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Ein Reiterleben - Jehuda Menuhin - Das Alte stürzt - Die Blumenfrau am Halleschen Tor - Eine Chauffeuse.
Neulich, beim letzten Preisreiten und Preisspringen im Sportpalast, gerade an dem Tage, an dem Hindenburg dazu erschien, gab es einen Zwischenfall. Ganz vorn vor den Ehrenlogen stand aufrecht ein einfacher dem Arbeiterstande angehörender Mann. Das Publikum wurde unruhig. "Hinsetzen oder weggehen!" wurde gerufen. Da drehte sich der Mann um und sagte laut: "Wat wollt Ihr eigentlich ? Ich habe den Prinzen Sigismund auf dem Herzen!" Er sei, o Gott, o Got, sicher betrunken, tuschelten die Damen in den ersten Reihen. Aber da kam ein seltsames Leuchten in die Augen des Mannes, er griff tief in seinen Westenausschnitt, holte ein Buch - "Ein Reiterleben. Prinz Friedrich Sigismund von Preußen. Von Franz v.Hertzberg-Schöneiche. Verlag Tradition Berlin" - da heraus und wies stumm die erste Seite. Man griff darnach, man sah hinein und man erstattete nachher auch Hindenburg Bericht. Auf dieser Seite stand handschriftlich die Widmung: "Dem eifrigsten Besucher der Reitturniere des Berliner Sportpalastes - Prinzessin Friedrich Sigismund von Preußen." Es hatte also schon seine Richtigkeit mit dem auf dem Herzen tragen; und dieser alte Kavallerist hatte seinen Prinzen nicht nur auf, sondern auch im Herzen. Jetzt habe ich selber mit heißem Eifer das Buch gelesen. Mit des Verfassers Bruder, der auch Major war, habe ich im Kriege manchen schweren Tag durchkämpft; er ist nachher vor Verdun gefallen. Und des Prinzen Friedrich Sigismund Fliegerabteilung stand im Osten eine Zeit lang neben der meinen; dort habe ich ihn persönlich kennen gelernt. Im Sommer 1927 hatte er noch in der schwersten Vielseitigkeitsprüfung für Olympia, der Military in Luzern, den ersten Preis im Reiten für Deutschland errungen, dann trug er bei einem bösen Sturz eine Leberzerreißung davon. Die Operation half nichts mehr, auch nichts die Blutübertragung, zu der sich der Reichswehroberleutnant Nagel sofort stellte. Der Prinz schied aus dem Leben. Sein Werk, die reiterliche Durchbildung der Turnierpferde, vorbildlich für die ganze Welt, einst im Hause Glienicke bei Potsdam begonnen, dann auf Gut Kölzow in Mecklenburg erweitert, wird von seiner Witwe fortgesetzt. Er betrachtete dieses Werk als pflichtgemäßen Dienst, als Dienst am Vaterlande, und trieb es mit dem deutschen Ernst, "eine Sache um ihrer selbst willen zu tun". Ich kann mir wohl vorstellen, daß auch Nichtreiter dieses Buch über Leben und Arbeit des Prinzen Friedrich Sigismund, dessen Bruder vorher als Flieger im Felde fiel, mit innerer Erhebung lesen. Zerbricht es doch zu seinem Teil die Legende vom prinzlichen Drohnendasein. Mochte irgendwann einmal abends auch noch so sehr gefeiert worden sein, am nächsten Morgen war Prinz Friedrich Sigismund pünktlich wieder im Sattel und arbeitete stundenlang seine Pferde. Nur so war es möglich, daß er an die Spitze der deutschen, ja der Reiter der ganzen Welt kam und in einem einzigen Jahre 37 Turniersiege erritt. Im Berliner Sportpalast gehörte der Prinz in seiner Danziger Leibhusarenuniform zu den populärsten Erscheinungen. Er blieb dabei schlicht und gütig. Mancher einfache Mann wie auch mancher Hochmögende in Deutschland "trug ihn auf dem Herzen".
Allerdings war es eine andere Popularität als die, deren sich Filmhelden oder Preisboxer oder Musikwunder erfreuen. Volkstümlichkeit in der breiten Masse bringt das Reiten nicht ein. Wenn man aber zwölf Jahre alt ist, den Geigenbogen wie ein Erwachsener führt und trotz seines hebräischen Namens Jehuda Menuhin ein pausbäckiger blonder Junge ist, noch dazu aus Amerika kommt und englisch spricht, dann rast natürlich das Berliner Publikum. Der kleine Dickus, der das Technische spielend meistert, soll angeblich ein zweiter Joachim sein. Nach dem Konzert saß ich im Adlon in der Nähe des Dredner Opernintendanten, der begeistert erzählte: "So etwas habe ich in 35 Jahren nicht gehört!" Es muß schon etwas daran sein, wenn ein so großer Künstler wie Busch den kleinen Jehuda in Europa einführt und es schmerzlich bedauert, dieses erste Konzert nicht selber geleitet zu haben. Wegen der Trauerfälle in der Familie; der Bruder und der Vater und die verehrte Schwiegermutter Buschs in wenigen Monaten hintereinander gestorben. Außer den Menuhins selber - der aus Jaffa in Palästina stammende Vater, die Mutter, der Sohn, zwei kleinere Töchter - war im Konzert und dann im Hotel Adlon natürlich noch ein ganzer Kometenschweif erschienen, auch Luise Wolff, die Managerin aller großen Konzerte, wankte einher, und die Unterhändler für Dresden und Wien waren da. Derweil stopfte Jehuda Menuhin, abends um ½12 Uhr, nach Jungensart eine erhebliche Anzahl Kalorien in sich hinein, die sich bei ihm merkwürdigerweise in perlende Lüufe umsetzen. Wie ein kränkliches Wunderkind sieht er wirklich nicht aus. Die Berlinerinnen finden ihn "einfach süß", weil er so apfelrund ist und ins einer weißseidenen Bluse mit gaufriertem Krägelchen und Manschetten aussieht wie der little Lord Fauntleroy. Bruno Walter, der für Busch eingesprungene Dirigent, blickt gerührt auf den Kleinen hernieder. Mit geradezu männlicher Empfindung schöpft dieser Jehuda Menuhin Bach und Brahms und Beethoven aus. Es ist wohl die Rasse, die einen so früh reifen läßt.
Nur sehr allmählich verebben die Konzerte, die in Berlin, wenn es sich nicht gerade um Namen von Weltruf handelt, zumeist an Freibilletler verschenkt werden, aber doch notwendig sind, da in der internationalen Musikwelt der Stempel der Berliner Kritik verlangt wird. Auch die Musikenthusiasten, die in diesem langen Winter ausgiebig Freikonzerte hatten, möchten jetzt, wo es endlich wärmer zu werden scheint, lieber einmal dem Vogelsang lauschen. Der Berliner geht wieder im Tiergarten spazieren und auch in den Straßen hastet er nicht mehr, sondern läßt ruhig die Augen schweifen und freut sich, wenn er irgendwo Baugerüste sieht, wenn irgendwo "neues Leben aus den Ruinen blüht", weil er daran die zage Hoffnung knüpfen kann: wir lassen uns noch nicht einsargen. Freilich verschwindet dabei manches Liebe und Altvertraute. So soll also die vom Alexanderplatz entfernte Berolina wirklich nirgends mehr aufgestellt werden; sie wird als Altmetall verschrottet. Über Nacht ist dieser Tage auch der steinerne romanische Brunnen vom Platz an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche verschwunden; wer 10 000 Mark - das ist billig, sehr billig - dafür und außerdem die Transportkosten bezahlt, kann dieses meisterliche Werk vor seiner Villa oder vor dem Rathaus der Vaterstadt aufbauen lassen und erzählen, künstlerischer Berater des Bildhauers sei der Kaiser selbst gewesen. Mit seinen prachtvollen Löwen rundum würde der Brunnen sehr gut nach Braunschweig oder in eine andere alte Welfenstadt passen und dort für die Fremden einen Baedekerstern bekommen. Die Spitzhacke macht jetzt auch einem unserer ältesten Häuser ein Ende, dem letzten - Bauernhause Charlottenburgs, das an der Ecke Wall- und Spreestraße stand, mit nur drei Dachstübchen über dem einen niedrigen Erdgeschoß. Entstanden ist es, als noch nicht Friedrich I. seiner Gemahlin zu Ehren "Charlottenburg" hier gegründet hatte, das noch ein Dorf war und Lietzow hieß. Heute ist es eine Großstadt, in der man die ganze Bevölkerung etwa des Staates Estland mitsamt Heer und Diplomatie unterbringen könnte, aber den dörflichen Charakter hatte es zum Teil noch bis in die Kaiserzeit hinein. Ich habe eine alte Dame gekannt, die immer noch nicht "Lützowstraße" (sie hat mit dem Freiheitskämpfer Lützow und seiner schwarzen Schar nichts zu tun) sagte, sondern Lietzower Weg; denn so hieß dieser jetzt ganz alltäglich großstädtische Fahrdamm ursprünglich.
Noch mehr als die alten Gebäude liebe ich die wenigen alten Menschen Berlins, die zu einer lebendigen Chronik der "guten" alten Zeit von ehedem geworden sind. Nicht die hundertjährigen, die dann von der Behörde großmütig eine - eine - Porzellantasse geschenkt bekommen, auch nicht die berühmten sechzigjährigen, denen, wie jetzt dem Professor Einstein, die Stadt ein Landhaus stiftet, von dem es sich nachher leider herausgestellt hat, daß sie darüber "nicht verfügungsberechtigt" ist; worauf sie ihm ein anderes ländliches Grundstück anbot, das durch eine Scheune verbaut ist und keinen Zugang hat. Nein, ich meine eine ganz unberühmte Frau von 83 Jahren, Mutter Anna Greiser, die bei jedem Wind und Wetter auf der Brücke am Halleschen Tor ihre Blumen verkauft. Ich komme selten dahin, habe der Alten aber heute, an dem schönen sonnigen Morgen, wieder ein paar Nelken abgekauft, um ein wenig mit ihr zu plaudern. Sie spricht schon etwas leise, die Mutter Greiser, sie hat einen runden Rücken und zittrige Hände bekommen, aber ihr volles blondes Haar ist noch kaum ergraut und ihre Augen blicken hell und klar und warm. Seit 54 Jahren steht sie - geboren ist sie auf dem Lande in Westpreußen - hier täglich auf der Brücke und gedenkt es noch lange zu tun. Warum auch nicht ? Ihre Großmutter ist erst im Alter von 105 Jahren verstorben, und das auch nur, weil sie sich beim Pilzpflücken im Walde verlaufen hatte. Noch heute geht Mutter Anna Greiser jeden Morgen um 5 Uhr in die Markthalle, Blumen einkaufen, und setzt sie dann tagsüber bis abends 7 Uhr an die Vorübergehenden auf der Brücke ab. Und nun lächelt sie listig und sagt mir ins Ohr: "Ganz früher, als es noch keine Markthallen gab, bin ich spät abends über Land zu Bauern und Gärtnern Blumen einhandeln gegangen und habe dabei manches Liebespaar im Chausseegraben aufgestöbert!" Ja, ja, die alten Zeiten. Damals gab es noch keine Belle-Alliance-Straße. Vor dem Halleschen Tor, das abends geschlossen wurde und nur gegen Ausweis sich öffnete, begann das flache Land. Wo heute dort das Warenhaus Tietz steht, befand sich damals ein riesiger schöner Garten, der zu einem Fräuleinstift gehörte; die Damen kauften immer bei Frau Greiser ihre Sträußchen, ehe sie Besuche in Krankenhäusern oder anderswo machten. Und alle die Offiziere, die in der früher hier guten Wohngegend lebten, darunter Grafen und Fürsten von den Gardekürassieren, kauften bei ihr. So konnte sie - ihr Mann starb nach 1871 an einem Feldzugsleiden - von ihrem Blumenhandel 10 eigene Kinder großziehen und alle etwas lernen lassen. Vier Söhne sind im Weltkriege gefallen. Jetzt haust sie mit ihrem Schwiegersohn, dem Manne ihrer einzigen Tochter, der Zuschneider ist, und dieser Tochter zusammen in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in der Friedrichstraße Nr. 9, weil die Kinder vom Wohnungsamt noch keine eigene Bleibe bekommen haben. Seit 40 Jahren wohnt sie da. Auf dem Futterboden, sagt sie. Diese Bezeichnung verwundert mich. Ja, sagt sie, vor fünfzig Jahren wohnten da vornehme Leute im ersten Stock, unten aber befanden sich Stall und Remise, wo die Pferde und die "Eklipaschen" standen, aber nachher wurde umgebaut, aufgestockt, aus Stall und Remise wurden Läden, aus dem Garten ein enger Hof mit Hintergebäuden, und aus dem Futterboden - eben ihre Wohnung. Jetzt in dem modernen Berlin kenne kein Mensch sie mehr, der Umsatz werde immer geringer, nur zuweilen kämen ganz alte Kunden, die fast so alt seien wie sie, eigens ihretwegen aus Charlottenburg oder Wilmersdorf oder Schöneberg hierher und holten sich ein paar Blumen. Mutter Anna Greiser hat auch in diesem Winter bei 26 Grad Kälte keine Stunde Dienst versäumt. Krank ist sie eigentlich nie gewesen. "Mit den Ärzten habe ich nichts im Sinn, so alte Leute wie ich brauchen keinen Arzt. Ich lege mir mal einen heißgemachten Mauerstein auf den Bauch, das ist besser als Arznei schlucken. Neulich hat mich ein Auto umgefahren und mir ein paar Rippen gequetscht, da habe ich mich einfach zu Hause über den Tisch gelegt und die Rippen wieder geradegebogen." Gegen die Autos hat sie seither was. Überhaupt: früher war alles in Berlin so schön still! Nur am Paradetag im Frühjahr und Herbst viel Trubel. "Seit 1864 habe ich jede Parade hier erlebt. Der alte Kaiser, damals war er König, ist an mir vorbeigeritten und hat gegrüßt. Den jetzigen Kaiser, er ist nun auch schon 70 Jahre alt, habe ich gesehen, wie er als kleiner Junge zum erstenmal zur Parade durfte. Jetzt ist es ja wieder etwas besser, aber nach der Revolution, da war Berlin ein schrecklicher Dreckhaufen," sagt leise die Alte und drückt mir noch ein Extrasträußchen in die Hand, weil ich die Nelken überzahlt hätte. Die tapfere alte Frau. Das ist wirklich doch noch eine Heldenleistung, neun Söhne und eine Tochter großzufüttern, die neun Söhne alle ein geachtetes Handwerk lernen zu lassen und die Tochter auszusteuern, wenn man ganz allein auf sich gestellt ist.
Die Sorte dieser Frauen stirbt nicht aus. Kürzlich winke ich nachts eine Autodroschke heran. Wir steigen ein. Da krallt sich meine Begleiterin in jäher Angst in meinen Arm: "Eine Frau sitzt auf dem Bock! Wir knallen sicher zusammen!" So sind die Frauen; sie trauen einander nichts Tüchtiges zu. Aber unsere "Chauffeuse" fährt flink und gewandt und sicher. Ist ja auch schon früher, sie stammt aus Montabaur im Rheinland, oft genug von Bonn bis Heidelberg und zurück so gesaust, daß die Lokomotiven links und rechts grün vor Neid wurden. Es gibt 27 Frauen, die in Berlin ihre Prüfung als Autodroschkenführer gemacht haben, aber nur 10 von ihnen üben den Dienst aus. Diese unsere Frau Tillmann tritt ihn alltäglich zwischen 5 und 6 Uhr nachmittags an und beendet ihn um 7 Uhr morgens. Dann weckt sie daheim ihren dreizehnjährigen Jungen, gibt ihm Frühstück und entläßt ihn zur Schule. Dann schläft sie. Aber schon um 1 Uhr steht sie wieder am Kochtopf, damit der Junge sein ordentliches Mittagessen hat. Mit dem Latein auf dem Gymnasium - dem einzigen katholischen, sagt sie, dem am Lietzensee in Charlottenburg - ging es schlecht, da hat sie den Sohn resolut wieder in die Volksschule gesteckt. Er soll Kürschner werden. Er möchte Konditor werden. Einerlei, was er wird: hoffentlich jedenfalls ein Mensch, der seine Mutter nachher auf Händen trägt.
18. April 1929 (Donnerstag)
32
Zurück zur Kaserne - Kommende Festwochen - Vom Prinzen Heinrich - Steigende Not - Die Eltern sind schuld - Innocita und Devota im Lettehaus.
"Welch' ein scheusäliger Kasten!", pflegte man vor vierzig Jahren zu sagen, wenn man eine nüchtern-sachliche preußische Kaserne sah, und man ging hin und bebaute den Kurfürstendamm mit Häusern voll schwülstiger Ornamente und Karyatiden. Heute reißt man sie wieder ab und vereinfacht überall, damit das Auge wieder Ruhe bekommt. Siehe da: die allermodernste "neue Sachlcihkeit" kehrt reuig - zur alten preußischen Kaserne zurück! Unsere heutigen Zweckmäßigkeitsbauten sind ja nichts anderes. Nur daß sie nicht mehr so ganz preußisch mit einem ernsten Giebel sind, sondern orientalisch kubistisch hingesetzt werden. Beide Arten haben eines gemeinsam, den völligen Verzicht auf nach außen strömendes Behagen, wie es für unsere mittelalterlichen Häuser und dann noch bis ins Rokoko hinein bezeichnend war. Wie wohlig ist einem noch heute zu Mute, wenn man durch die Straßen eines alten Städtchens wandelt, wo jedes Haus so freundlich einladend aussieht! Vor 200 Jahren, dann erneut vor 100 Jahren hatten wir eine Zeit baulicher Nüchternheit, wie sie jetzt wieder über uns kommt, nur war es betont deutsche Nüchternheit. Es gab auch immer eine Reaktion dagegen, zuletzt noch bei der Errichtung von Villen, die mal eine Burg, mal einen Tempel vorzutäuschen suchten; auf diesem Gebiete sind wir endlich zu ruhigem gleichmäßigen Behagen innen und außen gesundet, wenn man von dem revolutionären Kubismus der Wenigen absieht. Der tobt sich dafür um so mehr in den Entwürfen für Großstadtgestaltung aus. Was man davon in der Ausstellung im Künstlerhause in der Bellevuestraße, "Das Gesicht von Berlin", zu sehen bekommt, das ist erschreckend. Wir verwarenhäuslern. Eine unendlich eintönige Reihe von Riesenwürfeln mit glatten Reklameflächen, das ist das geplante neue Gesicht. Dann schon lieber den neukatalonischen Stil, wie man ihn in Barcelona findet, oder eine sonstige Verrücktheit einschließlich des Jugendstils von 1900, nur nicht dieses blöde Einerlei. Wenn es gegliederte Wucht ist, wie in einzelnen neuzeitlichen Industriebauten, kann es imponieren, für großstädtische Häuserblocks aber ist es zerstörende Anarchie. Man denke sich die Straße Unter den Linden eingefaßt von gleichmäßig kubischen Kästen, an Stelle des Brandenburger Tores ein Verkehrstürmchen, Schloß und Dom und Museum wegrasiert, der Alte Fritz zum Verschrotten verschoben: was bliebe dann noch nach, was den fremden Besucher zum Verbleiben und Schauen reizen könnte ?
Dabei versucht das Verkehrsamt der Stadt Berlin doch alles mögliche, um Fremde in Scharen anzulocken. Das beste Mittel ist ja verboten. Man müßte den Hof wieder hier haben, den Kaiser durch den Tiergarten reiten, die Wachtparade aufziehen sehen; die "Residenzstadt" Berlin wäre wieder Zugkraft. Als Ersatz hat man nun "die Saison" gewählt, Festwochen im Mai unter Einladung fremder Gastspieler, so der Mailänder Oper, mit Preisen - bis zu 100 Mark für einen Sitzplatz! Wenn das keine aufgelegte Pleite ist, so will ich Crnagrc heißen. Allerdings hat man von Ausländern immer wieder gehört, das schönste am heutigen Berlin - sei Potsdam; und so wird denn auch Potsdam einbezogen. In dem Rokoko-Theaterchen des Neuen Palais soll es auch einige Aufführungen geben, für internationale Snobs, die sich mal auf Sesseln aus der Zeit Friedrichs des Großen rekeln wollen. Aber, hilf Himmel, auf den Stoffüberzügen dieser Sessel sind ja Kronen eingestickt! So ist denn ein Heer von Arbeitern zur Zeit damit beschäftigt, die Kronen herauszutrennen. Unter dem Gelächter der ganzen Kulturwelt.
Nur bei der Beerdigung des Großadmirals Prinzen Heinrich von Preußen hat die Republik, um sich nicht gar zu sehr zu blamieren, mutig in den sauren Apfel gebissen und dem Toten durch die Reichswehr die verdienten Ehren erweisen lassen. Aber doch, um ihre Nichtachtung zu beweisen, durch Soldaten nicht unter Gewehr in vorschriftsmäßiger Felddienst- statt der früher üblichen Paradeuniform, sondern im Ausgeh-Anzug mit Mütze. Das hätte Prinz Heinrich noch sehen müssen; er hätte herzlich gelacht. Der bescheidene ernste Seemann hat von sich selber nie viel Wesens gemacht. Man wußte, daß er unter den Automobilisten Deutschlands der erste Fachmann und sein eigener Motorenschlosser gewesen war. Oder daß er schon 1910, als man die jungen Flieger noch Selbstmordkandidaten nannte, als Familienvater von 48 Jahren, auf dem Griesheimer Exerzierplatz mit seinem "Stabsoffizierkirchhof" das Fliegen erlernt hatte. "Aber was hat er denn im Kriege getan ?", hat man mich schon so oft mit leichtem Achselzucken gefragt. Er hat das zuerst so schöne, später so tragische Schicksal aller Prinzen geteilt, frühzeitig in hohe Führerstellungen zu gelangen, dafür aber auch vorzeitig wieder abgebaut zu werden. Verhältnismäßig jung war er schon lange vor dem Kriege, nachdem er vom Seekadetten an die ganze Ausbildung und Rangleiter durchlaufen hatte, Chef der Hochseeflotte geworden. Sollte er da ewig sitzenbleiben und dem Nachwuchs den Weg versperren ? Er wurde zum Großadmiral und Generalinspekteur ernannt und dann abgehalftert. Nun bat er 1914 händeringend um ein Bordkommando. Er sei mit der Führung eines Schiffes zufrieden, er werde sich gern dem jüngsten Geschwaderchef unterordnen. Ein selbstverständliches Nein war die Antwort; kein Inaktiver werde als Kommandant eingestellt. Er erhielt aber wenigstens den Oberbefehl über die Seestreitkräfte der Ostsee, die ältesten Ladenhüter der Marine, und hat mit diesem unzulänglichen Material in unermüdlicher Pflichtarbeit, Tage und Nächte hindurch, auch an Bord auf weiter Fahrt, Hervorragendes geleistet. Er hat damit die ganze Ostsee als deutsches Meer gehalten. Wenn der finnische Meerbusen versiegelt und der Sund gesperrt, die Erzeinfuhr aus Schweden gesichert, Pommern vor feindlicher Landung behütet, der Übergang nach Oesel und Finnland ermöglicht wurde, so ist dies im Wesentlichen sein Werk. Freilich: eine große Seeschlacht konnte er nicht erleben. Aber er klappte innerlich die Hacken zusammen und begrub seine Sehnsucht, denn er war Soldat, dem die Treue im Kleinen und im Großen alles war. Diese Treue hat er auch seinem kaiserlichen Bruder bewiesen, dem der letzte vernehmliche Gruß des Sterbenden galt. Als Junge hatte dieser Prinz Heinrich oft laut aufgehault, wenn er das Martyrium des Bruders unter einer lieblosen Mutter und unter dem häufig gebrauchten Stock des harten Erziehers Hintzpeter sah. Als Mann ging er für ihn durchs Feuer. Er liebte den Kaiser, er verehrte ihn schwärmerisch, und da er ein ungelenker Redner war, ging ihm da die Zunge manchmal bis ins Groteske durch, so bei seiner Entsendung in den Boxerkrieg, wo er vor der Abfahrt in Wilhelmshaven vor der Front gelobte, "Das Evangelium der geheiligten Person seiner Majestät des Kaisers" den Chinesen zum Bewußtsein zu bringen. Die Linke in Deutschland war knallwütend; wir aber lächelten, denn wir wußten ja, wie es gemeint war, ganz treuherzig, nicht so bombastisch, wie die Worte waren. Die Treue hat Prinz Heinrich auch nach 1918 seinem kaiserlichen Bruder und Kriegsherrn bewiesen, während ein rechter Vetter von ihm die rote Fahne hißte, ein Neffe eilfertig Fritz Ebert seine Dienste anbot. In jeder Familie gibt es "sone und solchene", auch Zollern sind keine Halbgötter und nicht unfehlbar, sondern Menschen wie wir alle. Aber Prinz Heinrich, der schlichteste unter ihnen, ist doch auch ihr Vornehmster gewesen; denn er war der Treueste.
Sein "Schloß" Hemmelmark war ein einfaches niedriges Gutshaus. Ein Schlemmerdasein hat der Prinz nie geführt, in den letzten Jahren seine Ausgaben auch noch immer mehr eingeschränkt, weil er mit dem ganzen verarmenden Volke buchstäblich mitlitt. Ging ihm auch die Knechtseligkeit des Volkes gegenüber dem Auslande sehr nahe, so verlor er doch nicht den Glauben an Deutschland und an den irgendwann einmal kommenden Mann, der es wieder zur Freiheit führen werde. Ein Buch, das auch von diesem Wege zur Freiheit spricht, ein Buch über Mussolini ("Der Schmied Roms", Brunnenverlag Berlin) habe ich gerade vollendet und habe gehofft, damit dem Prinzen Heinrich noch vor seinem Tode eine Freude machen zu können; nun erscheint es um einige Tage zu spät. Trotz seines festen Glaubens an unsere Zukunft war der Prinz für die Gegenwart tiefer Pessimist, weil er doch mit offenen Sinnen mitten unter dem Volke lebte und das verzweifelte Ringen in Landwirtschaft, Handel, Industrie am Abgrunde sah. Der Übergang der Opelwerke in amerikanischen Besitz hat ihn sehr erschüttert. Die leeren Helligen der deutschen Werften kannte er ebenso gut wie die vom Steuerexekutor geleerten Viehställe der Bauern der Nordmark. Er wußte, wie von Jahr zu Jahr weniger Aufträge aus dem Auslande zu uns kommen. Er wußte, daß beispielsweise die Berliner Konfektionsindustrie heute fast durchweg konkursreif ist. Früher kamen um diese Zeit immer die Amerikaner und bestellten, noch vor wenigen Jahren kaufte ein Vertreter des Warenhauses Wannamaker allein bei einer einzigen Berliner Firma 500 Persianerpelze, und gewöhnliche Mäntel gingen zu Zehntausenden ab. Heute grinst die Not herein. Man entläßt Angestellte, man akkordiert mit den Gläubigern, man bittet das Finanzamt um Stundung der Steuern. Das ist nicht nur ein Berliner Bild. Es stimmt wohl für ganz Deutschland.
Der Eindruck, daß es uns trotzdem doch noch ganz gut gehe, stammt vielfach daher, daß es heute - zu weichherzige Eltern gibt. Die Töchter sind berufstätig, bleiben weiter in Wohnung und Verpflegung daheim, geben aber dafür den Eltern nur ein paar Mark und verjuchheien das übrige. Bei unserem alten Schuster hausen sein Sohn und dessen junge Frau, beides Angestellte. Sie verdienen zusammen 450 Mark monatlich, wovon der Vater noch keine 100 Mark für die Verpflegung beider erhält. Sparen sie nun etwa für den kommenden eigenen Haushalt ? Keine Spur! "Wir kriegen ja doch keine Wohnung." Aber die Tanzdiele frißt allabendlich das Geld. Ein anderes Mädchen verdient 200 Mark, gibt ihrer Mutter nur 50 davon ab. Sie denkt natürlich nicht an Heiraten, - denn welcher Mann könnte ihr monatlich 150 Mark Kleider- und Taschengeld zugestehen ? Sie hat ihren Beau, solange sie jung ist; und nachher ist Heulen und Zähneklappern. Unser alter Schuster aber kommt neulich am Monatsersten angeschlichen und pumpt mich an. Er habe die Miete noch nicht beisammen.
Das Klagen über die Jugend von heute ist trotzdem sinnlos. Lieber sollten sich die Eltern an die eigene Nase fassen und selber dafür sorgen, daß es wieder wird wie einst. Da hatte ich unter Verwandten eine Mutter von sieben Kindern, die eine winzige Witwenpension bezog. Das Vermögen, aus dem Verkauf des ererbten Hauses, war auf die Erziehung der Kinder draufgegangen. Nun mußten die Kinder einspringen, selbstverständlich. Die eine, Lehrerin, lieferte ihre 165 Mark monatlich vollzählig der Mutter ab und bekam davon nur ihr Straßenbahngeld zurück. Vor einer neuen Bluse oder vor einem neuen Hut gab es Familienrat. Aber alle sieben Kinder sind etwas Tüchtiges geworden oder haben als arbeitsame Mädchen glücklich geheiratet.
Erfreulich ist wenigsten der Drang der heutigen Jugend, "etwas Tüchtiges zu werden", also etwas zu lernen, nicht bloß als Haustochter die Zeit zu verdämmern. Der weltbekannte Letteverein, dieses Ausbildungshaus für Tausende junger Mädchen in allerlei Disziplinen, ist für sämtliche Berufszweige reichlich besetzt. Aber was strömt da nicht auch alles hin! Wer morgens am Viktoria-Luise-Platz auf und ab schlendert, der sieht allerlei Junges und Erfreuliches herzuwallen, mitunter auch etwas Exotisches, ja sogar - hier traut man seinen Augen kaum - etwas augenscheinlich Geistliches. Wahhaftig: zwei Nonnen! Ich bin nicht katholisch, akso weiß ich nicht, ob es unschicklich ist, wenn ich sage, daß die eine wirklich apfelfrisch aussieht und die andere ein süßes Gesichtchen hat. Beide wollen Gewerbelehrerinnen, für Wäschenähen im Hauptfach, werden, um dies dann in der klösterlichen Erziehungsanstalt, der sie angehören, den jungen Mädchen beizubringen. Im Straßengewühl haben es beide, Schwester Innocita und Schwester Devota - als sie noch "in der Welt standen", hatten sie natürlich andere Namen - sehr schwer, ungefährdet ihren Weg zu machen, denn die steifen weißen Scheuklappen (ich weiß nicht, warum man das "Schleier" nennt) zu beiden Seiten des Gesichts hemmen die Aussicht. Häufig springen da Mitschülerinnen helfend herzu, wenn es über den Damm geht. Und noch hinterdrein geht eine Schutzwache von ein paar lustigen Mädels. Die unterhalten sich darüber, ob es wohl wirklich wahr sei, daß den Nonnen ihr ganzes Haar abgeschnitten würde. Auf Fragen darnach antworten die Schwestern nicht, sondern haben nur ihr schweigendes, gottergebenes, nachsichtiges Lächeln. Da kommt ein günstiger Wirbelwind und klappt für einen Moment alles hoch. "Schwster Innocita, Sie haben ja kompletten Herrenschnitt!", jauchzt da die junge Bande. Wieder nur das unergründliche Lächeln. Natürlich ist auch die junge Schwester Innocita einmal noch jünger gewesen, kleine Schülerin im Klosterpensionat und hat ebenso neugierig eine Nonne, sagen wir Schwester Quirina, bestürmt, sie solle ihr doch sagen, ob sie Zöpfe oder gar nichts habe und ob sie blond oder braun seien. Auch da hat es nie eine Antwort gegeben, nur immer ein verzeihendes Lächeln. Diese unsere beiden sind im Letteverein sehr beliebt; was sich liebt, das neckt sich freilich auch. Für fröhliche Weltkindtöchter ist es doch schon ein herausfordernder Anblick, wenn eine fromme Schwester an geradezu lasterhaften Pyjamas lehrplanmäßig herumstichelt. Neulich hat Schwester Devota eine rosaseidenen Schlüpfer, ein hauchzartes Höschen, zu nähen. "Na, Schwester Devota, paßt er denn nun aber auch ?" Da wird die Schwester blutrot und neigt ihr Haupt. Noch in der Pause schämt sie sich und betet gegen allerlei Anfechtung zehn Ave Maria.
25. April 1929 (Donnerstag)
33
Straßenrevolte am 1. Mai - Der Zeitungshändler in der Müllerstraße - Bei den drei alten Fräuleins - Der Hotelpage - Hundert Jahre "Strammer Hund".
Winterstrümpfe wichen dem Wonnemond, Wollschlüpfer der Kombination aus Seidenbatist; mit dem ersten gründlichen Frühjahrsschnupfen kehrten die Ausflügler des Maifeiertages wieder heim. Das war aber nicht ganz einfach. Einzelne Straßen am Wedding und in Neukölln, wo noch am späten Abend die Polizei mit den Kommunisten zu kämpfen hatte, waren abgeriegelt; selbst wer sich als Einwohner ausweisen konnte, durfte nicht hinein und mußte sich anderswo Nachtquartier suchen. In einer Straße im Norden waren Barrikaden errichtet, um deren Besitz sich ein Feuergefecht entspann. Diese Generalprobe auf den Bürgerkrieg wurde angeblich durch Radiosender von einem Kraftwagen aus einheitlich geleitet, aber das erscheint mir nicht als ganz glaubwürdig; dann hätten Severings liebe "politische Kinder" doch wohl mehr erreicht, als überall nach Strich und Faden von den Schutzleuten verhauen zu werden. Abgesehen von den genannten Gegenden und auch vom Alexanderplatz war es vielfach ein Hasentreiben gegen Lausejungen, sonst nichts. Diese Halbwüchsigen mit roter Papierrosette im Knopfloch rotten sich beispielsweise in der engen Zufahrt zum Wannseebahnhof zusammen, um von dort auf den Potsdamer Platz, der "für das werktätige Volk erobert" werden sollte, vorzudringen. Da saust ein großes Lastauto mit Schutzleuten heran. Die herunter, Gummiknüppel geschwungen, auf die Johlenden und Drängenden zugestürmt, die alsbald auseinander laufen, in den Potsdamer Hauptbahnhof flüchten, durch die Halle hindurch, auf der Seite gegenüber dem Kempinski-Betrieb wieder hinaus, dort aber von anderen Schutzleuten empfangen und alsbald verdroschen werden. In den verschiedensten Stadtteilen habe ich Ähnliches beobachtet. Überall war es Janhagel. Lauter Sechzehnjährige, Siebzehnjährige. Erprobte ältere Rotfrontler standen zumeist etliche hundert Meter zurück, hetzten unter dem Publikum, schüttelten die Fäuste und riefen: "Sie sollen nur schießen! Sie sollen nur schießen!" Am Wedding und sonstigen "duften" Gegenden waren sie der Sympathie des Volkes sicher. Da kreischten auch Frauen, wenn sie einen Schutzmann sahen: "Haut ihn! Haut ihn!" Noch weitere Hunderte von Metern zurück, so für den Potsdamer auf dem Askanischen Platz, sah man Generalstäbler der Weltrevolution, russische Juden, in kleinen Gruppen beieinander. Sie schienen mit der Entwicklung der Dinge nicht sehr zufrieden zu sein. An einem solchen Tage "nur" 8 Tote und einige Hundert Verletzte, das sei doch gar nichts. Das nächste Mal will man mehr. Immerhin: seit 1919 hat es wieder die ersten Straßenschlachten in Berlin gegeben. Und gerade heute vor einem Jahr ist der Antrag des damaligen Innenministers v.Keudell, Rotfront aufzulösen, von der obersten Instanz als unbegründet abgelehnt worden. Einzelne Überfälle und Morde genügten nicht, hieß es. Es muß also wohl erst zum richtigen Bürgerkrieg kommen, - und dann ist es zu spät, dann werden auch die Severing und Zörgiebel, ehe sie von ihren lieben politischen Kindern abgeführt und an die Wand gestellt werden, einander nur noch ein "Ja hättste man" zurufen können. Vorerst halten sie sich noch dank den Berliner Schutzleuten, die für die bluten. Aber die revolutionäre Tendenz lehnen unsere Sozialisten, die die größte regierende Partei sind, nicht ab; auch ihr "Vorwärts" hißte am Maitag in der Lindenstraße und am Belleallianceplatz aufreizend die rote Fahne. Eines Tages können sich dann die Blaßroten und die Knallroten wieder finden wie das vereinigte Wiener Proletariat beim gemeinsamen Sturm auf den Justizpalast. Nachdenkliche Genossen finden schon jetzt ein Haar darin. Am Vorabend der blutigen Maifeier dieses Jahres stand ich hinter einem Händler in der Müllerstraße im Berliner Norden und notierte mir sein Gespräch mit einem Genossen:
"Un det mit die Revolution, Willem, det kannste jloom, det is doch anners jeworn, als wir dachten, ick ha ooch mitjemacht, sa ick dir, feste ha'ck mitjemacht, aber der Ledebour un der Liebknecht un der Molkenbuhr, det sin iebahaupt keene Politiker jewesen, nee, Hampelmänner mit's jroße Maul, un det allerjrößte Maul hat jesiecht, un denkste, Willem, ick kann mir jetzt wat dafor koofen, det ick mitjemacht ha, nischt kann ick mir dafor koofen, nu sitz ick hier un handle mit Zeitungen, wo ick früher orntlicher Handwerker jewesen bin, vastehste, Willem, wat det heeßt, un morjen ist der erste Mai un da jibt et keene Zeitungen un ick muß doch leem, un wat ha ick davon, wenn ick soll in de Vasammlung jehn un soll wieder irjend een jroßet Maul sehen un es steckt nischt dahinter . . ."
Ähnlich verbittert wie der Alte in der Müllerstraße sprechen die Alten überall, nur für die Lausejungen und Rotznasen ist alles "Feez" und "macht Laune". Heute Nacht während der Unruhen am Herrmannplatz kommt ein Krankenauto gefahren. "Dreimal ausspucken! Dreimal ausspucken!", ruft ein erhitzter kleiner Bursche mir zu. Ich sehe ihn erstaunt an. "Wer nich ausspuckt, wenn een Krankenwagen kommt, der wird selber krank, wissense det nich ?", sagt er. An der nächsten Ecke steht das Auto; es wird beschossen.
Im Vorort Niederschönhausen im Berliner Nordosten werden an diesem Tage auch keine Bestattungen vorgenommen. Das zweite der drei alten uns bekannten Fräuleins aus dem Konfiturenladen muß noch einen Tag länger in der Stube eingesargt stehen. In der vorigen Woche starb die erste der früher sehr wohlhabenden Damen aus guter Familie, die seit 1923 von Armenrente und den paar verkauften Bonbons lebten. Zwischen der Leiche und der Sterbenden lag, auch krank und von Entsetzen geschüttelt, die Dritte; denn die Sterbende, tagelang bewußtlos, sang in ihrer Bewußtlosigkeit fortgesetzt. Sang "O Tannenbaum" und "Ich hab mich ergeben" und anderes. Die Überlebende hätte wohl in kaltem Graus Hand an sich gelegt, wenn nicht fünf Tage und fünf Nächte lang, unter Hintansetzung der ganzen übrigen Praxis, die Ärztin - ohne Entgelt natürlich - bei ihr geblieben und ihr alles besorgt und sie aufrechterhalten hätte. Selbst die Totengräber feierten. Aber der Bourgeois, der Arzt, kennt keinen Achtstundentag und keinen Maitag, sondern nur die Menschenpflicht. Auch diesen Stand will man proletarisieren; vielleicht gehen dann einmal dem Volke die Augen auf.
Dann aber sicher zu spät. Denn inzwischen wächst ein Geschlecht heran, das fast rein tierisch erzogen ist. Nur für den Tag und seine Bedürfnisse. Ein Geschlecht wie die Tiere ohne Geschichte und Rückerinnern. Das Gedächtnis wird zertrümmert. Die Kommenden sollen nichts mehr davon wissen, was an aufbauender Arbeit früher geleistet worden ist. In Verachtung der Eltern und Voreltern zieht man sie auf. Nur der Umsturz sei das Ewige. Kaputtschlagen, kaputtschlagen! In Braunschweig ist für die Jugend ein neues Lehrbuch der Geschichte herausgekommen. Bismarck drei Zeilen, Ebert vier Seiten. Die größten deutschen Namen aus allen Jahrhunderten fehlen überhaupt. Von den Kriegen um unsere Selbstbehauptung und von deutschen Heldentaten so gut wie nichts; die französische Revolution aber Kernstück. Einst hatte, wie man sagt, der deutsche Schullehrer Königgrätz gewonnen. Heute darf er den Kindern nichts davon erzählen. Nach der Schulzeit aber kommen sie in den Beruf, nimmt die Gewerkschaft sie auf, und die Zertrümmerung des Gedächtnisses, die Zerstörung der Seele wird vollendet. "Für einen Dreck" sind die Väter im Weltkriege gefallen, darf man heute öffentlich sagen. Sie tun einem so leid, die lieben deutschen Jungen, die bolschewistisch ausgehöhlt werden. Wieviel reiner Begeisterung wären sie fähig! Wieviele Befreier Deutschlands könnten unter ihnen aufwachsen!
Immer wieder kommen mir solche Gedanken auf, wenn ich irgendwo, etwa beim Nachmittagskaffee und dem ersten Zeitungsverschlingen, in einer Hoteldiele die Pagen sehe. Alle so schmuck wie ehedem kleine Kadetten und , was man sonst heute selten genug trifft, so gut diszipliniert. Da ist so ein kleines blondes Kerlchen im Fürstenhof, sichert nach allen Seiten, ob nicht der "Ober" es sehe, und gleitet dann unauffällig an den elektrischen Springbrunnen heran und macht schnell knips-knips. Der Strahl sinkt zusammen, springt aber beim zweiten Knips wieder, ehe er ganz in der Röhre verschwunden ist. Niemand hat es bemerkt. Fein! Und so ein Kind, zur Tat und zur Freude geboren, soll nun Haß und Zerstörung lernen; und ist dabei doch so begeisterungsfähig und hat so erwartungsvolle Märchenaugen, daß man ihm gleich von versunkener deutscher Herrlichkeit und einst wiederkehrender deutscher Größe erzählen möchte. Achtung! Ein Gast naht. Der eine Page bugsiert ihn durch die Drehtür, der zweite nimmt ihm die Handtasche ab, der dritte den Mantel. Husch, husch, wie die Heinzelmännchen. Aber in dieser Bubenkompagnie herrscht auch Ordnung. Tagtäglich wird Musterung gehalten wie auf einem Schiff vor dem Obersteward. Hast du dir auch die Ohren gewaschen, Junge ? Der Lehrer in der Schule darf nicht mehr nach dem Lineal greifen, um Ungeberdigen eins auf die Finger zu geben, sonst wird er entlassen, muß also ruhig zusehen, wenn die Rasselbande ihm überhaupt nicht mehr gehorcht und überhaupt nicht mehr lernt. Hier aber gibt es manchmal eines hinter die Löffel. Es ist einer der wenigen Berufe, in denen noch auf Zucht gesehen wird. Ewig schade, daß uns zur Zeit nur noch die Vollendung solcher Erziehung fehlt: die allgemeine Wehrpflicht.
Nicht alles, was namentlich am späten Abend in den Hotels zu sehen ist, ist gut für Kinderaugen. Aber vieles weitet den Blick. Da sitzen drei bebrillte, europäisch gekleidete Gelbe aus dem fernen Osten. Beim Abschied nachher gehen sie leicht in halbe Kniebeuge, legen beide Hände flach auf die Oberschenkel und verneigen sich kurz dreimal. Der Page sieht es und staunt. Nachher zeigt ihm der Portier auf dem großen Globus Siam und China und Japan und erzählt ihm etwas von dort, wo er überall schon war. Und wenn der Page ordentliche Eltern hat und strebsam ist, lernt er Sprachen und wird später selbst ein weltbefahrener Mann und entwickelt sich draußen zu einem guten Deutschen.
Und hat dann wieder eines Tages die große Sehnsucht nach Berlin. Das häutet sich freilich alle Tage und wirft immer wieder leere Hülsen ab. Du hast draußen vielleicht von Valencia, Villa d'Este, Pressel und anderen Gast- und Vergnügungsstätten in Berlin in diesen Jahren gelesen, kommst nun her und - findest sie nicht. Aus. Ganz weg. Nur sehr weniges hält sich ein Menschenalter. Sogar hundert Jahre alt geworden aber ist dieser Tage der "Stramme Hund" am nördlichsten Ende der Friedrichstraße, Nr. 115, kurz vor dem Oranienburger Tor, ein Kellerlokal einfachster Art, ein Lokal für ganze Generationen von Dienstmännern, Droschkenkutschern und - Studenten. Von den letzteren stammt jedenfalls der "Schmuck" an den Wänden. Darunter verschiedene Gerichtsvollziehersiegel. Oder die Bescheinigung, daß ein stud. jur. an den akademischen Leibesübungen teilgenommen hat. In Spalte 2, erzielte besondere Leistungen, ist mit Bleistift vermerkt: "170 Zungenschläge pro Minute." An der Wand eines der vier kleinen Kellerzimmer (die Luft ist zum Schneiden dick) liest man in mächtigen Buchstaben die bekannten alten Verse:
Weil deine schönen Augen sterblich sind, |
Das geht noch an. Aber an einer Wand steht in Scherz-Latein eine Inschrift, die obszön ist und gar nicht an diese harmlose Stätte des Männertrunks paßt, wo früher von 11 Uhr abends ab Damen nicht zugelassen waren, "weil wir ein anständiges Lokal bleiben wollen". Im Strammen Hund sind seit 1829 wohl schon Tausende von Mensuren gefangen worden, aber der Wirt, der in unserer Jugendzeit da war, duldete keine Kontrahagen am Biertisch: "Zum Kartenwechseln ist der Lokus da". Der kleine Kugelrunde war fabelhaft gewandt. Wer unliebsam auffiel, der wurde, ehe er auch nur "Hupp!" sagen konnte, die Treppe hinaufgeworfen und stand oben im Freien auf der Friedrichstraße. Angeblich ist es einmal so auch Otto v.Bismarck ergangen. Der Beweis dafür kann aber nicht erbracht werden, da die Tische aus jener Zeit mit ihren Einkerbungen nicht mehr da sind. Was man jetzt noch an eingeschnitzten Namen von Musensöhnen findet, nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Gryps (Greifswald) und anderen Universitäten, stammt aus dem gegenwärtigen Jahrhundert. Immer gibt es aber noch ebenso billig wie früher, für wenige Groschen, Erbsensuppe mit Schweinsohr oder Königsberger Fleck, womit sich der Bruder Studiosus gegen Ultimo zu sättigen pflegte. Jetzt ist Frau Helene Fitzner Inhaberin des Lokals, aber ein richtiger "Wirt" ist natürlich trotzdem da, und er hat auch einen richtigen strammen Hund, eine große Dogge. Die sei so gut abgerichtet, die könne nächstens den dritten Mann beim Skat machen. Da muß ich lachen. "Sie, det jloom Se nich ?" "Nee, det jloob ick nich!" Da versucht er mich zu überzeugen. Wir sitzen lange zuerst rechts in der Stube "Zum Burgfrieden", dann geradeaus hinten in der Stube "Zur Brüllkammer". Eine Erbsensuppe und viele Brezeln erleichtern es mir, beim Biere meinen Mann zu stehen. An dem zweiten Tischchen sitzen Pfahlbürger und akademisch Blessierte; diese haben bei jenen vor Jahrzehnten zur Miete gewohnt und treffen sich wieder zum Jubiläum. An dem dritten und letzten Tischchen hausen fünf junge Arbeiter, aber von besonderem Schlag: mit dem Hakenkreuz an der Rockklappe. Dicht vor der Brüllkammer ein Droschkenkutscher, ein Universitätsprofessor, ein Opernsänger. Na, und da soll man noch sagen, daß es in Berlin nicht sowas gibt wie die Hofbräuschwemme in München! Nur steht der Stramme Hund nicht im Baedeker. Dafür in den Herzen Zehntausender ehemaliger Berliner Studenten, die heute bemoosten Hauptes in allen Erdteilen davon träumen.
2. Mai 1929 (Donnerstag)
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