti möchte tanzen gehen.

Nicht etwa aus Vergnügungssucht oder Abenteuerlust, nein: für ihn, für ihn! Vati soll eine schlanke, jugendliche Frau behalten. Wenn Vati abends um einhalb acht nach Hause kommt, ist es nicht angenehm, wenn er Mutti den Arm um die Hüften legt und sagt:

"Na, wieder ein bißchen Kummerspeck angesetzt ?"

Also Mutti möchte tanzen gehen. Vielleicht so zwei-, dreimal die Woche, nachmittags so zwei, drei Stunden.

Nur: was fängt man inzwischen mit den Kindern an ?

Diese Frage ist für manche Frauen ein Entschuldigungsgrund für ihr Stillsitzen und Aufquellen bei einem Roman aus der Leihbibliothek und Pralinen. Sie gehen ja auch nicht etwa mit den Kindern spazieren. Man könnte sich erkälten, nicht wahr ? Also: "Da, da hast du deine Puppe und du deinen Baukasten, nun geht in eure Ecke, spielt artig und stört Mutti nicht!" Es gibt ja auch Muttis, die das Wort "stören" nicht kennen, immer für ihre Kinder zu haben sind, aber von denen ist hier nicht die Rede. Ich spreche von der Berliner Mutti, der Großstädterin, die so und so viele sogenannte Verpflichtungen hat, auch vor Kollegen oder Geschäftsfreunden oder Vorgesetzten des Mannes mit repräsentieren muß und nicht zum Hefekloß werden darf. Wenn diese Mutti nun tanzen gehen will, was fängt sie inzwischen mit den Kindern an ?

Das ist eine Bedürfnisfrage. Bedürfnisfragen lösen bringt Verdienst.

Das sagte sich auch der Kempinski-Betrieb im Haus Vaterland und eröffnete in einem seiner Säle, dem Grinzinger, ein Kinderparadies, in dem man von vier bis einhalb sieben Uhr nachmittags seine Kinder abstellen kann, während man selber im Palmensaal tanzt oder auf der Rheinterrasse mit anderen Muttis kaffeeklatscht.

Eine großartige Idee. Für eine Mark gibt es Aufsicht, Unterhaltung und Backwerk zu Milch oder Schokolade. Die Unterhaltung bestreitet zunächst Onkel Pelle. Onkel Pelle ist der berlinische Gattungsname für das, was der Franzose maître de plaisir nennt: ein vergnüglicher, einfallreicher Mensch, der in diesem Fall mit den Kindern "Jux macht". Zuerst Kasperle-Thetaer, alle Tage anders und neu, voll der schnurrigsten Geschichten. Dann Zauberkunststücke. Es ist ein ehemaliger Zirkusclown, den das Haus für diese Zwecke angestellt hat; und wenn er fertig ist, dann veranstaltet die Leiterin des Kinderparadieses - selbstverständlich ist sie "staatlich geprüft" - allerlei Spiele in Einzelgruppen.

Die Kinder sind selig. Mutti, zwei Stockwerke höher, vielleicht nicht minder, Vati hat auch was davon, weil die liebe Familie so munter und aufgekratzt ist. Seit ein paar Monaten besteht nun schon diese Einrichtung, und bisher sind die zumeist sechs- bis zwölfjährigen Kinder immer noch von ihren Muttis richtig abgeholt worden; keine hat sie mal vergessen - und sich selber vergessen, weil etwa der Eintänzer außer dem Tanzen auch das Plaudern so nett verstand.

Der arme Vati, der tagsüber im Geschäft oder im Amt zu tun hatte, müde nach Hause kommt, etwas mit Frau und Kindern plaudert, ißt, ein wenig in die Zeitung guckt (schrecklich, immer bloß die verfluchte Politik, dazu Verbrechen und Unglücksfälle), möchte nun auch sich entspannen, etwas sehen, aufgeheitert werden.

Wie wär's, gehen wir ins Kino ? Gut, machen wir gleich. Gleich um die Ecke, um neuneinviertel Uhr. Ein fabelhafter Spielfilm, davor die Emelka-Woche mit allerlei Neuem aus der ganzen Welt.

Gesagt, getan, Schon sitzen die Erholungsbedürftigen da. Aber ihre Gesichter werden lang, ihre Mienen verzerren sich gequält: schon wieder die verfluchte Politik! Severing erscheint auf der Leinewand und herrscht die Untertanen an, sie dürften sich nicht für das Volksbegehren eintragen. Als zweiter der lächelnde Oberbürgermeister Böß, der Mann von der Frau mit dem Sklarekpelz. Als dritter im Bunde - Hindenburg! Schon beim ersten Bilde mit dem aufreizenden Text hat es (so war es bei allen Emelka-Wochen in Berlin) Widerspruch gegeben, und jetzt gibt es offenen Skandal, Pfiffe, Schreie, erregte Diskussionen auch im Publikum zwischen den Stuhlreihen. Geht man deshalb ins Kino ? Diese Art Agitation unserer roten Regierenden schlägt dem Faß den Boden aus. In der Schaubühne in der Königgrätzer Straße ruft einer:

"Ich hatte keine Lust zum Volksbegehren, aber jetzt trage ich mich ein!"

Andere rufen: "Jawohl, Recht hat er!"

Ein Gegner schreit. "Wer sich einträgt, ist ein Verbrecher!"

Donnernd kommt die Antwort: "Wer sich nicht einträgt, der ist kein Deutscher!"

Weil solche Szenen nicht gerade zur Erholung beitragen, sagen sich inzwischen die Stillen: Nie wieder in ein Kino, das die Emelka-Woche vorführt!

Die Politik ruiniert das Theatergeschäft, das hat man schon bei Piscator gesehen. Die Emelka, deren Wochenschauen in etwa 200 deutschen Kinos über die Leinewand flimmern, was im Vergleich zu Ufa-, Deulig-, Opelwoche ja nicht sehr viel ist, ist nur deshalb, denn das gibt doch immerhin Propagandamöglichkeit, von der Regierung angekauft worden.

Schon vor Jahr und Tag wollte sie es tun. Damals gab der Reichstag seine Einwilligung dazu noch nicht, damals gehörte noch der Terra-Film den Ullsteins, den sie inzwischen abgestoßen haben, und die Ullsteins wünschten keine staatliche Konkurrenz und schrieben dagegen. Heute ist es ihnen recht, auch wenn das Reich - die Steuerzahler halten ja den Mund, bleiben zum Teil sogar dem Volksbegehren fern, dieser prachtvollen Gelegenheit zu einem Protestausbruch - die Aktien mit 125 statt mit 80 bezahlt. Wer dabei das große Geschäft macht ? Ich weiß nicht genau. Ein gutes Zwischengeschäft jedenfalls die Commerz- und Privatbank, die das Aktienpaket jetzt an der Hand hat.

Ursprünglich ging das Angebot von Herrn Hugo Lustig aus der Tiergartenstraße an die Regierung, einem sehr östlichen, mit Breitscheid und Stresemann und anderen Hochmögenden befreundeten Herr, der durch die tschechoslowakische Gesandtschaft in Berlin eingeführt worden ist. Das Angebot war nicht für ihn, aber für die Regierung sehr unvorteilhaft; der Haushaltsausschuß des Reichstages lehnte es ab, die Regierung zog die Vorlage darauf zurück. Und jetzt - kommt sie wieder.

Dieser Herr Lustig, der sich übrigens seit 1918 "von" Lustig nennt, hatte während des Krieges monatelang, bis das Verfahren dann niedergeschlagen wurde, in Wien in Untersuchungshaft gesessen. Es sollte irgend etwas bei gewissen Lieferungen nicht gestimmt haben.

Er war Mitglied des Beschaffungsamtes, das der österreichische Kriegsminister Krobatin aus den drei Herren Lustig, Hilfreich, Kohn zusammengestellt hatte, so daß damals in Wien der Merkvers umging:

"Lustig sei der Mensch, hilfreich und Jud!"

Die Verfilzung unserer Regierenden mit allerlei Geschäftmachern dieser Art - Herr Lustig entstammt dem Hopfenhandel in Saaz - ist es ja, die die ganze Vertrauenskrise in Deutschland hervorruft. Wir sehen immer wieder - der ehemalige Reichskanzler Bauer war ja nicht der einzige - unsere leitenden Männer in Reich, Staat, Provinz, Gemeinde mit diesen Leuten zusammenhocken, wir sehen, wie die angeblich kapitalfeindliche Sozialdemokratie überall mit und für Kapitalisten, mitunter (so bei Kutisker, Barmat, Sklarek) sehr anrüchigen, arbeitet, und wir wünschen erbittert und dumpf, daß endlich eine scharfe Kontrolle hineinfährt. Der Reichstag ? Ach, der stellt ja selber einen großen Teil der Leitenden! Die öffentliche Meinung ? Die wird von den Ullstein und Konsorten irregeführt. Da bleibt also nur der Appell an den Stimmzettel, an das Volk da draußen, an die große Masse der noch nicht Verfilzten. Zum ersten Mal macht das Volksbegehren den Versuch, eine Front der Nichtverfilzten zu bilden und die strafrechtliche Verantwortung derer herbeizuführen, die bisher verantwortungslos durch ihre Abschlüsse das Volk schädigen konnten. Daher die ganze Angst der anderen! Daher der Gesinnungsterror! An diesem Sonntag, dem letzten Großkampftag für das Volksbegehren, fällt die Entscheidung. Am Dienstag ist Schluß. Es gibt nur noch zwei Lager in Deutschland. "In welches gehörst du ?" Das ist die Frage, die heute jede Frau ihrem Manne vorlegen sollte, aber auch eine Frage, mit der einst unsere Kinder uns verfluchen könnten.

Jede einzelne Eintragung stärkt die Front derer, die ein sauberes Deutschland wiedererrichten wollen. Rücken Massen an, rücken Millionen an, so sind auch die Hochmögenden machtlos; dann ist es, trotz Rundfunk und Emelka, auch aus mit allen Disziplinarverfahren und allen Versuchen geschäftlicher Schädigung. Diese Versuche, jemand das Brot zu entziehen, wenn er sich die verfassungsmäßige Meinungsfreiheit nicht beschränken lassen will, haben jetzt auch einen früheren Liebling des Berliner Publikums getroffen, den Major a.D. v.Egan-Krieger, den ehemaligen Herrenreiter, der als Soldat zuletzt Flieger war und als schwer zusammengeschossener Kriegskrüppel einen staatlichen Lotterieladen bekommen hatte. Der ist ihm jetzt genommen worden. Wenn er früher auf einem Berliner Rennplatz erschien, jubelte alles dem jungen Offizier zu. "Egan-Krieger, egal Sieger!" hieß es. Einmal siegte er in dem ersten Hindernisrennen irgendwo draußen im Reich, ich glaube, es war in Magdeburg, kletterte darnach sofort in ein Flugzeug, flog nach Berlin, landete auf der Rennbahn Grunewald, stieg hier wieder zu Pferde und siegte erneut in einem schweren Jagdreiten. Solcher ganzen Kerle haben wir nicht allzu viele in Deutschland. Sollen wir sie im Stich lassen, beim Volksbegehren faul zu Hause bleiben ? Dann haben wir es verdient, von den Grzesinski und Genossen regiert zu werden.

Ein anderer Liebling Berlins hat soeben entschlossen den großen Schritt in die zurückliegende Generation getan: Fritzi Massary ist nicht mehr Operettendiva, sondern Salondame im Fach der Mütter auf der Sprechbühne.

Sie tanzt nicht mehr, sie singt nicht mehr Schlager, sie markiert keinen Schwips mehr, sie trägt nicht mehr gewagte Toiletten, die immer ein Wollusttraum für den Kurfürstendamm waren; sie ist bürgerliche Frau geworden, ist nicht mehr Geliebte märchenhafter Balkanprinzen im Theater, sondern Mutter eines erwachsenen und eines schlaksigen jüngeren Sohnes, geschiedene Gattin eines reichen Engländers, der inzwischen wieder geheiratet, ein junges blondes Luderchen wieder geheiratet hat, den sie aber durch Güte und Verstehen erneut gewinnt. Die Komödie - "Die erste Mrs. Selby" von St. John Ervine - ist im Theater in der Königgrätzer Straße liebevoll inszeniert, ohne den ganzen heutigen Krampf mit Treppe, Kubus, laufendem Bande. Alle drei Akte spielen in der behaglichen Library eines Londoner Heims (sogar mit vielen hundert wirklicher Bücher, nicht Attrappen), mit Blick in die Hall und deren brennenden Kamin, mit schönen altenglischen Stichen an den Wänden, und die Menschen darin - auch der schlaksige Eton-Boy Ninian Selby, entzückend lausbubig von Peter Wolff gegeben - bewegen sich ungemein echt.

Fritzi Massary aber ist in dem reinen Konversationsstück mit ein bißchen Liebe und Gemüt und ein bißchen Trotteltum und Skandal, richtig englischem shoking-Skandal, in dem Stück, das nur leise Akzente und gar keine Kulissenreißerei kennt, die große Darstellerin trotz oder gerade wegen Fehlens aller äußeren Effekte. Ein Mundzucken sagt manchmal alles. Keine einzige operettenhafte Bewegung; ganz ruhevoll die Hände, die sonst erhoben oder abgestreckt oder mit der Bewegung eines Circonflexe jede Fermate zu unterstreichen gewohnt war.

Sagte ich, daß sie die geschiedene Gattin eines "reichen" Engländers spielt ? Nun ja, reich nach unseren Begriffen. Wer in London etwa zwei bis drei Millionen Mark besitzt, ist noch nicht "rich" in dortigem Sinne, sondern nur well-to-do-people, oder wie wir sagen würden: auskömmlich gestellt. Für uns ist das Brillantarmband mit Smaragden, mit der der Geschiedene wieder um seine erste Mrs. Selby wirbt, einfach märchenhaft. Wir gönnen es ihr. Wenn beim happy end Fritzi Massary glückselig stammelt: "Alles fängt wieder an!", steht dem und jenem Zuschauer das Wasser in den Augen. Dabei ist die Massary doch nicht mehr eine hübsche junge Frau, wenn sie auch zweimal eine sogenannte Verjüngung durchgemacht hat. Sie hat es auch verschmäht, sich etwa ein kokettes Stupsnäschen von jenem ärztlichen Verschönerer machen zu lassen, der in Berlin W unter dem Spitznamen "Dr. Germanisator" bekannt ist. Das Näschen hat dafür, von Natur, die mollige blonde Maria Paudler, das Luderchen. Sie spielt nicht so gereift. Aber sie ist eben mollig und hat Grübchen, ist daher auch im Film immer willkommen.

Nach der Première noch schnell zum Überdenken des Abends und zu einem Schlaftrunk, einem Becher Prince of Wales, in die Königin-Bar. Ei, wer tommt denn da ? Luderchen! Und wer noch ? Alle übrigen Darsteller. So ist es heute: nach dem Erfolg der Uraufführung nicht nach Hause oder zum Festessen ins Hotel, sondern auf die Tanzdiele.

Die Herren tanzen mit Luderchen. Die "erste Mrs. Selby" bleibt gütig und ruhig sitzen; nur die Rosensträuße auf dem Tisch vor ihr mehren sich.

Fritzi Massarys Mann, Pallenberg, wollte auch dabei sein, wollte aus Wien im Flugzeug kommen. Es ging wegen Nebels nicht. Auch um die Massary spinnen sich Herbstnebel. Aber in ihr ist Sonne.
24. Oktober 1929 (Donnerstag)


9

Dame mit Schwänzchen - "Atlantic" statt "Titanic" - Wie englische, nicht deutsche Schiffsoffiziere sich benehmen - Der Tonfilm überhaupt - Die Musik kommt - Von unseren alten Militärkapellen - Hackenbergers Zirkus-Busch-Konzerte - Die Toscani des Amerikaners.

Gelegentlich sieht man in Berlin, auf der Estrade des Wintergartens oder bei der Uraufführung eines Films oder im ersten Rang der Staatsoper, die oder jene junge Ausländerin, die aber nicht mehr durch ihre Kleidung auffällt, sondern höchstens durch ihre Schminktechnik.

Früher war solch eine Fremde auf zwanzig Meter selbst im dicksten Straßengewühl an irgend einer Modekeckheit zu erkennen, und die Berlinerin seufzte: "Ja, das ist eben Paris! Einfach unnachahmlich!"

Heute dreht man sich nach einer Ausländerin in der Reichshauptstadt kaum noch um, denn man steht ja schon längst selber in erster Reihe, läßt sich in keiner Neuheit zuvorkommen. Um so mehr fällt hier dafür die Dame aus der deutschen Mittelstadt auf, die extravagant gekleidet herkommt, aber nach dem "vorletzten" Schrei der Mode. Das ist ihr ewiges Pech, vorletzte zu sein. Sie weiß es auch noch nicht überall, daß das Maskuline wieder das Anormale ist, bei gesunden jungen Frauen, die Gott sei Dank wieder weiblich sein dürfen, nicht mehr gesehen wird, wenn sie zur Gesellschaft gehören. Noch im vorigen Jahre gab es Irrtümer genug. Im Theater sprach man einen jungen Herren, der vor einem saß, um das Programm an, weil man überzeugt war, es sei eine junge Dame; und nachher war es doch ein Herr. Nur daß auch er sich die Ohrläppchen geschminkt hatte. Oder es ging einem auch umgekehrt. Das alles gilt jetzt als geschmacklos; niemand verleugnet mehr das eigene Geschlecht, es sei denn eine zu spät aufgestandene "Provinzlerin", und je näher der Abend rückt, desto länger wird das Kleid, desto weiblicher auch die Frisur und alles übrige. Daß das kurze Kleid praktischer, bequemer, abgesehen vom Ballsaal auch schöner ist, weiß man trotzdem und behält es für den Tag daher auch bei. Und für den Nachmittag ? Da hat man ein sozusagen amphibisches Übergangsstadium, da hat man - ein Schwänzchen.

Unsere Damen schreiten im Mantel einher, der vormittags alles bedeckt, aber nun wippelt hinten unter dem Mantel hervor vom Kleide ein Schwänzchen. Es gibt eine Blumensprache, es gibt eine Briefmarkensprache, es gibt auch eine Kleidersprache. Das Schwänzchen besagt nun in dieser Sprache:

"Ich bin augenblicklich zu Haus oder im Beruf nicht mehr tätig, ich bin zum Tanzen oder Flirten bereit!"

Auch noch beim Kinobesuch am Abend, nicht nur am Spätnachmittag, regiert das Wippelschwänzchen. Es ist der Entoutcas, wie man früher das Mittelding zwischen Sonnen- und Regenschirm nannte. Man ist "für jeden Fall" nicht unpassend gekleidet; auch wenn man nachher noch in ein Weinrestaurant geht. Manchmal hat man dies sogar sehr nötig, um sich von den Eindrücken im Kino einigermaßen zu erholen.

Nach der "Atlantic"-Aufführung bin ich verstört sogar in das nächste Siechenbräu gestürmt, um zunächst mit einer halben Maß das Beklemmende herunterzuspülen. Es ist die bekannte "Titanic"-Katastrophe, der Zusammenstoß eines Riesendampfers mit einem Eisberg, der hier "vertonfilmt" ist. Ich höre und lese rundum begeisterte Kritiken, aber ich bin Ketzer, ich habe nur gesehen, daß der stumme Film bei solcher Handlung unendlich viel eindrucksvoller sein muß, weil er dramatischer, gedrängter, atemloser ist; die Sprechaufnahmen verleiten zu Breite. Diese ewigen Gespräche! Diese gräßlich lange Zeit, die die Schiffsoffiziere, die doch handeln müssen, zum Sprechen, Zuhören, Herumstehen haben! Bei den Passagieren! Und auch die Geschehnisse auf der Kommandobrücke haben für jeden Seebefahrenen etwas Lächerliches. Das Hackenzusammenschlagen der zu großer Parole (von ihren Posten weg!) dorthin befohlenen Offiziere, das Theatralische in der ganzen Geschichte, auch das zaghafte, vorsichtige Drehen des Maschinentelegraphen, der nicht energisch herumgerissen wird, und so noch allerlei mehr gänzlich Unseemännisches, gänzlich Undeutsches. Die Geräusche - das Dröhnen der Kolben, das Rauschen des Meeres, das Heulen der Dampfpfeife - macht im stummen Film, siehe "Potemkin", genau so eindringlich die Begleitmusik. Die Dialoge zwischen den Menschen aber kranken noch an technischen Mängeln. Alles lispelt, alles zischt. Und man hat bei diesem englischen "auf deutsch" gedrehten Dupont-Film nicht den Eindruck wie stellenweise beim "Singing fool", daß aus der Leinewand heraus gesprochen wird, sondern aus irgendeinem Grammophon nebenbei. Es ist wie bei dem Bauchredner mit seinen Puppen: er spricht, sie klappen dazu lautlos den Mund auf und zu. Das Gezerre aber verleidet einem den Abend.

Dieser "Atlantic"-Film ist nicht erschütternd, sondern quälend. Die Jämmerlichkeit nahezu aller handelnden Personen kommt unserer Generation, die den Frontkrieg mitgemacht hat, übrigens nicht nur verächtlich, sondern auch unwahrscheinlich vor; ein paar anständige Kerle mehr gibt es doch wohl noch bei Theaterbränden und Schiffsuntergängen. Die effektvollen Szenen, von dem Wassereinbruch, von der Einbootung, werden zu häufig wiederholt, außerdem zeitlich falsch aneinandergereiht: die Funkbude oben auf dem A-Deck kann nicht schon unter Wasser stehen, während unten an de Bar im C-Deck die Leute noch im Trockenen sitzen. Also alles in allem kann ich nur sagen, daß man viel mehr durch Zusammendrängen hätte erreichen können und daß in diesem Tonfilm der Ton nicht das wesentliche ist, sondern im Gegenteil nur die Augenblickswirkung der Bilder verdirbt.

Sicherlich hat die Sache eine große Zukunft. Ich will gern sogar an den Bunt- und Plastikfilm glauben. Nur bin ich - und das große Publikum wird es einst auch - für reinliche Scheidung. Selbst in der raffiniertesten Aufführung des "Peer Gynt" etwa wird die Sprechbühne einen Schiffsuntergang nicht so glaubhaft darstellen können, wie es die Photographie vermag; deshalb nimmt ja such schon der mit allen Hunden und Maschinen gehetzte Piscator bei seinen Stücken den Film zu Hilfe. Umgekehrt kann der Film, abgesehen von kleinen sentimentalen oder derbkomischen Szenen, auf Eigengeräusche verzichten, die meist "das Geschäft nur aufhalten". Zweierlei erwarten wir von dem Flimmerlaken. Erstens, daß es uns atemloses Erleben bringt, uns in mächtigem Tempo vorwärtsreißt, wobei gesprochene Worte nur hemmen. Zweitens, daß es uns gleichzeitig das große Ausruhen bringt, das Auge in Bildern schwelgen läßt und dabei uns nicht zum Hinhorchen zwingt. Ich erwarte den Gegenbeweis, ich will mich gern belehren lassen, wenn ein wirklich echter Tonfilm da ist, aber die Mischung der Stile im "Atlantic"-Film ist Menschen von Geschmack zuwider.

An Musik - in jedem Kino, in jedem Café - ist sicherlich heute kein Mangel. Aber e i n e Musik entbehrt der Berliner schmerzlich, das ist die seiner früheren Garderegimenter, die ihn morgens so fröhlich weckte, wenn die Truppen zum Tempelhofer Felde oder nach Döberitz marschierten. Frese von den "Maikäfern" und andere Dirigenten waren fast jedem Berliner bekannt, waren Lieblinge des Publikums. Und welches Fest alle Tage, wenn die Wache aufzog! Alles straffte sich; diese Musik war ein guter Erzieher.

Sie hat auch künstlerisch viel geleistet. Auf der Pariser Weltausstellung von 1867 bekam die deutsche Militärmusik unter sämtlichen europäischen den ersten Preis. Auch zu den Bällen bei Hofe stellte die Garde immer das nötige Streichorchester. Bei einer Zivilcour beim Kaiserpaar vor dem Kriege wurde einst auch Fräulein v.Friedländer-Fuld durch den Zeremonienmeister Grafen Kanitz vorgestellt, wobei die Kapelle unter Leitung Grafs prompt mit dem Lieblingsmarsch des Kaisers einsetzte: "Tochter Zions, freue dich!"

Aber die Tätigkeit des Konzertgebens bei Hofe oder im Zoo oder in großen Sälen war doch nicht die Hauptsache; Hauptsache blieb immer das Elektrisieren ermüdeter Mannschaften auf dem Marsche, im Manöver, auch noch im Kriege, und früher besonders durch die Spielleute beim Angriff, dem Sturm: Trommelschlag und Kartoffelsupp, Kartoffelsupp, Kartoffelsupp! Das ging durch und durch. Und war nicht immer leicht. Auch Blechpuster kommen zuweilen außer Puste. Rataplan, Rataplan, Rataplan! Nach langen Umgehungsmärschen hat die Kompagnie in Döberitz endlich den Feind vor sich und stürmt in Sonnenglut durch dicken Sand hügelan. Der Hornist keucht und setzt die Trompete ab. Schon hört er hinter sich das Roß des Häuptlings schnauben, und dieser brüllt:

"Willstewoll blasen, verfluchter Beethoven ?"

Das ist ein bekanntes altes Geschichtchen, ich lese es gerade wieder in einem der entzückenden kleinen Kaczmarek-Bändchen des Brunnenverlages, in dem ein alter aktiver "Maikäfer"-Offizier die lustigsten Militäranekdoten aus Kriegs- und Vorkriegszeit gesammelt hat - und es werden immer noch neue Bändchen möglich, so viel haben wir ja alle an Erheiterndem und Erhebendem erlebt, als wir noch Soldaten waren. Aber die Musik gehörte dazu. Noch heute spielt die Bataillonsmusik, wo eine steht, allwöchentlich ein- bis zweimal auch in der Mittagspause für die Mannschaften. Ehemalige Militärmusiker aber haben sich zu Kapellen, oft in Phantasieuniform, zusammengeschlossen und locken so das Publikum, das an die gute alte Zeit erinnert sein möchte, in die Biergärten. Der ehemalige Paukenschläger der Leibgardehusaren, der Togo-Neger Sambo, der so stolz auf seinem Schimmel dem Regiment vorangaloppierte, die Arme mit den Schlägeln hoch erhoben, ist jetzt - unmittelbar nach dem Kriege war er "ein bißchen vor die Hunde gegangen" - Mitglied der Stahlhelmkapelle in Köln a.Rh. und wird, in seiner alten Friedensuniform, zu allen möglichen Festlichkeiten herangezogen.

In Berlin hat unter anderem die Polizei eine treffliche Kapelle, die neulich bei Stresemanns Leichenkondukt die Begleitmusik stellte, aber eine marschierende Truppe mit Tschingtara sieht man eben fast nie.

Da haben es die Potsdamer besser. Dort steht das Infanterieregiment 9 der Reichswehr und dort waltet in alter unverwüstlicher Frische mit über 40 Dienstjahren an der Spitze der Kapelle der alte Musikdirektor Dippel, einst Freses Nachfolger bei den Gardefüsilieren.

Einige Male im Jahre kann aber auch der Berliner sich das Herz erheben: wenn unter Leitung des Armeemusikinspizienten Professors Hackenberger im Zirkus Busch am Sonntag Vormittag rund 200 Militärmusiker des ganzen Wehrkreises ein Konzert geben, im zweiten Teil dann, Tambourmajors voran, die Spielleute im Stahlhelm hereinmarschieren, ruck, zuck, halt, die alten Militärmärsche erdröhnen, auch als Bild ungeheuer eindrucksvoll in seiner Disziplin, und zuletzt der große Zapfenstreich geblasen wird. Das ist wie Gottesdienst. Am 17. November gibt es das wieder. Es lohnt eine Reise nach Berlin, wenn man nicht zu weit ab wohnt.

Sonst ist der November naturgemäß die fremdenärmste Zeit für die Reichshauptstadt. Auch in dem Sommerhalbjahr haben sich die Hoffnungen unserer Kommunalgrößen auf starke Belebung des Verkehrs nicht erfüllt, weil eben das, was früher den Fremden herzog, nicht mehr da ist, und zu etwas verblüffend Neuem fehlen die Geldmittel. Außerdem sind manche Behörden auf Förderung des Verkehrs nicht gut eingespielt. Kommt da neulich - die Geschichte hat sich wörtlich wie folgt zugetragen - ein Amerikaner aus Holland hergeflogen, während sein schweres Gepäck mit der Eisenbahn anrollt. Er hat schon halb Europa besucht, jetzt ist Deutschland an der Reihe; hier wird er wohl auch tüchtig einkaufen, während er anderswo nur Kuriositäten gesammelt hat. So in Italien - er selbst ist Nichtraucher - zwei Tüten Toscani. Er wird zur zollamtlichen Behandlung seines Gepäcks zum Bahnhof zitiert. Ob er was Zollpflichtiges habe ? Er glaube nein, sagt er; nur 14 italienische schwarze Zigarren habe er ulkeshalber gekauft, alles übrige in den Koffern seien seine Kleidungsstücke und dergleichen.

"Vierzehn Stück ? Das wird Ihnen teuer zu stehen kommen! Nur zehn sind erlaubt!"

"Gut, so werfe ich vier weg oder gebe sie dem Gepäckträger."

"Das ist verboten!"

"Nun, dann verzichte ich darauf zu Gunsten der Armen, überlasse sie Ihnen zur Versteigerung."

"Das ist jetzt auch nicht mehr gestattet!"

"Also schicke ich vier nach Italien zurück."

"Das können Sie, aber es müssen dann alle vierzehn sein."

"Ich denke nicht daran."

"Dann müssen alle vierzehn verzollt werden."

"Aber zehn sind doch frei, sagen Sie ?"

"Ja, wenn es nur zehn wären!"

"Da verstehe ich nicht, das ist doch gräßlicher Bürokratismus."

"Wir haben unsere Vorschriften - hätten Sie doch die Zigarren einfach in die Tasche gesteckt!"

"Nein, ich schmuggele nie!"

"Dann müssen wir also verzollen."

Hierzu werden die Toscani gewogen (jede hat 7 Gramm), das Gewicht der Verpackung wird eingesetzt, dicke Folianten werden gewälzt, zwei Beamte rechnen fieberhaft. Nach vollen 22 Minuten wird es dem Fremden endlich zu dumm. Er fragt, was die vierzehn Zigarren wohl an Zoll erforderten. "Etwa acht bis neun Mark!" Gut, sagt er, legt zehn Mark hin und erklärt, er habe keine Zeit mehr. Schön, wird ihm erwidert, er möge behufs Abrechnung morgen wiederkommen.

Er kam nicht. Einen Tag später schickte die Zollbehörde, denn korrekt und entgegenkommend sind wir nun mal, dem Amerikaner eine Quittung über 8,90 Mark und den Rest von 1,10 Mark bar in sein Hotel. Da war er aber nicht mehr. Er war gleich wieder zurückgeflogen und hatte nach der ersten Probe Berlin auf ganz Deutschland verzichtet.
31. Oktober 1929 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts