"Rumpelstilzchen"

Ja, hätt'ste . . .
(Jahrgangsband 1928/29)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1929

Glossen 25 - 27
7. bis 21. März 1929


25

Sprachdummheiten - "Echte" Ware - Kabarett und Variété - Der Abstieg der Revue - Die Tiller-Girls sind weg - "Der liebe Augustin" - Mady Christians - Brot und Spiele - Das Einhundsystem - Ja, hättste . . .

Ein verstimmtes Klavier oder Fehlgreifen auf den Violinsaiten kann einem musikalischen Menschen körperlichen Schmerz verursachen. Dasselbe empfindet ein Mensch mit Sprachgefühl gegenüber Sprachdummheiten. Es ist merkwürdig, daß in solchen Entgleisungen Berlin dem Lande immer vorangegangen ist, vielleicht, weil das Beamtendeutsch hier immer von starkem Einfluß war. Die "Reitende Artilleriekaserne" ist noch unvergessen. Dicht daneben wurden "Milchkunden zu 1½ Silbergroschen per Liter angenommen". Am meisten stört mich neuerdings ein Schildchen am Fußboden vor Korridortüren. Wenn ich es sehe, klingele ich und bitte das Dienstmädchen oder den Kontorburschen, die darob baß erstaunt sind, um warmes Wasser und Seife. Da steht nämlich: "Bitte Füße reinigen!" So steht es immer da; und dabei meinen die Leute selbstverständlich Stiefel, nicht Füße. Und dann an den Kneipen immer wieder die greuliche Inschrift: "Hiesige und echte Biere". Ist das hiesige denn etwa gefälscht ? Warum sagt man nicht, daß es hiesige und "auswärtige" Biere gäbe ? München, Pilsen, Dortmund, Nürnberg, Kulmbach in allen Ehren; aber das Patzenhofer ist doch auch richtiges Bier. Alles Heimische wird so durch den falschen Sprachgebrauch entwertet. Das ist echt deutsch. Den Ausdruck "es ist nicht weit her" kennt einzig und allein unsere Sprache. Selbstverständlich sind alte orientalische Teppiche eine wundervolle Sache. Aber weshalb das Naserümpfen, wenn ein Teppich "nur deutsch, nicht echt" ist ? In unserem Speisezimmer liegt einer, der ist nicht von Abdullah aus Täbris sondern von Vorwerk aus Barmen; aber er ist wunderschön und weich und dick und haltbar. Wir sind stolz auf solches Erzeugnis deutscher Arbeit. In einem Spezialgeschäft in der Leipziger Straße wollen wir ein paar Meter Spitze kaufen. Es wird uns französische vorgelegt, selbstverständlich. "Nein, Fräulein, bitte deutsche! In Plauen gibt es die beste der Welt!" Fassungslos starrt uns das Mädchen an; sowas ist ihr denn doch noch nicht vorgekommen. Produzieren unsere deutschen Kühe etwa Schafsmilch ? Aber "echt dänische Butter" verlangen im Laden die gedankenlosen Deutschen. Darf man sagen, daß Bimm und Bumm die hervorragendsten Groteskturner sind ? Bewahre! Auf den Zetteln werden Bimm "and" Bumm genannt, dann erst ist das Publikum zufrieden.

Gegen den internationalen Austausch, wobei wir von Frankfurter Würstchen bis zu Indanthrenstoff, von Pumpernickel bis zu Junkersflugzeugen allerhand zu bieten haben, ist freilich nichts zu sagen, wenn nur nicht dank deutscher Schwäche unsere Handelsbilanz dabei passiv wird; und so habe ich auch nichts gegen Jackson-Boys und andere Artisten auf Berliner Bühnen, wenn nur den deutschen im Auslande dieselbe Aufnahme zuteil wird. Gerade das Variété braucht diesen Austausch, diese gegenseitige Anregung in immer neuen Tricks. Die Nachfrage ist groß. In Berlin genügt der umgebaute und aufgefrischte "Wintergarten" längst nicht mehr. Die "Scala" im Westen ist auch immer überfüllt. In Berlin O ist seit Monatsfrist die riesige "Plaza" ebenso gut besucht. Und ein Kabarett nach dem anderen stellt sich auf Variétékunst um. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen: man ist der schleimigen Konferenziers aus Galizien mit ihren obszönen Witzen allmählich satt. Auch das Kabarett der Komiker am Kurfürstendamm, das bekannteste in Berlin, hat sein Programm so gewandelt. Zwar hat es noch einen sehr eindeutig-massiven Sketch, zwar hat es auch noch einen Schleimigen, aber sogar das Mossesche Abendblatt - diese Leute haben feine Witterung für Änderungen des Geschmacks im Publikum - wendet sich (wörtlich so!) gegen seine "vermauschelten" Witze. Die ewigen Anspielungen auf Sexuelles bis zur Bestialität könnten wirklich unterbleiben; wir sind doch nüchterne Leute. Ich kann es verstehen, wenn im Einzelfall darüber debattiert wird, ob der Ehebruch etwas Alltägliches oder etwas Gemeines oder etwas Unumgängliches oder etwas Tragisches sei; aber niemals ist er doch etwas Witziges.

Ohne sonderliche Aufregung hat das Berliner Publikum es hingenommen, daß einige Revuetheater "aus sicherheitspolizeilichen Gründen" geschlossen wurden. Die Direktoren selbst sind damit am Ende nicht ganz unzufrieden. Das bisherige Genre Revue hat sich überlebt, sagt man in Deutschland und im Auslande; es zieht nicht mehr, es ist kein Geschäft mehr. Nur mit einiger Rührung hat man die seit Jahren in Berlin seßhaften Tiller-Girls scheiden sehen. Papa Tiller hat sie nach England zurückkommen lassen - bis auf eines der Mädchen, das sich in Berlin verheiratet - und schickt sie auf Gastspiele in die angelsächsische Provinz. Während deutsche Revuemädchen draußen unbehütet und schutzlos dem großen Moloch anheimfallen, sind alle diese englischen Tillertrupps immer vorbildlich versorgt gewesen. Immer mit Hausmutter und sogar Pastor versehen; etwas für unsere jeunesse dorée Unfaßbares. Die Tillers hatten, wo sie auch auftraten, immer ihr richtiges englisches Heim, ihre geordnete Verpflegung mit heimischer Kost und Tischgebet, ihre Körperpflege nahezu nach Art der ehedem kaiserlich-russischen des Petersburger Hofballetts. Natürlich sind diese Girls dazu da, ihre Beine zu zeigen und taktgemäß wie Trommelschlägel wirbeln zu lassen. Aber nie gaben sich die Mädchen lediglich zur Entblößung her. Dazu waren andere da, - und gerade dieses "Genre" wird nachgerade abgelehnt.

