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Man redet von Inflation - Überall Ausländer - Unter Kriegskameraden - Der Geheimbefehl von 1915 - Der Stahlhelmprinz - Mutter Penck in der Markthalle.
Man soll nicht sagen, daß eine neue Inflation drohe; das zu sagen, sei in höchstem Maße unpatriotisch. Allerdings steht das von der drohenden Inflation auch in den Calwerschen Tagesberichten - und Richard Calwer ist doch der größte aus den Reihen der Sozialdemokratie hervorgegangene Wirtschaftstheoretiker gewesen. Wenn also einer von rechts ähnliches sagt, kann das kein Kapitalverbrechen sein. Ich weiß, ich weiß: eine Inflation in dem Sinne, daß das Papiergeld sich wieder zu Billionen bläht, ist zur Zeit nicht möglich. Trotzdm trifft man in Berlin - und hier in der Hauptstadt ist doch jeder zweite Mensch eine Leuchte der Linken - kaum jemand mehr, der nicht so etwas wie Schluckbeschwerden hat, wenn er von den Preisen spricht. Der Index steht offiziell auf 153, wir zahlen aber, abgesehen von den Lebensmitteln, fast alles schon mit rund 250 v.H. der Vorkriegspreise. Auch sonst mehren sich die Erscheinungen aus der Zeit der beginnenden Inflation. Man trifft wieder überall Ausländer. Nur kommen sie nicht, um billig Waren oder Familienerbstücke zu kaufen, sondern Aktienpakete und ganze Indsutriewerke; und wenn sie weggehen, bleiben immer einige ausländische Direktoren, Ingenieure, Meister an Stelle entlassener Deutscher dauernd hier. Die gelten für die Statistik dann nicht mehr als Fremde, weil sie nicht mehr in den Hotels wohnen. In den Gasthöfen hört man besonders viel Englisch. Herrn Siegfried Slazenger aus London oder Herrn Washington Stoßdämpfer aus New York ruft der Boy ans Telephon. Die sitzen in der Halle oder in der Bar und mustern die jungen deutschen Gunstgewerblerinnen, die immer zahlreicher die großen Berliner Hotels besuchen. Man braucht kein Café National in der Friedrichstraße mehr. Es ist eingegangen, weil die Auswahl schon in den Hotels zwischen 16 und 3 Uhr zu haben ist.
Wenn man so etwas von Berlin erzählt, glaubt man, "in der Provinz" sei es ganz anders.
Aber auch da fängt es unheilkündend schon an: nämlich auch mit der Stellenlosigkeit. Nur ist das Gedränge dort nicht ganz so arg. Da bin ich wieder einmal mit alten Kriegskameraden zusammen, in dem schönen alten "Klub von Berlin" in der Jägerstraße, aber von den 112 überlebenden Offizieren unserer Gemeinschaft sind nur 20 erschienen. Einige haben Einsegnung in der Familie, nun gut; aber die meisten "können nicht", weil das Geld fehlt. Da ist unter denen von der Reserve einer, ein mit zweiundvierzig Jahren abgebauter Bankbeamter, den wegen seines "vorgeschrittenen Alters" niemand mehr nimmt. Er ist nämlich tüchtig, hat zuletzt ein anständiges Gehalt bezogen, und dafür kriegt man heute zwei junge. Seine Frau, Tochter eines ehedem wohlhabenden Rittergutsbesitzers, geht zum Tagelohn waschen und putzen; er selbst "geht stempeln". Ich frage nach einem andern, einem alten Leutnant der Landwehr, einem vor dem Kriege sehr geachteten Chemiker. "Hat sich vor einen Zug geworfen", heißt es. Er hatte keine Stellung mehr finden können.
Alte Erinnerungen werden wach, gemeinsame Kriegserlebnisse werden aufgefrischt, die annoch Lebenden gedenken kecker Taten.
Eine, für die ich zu Beginn des Krieges ausersehen war, galt zunächst als Verbrechen.
Man kriegt es noch heute mit der Wut, wenn man den von Bethmann-Hollweg (der "England nicht reizen" wollte) diktierten Befehl liest, den ich damals in zitternden Händen hielt: "London darf nicht beworfen werden, das wäre völkerrechtlich unzulässig, London ist eine offene Stadt." Der Kanzler stand nicht einmal allein, er hatte eine Stütze an dem Chef des Marinekabinetts, dem Admiral v.Müller, der gerade in der vorigen Woche noch frisch und gesund seinen 75. Geburtstag gefeiert hat. Müller hat immer dem entscheidenden Einsatz aller unserer Kräfte widerstrebt und sich dabei die Ritterlichkeit des Kaisers zunutze gemacht. Es ging nicht mehr Auge um Auge, Zahn um Zahn. Heer und Flotte wurden unter den einen Hut gebracht: "Fahret mir fein säuberlich mit dem Knaben Absalom!"
Zu Beginn 1915, als es anfing, bitter ernst zu werden, hieß es endlich, daß Bombenangriffe erlaubt seien, aber auch nur mit Einschränkung, so wie später der Tauchbootkrieg nicht unbeschränkt durchgeführt wurde. Da finde ich unter meinen Papieren eines, das meines Wissens bisher weder von Tirpitz noch von anderen Memoirenschreibern veröffentlicht worden ist und es doch um der geschichtlichen Aufklärung willen verdient, wo schon das Auswärtige Amt seine Archive geöffnet hat:
Berlin, den 18. Februar 1915. |
G a n z g e h e i m. |
Bei der Besprechung zwischen dem Chef der Hochseestreitkräfte und mir am 13. ds. Mts. haben sich noch Unklarheiten bezüglich der Angriffsziele bei Luftunternehmungen der Armee gegen London herausgestellt. Inzwischen hat der Generalstab des Feldheeres mitgeteilt, daß er für Luftunternehmungen der Armee gegen London nur das Gebiet östlich einer durch die Charing Croß Station rw. N-S verlaufenden Linie freigegeben hat. Es erscheint zweckmäßig, auch für die Marineluftschiffe gleiche Anordnung zu treffen, da durch diese Beschränkung die von Seiner Majestät dem Kaiser befohlene Schonung von Kunstbauten, insbesondere aber des königlichen Palastes, ferner des größeren und wohlhabenderen Teils der Wohnstadt nach Möglichkeit sichergestellt wird. In dem östlich der Linie gelegenen Gebiet würde versucht werden müssen, nur die im Schreiben vom 12. ds. Mts. A. 3060 IV. näher bezeichneten Angriffsziele mit Bomben zu bewerfen, die in diesem Gebiet gelegenen Wohnviertel aber nach Möglichkeit zu schonen. |
gez. Bachmann. |
Zum Dank dafür, daß wir außer der City und den Docks nichts angriffen, bekamen wir die englische Hungerblockade, der nach ärztlicher Schätzung 740 000 Deutsche erlegen sind. Zum Dank dafür wurde der Kaiser als der größte Verbrecher der Menschheit erklärt. Die deutschen Umsturzparteien aber stießen in dasselbe Horn und fügten noch neue Verleumdungen hinzu. Sechs Jahre vor Kriegsausbruch, während des sogenannten Novemberskandals, hatte man Wilhelm II. seine Impulsivität vorgeworfen und nicht geruht, bis man sicher war, daß es fortan nur nach dem Willen seiner verantwortlichen Ratgeber gehen werde. Im Kriege ist das dann geschehen, die Müller und Genossen drückten ihre Ansichten durch; und wir hatten den Schaden zu besehen.
Wir haben seit 1908 nicht viel zugelernt. Hat auch das Beschimpfen des jetzt Einsamen in Doorn etwas nachgelassen, so müssen dafür seine Söhne herhalten. Weil sie im Stahlhelm mitmachen, nennt Stresemann sie "Reklameprinzen". Und die ihm ergebene Presse der Linken verleumdet mit besonderer Wonne den Prinzen August Wilhelm, der "Kronprätendent" des Stahlhelms sei. Etwas besonders Satanisches hat man sich in diesen Tagen ausgedacht. Er habe auf einer Zusammenkunft des Stahlhelms gesagt, er gehöre einer Familie an, deren Vorfahren fünfhundert Jahre lang der Geschichte bekannt seien, während man von einem Fritz Ebert nicht wisse, ob sein Großvater nicht im Zuchthause gesessen habe. Mit einer einzigen so frech erlogenen Geschichte kann man, wenn sie gläubige Dumme fidnet, einem anständigen Menschen den Hals umdrehen. Ich habe mich beim Stahlhelm, wo jeder Schritt und jedes Wort des Prinzen bekannt ist, erkundigt: nichts an der Geschichte ist wahr. Wahr ist aber, daß er als einfacher "Kamerad" mitmacht und der nationalen Sache unendlich viel nützt, weil er niemals den hohen Zollern herauskehrt, sondern durch sein ganzes Auftreten zeigt, daß die Prinzen "Menschen wie wir" sind, hungernd nach Arbeit und nach Betätigung für das Vaterland. Da ist er neulich in einer Versammlung von Arbeitern und Arbeiterinnen der Knorrbremse A.G. Berlin in einer kleinen Destille der Gegend Frankfurter Allee, in der tags zuvor die Kommunisten die Fensterscheiben eingeworfen haben. Es spricht sich bis auf die Straße herum, daß er da ist. Der Schutzmann fragt nachts nach Schluß der Zusammenkunft, so etwas spöttisch, wann denn das Auto für den "hohen" Gast komme. Er bekommt die Antwort: "Auto hat er keins, eben ist er an Ihnen vorbeigetippelt, Herr Wachtmeister!" Ein anderes Mal, in einem bayrischen Städtchen, rücken die Leute wieder zusammen, damit der Prinz auf der Bank zwischen ihnen Platz hat. Kommt ein alter, etwas wild aussehender Arbeiter, sagt, er lasse sich nicht frozzeln, der sogenannte Prinz solle sich mal legitimieren. Da holt der den Ausweis vom Amtsvorsteher in Sanssouci hervor, durch den dem Prinzen August Wilhelm gestattet wird (wenn er im Park seiner Väter malen will), das Gras zu betreten. Nun starrt der Alte fassungslos abwechselnd den Prinzen und den Amtsstempel an; es ist fast tragisch, in diesem Augenblick das ganze Lügengebäude über "Fürsten" in seinem Ausdruck zusammenbrechen zu sehen. "Aber wie is dees mögli, Sö sitzen ja unter lauter Arbeitern!" Darauf erwidert ein Anwesender dem Alten: "Is halt aa nur bei uns im Stahlhelm mögli, wo wir alle Kameraden und richti gleich san!" Am selben Tage trat der Mann in den Stahlhelm ein und ist heute einer seiner eifrigsten Werber. Ähnliche Erlebnisse gibt es überall. Natürlich kommt Kamerad August Wilhelm auch mal an den Vorstandstisch, wenn es gewünscht wird, bewegt sich aber sonst nur unter den "Erschienenen". Und da gesteht ihm in Murnau ein Maurer: "Als S' in Murnau einikamen, habe ma beraten, ob S' wohl den ganzen Abend bei die Großkopfeten sitzen würden; da sind's gar ni niedergsessen, sondern glei bei uns, und da hama gsagt: der is richti!" Ich gebe das wieder, so wie ich es gehört habe; ist die Mundart nicht ganz korrekt wiedergegeben, so mögen freundliche bayrische Leser sie verbessern, aber die Sätze selbst sind echt. Dieser Reklameprinz, wie Stresemann ihn nennt, hat schon manchen Roten für das Vaterland wiedergewonnen. Einer, ein Kommunist, fertigte für ihn eigenhändig ein Schreibzeug zum Geschenk und gravierte das Datum seiner Bekehrung hinein. Ein schlichter Stahlhelmer, früher auch "links" gewesen, erzählt mir: "Als unser Sportfest war, sollte et um sieben losjehn. Wat soll ich Ihn Sa'n, um 6¾ steht Prinz Aujust, Stullenpaket untern Arm jeklemmt, schon uff de Wiese! Det is noch Kameradschaft, - na iebahaupt der Stahlhelm." Bei meinen Nachforschungen bin ich auch auf ein Erlebnis gestoßen, das wirklich gänzlich unpolitisch ist, mir aber mächtigen Spaß gemacht hat. So wie der englische Botschafter zu den Schornsteinfegern ein "traditionelles" Verhältnis hat, das allerdings nur einmal im Jahre und etwas steif-offiziell zum Ausdruck kommt, hat Prinz August Wilhelm wirklich herzliche Beziehungen zu den Potsdamer Straßenbahnern, deren Vehikel er ja täglich benutzt; und in einer kleinen Stadt, da kennt man sich doch. Bei der letzten Weihnachtsfeier der Straßenbahner klettert nun ein kleines Kind, ein Mädel, dem Prinzen auf den Schoß und sagt: "Du, Onkel Stahlhelmprinz, det Scheenste zu Weihnacht is, ick bin zum ersten mal bei'n richtjen Frisör jewesen, zum Bubischneiden, nich mit Mutta's Scheere!" Natürlich sind auch so und so viele Straßenbahner im Stahlhelm. Und der Prinz ist da bekannte Erscheinung.
Auch in manchen Gegenden in Berlin, so in der Markthalle in der Lindenstraße, wo auch wir unseren Bedarf decken. Als Hünefeld gestorben war, kaufte sich Prinz August Wilhelm dort Blumen, um sie am Sarge niederzulegen; in der Markthalle braucht man nicht so viel Geld herzugeben wie in den Luxusgeschäften. Als der schlanke Prinz da so steht, fragte einer der Verkäufer: "Wat's denn det for eena ?" und bekommt von diesem die schallende Antwort: "Det 's der Stahlhelm-Aujust, der kooft ooch jerne billig und rejell!" Nicht unweit davon thront Mutter Penck, wo wir immer unser Gemüse, unseren Salat, unsere Kartoffeln erstehen. In ihrer hohen gewellten Frisur sieht sie noch immer so königlich aus wie in der alten Zeit, wo wir uns sagten: "Na, die hat bald genug verdient, die wird sich nun wohl ein Ruhehäuschen am Scharmützelsee kaufen!" Nichts da; auch sie hat ihr Erspartes verloren und arbeitet nun noch mit einundsiebzig Jahren täglich von einer Morgenstunde an, zu der die übrige Menschheit noch meist in den Federn liegt. Die alte Penck hat einen finster blickenden Sohn, der ihr zur Hand geht; jeder seiner Blicke sprüht Haß, der sich aber offenbar gegen eine ganz falsche Adresse richtet. "Na, Mutter Penck, leben Sie noch ?", sage ich ihr vor einigen Tagen. "Ja, aber wie", antwortet sie und fährt fort: "Wat sin det for Zeiten heite! Det sin iebahaupt keene Zeiten mehr!" Wieder sieht der Sohn sie giftig an. Und da wendet sie sich zu ihm: "Ick ha' et ja imma jesacht, hättste, ja hättste damals nich Reflution jemacht mit deine Jenossen, wat haste nu davon ?" und ruft im selben Augenblick eine vorübergehende junge Frau an: "'n scheenen Blumenkohl, Madamchen, for den Herrn Jemahl, Madamchen, wie wär' et, Madamchen ?" Mutter Penck ist eine tüchtige Verkäuferin. Aber die Leute, die Blumenkohl kaufen, werden seltener.
27. März 1929 (Mittwoch)
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Das Thema Dienstmädchen - Aus den Theatern - Unsere Unterwelt - Der Blaue Vogel - Traube exotisch - Von feiner Lebensart.
Die jungen Frauen, die sich heutzutage zum Nachmittagskaffee und Nachmittagsschwatz treffen, unterhalten sich noch kaum über Dienstboten, das unerschöpfliche Thema früherer Zeiten. Sie sprechen von Modeschauen, Tanzturnieren, verdrängten Komplexen, van-de-Velde-Technik, Okkultismus, Atelierfesten. Dienstboten haben sie entweder keine oder kümmern sich um sie nicht. Natürlich ist es ein Fortschritt, daß der Gesichtskreis der Frau nicht mehr so beschränkt ist, sage ich als höflicher Mann. Aber ich bin doch froh, daß es selbst in der Großstadt noch ungezählte Familien gibt, Oasen in der Asphaltwüste, wo man noch Gesinde in altem Sinne hat, nur daß man nicht davon spricht. Es gehört zum Hause. Es ist kein Mietling. Es eifert um das Wohlbehagen aller. Umgekehrt wird es auch gehegt wie ein Glied der Familie. Unsere Lucie, die Schwester der Vorgängerin, dient uns schon im dritten Jahr voll Treue, Eifersucht und Unermüdlichkeit. Nun fährt sie zur Einsegnung der jüngsten Schwester auf ein paar Tage heim nach Schlesien und zermürbt sich in Unruhe, ob auch die Putzfrau, die derweil ihre Stelle notdürftig vertreten soll, alles richtig machen wird. Schier mit Angstschatten unter den Augen stammelt sie: "Bloß keine harte Bürste für den großen Teppich! Nur ein einziges Mal mit dem Staubsauger!" Wir müssen sie dauernd beruhigen; wir würden schon aufpassen, daß uns kein Schaden geschähe und daß sie nachher alles wieder ordentlich vorfände. Dann habe ich die Lucie an der Hand genommen und bin mit ihr in den Zoologischen Garten gefahren, weil ich gehört hatte, daß weder ihr früherer Beau, noch der, mit dem sie jetzt "geht", sie jemals dorthin ausgeführt hat; sie hat bis dato wirklich noch nie ein wildes Tier gesehen,außer unserem Peter, dem Kater. Wir lesen immer so viel von Kinderseligkeit zu Weihnachten oder Ostern oder erinnern uns daran, wenn die Kinder schon groß und aus dem Hause sind, aber die Seligkeit eines Dienstmädchens, das nie so recht Kind war und es nun sein darf, ist mindestens ebenso schön. Wir stehen über eine halbe Stunde allein vor den sechs Löwenkäfigen. Bei den Schimpansen, die manierlich bei Tisch vom Teller essen, glaubt Lucie zuerst, es seien verkleidete Kinder in Affenfell. Von dem großen Wasserbecken der Seehunde kann sie sich kaum losreißen. Die Elefanten und die Nilpferde hat sie sich so riesig doch nicht vorgestellt. Schließlich weiß sie nicht, ob die Giraffen im Antilopenhaus oder die schleierfischchen im Aquarium die Krone der Schöpfung sind. Jedenfalls war alles ein wunderherrliches Märchen; und "der Herr", nämlich ich, hat dabei immer noch erzählt, von den Tieren, von fremden Ländern, vom Kriege in der Natur und bei den Menschen, von der Verwertung aller Dinge, und da hat die Lucie zum Schluß gedankt und einen Knicks gemacht und ahnt dabei nicht, daß die größte Freude von dieser Expedition doch "der Herr" gehabt hat. Wer es nicht glaut, der mache es nach! Er wird sein lichtes Wunder erleben; nur muß er sich Zeit nehmen und sich innerlich von vornherein auf Behagen einstellen.
Zuweilen, sehr selten, schicken wir unser Mädchen auch ins Theater, geben ihr dazu zwei Karten, damit sie eine Freundin mitnehmen kann, gehen selber nicht mit, weil sie dann ungehemmter sich freuen kann. Vorher kriegt sie das Stück kurz erzählt. So einmal die "Minna von Barnhelm". Nachher war das Mädchen freilich sehr erstaunt, daß ganz andere Namen darin vorkamen. Wir hatten uns nämlich versehen, es wurden "Die Journalisten" gegeben. Außer diesen beiden Lustspielen ist uns der "Wilhelm Tell" zu solchem Zweck besonders lieb und geeignet, aber er wird ja in Berlin kaum mehr aufgeführt. Und wenn jetzt in den Osterferien die großen Töchter wieder theaterhungrig daheim sind, kann man sie allenfalls in den "Lieben Augustin" schicken, weiß aber sonst nichts Rechtes. Die Berliner Bühnen sind zum großen Teil bolschewisiert und bordellisiert. Schauspieler, die es ernst mit der Kunst nehmen, leider selber seelisch darunter; vor Jahr und Tag hat einer einmal sich geweigert, Schweinisches seiner Rolle herzusagen, und seine Haltung ist, wenn ich mich recht erinnere, vor Gericht auch als berechtigt anerkannt worden. Augenblicklich sind es die "Pioniere in Ingolstadt", in denen das Unsagbarste geagt und gemimt wird; verfaßt sind sie - von einer Frau. Einer blonden Frau aus den Nachkriegsjahren, der man dabei nicht einmal bestreiten kann, daß sie wirklich Dichterin ist, wie ja auch Bayros wirklich Maler war. Weit über hundert Aufführungen aber hat schon die "Dreigroschenoper" in Berlin erlebt. Der Fremde geht, von der Ähnlichkeit mit dem Titel Dreimäderlhaus verführt, hin, erwartet etwas Romantisch-lyrisches und macht statt dessen die Bekanntschaft mit dem Helden Mackie Masser, der von Beruf Zuhälter ist. Mit geblähten Nüstern aber sitzt immer ein gewisses Publikum da, das sich an allen Vorführungen aus der sogenannten Unterwelt der Großstadt weidet.
Wir haben ja neulich den Prozeß gehabt, der den "Verein Immertreu" aus dieser Unterwelt vor die Moabiter Schranken brachte. Die Herrschaften wurden sehr zart angefaßt; auch die Polizei hatte anfangs alles mögliche dafür getan. Darob ist der biedere Staatsbürger entsetzt. Einer von ihnen, ein lieber Leser, faßt sein Votum in dem bitteren Vers zusammen:
Üb' Immertreu und Rötlichkeit |
So ist es; man paktiert mit Unterwelt und Umsturz, denn das Unvermeidliche müsse mit Haltung geschluckt werden. Eine lex Heinze wäre heute unmöglich. Dazu ist die großstädtische Unterwelt im sogenannten Mitteldeutschen Ring, der die Zuhälter ganz Deutschlands und die Schlepper und Angestellten des nächtlichen Amüsierbetriebs umfaßt, angeblich zu stark organisiert. In Berlin gehören Tausende dazu. Sie werden in Notfällen, auch wenn sie mal im Gefängnis oder im Zuchthaus sitzen, generös unterstützt; und wenn sie sterben, gibt es ein so pomphaftes Leichenbegängnis, daß mancher arme, aber wohlanständige Proletarier geradezu Sehnsucht nach dieser Gemeinschaft bekommt. Daß der Erlös von Einbruchsgut zu großem Teil in die Vereinskasse wandert oder daß ungezählte Dirnen dazu beitragen, ist klar, aber sehr wahrscheilich ist auch die Besteuerung der Vergnügungslokale für die Unterwelt. Wer da für eine Flasche Schaumwein, die im Einkauf fünf Mark kostet, zwanzig Mark bezahlt, kann sicher sein, daß ein großer Teil davon den Verbrecherorganisationen zufließt. Ihre Macht im Nachtbetrieb ist zu einschneidend. Vor einiger Zeit kriegte der Geschäftsführer eines Tanzkabaretts der Friedrichstadt Krach mit einem als Tänzerin verpflichteten Mädchen und verbot ihm das Lokal. Am nächsten Abend fehlten nicht nur sämtliche Amüsiermädchen, sondern auch die weiblichen Festangestellten einschließlich Zigaretten- und Schokoladenverkäuferin. Die Fremden, die hinkamen, machten lange Gesichter. Es gab natürlich auch keine Aufführungen mehr. "Ja sind wir denn in einem Mönchskloster ?", riefen die Besucher dem Geschäftsführer zu und verließen die unheimliche Stätte. Draußen auf der Straße aber stand die gesamte Unterwelt der Gegend und ließ die Passanten über die Vorgänge nicht im Unklaren. Das Kabarett sah seinen Ruin voraus. In später Nachtstunde wurde mit dem Vorsitzenden des Rings, der in Smoking und Frackmantel erschien, verhandelt. Das Lokal mußte die Tänzerin wieder einstellen und eine erhebliche Buße bezahlen, dafür wurde die Sperre wieder aufgehoben. Dem Ring botmäßig sind nicht nur die Armseligen der City, sondern auch "hochfeine" Damen im Westen, die als angebliche Schauspielerinnen im Telephonbuch stehen, und ebenso einzelne Lokale in den westlichen Vierteln. So gut wie lückenlos ist aber die Herrschaft der Unterwelt in der Friedrichstadt im Kilometerumkreis der Jägerstraße. Dahin wird der "Provinzler" verfrachtet. Eines dieser Lokale neben dem andern; ein Portier überschreit den andern. Am äußersten Ende der Reihe haben wir einen der unzweifelhaftesten Betrieb solcher Art unter Leitung des früheren kommunistischen Reichstagsabgeordneten Tiedt, in der Mitte haust als Besitzer eines Kellerkasinos der Vorsitzende des Großen Rings, am Anfang schließt - das Staatliche Leihhaus das Vergnügungsviertel von der ruhigeren Stadtgegend ab. Zettelverteiler, Schlepper, Schuhputzer, Toilettewärter, Autokutscher sind alle "im Dienst". Das Interesse der Polizei daran, beide Augen zuzudrücken, erklärt sich aber aus einem Grunde: die organisierten Verbrecher verpfeifen ihr häufig einen gesuchten Einzelverbrecher; Einbrecher und Mörder sind sehr oft Alleingänger und schließen sich keinem Vereine an, auch Hoteldiebe und Hochstapler arbeiten meist auf eigene Rechnung. Diese Zustände haben wir nicht etwa nur in Berlin. Und ebenso wenig bedarf es wohl der Versicherung, daß es ähnliche Zustände schon im alten Deutschland gegeben, nur daß seither der Sumpf sich außerordentlich verbreitert hat.
Da faßt sich denn mache Mutter draußen im Lande in der einsamen Oberförsterei oder im Doktorhaus entsetzt an den Kopf: könne man da die junge Tochter überhaupt noch als Studentin nach Berlin schicken ? Aber gewiß doch. Diese "Zustände" sind in gewisser Beziehung ein Sicherheitsventil. Der Betrieb massiert sich auf bestimmte Gegenden. In stillen Wohnvierteln Berlins ist das junge Mädchen nicht mehr und nicht weniger Gefahren ausgesetzt als in einer beliebigen Kleinstadt. Es gibt auch immer noch gute Familien mit netter Geselligkeit alter Art. Und - es gibt sogar öffentliche Vergnügungsstätten, bitte sehr, Kabaretts, die reizvoll und doch moralisch sauber sind, hochkünstlerisch und gar nicht frech. Zur Zeit allerdings nur ein einziges. Und ausgerechnet dieses hat ein Fremder uns aufgetan, übrigens ein alter Bekannter, Herr Jushnyj ("Der Südliche") aus Rußland, der mit seinem "Blauen Vogel" - jetzt endgültig Kurfürstendamm 193 - schon über dreitausend Vorstellungen in den verschiedensten Ländern und Erdteilen gegeben hat. Man sieht: es geht auch ohne Zoten und ohen Ausgezogenes. Es geht sogar ohne "witzige" Konferenziers aus Galizien. Der hochgewachsene Jushnyj mit dem bestsitzenden Frack Europas und dem drolligen russisch-deutschen Kauderwelsch hat viel Sinn für Farbe und Ton, einen eingeborenen Humor von vielen Graden und bleibt innerlich so vornehm, wie es unter den deutschen Kabarettisten nur einmal einer war, nämlich in seinem "Überbrettl" der Freiherr v.Wolzogen, ist aber künstlerisch reicher und losgelassener als dieser letzte Romantiker. Im Blauen Vogel wechseln köstliche Persiflagen - der Verniggerung, der Sportfexerei, des Amerikanismus, ja der Donkosaken - mit ergreifend Wehmütigem (Wolgaschlepper, Sucharewka) und toll Lustigem ab, alles unter künstlerisch überlegener Regie. Ein ununterbrochenes Zwei-Stunden-Programm ohne eine einzige Zweideutigkeit und doch voll Lachens; man sollte es heute kaum mehr für möglich halten.
In diesen ersten Tagen ist der Blaue Vogel immer ausverkauft. Der Berliner ist ja ein Premièrentiger. Nachher muß es der Besuch aus dem Reiche machen. Der Faun des Westens, später Krummer Spiegel, noch später Boulevardtheater genannt, mit der Olympia-Bar, "der größten der Welt", im ersten Stock, hat wegen Mangels an Berliner Besuchern jetzt seine Pforten schließen müssen. Überlaufen ist dagegen, weil neu, die Traube-Filiale an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Dieses Weinrestaurant hat wie so viele moderne Cafés drei Ränge übereinander, in der Mitte aber einen weiten freien Raum durch alle Stockwerke. In diesem Parkett schwimmen in Marmorkanälen Goldfische, und von einer künstlichen Palme krächzen fünf angekettete Papageien herunter. Das muß "man" gesehen haben. Aber wie oft man wiederkommt, das ist die Frage. Wenn da "die Provinz" nicht einsetzt, mit einem so stetigen Massenbesuch wie in den Kempinski-Betrieben hinten im Haus Vaterland, ist diese neue Wirtschaft in einigen Monaten schon Zuschußbetrieb.
Das jus primae noctis in neu eröffneten Lokalen beanspruchen vor allem unsere Politiker der nachrevolutionären Zeit. Unter den allerersten ist da häufig Philipp Scheidemann zu sehen. Aber auch den viel ernsteren Genossen-Minister Severing kann man an mancher Stätte der Lust erblicken und nicht etwa nur dienstlich. Wenn man im öffentlichen Leben steht, denken sie wohl, muß man es auch genießen, weil man dabei Lebensart lernt. Die haben sie jetzt großartig heraus, sogar der ehemalige Handelsminister Genosse Siering, der vom Wedding stammt, nachher nur knapp mit zweiundzwanzig Zimmern auskam und schließlich an der Staatlichen Porzellanmanufaktur strauchelte. Der kennt den feinen Benimm, seit er nicht mehr Schlossergeselle am Wedding ist. "Da könnte een richtijer Jraf vor Neid erblassen!", sagt neulich im Landtag ein Kommunist und weist auf Siering, der gerade in der Wandelhalle die Genossin Rynek begrüßt. Sie ist klein und fett, zählt auch schon einundfünfzig Lenze, Venus hat nicht - nicht einmal in einiger Entfrenung - an ihrer Wiege gestanden, aber nun ist sie ganz Dame, wo Siering mitten im Gedränge ihre fleischige Patschhand emporzieht und sekundenlang an die Lippen preßt. Still und stolz hält sie ihre Hand an den ministeriellen bärtigen Lippen. Sie fühlt sich wie eine Filmdiva bei der Großaufnahme. Es lernt sich wirklich alles.
4. April 1929 (Donnerstag)
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Die Fensterputzer - Einer möchte Caruso werden - Ätherwellenkonzerte - Belemüha - Hinter der Staatsbibliothek - Wieder Hohenzollern-Museum.
Die Fensterputzer sind wieder da, mit ihren Leiterchen, ihren Läppchen, ihrem Eimerchen voll Schmutzwasser. Es ist verwunderlich, wie die Leute mit disen drei Dingen sogar ein riesiges Atelierfenster blitzblank kriegen. Nur brauche ich dann immer am Schreibtisch die Hände als Briefbeschwerer, so weht es herein. Schadet nichts. Das Abonnement auf die Fensterputzer, ein paar Mark monatlich, ist eine Großstadtbequemlichkeit. Es ist schön, den lautlos und flink arbeitenden, gut eingespielten zwei oder drei Männern zuzusehen. Manchmal halte ich sie durch ein paar Fragen auf; aber sie wissen schon, beim Abschied kriegen sie dann immer ein Dankeswort und einige Zigaretten. Seit ein früherer junger Offizier, der im Felde mir unterstand, von "drüben" aus Los Angeles geschrieben hat, er sei zur Zeit dort Fensterputzer, habe ich eine kleine Schwäche für die Leute. Ihre Herkunft ist fast so bunt wie die der Autokutscher. Von unseren Fensterputzern - es sind nicht immer dieselben - ist einer, der am häufigsten kommt, früher Koch gewesen und möchte jetzt Opernsänger werden. Wahrhaftig, Opernsänger. Seit langen Jahren, er ist darob faltig und hager geworden, gibt er jeden erübrigten Pfennig für seine Fortbildung aus und studiert Rollen. Frau und Kind leben von der großen Hoffnung. Einstweilen singt er im Chor der Staatsoper. Das Hohe C brint er mühelos, im forte sogar das Des, und das ist doch wirklich eine Seltenheit. Seine Aussichten ? Er lächelt bitter. Wenn einer, wie er, schon einundvierzig Jahre alt sei und Familie habe, finde er keinen Maecen mehr, ohne den die Laufbahn nicht zu schaffen sei. "Und wer hat denn überhaupt noch Geld übrig ? Noch dazu für Musik ? Man hört Rundfunk, man lacht über musikalische Clowns, man läßt Sägen singen, man geht ins Ätherwellenkonzert!"
Richtig, auch das noch. Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, von diesem Berliner "Ereignis" zu erzählen. Ich dachte: so etwas taucht mal auf und verschwindet wieder wie, hoffentlich, über kurz oder lang das instrumentierte Katzenmiauen aus der Jazzmusik. Aber nun lese ich, daß auch überall "in der Provinz" die Ätherwellenkonzerte vorgeführt werden. Sehr interessant, das stimmt. Als kleine Buben haben wir oft auf einem Kamm durch Seidenpapier geblasen. Warum soll man da nicht Musik aus der Luft greifen ? Man nehme sechs Eier, heißt es so häufig im Kochbuch. Man nehme zwei Hochfrequenz-Oszillatoren, sagt Professor Teremin aus Petersburg, Verzeihung, aus Leningrad. Man nehme also zwei Oscillatoren, bringe durch elektrische Schwingungen den Interferenzton heraus und verändere die Kapazität des Schwingungskreises. Fabelhaft, nicht ? Als ich noch Primaner war, hätte ich das bestimmt kapiert, damals lernte man so etwas. Heute kann ich nur Maulaffen feilhalten und mir von anderen diese Worte vorsagen lassen. Was ich aber höre, das ist seelenlose, maschinelle - Bolschewikenmusik, etwas gänzlich Entgöttertes, das, ums uns ans Herz zu gehen, ganz besonders begnadeter Künstler bedarf. Sonst ist es nicht viel mehr als singende Säge, also Rutschbahn über Achteltöne. Da stehen auf der Bühne, auf Stehpulten montiert, vier Kästen von der Größe je eines Handkofferrs, die die Oszillatoren bergen. Vor jedem Pult ein Künstler. Er tritt auf ein paar Brettchen, Pedale, von denen Drähte zum Kasten führen. Ein anderer Draht, eine Art Klingelschnur, endet in seiner linken Hand. Drückt er mit dieser Hand auf den Klingelknopf, so ist "der Kreis geschlossen", man hört einen Ton, den ein Lautsprecher verstärkt. Es ist sozusagen ein toter Ton, der erst dadurch eine Art Leben bekommt, daß der Künstler die erhobene rechte Hand zittern läßt. Bringt er die vibrierende rechte Hand näher an den Kasten, so wird der Ton höher, zieht er sie zurück, so wird er tiefer, und der erstaunliche Umfang beträgt neun Oktaven, also "leistet" dieser eine Ätherwellenkasten mehr als sonst drei Instrumente: Geige, Cello, Contrabaß. Man kann auch allerlei Mätzchen machen, zum Beispiel blitzschnell auf einen leiseren Lautsprecher umschalten, der nicht auf der Bühne steht, sondern etwa auf dem Schnürboden: da hat man also "naturgetreues" Echo! So kann man auch den Pilgerchor oder das Wolgaschlepperlied verhallen lassen. Technisch, wie gesagt, ungemein interessant. Wenn ein bis in die Fingerspitzen so musikalischer Mensch wie Henkin die Töne durch die Luft zieht, hat man gelegentlich die Ahnung eines Genusses. Die anderen Kastenkünstler können es nicht so gut; spielen sie alle mehrstimmig zusammen, so ist es ein Greuel, etwa so, als wenn auf mehreren Klavieren, die verschieden gestimmt sind, gespielt wird. Es werden Konzerte der Teremin-Apparate, die einzeln manchmal Cello-Musik vortäuschen können, zusammen mit Gesang (Rahel Kaufmann; schauerlich), Harfe, Klavier, Harmonium gegeben, wobei der Vergleich nicht gerade zum Vorteil der Bolschewikenkiste ausfällt. Aber, nochmals gesagt: interessant, sehr interessant. Vielleicht bekommen wir nächstens aus Leningrad einen Apparat, der Porträts malt oder in Marmor bildhauert oder die Liebe überflüssig macht.
Einstweilen habe ich für den elektrischen Betrieb in allen diesen Dingen nicht viel übrig. Das Fluidum, das vom Menschen zum Menschen geht, ist mir lieber. Das wird auch wohl nie ausgeschaltet werden. Oder möchten Sie etwa, wenn wir erst so weit sind, mit einer lebensgroßen mechanischen Puppe tanzen ? Schon der fast maschinell leiernde Erklärer in Schlössern und Museen ist uns zuwider. Wir wünschen individuelle Behandlung durch Gleichgestimmte.
Das war ja auch das Geheimnis, das vor zwei Jahren den "Gentleman-Begleitern" in Berlin die ersten Erfolge brachte, jenen fünf ehemaligen Leutnants und Oberleutnants, die sich alleinreisenden Damen - honny soit qui mal y pense - gegen Honorar als Kavaliere für Theater, Bildergalerien, Tanztee, Fabrik, Ausstellung, Messe zur Verfügung stellten. "Kann man nicht etwas ähnliches in weiblicher Ausgabe haben ?", fragten damals - manchmal freilich augenzwinkernd - die nach Berlin kommenden Fremden männlichen Geschlechts. Jawohl, kann man; jetzt, 1929, seit etlichen Wochen.
Ganz einfach ist das. Fernsprecher: A 6 Merkur 7530. "Hier Belemüha!" Komische Sache; von einer Dame dieses Namens habe ich noch nie etwas gehört. Das ist aber wieder die verdammte Buchstabensprach. Es soll Berlin-Leipzig-München-Hamburg bedeuten, nämlich in diesen vier Städten will das Institut, das jetzt in Berlin angefangen hat, den Versuch mit den Lady guides machen, mit den Begleiterinnen aus guter Gesellschaft, die sprachgewandt, kenntnisreich, weltstädtisch sind und sich gern nebenbei durch einwandfreie Beschäftigung ihre Seidenstürmpfe verdienen möchten. Natürlich gehe ich hin: Mittelstraße, Ecke Friedrichstraße. Es muß doch köstlich sein, einmal den Provinzonkel zu spielen und sich von zarter Hand Berlin zeigen zu lassen. Dort, ganz in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße, sitzt ein Fräulein in der "Belemüha" an der Kasse, das gerade ein paar verdächtig balkanisch aussehenden Fremden in tadelfreiem Französisch Auskunft gibt. Das Fräulein hat ihr Französisch aus dem Pensionat in Lausanne und kann noch drei andere Sprachen. Eine charmante kleine Griechin, Musikstudentin in Berlin, spricht sogar fließend fünf Sprachen. Neun Verkehrssprachen sind in dem Prospekt angegeben, aber es sind inzwischen, einschließlich portugiesisch, finnisch, japanisch, estnisch, chinesisch, schon siebzehn Sprachen, deren Kenntnis man unter den 60 dem Institut verpflichteten Damen findet. Eine von ihnen ist Lektor an der Universität. Einige sind Haustöchter aus guter Familie; es sind auch Trägerinnen alter preußischer Adelsnamen darunter. Verschiedene Damen sind verheiratet. Vorgestellt werden sie einem alle als "Frau", das hat so seine Gründe, nicht wahr, Sie verstehen doch ? "Denn eine Würde, eine Höhe entfernte die Vertraulichkeit!" Als vor etwa sechs Jahren der Beruf der Tanzmädchen überhandnahm, die ständig in den Kabaretts und "Dielen" und Hotels bei der Musik sitzen und gegen ein kleines Tischgeld die Partnerin spielen, waren dies auch vielfach noch Kinder anständigen Herkommens, wenn auch untermischt mit Zweideutigen. Heute sind sie schon ganz eindeutig. Um Gotteswillen, nur das nicht bei der "Belemüha", das wäre das Ende! Da ist eine russische Fürstin, die kann auf Französisch sehr hoheitsvoll werden, wenn einer - wie neulich ein Rumäne - etwas von einem intimen Souper zu zweit einfließen läßt, und in einem solchen Falle darf die Führung sofort abgebrochen werden. Dann ist das bezahlte Geld futsch. Vier Tagesstunden kosten 12 Mark, vier Abendstunden 20 Mark, je zur Hälfte an das Institut und an die Begleiterin. Ob sich nicht manchmal doch ein "außerdienstliches" Plauderstündchen an die Führung anschließt ? Kinder, fragt nicht so dumm! Es wird euch doch keiner es sagen. "Genoß der Jüngling ein Vergnügen, so war er dankbar und verschwiegen", sang einst Hagedorn. Ich selber war übrigens, als ich unter Merkur 7530 anrief und für 11 Uhr vormittags eine kunsthistorisch bewanderte Dame als Führerin durch das Kaiser-Friedrich-Museum verlangte, nicht gut bedient, das darf ich als Kritiker nicht verschweigen. Die Dame rauschte erst um 11 Uhr 24 Minuten herein; so lange hat meine eigene Frau mich nie warten lassen. Da kriegste die Platze! Das Bureaufräulein wand sich inzwischen in Kummer. Der Inhaber des Instituts aber, übrigens ein gut nationaler Deutscher, tobte nachher: der Name dieser Führerin werde auf ewig in den Büchern gelöscht! Ach, bitte, nein; ihr müßt die Frauen allmählich erziehen, bis sie den Berufsernst erfassen. Vorläufig denken einzelne von ihnen immer noch, eine Viertelstunde mehr vor dem Spiegel sei wertvoller als Pünktlichkeit. Aber das kleine aus Ostpreußen gebürtige Fräulein, das ich zu meiner Begleitung in ein Bumskabarett der Jägerstraße für den Nachmittag angefordert hatte, war genau auf die Minute da. Sehr gut. Sah mich nur ein bißchen ängstlich von der Seite an. "Wat wull de Kirl ?", stand in den großen Augen geschrieben. Schon Unter den Linden konnte ich sie beruhigen. Ich brauchte sie, sagte ich, bloß als Prellbock; gehe man mit einer wirklichen Dame hin, so werde man von den berufsmäßigen Tanzmädchen nicht angequatscht, und ich wolle eben in Ruhe meinen Tee und meinen Cobler trinken. Da fällt dem Mädel hörbar ein Stein vom Herzen. Es ist die allererste Führung, die die Kleine hat. Sie hat ihr gutes neues Nachmittagskleid an, vielleicht auch zum ersten Mal. Es ist ein bißchen kurz, wie man beim Sitzen sieht. Und da legt die Kleine unauffällig und behutsam ihren Schal über die Knie. Das ist die rührendste und netteste Kleinigkeit, die ich an diesem Nachmittag erlebe; hoffentlich liest keine von den 60 Damen diese Zeilen und macht es dann nach, denn sobald es "gemacht" ist, ist es nicht mehr echt, ist es das Gegenteil von Charme. Am Abend bin ich dann mit einer anderen Belemüha-Dame in einem sogenannten besseren Lokal, in den Ambassadeurs in der Hardenbergstraße, wo man tanzt und tanzen sieht, ißt und trinkt und schließlich von einem Togoneger, der beim letzten deutschen Gouverneur, dem Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg, Küchenboy war, sich den Kaffee auf dem Tischchen vor den Augen aufkochen läßt. Natürlich kriegt es meine Dame beim Tanzen zuletzt auch etwas mit dem Temperament. Wenn man berufstätig ist, als hochgebildete Frau aber nur 80 Mark monatlich verdient, fast nie zum "Ausgehen" kommt, dann wird einem beim Besuch einer Luxusgaststätte natürlich märchenhaft zu Mut, auch wenn man sich Mühe gibt, um des Honorars willen nur gute Konversation zu machen. Ich möchte nun noch gern unter sachkundiger Belemüha-Führung die Fabrik von Siemens & Halske oder das Konfektionsviertel oder sonst etwas vom arbeitenden Berlin besuchen, werde es auch sicher einmal tun, nur augenblicklich langt die Zeit nicht dazu. Jedenfalls bin ich um die Erkenntnis bereichert, wie sehr der neue Frauenberuf dem Fremdenverkehr dienen kann. Eigentlich müßten alle Hotels in ihren Zimmern die Adreßkarte dieser Unternehmung auslegen, denn ich kann mir gut vorstellen, wie häufig es einer gebildeten Dame, die auf alle Interessen eines Berlinbesuchers einzugehen versteht, gelingen mag, ihn zu längerem Bleiben zu veranlassen. Sie macht ihn auf Dinge aufmerksam, von denen er einsieht, daß er sie unbedingt gesehen haben muß. Da kommt neulich ein spanischer Kaufmann her, ist glücklich, daß er eine deutsche Begleiterin erhält, die spanisch nicht nur fließend spricht, sondern auch geschäftliche Briefe in dieser Sprache schreiben kann; er selber kann kein Wort deutsch oder französisch oder englisch. Er sagt, er bleibe drei Tage in Berlin. An einem Tage habe er zwei Stunden für eine Rundfahrt übrig, an einem anderen dreieinhalb Stunden für die Potsdamer Schlösser, basta. Nachher ist er aber zehn Tage geblieben und will bald wiederkommen und noch viel mehr sehen, denn hier gebe es ja Sehenswertes für mehrere Wochen. Noch ist die ganze Sache erst in den Anfängen, tastet sich aber schon über Berlin hinaus. Man braucht beispielsweise nicht erst bei Bekannten herumzufragen, ob sie eine sprach- und landeskundige Begleiterin nach Spanien oder Italien oder Griechenland wüßten. Belemüha anklingeln! Alles da. Nur kann ich in diesem Falle wohl bestimmt versichern, daß nur Damen oder Familien eine solche Begleiterin ins Ausland gestellt bekämen, nicht etwa einzelne Herren.
Angeregt durch die Erkundung bei den lady guides bin ich dieser Tage auch einmal allein wieder zur Museumsinsel gepilgert. Durch die Mittelstraße, durch die Dorotheenstraße, am Kupfergraben entlang, über die Brücke. Man kommt gerade als Berliner so selten in dise Gegend. Hinter der Staatsbibliothek stehen Straßenhändler an einer langen Reihe von Bücherkarren. Ein Mädel, vielleicht aus Obersekunda oder Unterprima, aber noch mit langen Zöpfen, will ein Neues Testament in griechischer Sprache antiquarisch haben. Es ist keins da. "Aber hier Mantegazza, Physiologie der Liebe, ooch sehr jut!", ruft ein Lausejunge, vielleicht aus dem Mommsen-Gymnasium. Großstadt! Widerwärtigste Großstadt. Aber etliche hundert Schritt weiter, am Kupfergraben, da stehen so ehrenfest und vornehm-ruhig ein paar alte Häuser noch mit steinerner Treppe auf dem Bürgersteig. In dem palaisartigen Hause Nr. 6 hat früher Max Reinhardt gewohnt. Jetzt wird es Kolleggebäude. Nun um die Museumsinsel herum, da bin ich wieder im verträumten stillen Monbijou-Park im Hohenzollernmuseum. Da ist lauter lebendig gewordene Geschichte. Da wird man nicht müde. Da wird es einem heiß ums Herz vor dem "Aufruf an Mein Volk" von 1813, der fast wörtlich so heute wieder ausgehen könnte, wenn wir noch ein Volk mit dem Ehrgefühl von 1813 wären.
Es sind fast nur Engländer in diesem Museum, in dem sie den Erinnerungen an ihre Princeß Royal nachgehen. So hat die Republik es wagen können, statt Monbijou-Museum wieder Hohenzollern-Museum ans Parktor und auf die Kataloge zu drucken. Die Umtaufung haben die Deutschen geduldet, die Wiederherstellung haben die Ausländer verlangt.
11. April 1929 (Donnerstag)
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