Gesundung ? Wer weiß. Man kann nie etwas ablegen, ehe Ersatz da ist. Aber es scheint wirklich, daß wir den haben. Er heißt: die Große Operette. Das ist ein neues Genre; die auf Revuewirkung, Farbe und Form umgearbeitete frühere intime Operette. Der Sprung ganz ins Unwahrscheinliche, aber doch noch mit Sinn und Verstand einer tragenden Handlung, einer Idee, nicht bloß "Bildern". So ist auch "Der liebe Augustin" von Leo Fall in Charells Großem Schauspielhaus, dem Stalaktitentheater der Fünftausend im ehemaligen Zirkus Schumann an der Karlstraße, zu buntem glitzerndem Märchen geworden, farbig wie Tausend und eine Nacht. Die alte "kleine" Operette dieses Namens hat Fall vor 18 Jahren in Musik gesetzt, jetzt modernisiert, ein klein wenig verschlagert, ein klein wenig verjazzt, aber melodiös erhalten. "Wo steht es denn geschrieben, du sollst nur eine lieben ?" und ähnliches ist sehr einschmeichelnd, ist ein wenig locker vielleicht, aber nirgends gemein. Man kann ruhig - heute - mit einem jungen Mädchen aus gutem Hause hingehen, das an Tönen und Farben und Märchen sich nur harmlos berauschen wird. Im Mai 1913 machte die Operette "Der liebe Augustin" im an sich prüden, aber in bezug auf Pracht der Darstellung verwöhnten London Furore. Beim Festessen nachher im Garrick-Klub war man in gehobener Stimmung. Der Übersetzer des Librettos erklärte den deutschen Gästen in fröhlichster Laune, das sei einstweilen das letzte Stück, das er aus dem Deutschen übertragen habe, denn im nächsten Jahre, 1914, gebe es Krieg. Man wollte sich ausschütten vor Lachen. Engländer, die jetzt die Neuaufführung im Berliner Großen Schauspielhause sehen, erleben ihr blaues Wunder. Bisher hielten sie es für einen Vorzug der englischen Bühne, daß es da wirklich süße Gesichtchen und wundervoll gewachsene Gestalten gab, während sie in deutschen Theatern den fetten Tenor und die häßliche Diva gewohnt waren. Charell aber sucht sich seine Leute aus. Er weiß schon, was dem Publikum Freude macht. Seine Prima Ballerina, Marianne Winkelstern, kann nicht nur tanzen, sondern sieht auch entzückend aus. Holdestes Wunder in dem Märchenspiel - in dem angeblichen Fürstentum Pleite-Thessalien - aber ist Mady Christians, die bei der Taufe zweier gleichzeitig auf der Flucht geborener Kinder vertauschte und als Fürstensprößling auferzogene Kastellanstochter, die wieder ein schlichtes Bürgermädel wird und ihren Musikus kriegt, den "lieben Augustin". Auch dieser - es ist der Rundfunkansager Alfred Braun - ist ja Liebling des Publikums, obwohl er - diese offenherzige Feststellung wird er uns nicht verübeln - eigentlich schon über die Jahre und die Schlankheit hinweg ist, die ihn für Prinzessinnen oder Kastellanstöchter gefährlich machen könnten. Genug: man liebt ihn. Und man gönnt ihm auf der Bühne das zauberische Glück. Das Publikum jauchzt, sobald Mady Christians erscheint, sobald sie dann ihren Schelmenmund kräuselt, sobald ihr erstes Lächeln erstrahlt und alsbald Wärme im ganzen Hause ist. Schon manch einer hat sich gefragt: wie ist es nur möglich, daß ihr Mann, Sven v.Müller, sie der Masse Mensch im Zuschauerraum gönnt oder auch nur den Mitspielern ? Dankbar sollten wir ihm sein, daß er es tut; denn von dieser seltenen Frau, die immer Dame der Gesellschaft bleibt, nie bezahlte Komödiantin wird, geht eine Beglückung aus, deren man sonst nie teilhaftig wird. Ist es ihr Liebreiz ? Ist es ihre Schalkhaftigkeit ? Ist es ihr überlegenes Spiel, der Charme in jeder Miene ? Ich weiß nicht; vielleicht alles zusammen. Und nicht zuletzt ihr grunddeutsches Aussehen, das sie zum Idealbild der jungen deutschen Frau macht, vielleicht erst recht, die kleine Anmerkung sei mir erlaubt, seit sie erblondet ist. Vor Jahren habe ich sie einmal in ihrem Heim gesprochen, einmal auch auf einer Gesellschaft. Seither habe ich immer nur in der dunklen Masse gesessen, die ihr, meist auf der Leinewand, seltener auf der Bühne, immer wieder glückhafte Stunden verdankt. Ihr Mann, der frühere Gardeoffizier, der anfangs nach dem Kriege sich der Rechten politisch angeschlossen hatte, ist inzwischen bei den Ullsteins gelandet, und seine Artikel sind nicht immer frei von Renegaten-Bitterkeit, aber sie verraten eigenes Denken und Arbeit. Zwei Menschen von großer Begabung. Und sie haben beide noch nie in der Ehescheidungsrubrik der Filmblätter gestanden. Sie werden nicht Bohème, sondern bleiben gute Gesellschaft. Natürlich mögen Kritiker sagen, das Theater der Fünftausend sei für Mady Christians zu groß. Ihre Glöckchenstimme, dieses reine klangvolle Instrument, dringe nicht bis zu den obersten Galerien. Das macht nichts. Sie könnte in einer stummen Pantomime auftreten, und die Zuschauer fühlten sich trotzdem begnadet. Schade nur, daß es in Berlin sogenannte zweite und dritte Besetzung gibt. Der Star macht das Stück, reißt es zum Siege, dann hat es seinen Ruf - "Der liebe Augustin" hat ihn schon - und bei der hundertsten Aufführung sieht man enttäuscht lauter fremde Gesichter. Man ist aber selbstsüchtig. Man möchte Mady Christians bei wiederholten Besuchen des Großen Schauspielhauses noch mindestens bis zu den Sommerferien sehen.

Wenn es seit den Zeiten des alten Roms heißt, das Volk brauche Brot und Spiele: für Spiele ist in der Großstadt reichlich gesorgt. Man könnte über den Spielen schier vergessen, daß es an Brot mangelt; und dieses Vergessenwollen ist es ja auch, das so viele Menschen in irgend eine Schaustellung treibt. Dann kommt man nach Hause und liest, daß es 2,3 Millionen unterstützte Arbeitslose in Deutschland gibt. Dazu vielleicht 800 000 Nichtunterstützte. Im Ganzen also über drei Millionen Deutsche, die keinen Erwerb haben. Aber wo sind sie ? "Man" sieht sie nicht, denn von den stellenlosen Kaufleuten, Schauspielern, Handwerkern, die als Hausbettler kommen, nimmt "man" gewöhnlich an, daß sie nicht arbeiten wollen. Und dann tut man entrüstet, wenn heutzutage junge Leute, wenn sie heiraten, auf jeden Fall ohne Kinder bleiben wollen, sich auf das "Einhundsystem" beschränken. Herrchen, Frauchen, Hundchen, punktum. Im Reichstag hat eine Abgeordnete erklärt, die Abnahme der Geburten komme von der Zunahme der Irreligiosität. Mit solchen stehenden Redensarten aus dem altkonservativen Rüstzeug treibt man bestenfalls Vogel-Strauß-Politik. Gewiß, wenn ein Mann wie der Generalmajor a.D. v.Lettow-Vorbeck sieben lebendige Kinder hat, das jüngste noch keine zwei Jahre alt, und glücklich ist, sie zu guten Christenmenchen und braven Deutschen zu erziehen, so ist das ohne tiefinnerliche Religiosität nicht möglich. Aber es ist nicht Irreligiosität, sondern aus der Not geborene Verzweiflung, die heute Zehntausenden von jungen Ehepaaren den Kinderverzicht befiehlt. Vor allem die entsetzliche Wohnungsnot.

In unserer Nähe wohnt in einem Kellerloch ein solches Ehepaar mit der alten Mutter. Die Alte flickt Rohrstühle, hat neulich auch von uns einen bekommen, dessen neuer Sitz fünf Mark kosten sollte. Nachher kommt der junge Mann mit dem Stuhl und sagt, er koste sechs Mark. Wieso denn ? frage ich; es seien doch fünf Mark genannt. Da wird er käsebleich vor Wut und ruft: "Aufhängen möchte man sich!" Na, na. Ich nehme seine Hand in meine beiden Hände, ich gebe ihm eine Zigarre außer den sechs Mark und nötige ihn zum Erzählen, suche ihn nachher auch noch in seiner Behausung auf. Die eine feuchte Wand glitzert von Eis. Die Bettwäsche wird nie trocken. Niemals kommt Sonne oder auch nur richtiges zerstreutes Licht in das Verließ. O mein Gott und Vater! Wer in dieser Umgebung ein Kind in die Welt setzt, der mordet es doch! Wer da Mangel an Religion anführt, der erntet mit Recht Flüche. Die hohe Obrigkeit Neudeutschlands aber, die nichts Wichtigeres zu tun hat, als neue "republikanische" Flaggen für Schulen und Amtsgebäude anzuschaffen und sogar den Schülerruderklubs verbietet, ihre alten Stander zu führen, wenn nur irgendwie die Farbenkombination Schwarzweißrot darin vorkommt, dagegen den Wohnungsbau auf die lange Bank schiebt, wird sich am Jüngsten Tage dafür zu verantworten haben.

Hoffentlich schon früher vor einer weltlichen Instanz. Dafür sind alle paar Jahre die Wahlen da. Aber wir nutzen se nicht aus. Nachher haben wir ein Parlament und aus ihm hervorgegangen eine Regierung, die vor dem Dringendsten versagt. Du beklagst dich ? Ja, hättest du doch vorher bei den Wahlen daran gedacht und deine ganze Umgebung wild gemacht! Ja, hättste . . .
7. März 1929 (Donnerstag)


26

Lampels Helden - Die Millionäre sterben aus - Gegen "Schwarzweißrot", gegen "Kaiserlich" - Von der Muschel bis zum Kubus - Revolutionierende Architektur - Der Untergang des Abendlandes - Kaiser und Kunst - Vom Ausgehen.

Ein recht abgerissener Mensch, man sagt, er sei Stubenmaler, genießt die Gastfreundschaft des Leiters eines Erziehungshauses, füttert sich hoch, hält Augen und Ohren offen, läßt leider auch seine Phantasie arg spielen und schreibt ein Buch über seine Erfahrungen bei den Fürsorgezöglingen. Es ist Sensation, es ist Anklage, was der junge Lampel da zusammengetragen oder sich ausgedacht hat. Das Theaterstück "Revolte im Erziehungshaus" hat ein großes Publikum. Auf der Galerie sitzen Fürsorgejungen aus Lichtenberg, die einen Ausflugsurlaub nach Berlin - so wa gibt es - dazu benutzen, um im Theater sich als Helden vorzukommen. Sie kehren nach Berlin-Lichtenberg heim, machen dort wirklich Revolte und schlagen in ihrer Stube alles, aber auch wirklich alles, kurz und klein. Für den Spaß kommen sie mit einem Verweise weg. Man ist doch modern, nicht wahr, man muß doch psychisch auf die Zöglinge einwirken, nicht wahr ? Risse man ihnen 25 über und ließe man sie den Schaden, den sie an Möbeln und Fenstern angerichtet haben, abarbeiten, so schriebe Herr Lampel am Ende gleich wieder ein neues Buch über die viehische Roheit der Erzieher. Man erteilt also nur einen Verweis und beschlagnahmt den "duften" Jungens die bei ihnen vorgefundene Lektüre: mehrere Lampel-Bücher und einen ganzen Haufen bolschewistisch-kommunistischer Broschüren. Woher er das habe, wird ein Siebzehnjähriger gefragt. "Von meiner Braut!", antwortet er. Für diese Verwahrlosten - es sind junge Zuhälter bis zu 21 Jahren darunter - gibt der Staat, gibt die Gemeinde sich unendliche Mühe, wie überhaupt für die Aufzucht aller Minderwertigen, körperlich oder seelisch Defekten. Derweil können gesundeKinder aus guter Familie zu Hunderten als Werkstudenten verhungern.

Nicht der Aufstieg der Tüchtigen, sondern die Erhaltung der Untüchtigen gilt.

Die große Masse der nicht nur materiell, sondern auch geistig Proletarisierten in Deutschland hat dann die Wenigen zu erhalten, die als "Bonzen" ihre Führung übernehmen und ihrerseits Fettlebe haben. In Berlin gibt es verschiedene rote Politiker, deren Einnahmen - Gehalt und Diäten - den Zinsertrag von einer Million Goldmark ausmachen. Aber durch Sparsamkeit und Fleiß sich aus dem Nichts emporarbeiten und Millionär werden, das geht nicht mehr. Im Jahre 1914 hatten wir 15 547 Millionäre in Deutschland. Heute im Jahre 1929 sind es nur noch 2 335, wie die soeben erschienene Statistik der Veranlagungen zur Vermögenssteuer nachweist. Und, das ist das Wesentliche, es haben sich nicht etwa die mittleren und kleinen Ersparnisse entsprechend gehoben. Das deutsche Gesamtvermögen, die verminderte Kaufkraft des Geldes eingerechnet, beträgt heute nur noch ein Drittel des früheren Betrages. Die allgemeine Verlumpung und Balkanisierung wird sogar zum politischen Programm: die Sozialdemokratie weigert sich, die Kriegsschuldlüge zu bekämpfen, hilft dazu, daß wir in Ewigkeit Straftribute entrichten.

Wenn nur Schwarzweißrot in den Staub getreten wird! Das ist das wichtigste. Die "republikanischen" Motorbootfahrer müssen dauernd mit ihren Farben auf Spree und Havel demonstrieren, obwohl die deutsche Schiffsflagge, auf dem Wasser die einzig sinngemäße, laut Verfassung schwarzweißrot mit schwarzrotgelbem Obereck ist. Aus demselben Grunde die Spaltung bei den Automobilfahrern in "D.A.C." und "A.D.A.C.". Das Ausland schüttelt belustigt oder angeekelt die Köpfe. Nun hofft man, nur um seines Namens willen, auch den "Kaiserlichen Yachtklub" endlich totzukriegen. Seinen Offizieren die Mitgliedschaft in dem Klub zu verbieten, dazu hatte der Reichswehrminister das formelle Recht, denn Angehörige der Wehrmacht sind nun einmal nicht der Freiheit aller übrigen Staatsbürger teilhaftig, dürfen ja auch nicht wählen. Ob es geschickt war und im Interesse - der Republik lag, die Offiziere aus dem ihnen liebgewordenen gänzlich unpolitischen sportlichen Klub zu scheuchen, ist eine andere Frage. Nun folgte aber dem Reichswehrminister das gesamte Preußenkabinett mit einer entsprechenden Verfügung an die Beamtenschaft. Nach zwei Rechtsgutachten, die Professor Rothenbücher-München und Professor Perels-Hamburg erstattet haben, verstößt dieser Druck gegen den Artikel 130 der Reichsverfassung, der den Beamten die Freiheit der Gesinnung und die Koalitionsfreiheit gewährleistet. Man will durch Entziehung der Mitglieder einen privaten Verein zwingen, entweder seinen alten Namen mit dem Beiwort "Kaiserlich" aufzugeben oder sich überhaupt aufzulösen. Perels sagt dazu klar und treffend: "Eine Verfügung des Ministers, die den Austritt aus dem Klub nahelegt, würde der rechtlichen Bedeutung in gleicher Weise entbehren wie etwa die Anordnung, nicht in der Kaiser-Wilhelm-Straße zu wohnen." Warum wird dann der rote Finanzminister Hilferding nicht geächtet, der sich zum Senator eines wissenschaftlichen Institutes hat ernennen lassen, das - Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft heißt ? Es geht aber noch weiter. Schon die werdenden Beamten werden bei ihrer Prüfung auf Herz und Nieren nach etwaiger für die Republik lebensgefährlicher Klubzugehörigkeit untersucht. Ein Referendar steht dieser Tage im Assessorexamen und wird gefragt, ob er Mitglied des Kaiserlichen Yachtklubs sei. Jawohl, das sei er. Nun weiter: ob er in dem Klub zu bleiben gedenke. Und da antwortet er: "Wenn der Herr Ministerialdirektor so fragen, kann ich natürlich nur antworten, daß ich auf Befehl austreten würde." Sind das nun schmachvolle oder nicht vielmehr lächerliche Zustände ? Wenn schon bei dem bloßen Wort "Kaiserlich" eine Angstpsychose die Hüter der Republik erfaßt, kann man sich, namentlich im Auslande, gut vorstellen, wie "gefestigt" die Republik wäre, wenn wirklich einmal ein Kaiser an ihre Pforten pochte.

Diese Frage ist zur Zeit nicht brennend, sagt jeder Vernünftige. Wenn wir überhaupt nicht vorher zerbrechen und schrumpfen, müssen wir einst, wenn Europa wieder einmal explodiert und unser Reich neu erstehen kann, zunächst dafür sorgen, daß es gereinigt und geläutert wird. Heute treibt es ja auf jedem Gebiete dem Bolschewismus entgegen. Die innere Zertrümmerung ist schlimmer als alles, was die Franzosen uns antun können. Auf die bewußte Zerstörungsarbeit in der Kunst - Malerei, Musik, Architektur, Theater - habe ich seit Jahren immer wieder hingewiesen, wie sie besonders von der Zentrale Berlin und von einigen Unruheherden im Reiche aus geübt wird, zum großen Teil von landfremden Leuten. Das, was ich schrieb, beruhte auf Anschauung und Gefühl. In der Reichshauptstadt drängen sich einem ja täglich die Erfahrungen auf. Nun lese ich in der "Deutschen Bauhütte", die der Herausgeber Vincentz in Hannover mir zuschickt, über dasselbe alte Thema Dinge, die nicht nur gefühlt, sondern durchdacht sind, für das eine Gebiet, die Architektur, und kann nur wünschen, daß solche Erkenntnis in Deutschland allgemein wird. Ich bin an der Grenze zwishen Muschelornament und Jugendstil großgeworden und mit der übrigen Menschheit in den Bauhauskubismus hineingewachsen, schaudere vor alledem zurück und rette mich persönlich in dem, was ich alle paar Jahre anschaffe, in das Historische oder in das schlicht Materialschöne. Aber nun erst ist mir klar geworden, wohin die Kubisten zielbewußt streben. Ihr Führer Le Corbusier, der jetzt, da gehört er hin, in Moskau seinen hafen gefunden hat, bekennt:

"Es gibt keine stärkere Macht als die Kunst, um politische Revolutionen vorzubereiten, denn die Kunst ist hypnotischer Natur."

Diesen Satz dürfen wir nie vergessen; er stellt alles in Scheinwerferlicht, was von Piscator bis Gropius geschah. Nicht deshalb scharen sich Sozialisten und Kommunisten um alle Neutöner in Film und Musik und Hausbau und Tanz und Bild und Theater, weil sie "große Kunst"bringen, die wir angeblichen Spießbürger nicht verstehen, sondern weil sie politisch revolutionieren. Das leider staatliche Bauhaus Dessau hat Siedlungen geschaffen, die die Eintönigkeit des "maschinellen Zeitalters" verkörpern, nichts Heimisch-trautes und kein Winkelchen enthalten, aber gerade maschinell versagen: in Frostzeiten haben die Einwohner nicht mehr als 4 Grad Wärme in ihrer Behausung erreichen können. Diese und ähnliche Bauten - ich habe früher Berliner Villen am Fehrbelliner Platz und hinter der Heerstraße sowie die Stuttgarter Siedelung als Beispiel angeführt - verfechten fanatisch eine Idee, nicht aber Wohnlichkeit und Beständigkeit. Ohne jede Rücksicht auf Grundsätze, die jedem Maurermeister klar sind, haben sie Flächen und Ecken, die dem schnellen Verwittern geweiht sind. Man fühlt sich unbehaglich darin. Aber für die Idee wird ein Triumphgeheul angestimmt. Corbusier wünscht den sozialistischen Normalmenschen mit der Normalwohnzelle, mit dem offenen Abort in einer Ecke des Schlafkubus. Verhaßt ist ihm jede Individualisierung, verschwinden müssen Standbilder, Eigenhäuser, ja die Hügel in einer Stadt, auch alles Historische in den "Städten voll ehrwürdigen Aases", verschwinden muß das Kunsthandwerk, verschwinden muß jeder Unterschied, - auch in Sprache, Glauben, Nation. Einen Aufruf schließt der Apostel Le Corbusier mit den Worten: "Scheiße auf Goethe, auf Beethoven, auf Fichte!" Da haben wir endlich das offene Bekenntnis. Gut aber ist Nacktkultur, Sprechchor, Negerplastik, Masse Mensch. Das also ist es, was vielfach auch hinter der sogenannten neuen Sachlichkeit jeglicher Kunst von heute steckt: die Kulturzertrümmerung, der reine Nihilismus, das Tatarentum. Unsere zeitgenössische Kunstkritik aber spielt bewußt oder unbewußt den Helfer, indem sie auf jeden neuen Ismus hereinfällt und uns Impressionisten, Expressionisten, Kubisten, Dadaisten, Futuristen, Supremisten, Primitivisten als Offenbarer anpreist. Immer wieder erliegen wir dieser fortgesetzten Hypnose. "Die Kunst ist hypnotischer Natur", sagt Le Corbusier; und sie habe die politische Revolution vorzubereiten.

Solange wir uns dagegen nicht ermannen, geht es in immer schnellerem Gleiten abwärts. Das Ende ist der Moskauer Menschenstall mit seinen egalisierten Menschenherden, die verlumpt, verschmutzt, halbverhungert unter der Peitsche harter Treiber, die für sich selber jeden Genuß vorbehalten, einherwanken. Das reichste Agrarland der Welt hat nicht genug Nahrung, die riesigste Staatenfläche der Welt nicht genug Wohnraum. Alles wird in zerfallende Verließe gepfercht und schuftet für die Idee, für die allgemeine Revolution, und kann nur so lange leben, als neue Staaten, neue Massen in den Strudel mit hineingezogen werden und altes Kulturerbe dafür hergeben. Das ist der wahre "Untergang des Abendlandes", dem wir zusteuern. Auch bei uns wird er staatlich gefördert; die ganze sogenannte Krise unseres Parlamentarismus ist weiter nichts als eine Äußerung solcher Zustände, ist das Gehen- und Geschehenlassen durch die ewig Unzulänglichen in der Stunde äußerster Gefahr, die nur ein Mensch von Riesenmaß noch bannen könnte.

"Den Teufel merkt das Völkchen nie", sagt mit tiefer Genugtuung Mephisto. Dabei hat es unserem Volke an klarsehenden oder klarfühlenden Einzelnen nie gefehlt. Vielleicht erkennt es allmählich auch, wie sehr Recht der Kaiser hatte, als er einmal die "Rinnsteinkunst" verdammte. Auf dieses Wort stürzten sich damals die Hysterischen, die auch heute bei keiner Protestversammlung gegen die Zensur fehlen, und bespieen es von allen Seiten. Gewiß, Wilhelm II. war nicht zünftig. Nach schmerzvoller, glückloser Kindheit unter dem harten Zuchtmeister Hintzpeter erzogen, ohne Mutterliebe aufgewachsen, immer nur gedrillt, auf das "Offizielle" hin, dann blutjung zur Regierung gekommen, sozusagen im Stahlkorsett: solch einem Manne erschien freilich auch Kitsch als Kunst, - Straußfedern, sieben Roßschweife, Tschingtara. So richtig Mensch sein, ohne jegliche Maskerade, darf er doch eigentlich erst jetzt, wo er an der Seite einer verständnisvollen Frau tagein tagaus liest und studiert und auch das Allermodernste in Kunst und Literatur mit Unbefangenheit prüft. Da ist sein Urteil abgeklärt und vielfach milder geworden. Aber das, was er einst intuitiv erfaßt hat, das findet er auch jetzt wieder bestätigt; die "Rinnsteinkunst" führt uns nicht in die Höhe, sondern in die Gosse.

Nur die große Masse trottet nach wie vor gedankenlos einher. Was schiert sie das alles ? Wenn nur jeder Tag seine Sensation hat. Weiß man noch heute, was vorgestern in Paris beschlossen wurde ? Aber Maria Orska tritt wieder auf! Und am Zoo wird ein neues Haus mit dem greulichen Namen "Gourmenia" eröffnet, auf daß jeder der dort Schmatzenden sich einen Gourmand dünke. Ob ich schon dagewesen sei, werde ich gestern auf einer Gesellschaft gefragt. Nein, ich bin kein Premièrenjäger; ich gehe nur aus, wenn ich den Berliner Kulturpegel an irgendeiner markanten Stelle messen muß. "Überhaupt das Ausgehen, nicht wahr", sagt mir leise ein älterer Herr, "dieses Ausgehen mit leidvoller Zustimmung der Frau! Sagt sie: Also amüsier' Dich gut, lieber Mann! Und meint dabei: Lauf nur in Dein Unglück, alter Esel!"
14. März 1929 (Donnerstag)


27

Keine Astlochgucker mehr - Auf der Modellbörse - Germania und Berolina - Aus Cilly Feindts Briefwechsel - Vom Begrabenwerden - Küsse Ihre Hand, Madam . . .

Wir sind nüchterner geworden, das steht fest. Seit Jahren gelten nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt, das prüde Spanien und sogar die Peterskirche in Rom eingeschlossen, Beine nicht mehr als unsittlich. Ebenso sieht man Aktbilder in ungezählten Schaufenstern der Großstadt und an jedem Zeitschriftenstand, lebende Akte in Revuetheatern und Kabaretts, kurz, alles das hat nicht mehr den Reiz des Verbotenen. Der gemeinsame Sport in luftigster, knapper Gewandung tut ein übriges. Wer in der Hochschule für Leibesübungen auf dem Rasen die jungen Mädchen in Sporthemdchen und Badehose sich tummeln sieht, der denkt nicht mehr daran, sich als Astlochgucker an den Bretterzaun einer Badeanstalt hinzustellen. In den offenen Freibädern bewegen sich ja ebenfalls beide Geschlechter natürlich und ungezwungen durcheinander. Damit ist Gott sei Dank - auf diesem Gebiete bin ich durchaus Lobredner der "neuen" Zeit - vieles früher Schwüle beseitigt, allerdings auch manches Romantische.

Im ganzen halte ich es für eine Gesundung. In der Zeit unserer Väter durften nicht einmal im Schülersaal der Berliner Malakademie weibliche Akte gezeichnet werden. Nur der entblößte Männerkörper mit seinen Muskeln war erlaubtes Studienobjekt, und da rebellierten natürlich die Maljünglinge; das ganze Künstlervölkchen kam wegen der beengenden Vorschriften in Opposition zum Staat. Heute sitzen in jeder Kunstschule Zöglinge beider Geschlechter bald vor einem männlichen, bald vor einem weiblichen Modell, und der Lerneifer vor dem höchsten Schöpferwerk, dem Menschen, "so wie ihn Gott geschaffen hat", läßt gar keinen anderen Gedanken zu. Es war schon ein fabelhafter Fortschritt, als in der "alten" Zeit dann gestattet wurde, in der Akademie weibliche Halbakte zu malen und zu zeichnen, also den entblößten Oberkörper. Dazu gab es die Berufsmodelle, die für das "Stehen" bezahlt wurden und es mit diesem Berufe durchaus ernst nahmen. Mochte das eine oder andere Modell auch die Geliebte eines Künstlers sein, - das berufliche Modellstehen hatte nichts Lüsternes. Aber manchmal Amüsantes. Damals hatten die Damen kein Stadtköfferchen, keinen beauty safe, sondern nur Unterrocktaschen und - die Tournure, den Cul de Paris, das ausgestopfte Hinterkastell. Und wenn da ein Modell sich zum Halbakt zurechtmachte, den Oberkörper freimachte und auch den schweren langen Rock ablegte, wurde allerhand aus der Tournure ausgepackt: Kamm und Bürste, Brennschere und Spirituslampe, Butterbrot und Äpfel. Aber mit einem anderen damaligen Bekleidungsstück, dem Korsett, fiel oft auch jede vorherige Illusion.

Die Berliner Modellbörsen von heute - für Malerei, Bildhauerei, Film - sind sehr sachlich, gar nicht mehr von Romantik umwittert. Es gibt da freilich immer noch die "Charaktertypen" von ehedem, wenn auch die charakteristischsten angeblich ausgestorben sind. So der olle ehrliche Seemann mit grauhaariger Schifferkrause ums Kinn und im Südwester, der früher in der Friedrichstraße stand und sich auch das Photographiertwerden so bezahlen ließ wie der allen Capri-Besuchern bekannte alte Fischer in rotem Hemd. Manches Berliner Kunstwerk ist nach Personen geschaffen, die nicht Berufsmodell waren. Der Neptunsbrunnen auf dem Schloßplatz ist von vier weiblichen Gestalten umgeben, "der Allegorie dringend verdächtigen Frauenzimmern", wie Fürst Bismarck zu sagen pflegte; sie sollen unsere vier größten Ströme versinnbildlichen. Soie alle gleichen einander in Gesicht und Gestalt. Sie alle sind - Frau Grete Begas, die Gattin des berühmten Bildhauers Reinhold Begas, in deren Heim in der Stülerstraße ich als blutjunger Mensch zu Gast gewesen bin. Eine andere noch lebende Dame, die große ehemalige Heroine des Königlichen Schauspielhauses, Frau v.Strantz-Führing, soll - sie selber leugnet es schwach ab - das Urbild unserer früheren Germania-Briefmarken gewesen sein. Jedenfalls war sie bei der Zentenarfeier 1900 die Germania, die auf dem Königsplatz den Siegeswagen im Festzuge betrat und so durchs Brandenburger Tor bis zum Schlosse fuhr. Die Menge war über dieses Schaustück begeistert; der Kaiser schenkte der Künstlerin zum Entgelt ein Brillantenarmband mit dem Reichsadler darauf. Der Operndirektor v.Strantz, eine im damaligen Berlin stadtbekannte Erscheinung, hatte Anna Führing im Hause ihrer Eltern, in dem er verkehrte, kennengelernt, die begabte Siebzehnjährige für das Schauspiel ausgebildet und später geheiratet. Ich war noch ein kleiner Bub, da sah ich Anna Führing in einem klassischen Stück, und - andere Buben aus jenen Jahren werden mich verstehen - war so hingerissen, daß ich beschloß, alsbald ein besserer Mensch zu werden; denn sonst sei ich nicht wert, Zeitgenosse dieses Idealwesens zu sein. Ein anderes "Modell" lebt noch unter uns, nach dem einst die riesige Berolina mit der Mauerkrone geschaffen worden ist, die bis vor kurzem den Alexanderplatz schmückte, jetzt als Verkehrshindernis entfernt ist und noch keine neue Bleibe gefunden hat. Solcher Denkmäler (damals war vollschlank Mode, mehr voll als schlank) sind wir heute überdrüssig, wir mögen die Kraftweiber nicht mehr, und wenn das Urbild der Berolina sich heute, schon jenseits des gefährlichen Alters, vor mir dreht und wendet und sagt: "Es ist noch alles da!", so kann ich nur wehmütig lächeln. Diese Dame, die munter berlinert, entstammt nicht der sogenannten Gesellschaft. Sie lebt heute vom Zimmervermieten und Augenzudrücken.

Kleine Erinnerungen aus alter Zeit geben manche Menshen nur höchst ungern wieder, weil man ihnen dann nämlich nachrechnen kann, wie alt sie selber sind. Lieber als die Erinnerung an die gewesene ist mir daher auch die Berührung mit der kommenden Generation. So ein apfelfrisches junges Mädchen, mit lang flatterndem Goldhaar, sah ich vor einigen Jahren als Reiterin auf einem Wohltätigkeitsfest draußen im Grunewald und erzählte davon. Es war die damals "kleine" Cilly Feindt, die auf dem Spezialgebiet jeglichen Sports inzwischen zur Filmdiva geworden ist. Nun habe ich auch ihre Mutter, die stattliche und schöne, die ihr Kind so weit gebracht hat, kennen gelernt. Die Feindts sind eine alte, gut deutsche Familien aus Mecklenburg; Frau Feindt aber hat ihren Unternehmungsgeist wohl mit der Hamburger Seeluft eingesogen. Ich bin mit einer ganz sonderbaren Bitte zu ihr gekommen. Einer Bitte ? Schon zückt sie - denn nur das könnte es doch sein - ein Bild ihrer Tochter, ein ganz entzückendes als junge Königin Luise, und Cilly setzt sich gehorsam hin, um - das hat sie ja schon tausendfach getan - eine belanglose Widmung darauf zu schreiben. Ach nein. Deswegen bin ich nicht gekommen. Es handelt sich um etwas wirklich ganz ausgefallenes: ich möchte mal in den sicher zahlreichen - Liebesbriefen kramen, die solch eine neunzehnjährige Filmdiva bekommt. Ihr Briefwechsel überhaupt, der mit Hilfe des Sekretariats erledigt wird, steht in acht gefüllten Leitz-Ordnern da. Nein, auch das meine ich nicht. Und da wird denn eine kleine alte Plüschtruhe ans Tageslicht gefördert, und die ist gestopft voll von dem Material, das ich suche. Zuerst denke ich: "Arme kleine Diva!" Wird nicht alles Jungmädchenhafte von einem abgestreift, wenn man so viele Briefe von verdrehten Mannsbildern bekommt ? Aber beim Kramen nachher sehe ich, daß erstens glühendste Briefe meist auch von jungen Mädchen stammen. Daß zweitens die von Männern meist unorthographisch sind, also aus einer Schicht kommen, die aus Kolportageromanen und Kitschfilmen sich ein ganz falsches Weltbild gezimmert hat. Und daß drittens diese Briefschreiber im Durchschnitt etwa - in Cillys Alter stehen mögen, nur beruflich noch nicht so fest auf eigenen Beinen wie sie, vielmehr noch ganz in Schwärmerei und Luftschlössern. Ich habe die Plüschtruhe wieder sachte zugemacht. Nur aus einem einzigen heißen Jungensbriefe möchte ich hier, weil sie so charakteristisch für - das ist er offenbar - den Obersekundaner ist, eine Stelle anführen. Cilly sei schuld daran, daß er sich in sie verliebt habe. Er habe einmal "aus reiner Lebensfreude" im Tiergarten in der Nähe eines Reitweges eine Patrone abgefeuert und da habe sie ihr Pferd mit einem Satz gewendet und ihn angesehen, so angesehen, o, o, daß er bei seiner Phantasie sich sofort "in höheren Regionen" befunden habe.

"Was nutzte es da, wenn ich mir später, als ich wieder einige Reiterstückchen von Ihnen zu sehen bekam, einredete, das alles habe weiter nichts zu sagen. Ein Blick, den ich später schließlich noch auffing, machte mein verwirrtes Gehirn noch verwirrter. Ich war, wie es heißt, rettunmgslos verloren. Da Sie aber nicht das geringste Recht haben, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen und mich womöglich noch bei Vergleichung verschiedener Verhältnisse unzufrieden zu machen, ersuche ich Sie ganz höflich aber dringend, dahin zu wirken, daß ich mich sozusagen wieder entliebe. Zwar wird es schwer für mich sein, denn schon seit Jahren verzehre ich mich daran, - aber wer will, der kann. Darum seien sie so gütig, mich darin zu unterstützen; Sie brauchen ja nur dahin zu wirken, daß ich Sie allmählich verachten lerne."

Du lieber, guter, dummer Junge, du! Zwei Folioseiten hast du eng bekritzelt; und nur neun allerdings sehr freundlich-nachsichtige Zeilen in Maschinenschrift dafür als Antwort bekommen. Aber wenigsten mit "ihrem" Namenszug darunter! Hast du den schon oft geküßt ? "Verachtest" du jetzt die Cilly ? Ach, ich glaube, du schämst dich etwas deines eigenen Briefes und möchtest um alles in der Welt nicht, daß Lilo, deine neueste Tanzstundenliebe, jemals davon erführe. Hast inzwischen vielleicht gehört, daß zu Cilly Feindts Filmpremière "Die Zirkusprinzessin" in München der ganze Hof erschien, daß der Dr. Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern nachher sie und ihre Mutter zum Nachmittagstee in sein Schloß lud, ihr über den Scheitel strich und "Du" zu der damals etwas über Sechzehnjährigen sagte. Ja, die böse "Konkurrenz", von der du einmal schreibst, hat eben noch allerlei vor die armen Obersekundanerlein voraus. Aber sei ruhig: einen wirklichen Konkurrenten hast du noch gar nicht! Die Cilly ist vorläufig nur in Sport und Film verliebt; und in ihre Tiere: den Hengst Netsor, den weißen ungarischen Steppenhund, den englischen Mops und das Rhesusäffchen. Hüte dich vor diesen Tieren! Sie alle beißen und schlagen sofort, wenn jemand der Cilly was tun will; und irgendeines der Tiere hat sie immer bei sich, auch wenn sie am Steuer ihres Autos sitzt und allein herumsaust. Sei froh, daß sie nicht mehr bei den Elefanten ist! Sie brauchte sie von Hagenbeck zu einem Film und hat zu diesem Zweck wochenlang "Dompteuse gelernt". Als die sieben Elefanten zum erstenmal das junge Mädel unerwartet bei sich sahen, fingen sie alle an laut zu trompeten und schlugen sich mit ihren Hängeohren vor Erregung; ein paar Wochen später aber wären sie für Cilly schon durchs Feuer gegangen. Siehst du, sie hat viele Freunde. Auch der Prinz Friedrich Sigismund von Preußen, der sie von einem Reitturnier her kannte, gehörte dazu. Aber glaube nur nicht, lieber Junge, daß dieses Leben nun eitel Glanz ist; es ist gutes deutsches Familienleben bei Vater und Mutter und den beiden jüngeren Brüdern, im übrigen aber: Arbeit, Arbeit, Arbeit! Und das schon vom 11. Lebensjahr an in zielbewußter Führung. Allerdings Arbeit mit vollem Erfolg in bereits fünf Feindt-Filmen. Der Vater gehört ja zu den ältesten Filmleuten Deutschlands, der schon 1902, als es noch gar keine stehenden Filmtheater, sondern nur erst Wanderkinos gab, mit einem der ersten, seinem eigenen, ganz Deutschland bereiste. Sein Unternehmen ist noch heute das gewiß einzige reindeutsche. Und hat es wohl auch darum nicht immer leicht, für seine erfolgreichen Filmideen mit dem Töchterchen Star das nötige sich gut rentierende Geld aufzubringen. Weißt du, wir Deutschen kriegen ja so etwas überhaupt schwer zustande; und rundum, du verstehst mich, warten schon immer die Aasgeier, die satt werden möchten ohne Arbeit. Aber wenn du erst deine Reifeprüfung hinter dir hast, könntest du dich als angehender Propagandachef beim Feindt-Film anbieten; dein Stil ist ja gut und überzeugend.

Wenn man ein Stündchen so in der bunten Welt des Films verbracht hat, findet man sich draußen in dem Verkehrsgetöse Belleallianceplatz Ecke Wilhelmstraße, wo Feindts wohnen, nicht gleich zurecht. Hier ist keine Märchenwelt mehr. Hier ist modernstes Geschiebe. Und da versteht man es, wenn entsetzte Besucher erklären: "In Berlin möchte ich nicht mal begraben sein!" Mir persönlich ist das gleichgültig. Aber die Hinterbliebenen in Großberlin merken dann, daß die Stadt es "von den Lebendigen nimmt". Vor vier Jahren starb im Vorort Zehlendorf-Mitte ein dorthin verzogener pensionierter Beamter und wurde daselbst begraben. Eine Woche nach der Beerdigung kam die Rechnung vom Gemeindevorstand. Darin 4 Mark für Brennen der Lichte in der Friedhofskapelle. Die Witwe zog in eine kleinere Wohnung. Inzwischen ist Zehlendorf in Großberlin eingemeindet worden. Zu den "letzten" Wünschen der Witwe gehörte es, nach alter Sitte, wenn sie einst stürbe, im Sterbezimmer bis zur Beerdigung aufgebahrt und nicht nach Großstadtbrauch sofort in die Leichenhalle übergeführt zu werden. Die Trauerfeier sollte in der Kirche, nicht in der Friedhofskapelle stattfinden. Daraufhin präsentiert nun das Bestattungsamt Berlin-Zehlendorf eine Rechnung mit dem Vermerk "Zu zahlen vor der Ausführung!" und verlangt, obwohl die Friedhofskapelle überhaupt nicht in Anspruch genommen wird, - 68 Mark für Ausschmückung und Erleuchtung der Kapelle. In einer Beschwerde fragen die Betroffenen, ob diese - und zwar immensen - Gebühren auch von Kommunisten erhoben werden, die die Kapelle meiden und mit dreifachem Rotfront in die Grube fahren wollen. Die Antwort: Nein, denn da handele es sich um arme Proletarier; aber wenn eine Trauerfeier in der Kirche veranstaltet werde, so habe man es mit einer Luxus-Beerdigung zu tun, und dafür gälten erhöhte Sätze auch bei Nichtbenutzung der städtischen Friedhofskapelle. Es dauerte lange, bis die Familie, die ihr kleines Vermögen in der Inflationszeit völlig verloren hat, es erreichte, daß der Betrag niedergeschlagen wurde; sie mußte sich erst auf Reichsverfassung und weiß Gott noch was berufen. Die Rechnung von 68 statt 4 Mark, dazu noch im voraus zu bezahlen und ohne Leistung dafür, ist eine Spekulation auf die Dummheit der Bürger. "Du bist verrückt, mein Kind, Du mußt nach Berlin!", hieß es in einem alten Gassenhauer. Die Leute wußten offenbar Bescheid.

Aber, wie gesagt, ich leugne durchaus nicht, daß wir auf verschiedenen Gebieten auch Fortschritte machen. Besonders in der Egalisierung. Während zu Goethes Zeiten das liebe Gretchen bloß "Demoiselle" genannt werden durfte und den Titel "Fräulein", der nur adeligen Personen zukam, daher ablehnte, ist heute jedermann "gnädiges Fräuelein". Und will es schon wieder nicht mehr sein: "Frau" soll man sagen. Bei den Oberinnen von Damenstiften war das ja schon früher Mode. Ich kenne heute noch ein Fräulein Doktor, das nur so, Fräulein Doktor, genannt werden will, damit jeder gleich weiß, daß sie den Titel selbst erworben, nicht als Frau Doktor von einem Manne hat. Andere aber, nicht nur die Parlamentsdamen, für die die "Frau" offiziell gemacht ist, bestehen hartnäckig auf der Löschung des Fräuleins. Das widerspricht eigentlich dem Emanzipationsgedanken. Einerlei: von mir aus mögen sich die Damen nennen, wie sie wollen; wenn sie nett sind, sind sie mir so und so lieb. Ich mache auch beim Handkuß, dem überkommenen, keinen Unterschied. In einer kleinen Gesellschaft küßt aber neulich ein Herr zwar der Frau des Hauses die Hand, nicht aber ihrer unverheirateten alten Schwester.

Sagt darauf diese: "Wenn ich unverheiratet geblieben bin, so heißt das doch nur, daß ich nicht den ersten Besten genommen habe!"

Worauf jene losfährt: "Glaubst du etwa, daß mein Mann für mich nur der erste Beste war ?"

Ich küsse Ihre Hand, Madam . . .
21. März 1929 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts