"Rumpelstilzchen"

Ja, hätt'ste . . .
(Jahrgangsband 1928/29)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1929

Glossen 22 - 24
14. bis 25. Februar 1929


22

Etwas Meteorologie - Die Mode auf den Kostümbällen - Mit dem "Wintermärchen III" durchs Spree-Eis - Unser junger Arbeitsloser - Circolo Italiano.

Das war wohl am Freitag vor 8 Tagen, da sollte es, wie der amtliche Wetterdienst prophezeite, Tauwetter geben. Es waren aber 18 Grad Kälte; und in den nächsten Tagen sank das Quecksilber noch mehr. Da spottet man natürlich über die Weisheit unserer Wetterkundigen und erinnert sich des Bibelwortes, daß der Mensch nicht weiß, von wannen der Wind kommt und wohin er geht. Ich habe selbst einmal - während eines längeren Kommandos zur Militärtechnischen Akademie - Meteorologie treiben müssen und weiß, wie leicht diese Wissenschaft mit ihren Voraussagungen an unvermuteten Plötzlichkeiten scheitern kann. Und doch haben ihre Prophezeiungen schon den Verlust manchen Menschenlebens im Hochgebirge oder auf See verhütet und vor allem der Landwirtschaft, die sie regelmäßig bezieht, ungezählte Millionen Mark gerettet. Noch stößt sich diese Wissenschaft freilich immer wieder an ihren Grenzen und bekennt mit der Demut der echten Gelehrsamkeit, daß sie einigermaßen sicher nur 24 Stunden überschauen kann, - das Tauwetter für den Freitag vor acht Tagen hatte sie freventlich nämlich schon am Mittwoch konstruiert. Es ist blöde, den sogenannten hundertjährigen Kalender zu befragen und darnach für Monate im voraus einen warmen oder kühlen Sommer zu erwarten. Es ist ebenso blöde, denn die Statistik jedes Jahres straft uns da Lügen, mit dem Mondwechsel einen Witterungswechsel zu verknüpfen. Und es ist der Gipfel der Blödheit, wenn es Leute gibt, die aus Sternenkonstellationen sogar einzelne Menschenschicksale auf Jahrzehnte hinaus bestimmen wollen.

Diesmal schreibt der Volksmund die wochenlange bitterliche Kälte einer angeblichen Verlagerung und Ablenkung des Golfstromes zu; das ist auch so eine törichte alte Sage. Dabei hat es am Nordkap 4 Grad Wärme gegeben und sogar auf Spitzbergen Frühlingsregen, während wir auf dem Riesengebirge 39 Grad unter Null hatten und sogar das Goldene Horn bei Konstantinopel gefroren war. Und in Berlin etwas nie Dagewesenes: die Eisbahnen - wegen Kälte geschlossen! Es lohnt für die Pächter nicht, ihr Personal zu besolden, wenn die Schuljugend zwar "kältefrei hat", aber lieber zu Hause Bratäpfel ißt, statt sich Ohren und Zehen auf der Eisbahn zu erfrieren. Selbst die Stammtische veröden ja, weil die Trinkbrüder den Weg zur Kneipe scheuen. Nur die Kostümbälle während der Kanrnevalszeit sind auch in Berlin so voll wie nur je und das Publikum dort so ausgezogen wie nur je. Ein oberflächlicher Beurteiler könnte meinen, daß der Hang zur maskulinen Pose in unserer Damenwelt immer noch zunimmt, denn von zehn vermummten Damen hat heute höchstens nur noch eine ein Röckchen an, die übrigen aber erscheinen in Hose. Der Trumpf ist - die Einbeinhose. Das andere Bein ist nackt. Unsere Damen können anscheinen immer noch nicht begreifen, daß das Geahnte mehr ist als das Offenbarte; und daß der Schönheitssucher in dem Moment ernüchtert ist, in dem der Anatom sein Studienmaterial vor sich sieht. Im übrigen gilt für Berlin dasselbe, was für Köln und Umgegend soeben festgestellt worden ist: daß der Fastnachtstrubel unter der Parole "Billig mit Selterwasser" stand. Der Weinverbrauch auf allen diesen Festen nimmt von Jahr zu Jahr ab, die Kellner machen lange Gesichter und die Wirte erkundigen sich nach den Paragraphen über Geschäftsaufsicht. Daß in der Reichshauptstadt im Jahre 1928 nahezu die Hälfte aller "Lokale" den Besitzer gewechselt hat, das spricht beredter über notgedrungene deutsche Enthaltsamkeit, als ein bogenlanger Parker-Gilbert-Bericht uns das Gegenteil glaubhaft machen kann.

Es gibt ja auch billige Vergnügungen für den Mittelstand. Dazu gehören seit altersher die sonntäglichen Dampferfahrten auf der Oberspree bis zum Müggelsee mitten in klirrendem Frost. Allein an der Jannowitzbrücke nehmen drei Dampfer namens "Wintermärchen" je 365 Passagiere an Bord, anderswo laden andere Schiffe weitere Menschenfracht, alle sind gut geheizt, alle haben Musik, und die 2 Stunden Fahrt hin und ebensoviele zurück kosten zusammen nur 1½ Mark, man sitzt eng und behaglich mit guter Aussicht durch große Fenster, von denen man mit Zuckerstückchen den Eisbelag abschabt, und man bekommt für 35 Pfennig brühheißen Kaffee, der einen Vorzug hat, nämlich den, keine Zichorie zu enthalten, und einen Nachteil, nämlich den, auch keine Bohnen zu haben, und ein Geheimnis, nämlich das, wie er trotzdem braun geworden ist. Es gibt auch allerlei Alkohol und was man sonst mag; für Leute mit Zahnweh oder Kopfschmerzen hat der Buffetier sogar Veramon-Tabletten vorrätig. Achtern in unserer Oberkajüte an Bord von "Wintermärchen III" hat ein Dutzend junger Leute von einem angeblichen Sportklub Platz genommen, bimmelt mit einer Kuhglocke und bestellt Bier. Als es da ist, erhebt sich der Obmann, begrüßt "alle Harmlosen, alle Arglosen, alle Erwerbslosen", fordert auf, in die Tagesordnung einzutreten, nämlich das Saufen, und kommandiert eine Art von Salamander mit den Worten: "Jungs, faßt an! Jungs, stoht up! Jungs, setzt an! Jungs, trinkt half! Jungs, setzt ju!", aber im ganzen vertilgen diese Kumpane während der zwei Stunden nur zwei kleine Glas Bier pro Mann. Wir beide, mein Schwager, der zwei Tage später wieder nach Amerika heimgefahren ist und diese Dampferfahrt als "Vorübung" bezeichnet, und ich, haben im letzten Augenblick, während etwa 80 Personen zurückbleiben müssen, noch Platz auf dem letzten Dampfer bekommen und werden an einem Tisch mit drei Herren und drei Damen, guter Berliner Mittelstand, Prokuristen und so, zwischen ein Paar eingeschoben. Es täte uns leid, daß wir die Herrschaften auseinanderbrächten, sage ich. "Och, nee, wir sind ja alle Tage zusammen, wir sind ja verheiratet!", erhalte ich zur Antwort. Man plaudert, man lacht und man genießt die Aussicht. Der Dampfer bahnt sich erzitternd und knirschend den Weg durch das Eis, das trotz der 20 Grad Kälte in der Sonne dampft, die Schollen bäumen sich und krachen zur Seite, wenige Schritte abseits aber wandern Leute zu Fuß auf Spree und Dahme, spielen ein paar Unentwegte Hockey, lassen ein paar eingefrorene Enten sich von Barmherzigen loseisen, sausen Skiläufer vom Ufer herunter. Am Endpunkt, am Müggelsee, sieht man Eisjachten über die weite Fläche flitzen. In knackendem Frost hasten wir unten durch den Spreetunnel hinüber nach Friedrichshagen und nach einer kleinen Uferwanderung ins "Bellevue" mit seinen im Sommer so schönen Terrassen, heute aber in den gutgewärmten blauen Saal, der ein leuchtendes Parkett aus 100 großen mit Zentifolien bemalten Glasfliesen hat. Die Damen haben da alle so nette rosige Kniekehlen. An eine der Töchter des Landes, aus Friedrichshagen oder Erkner oder Köpenick, gehe ich heran und mache meine Verbeugung. "Ja könnse überhaupt tanzen ?", fragt sie zweifelnd. Das ist denn doch noch nicht dagewesen. "Na, einen Boston oder Slow Fox wird man als Berliner doch noch schaffen können!", erwidere ich empört. "Sagen Sie man nich", flötet sie, "neulich bin ich mit einem Herrn auf dem Glase lang hingeschlagen!" Da habe ich so lachen müssen, daß wir alsbald gute Freunde waren. Es fanden sich auch noch verschiedene Freundinnen dazu. Man schwatzte, war fröhlich und tat so, als sei man auf einem Sommerausflug "in der Provinz", dann ließ man den Dampfer Dampfer sein und ging abends über knarrenden, frostharten Schnee zur elektrisierten Vortortbahn, die einen in 40 Minuten wieder bequem bis Berlin Friedrichstraße schaffte.

Während der ganzen Partie habe ich nur gut angezogene Leute gesehen. Seit etwa acht Jahren gibt der Deutsche ja mehr auf seine Fassade als auf seine Ernährung und erweckt dadurch den Eindruck der Wohlhabenheit. Und während der ganzen Partie habe ich nur harmlose Vergnügtheit von Menschen beiderlei Geschlechts erlebt, die in der Woche hart arbeiten, mitunter bis in die Nächte hinein arbeiten. Man mag Auswüchse des Vergnügungsbetriebes brandmarken, man muß es tun, aber in der nie verachteten Arbeit liegt trortz aller Revolution des Berliners neue Sittlichkeit.

Wenn nur jedermann Arbeit und Nahrung fände; aber das ist es ja eben. "Gedenket der hungrigen und frierenden Vögel!", predigen die Zeitungen, und wir lesen "erschüttert", daß in einzelnen Gegenden in diesem Winter die Hälfte des Wildbestandes eingegangen ist. Doch wer spricht von den Menschen ? Das Stübchen unseres Jüngsten ist eben frei, da hat sich nun ein junger Mann von 23 Jahren als unser Gast installiert, den wir zufällig aufgegabelt haben, als er aus seiner letzten Bleibe hinaus in den Frost sollte, heimatlos und obdachlos. Der Vater ist stellenloser Oberförster und nassauert sich auf der Suche nach Arbeit durch die Welt, die Mutter ernährt sich und das jüngste Kind als Klavierspielerin im Auslande in einem Provinzkino. Von den Brüdern des Vaters war einer Oberst, einer Arzt, einer Admiral, Geld hat niemand der Hinterbliebenen mehr. Unser neuer junger Freund, den wir etwa einen Monat lang hochfüttern und dann in eine Stellung nach Südamerika bringen wollen, hat es bis zur Prima im Gymnasium gebracht und ist nachher einige Jahre als Leichtmatrose zur See gefahren. Auf einem Segler hat er im Sturm vor Malmö sein bißchen Habe über Bord gehen sehen, hat sich dann nach Deutschland durchgeschlagen und keine neue Anmusterung gefunden. Mit dem letzten Gelde in die Nähe von Breslau, wo ein Bekannter ihm Arbeit zugesagt hat. Der junge Mann kommt an, findet den Bekannten, bewußtlos nach schwerer Operation und vernehmungsunfähig, dort vor, muß ohne Arbeit zurück, hat aber kein Geld mehr, - wandert also in eisigem Winter zu Fuß von Breslau bis Berlin! Hier findet er ein paar Tage Beschäftigung als Schlackenschipper bei der Untergrundbahn. Ob er organisiert sei, fragen ihn die anderen Arbeiter, die Roten. Nein ? Dann also die Faust vor die Nase: Hinaus! Und irgendeine Unterstützung bekommt er nicht, denn er ist ein Auslandsdeutscher, der zu seinem Leidwesen nicht die deutsche Reichsangehörigkeit besitzt.

Da stehen andere Völker ihren Blutgenossen viel besser bei. Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel, selbst wenn daheim das Volk so in zwei Lager zerrissen ist wie heute in Italien. In den Circolo Italiano in Berlin gehe ich hin und wieder gern und sehe mir dort aufseufzend das Schulzimmer an, in dem unter den Bildern des Königs und Mussolinis sämtliche Kinder der Berliner italienischen Kolonie unterrichtet werden, ohne daß wir anständigen Deutschen ihnen irgend etwas in den Weg legen, während unsere deutschen Schulen im Auslande überall zerstört werden. Die Hauptsache in dem Circolo, der einst durch einen eigenen Palazzo, eine Casa degli Italiani, ersetzt werden soll, sind natürlich die Gesellschaftsräume. Da wird gegessen, getrunken, getanzt, geflirtet. Eine entzückende junge Florentinerin sieht aus wie ein Bild von Tizians Meisterhand. Aber die Miete für den Circolo, 2 500 Mark im Monat, ist teuer, das bringen die Beiträge der meist kleinen Geschäftsleute nicht auf. Als Maecen sprang da bisher ein mit Marcella Albani eng liierter angeblicher Filmregisseur ein. Nun ist die göttliche Marcella aber vor einigen Wochen einem neuen Zuge ihres Herzens gefolgt und mit dem Manne ihrer Wahl nach Paris durchgegangen; und über dem Circolo Italiano zirkuliert der Berliner Pleitegeier.
14. Februar 1929 (Donnerstag)


23

Preußenfest nach Aschermittwoch - Keine Kohlenabfuhr - Vom Schustern - Kleben oder Sparen ? - Sieg im Wasserballspiel - Sportförderer - Der Läufer August Wilhelm.

Aschermittwoch liegt nun schon weit hinter uns. Vor Jahr und Tag erklärte das Reichskabinett, das ewige Festefeiern sei ein Skandal und entspreche nicht unserer wirtschaftlichen und politischen Lage. Vom Aschermittwoch an werde kein Mitglied der Regierung sich mehr daran beteiligen.

Trotzdem haben der Reichsminister Severing und andere neudeutsche Regierungsgrößen sich vorgestern an dem fidelen Empfangsabend der Preußenregierung bei Kroll beteiligt. Es war fein. Ein prima primissima kaltes Buffet an großen Tischen im Hauptsaal, um das anderthalb Tausend Besucher sich drängten, dazu vielerlei Gutes zum Trinken. Von der Aufwandsentschädigung, 8 000 bis 12 000 Mark jährlich, die die preußischen Minister neben ihrem hohen Gehalt zur Bestreitung von Festessen beziehen, brauchten sie aber nichts herzugeben. Der Empfangsabend ging auf Kosten des Sonderfonds im Haushalt des Staatsministeriums, der mit 200 000 Mark dotiert ist. Gemeinsame Repräsentation geht eben aus gemeinsamer Kasse. Um Mitternacht wurde die Stimmung in den gut geheizten Räumen sehr warm. Man räumte die Tische im großen Saal weg, man ließ fegen und - man begann zu tanzen, ein bisher bei offiziellen Regierungsempfängen unerhörter Vorgang. Natürlich tanzte nicht etwa der als Ehrengast miteingeladene päpstliche Nuntius Pacelli; nein, der sah nur etwas entgeistert dem Treiben zu. Aber der Innenminister Grzesinski schob und wackelte eifrig mit sozialdemokratischen Genossinnen, und der dicke Wohlfahrtsminister Hirtsiefer - schade, daß dieses Paar nicht gefilmt wurde - preßte im Walzer ein winziges Persönchen an sich, die kleine geistvolle Wolff vom Börsencourier. Am elegantesten, mit fabelhaftem Rückenausschnitt, glitt wieder die sozialistische Abgeordnete Oestreicher daher, die man früher häufig mit dem ebenso eleganten Salonsozialisten Oberpräsidenten Waentig gesehen hat. Bis gegen 4 Uhr morgens mußte die Polizeikapelle jazzen. Es war eine runde Sache.

Darob freut sich natürlich der bescheidene Untertan, während er nach einem halben Zentner Briketts ansteht und da Zeit zum Nachdenken hat. Amüsiere sich jeder, so gut er kann! Sollen etwa die Minister aus sozialem Mitempfinden darauf verzichten, nach gutem Essen in luxuriösen Räumen das Tanzbein zu schwingen ? Auch unter uns im Volke ist doch von Gemeinschaftssinn kaum etwas vorhanden. Der vorige Sonntag war für Kohlenabfuhr freigegeben, auf den Bahnhöfen standen 2490 beladene Eisenbahnwagen - und blieben beladen stehen. Warum sollten die Fuhrleute sich den Sonntag verderben ? Einmal in der Woche will man doch seine Ruhe haben; und man verdient als Kohlenkutscher in der Woche ja genug. Die Kleinhändler, von denen viele "zur Partei" gehören, zuckten bestenfalls die Achseln, meist aber schnauzen sie ihre Mitproletarier, die etwas haben wollen, auch noch an. Es scheint nicht, daß wir in den zehn Jahren Republik zu einem Volk von Brüdern geworden sind. Dabei hieß es doch im ersten Aufruf der neuen Regierung vom 9. November 1918 wörtlich: "Durch diese Revolution tritt unser Volk in den Zustand einer wahren Freiheit, Schönheit und Würde!" Hat sich was. Wir sind dieselben Menschen geblieben.

Auch wird genau so "geschustert" wie einst. Der Assessor Jänicke, der Sohn des früheren Hofschuhmachers, wußte genau, warum er die Tochter des Reichspräsidenten Ebert heiratete. Es gibt heute viele derartige "gute Partien". Ein junger Staatsanwalt verlobte sich kürzlich mit der Tochter des sozialdemokratischen Oberpräsidenten Noske, worauf alsbald alle möglichen älteren Beamten und sogar Privatleute - bei ihm zu "schustern" begannen, sich an ihn heranschmeichelten. Aus dieser Partie wurde freilich nichts. Der junge Mann schrieb an Fräulein Noske eine reichlich derbe Absage, weil, wie er darin behauptete, ihre Aufgeblasenheit nur von ihrer Unbildung übertroffen werde. In einem amtlichen Schreiben, "Der Oberpräsident" stand an der Spitze des Bogens, wurde ihm darauf vom gewesenen Schwiegervater eröffnet, daß die Tochter es für unter ihrer Würde halte, ihm zu antworten. Herrschaften, wodurch unterscheidet sich diese Eure neue Welt überhaupt noch von der alten "kapitalistischen" mit ihren Intriguen, ihrer Genußsucht, ihrem Spießertum ? Wer täglich auf die Zeichen der Zeit achtet, der entdeckt doch keine Weltwende. Gegen früher hat nur die Korruption zugenommen und die Verwendung Unfähiger im Staatsdienste. Dem Volke aber geht es dreckig.

Allerdings hat sich die angebliche staatliche Fürsorge für alle Enterbten durch Versicherung ungeheuer entwickelt. Im alten Reiche stimmte die Sozialdemokratie gegen, im neuen stimmt sie für alle sozialen Versicherungsgesetze. Nachgerade ist man gegen alle Schicksalsunbilden versichert, aber die Prämien sind so hoch, daß der Familienvater "zu nichts mehr kommt", Frau und Kindern nichts mehr hinterlassen kann, für das eigene Alter auch nichts mehr zurücklegen; und was die Versicherung ausgibt, das ist in jeder Hinsicht unzureichend. Außerdem wird das ganze Volk zur Unmoral erzogen. Wenn man "egal" seine Beiträge bezahlt, dann will man was davon haben, nicht wahr ? Also meldet man sich erst mal krank. Der Arzt zuckt die Achseln. Der Arbeitgeber hat nichts dagegen. Darunter leiden die wirklich Kranken, denn die Kassen, die namentlich jetzt während der Grippe- und Kältewelle an vielen Orten in Deutschland schon ihre ganzen Reserven verbraucht haben (die Arbeitslosenversicherung steht sogar vor dem Bankerott), müssen bremsen. Nicht etwa in punkto Verwaltungskosten; sie bauen immer noch Paläste für sich und statten sie fürstlich für die Direktoren aus. Aber sie bremsen - für die Kranken. Wirklich gute teure Spezialmittel dürfen nicht verabfolgt werden. Auch Hausbesuche soll der Arzt möglichst unterlassen; ambulatorische rein fabrikmäßige Schnellfixbehandlung genügt. In unserer Nachbarschaft lebt eine Familie, Vater, Mutter, zwei Kinder, in einem einzigen Stübchen. Das jüngere Kind erkrankt. Der Arzt sagt: Diphteritis. Er sagt es mit seinem erfahrenen Blick, obwohl der Abstrich negativ ist. Also Krankenhaus. Auch dort ergibt der Auswurf keinen positiven Nachweis von Diphteriebazillen. Trotzdem stirbt das Kind an dieser Krankheit. Nun erklärt der Arzt eine Diphterie-Schutzimpfung der Hinterbliebenen für notwendig, aber das ist zu teuer, das verbietet die Krankenkasse. Acht Tage später stirbt die junge Mutter an Diphteritis. Ist es ein Wunder, daß jedermann möglichst viel von den Versicherungen zu erraffen sucht ? Wenn es aus eigener Tasche, aus dem Ersparten, ginge, hielte man sich zurück. Aber so ? Das weiß doch schon jeder Student, jeder Soldat, ja jedes Vereinsmitglied, wie verschieden es auf einem Bierabend zugeht, je nach dem, ob jeder für sich bezahlt oder alles gemeinsam repartiert wird. Im ersten Fall geht es bescheiden zu, im zweiten will jeder "mindestens seinen Anteil heraussaufen", und es wird eine wüste Völlerei. So holt denn auch aus den Versicherungskassen jeder heraus, was er kann. Wir werden zu Simulanten und Schwindlern erzogen. Ich kenne kleine Familien in Berlin und Umgegend, die gegenseitig - auf dem Papier - ihre halbwüchsigen Kinder zu irgendeiner angeblichen Arbeit engagieren, dann kündigen und den Winter über die Arbeitslosenrente für sie einziehen. Draußen im Reiche ist es nicht anders. So kann ein Volk in die Rentenpsychose hineingetrieben und sehr schnell wirtschaftlich und moralisch zugrunde gerichtet werden. In Danziger Arzt, Liek, hatte vor drei Jahren zuerst den Mut, das zu behaupten und zu belegen. Auf seinen Schultern steht Gustav Hartz, ein aus dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband hervorgegangener Politiker und guter Rechner, dessen Buch "Irrwege der deutschen Sozialpolitik" (bei Scherl in Berlin kürzlich erschienen) den Weg zur sozialen Freiheit weist und vielleicht Epoche machen wird. Jeder Deutsche, dem um unsere Zukunft bange ist, sollte es kaufen, studieren und seine Lehren von Mund zu Mund weiterverbreiten. Dann werden auch der Arbeiterschaft endlich die Augen darüber aufgehen, wie ihre mühseligen Groschen im Danaidenfaß der staatlichen Versicherungen fast nutzlos versickern. Hartz ist für Sparzwang statt Versicherung. Er rechnet unwiderleglich genau aus, daß dann der Arbeiter, der vom 20. bis zum 60. Lebensjahr zurücklegt, was jetzt auf Beitragsmarken weggeht, je nach seinem Einkommen bei Vollendung des 60. Lebensjahres ein Kapital von 33 230 bis 108 041 Mark besäße! Selbst wenn man für Eheschließung, Konfirmationen, Entbindungen, Krankheitsfälle die durchschnittlich notwendigen Kosten abrechnet, bleibt immer noch genug für einen behaglichen Lebensabend übrig und - für ein Erbe; oder aber früher schon für die Begründung eines Eigenheims, einer Siedlerstelle, wenn der Mann etwa 45 Jahre alt ist. Gegen diese Wahrheiten sträuben sich unsere heutigen Volksführer aber natürlich mit Händen und mit Füßen. Was sie brauchen, um am Ruder zu bleiben, ist eine unzufriedene Masse, die nichts Erspartes zu eigen hat und alles für das Minimum an Existenzversicherung hergeben muß. In Nordamerika macht man es anders. Dort sorgt und spart jedermann für sich, gibt es so gut wie gar keine "sozialen" Abgaben. Infolgedessen besitzt drüben jeder dritte Arbeiter ein eigenes Auto. Und - von 36 Millionen Stimmen, die bei der Novemberwahl in den Vereinigten Staaten abgegeben wurden, waren nur 267 000 sozialistisch.

Die kommunal-sozialistisch organisierte "Brennstoff-Gesellschaft" in Berlin hat hohe Gehälter für ihre Direktoren, aber keine Kohlen. Um das Nötigste für Krankenhäuser und Rathäuser zu behalten, sind also alle Schulen und Badeanstalten geschlossen worden. Da freuen sich die Kinder, nicht wahr ? Was haben wir doch für eine vortreffliche Regierung! Und wenn die Kinder als halbe Analphabeten herauskommen ? Das macht nichts; deswegen können sie doch noch, wenn sie nur zu einer maßgebenden Partei gehören, Brennstoff-Direktor oder Landrat oder Polizeipräsident werden. Die Hauptsache: Spaß muß sein, Tanzen, Spiele, Sport! Wohnungen fehlen. Aber Sportplätze werden geschaffen. Neben den öffentlichen gibt es auch noch viele private Sportstätten, die kein schlechtes Geschäft machen. An sich eine herrliche Sache. Nur werden immer mehr professionelle Einzelleistungen gezüchtet, wird das Volk immer mehr zu Sportzuschauern statt zu Sporttreibenden. Eine helle Freude, die tatsächlich für eine Weile einen das Landeselend vergessen läßt, sind die Wettkämpfe mit dem Auslande, so am Sonnabend vor acht Tagen das Wasserballspiel Deutschland-England im Wellenbad im Lunapark. Mit 11:4 blieb die deutsche Sieben, mit Rademacher im Tor, Sieger, und wir alle waren hingerissen. Gewiß, Eishockey ist noch dramatischer, ist neben Polo überhaupt das schönste Sportschauspiel. Aber im Wasserball, in dem die Engländer noch 1920 die Weltmeisterschaft hatten, die 1928 die Deutschen errangen, kann man auch wahre Wunder an Wendigkeit und Geschicklichkeit sehen. Gelegentlich wird einer zur Strafe herausgenommen, weil er innerhalb der 4-Meter-Zone einen Gegner "getunkt" hat, aber in der Mitte des Beckens ist alles, was nicht wirklich roh ist, erlaubt, und so kommt auch der Lacher auf seine Kosten. Die Engländer sind ja Kummer gewöhnt. Sie krähen trotzdem mit Haltung ihr "hörräh, hörräh, hörräh". Ihr altes Sportmonopol ist längst dahin. Bei der vorjährigen Olympiade in Amsterdam, wo wir, die ausgehungerte Nation, mit unseren Kriegskindern uns an die zweite Stelle durchkämpften, rangierten die Engländer als siebente. Mit Würde. Wie der Fuchs am Weinstock. "Wir Engländer treiben den Sport nicht um des Gewinnens, sondern um des Vergnügens willen!", schrieb eine Londoner Zeitung.

In Deutschland mußte der Sport - wie alles andere - erst "gefördert" werden, war er nicht immer Volkssache. Im Reitsport hat der Kaiser nach dem für uns sehr mäßigen Turiner Concours tüchtig durchgegriffen und den damaligen Rittmeister, späteren General v.Holzing lebhaft unterstützt, der sich der Bahnreiterei über Hindernisse besonders annahm. Jetzt sind die Früchte der langjährigen Schulung gereift, so daß wir Deutschen in Amsterdam und drüben in Amerika an erste Stelle kamen. Das meiste verdankt dem Kaiser freilich der Wassersport, und in ihm besonders unsere Gymnasialjugend; nur wird hier vernünftigerweise mehr auf Stil als auf Rekord gesehen. In der Leichtathletik war der Neffe des Kaisers, der im Felde als Flieger gefallene Prinz Friedrich Karl, Bahnbrecher für unsere oberen Zehntausend, die früher den öffentlichen Sportbetrieb, abgesehen allein von Pferderennen, als shocking und bestenfalls als eine Erholung für Bäckergesellen ansahen. Als der junge Prinz zum ersten Mal halbnackt in Sprinterhöschen sich am Stafettenlauf Potsdam-Berlin beteiligte, war es eine Sensation. Seiner Mutter hatte man es noch einige Jahre zuvor sehr verübelt, daß sie auf der Havel Schlittschuh lief.

Prinz August Wilhelm, des Kaisers dritter Sohn, der studiert, seinen Doktor gemacht, dann "Landrat gelernt" hat und heute unter normalen Umständen Oberpräsident einer Provinz wäre, ist durch den Stahlhelm, in dessen Reihen er sich als einfacher "Kamerad" betätigt, mit dem Volk aller Schichten in Berührung geblieben. Auch sein Tagewerk beginnt mit Sport. Frühmorgens, in diesen Tagen auch bei 27 Grad Kälte, macht er zunächst, in Badehose und Pullover, einen strammen Dauerlauf im Garten der Villa Liegnitz in Potsdam, die er bewohnt. Duch die entlaubte Hecke kann man etwas in den Garten hineinsehen. Bleibt da ein Arbeiter auf dem Gange zur Fabrik stehen und ruft: "Imma feste, Aujust, vielleicht jewinnste!" Aber die Milchfrau, die Sonntags selber um 7 Uhr die Milch, die sonst abgeholt wird, zur Villa bringt, sagt neulich der Mamsell: "Hörnse, da looft eener draußen, der hat beinah nischte an!" Sagt da die Mamsell, das sei unser Prinz. "Wat, unser Prinz ?", ruft fassungslos die Frau und fügt erschüttert hinzu: "Nu wünsch' ick mir alle Jahre, ihn mal zu bejeechnen, un nu muß er mir soo kommen!"
21. Februar 1929 (Donnerstag)


24

Denken und Raten - Damen im Café - Modeschauen bei Kroll - Die grande Diseuse - Das Ehepaar Ludendorff - Anonymus am Telephon.

In einer sogenannten Weltstadt geht die Zeit, die glücklichere Erdenbewohner für Spazierengehen als einfachste Leibesübung und Geistesentspannung übrig haben, auf langen Fahrten zu der Berufstätte dahin. Zehntausende von Berlinern lesen nur von allerlei Sport, treiben aber keinen einzigen. Was geben wir ihnen zur Entspannung ? Sie kaufen sich irgend ein Boulevardblatt oder irgend eine illustrierte Zeitung lediglich um des einen Kreuzworträtsels und Silbenrätsels willen darin, studieren abends daran herum und sagen, sie treiben - Denksport. Da hat der Scherlverlag - der Teufel hole ihn dafür lotweise - nun eingehakt. Er bringt seit kurzem eine billige eigene Wochenschrift, "Denken und Raten", heraus, die vom Kreuzworträtsel, dem Rösselsprung, der magischen Pyramide, der Bildaufgabe bis zu Schach, Bridge, Skat eine solche Anzahl von lösungsbedürftigen Dingen enthält, daß nun wirklich jede freie Stunde damit ausgefüllt werden kann. Frauchen ist darauf abonniert. Und Männe kauft sie sich noch extra auf dem Heimwege am Kiosk vor dem Bureau, um schon in der Straßen-, Stadt- oder Vorortbahn sich ein wenig zu orientieren, auf daß er daheim, wenn die teure Gattin beim abendlichen gemeinsamen Denksport an sein profundes Wissen appelliert, glänzen kann. Sie, die teure, vergißt doch wieder alles. Schon zum sechsten Male innerhalb eines Vierteljahres fragt sie: "Gestalt aus einem antiken Liebesdrama, was ist das doch gleich ?" Meine Liebe, das ist immer entweder Hero oder Leander. Merk' dir doch endlich den alten Vers: Hero und Leander, die liebten einander, doch war zu ihrem Leide das Wasser zwischen beide! Ja, es ist fabelhaft, was so ein Mann nicht alles weiß. Und was er nicht gleich wußte, hat vielleicht ein Kollege ihm gesagt. Rechenkünstler, Nebenfluß des Neckars, gezogener Wechsel, russisches Herrscherhaus, entzündliche Absonderung, holländischer Maler, chemischer Grundstoff, Prophet, Hochland in Asien: alles kann Männe sofort sagen. Der Rundfunk und der Denksport sind die großen Friedebringer in der Familie. Sonst fingen zwei, die sich nichts mehr zu sagen hatten, sich zu zanken an. Heute hören sie Warschau oder lösen Rätsel. Und sind darob freilich - deshalb verfluche ich ja den Scherlverlag mit seinem Ratebuch - für jedes andere Interesse verloren.

Hat die Berlinerin, ehe der Mann gegen Abend heimkehrt, sonst noch Zeit, so geht sie auch kaum spazieren, liest noch seltener ein Buch, besucht aber von Jahr zu Jahr häufiger ein Kaffeehaus. Im Orient und in Spanien sitzen da nur Männer, in Paris und in Brüssel vorzugsweise Männer. In Berlin aber - in London kennt man solche Cafés überhaupt nicht - in Unmenge Damen. Auch in Hotels und anderen Gaststätten lockt der Fünfuhr-Kaffee, oft sogar noch mit Vorführungen. Das höchste der Gefühle: Nachmittagskaffee mit Modenschau! Hier sind sie alle sterblich, die Mondänen und die Schlichten. Bei Kroll haben wir jetzt im großen Riesensaal sechs Modeschauen hintereinander gehabt, veranstaltet von der Damenschneider-Innung und verschiedenen großen Firmen. Beginn 4 Uhr nachmittags. Schon kurz nach 1 Uhr sind die ersten da. Man will doch einen guten Platz haben! Möglichst dicht an der durch die Mitte des Saales gelegten hohen Startbahn, auf der die mit stets neuen Kleidern angetanen Mannequins unter einschmeichelnder Musik rhythmisch einherstolzieren. Ihre Knie hat man da in Augenhöhe. Bald nach 3 Uhr nachmittags sitzen und stehen schon über 2000 Personen Kopf an Kopf im Saal, im Umgang, auf der Galerie. Fast nur Frauen. Die wenigen Männer sind meist vom Fach. Nur selten hat ein Gatte oder ein Freund irgend eine junge Frau begleitet. Aber auch ganz alte Damen sind da, denn das Fieber hat alle ergriffen. Neben mir eine hat offenbar 20 Jahre im Kleiderschrank gehangen und hat sich erst jetzt wieder herausgestellt; sie hat eine hochgeschlossene Bluse an mit Fischbeinstäbchen bis hinter die Ohren. Ihre Augen glänzen genau so wie die der kniefreiesten jungen Damen. Halbrechts voraus hat sich eine umfangreiche Frau in schwarzem Wollmousseline, Mode von 1914, installiert, nachdem sie vorsichtig ihr Kleid hochgerafft hat: nun sitzt sie auf der breiten Basis ihrer apfelgrünen Schlüpfer und läßt dieses einzig moderne Stück seelenruhig sehen. Sie macht Stielaugen, wenn seidene Pyjamas, große Abendkleider, Spitzencapes kommen. "Hach, man regt sich so schön auf!", stöhnt sie ihrer Nachbarin zu. Das ist etwas, was wir Männer nicht verstehen. Uns Männer regt nur die Jagd auf: nach Frauen, nach Großwild, nach Feinden. Der Behang, wenigstens der eigene, läßt uns, im Gegensatz zur Tierwelt, wo immer das Männchen auffällig gezeichnet ist, ganz gleichgültig. Wir lassen es uns umgekehrt gern gefallen, daß die Weibchen in ihrer Pracht tänzeln und sich drehen. Unter den Mannequins gibt es noch immer in der Mehrzahl praeraffaelitisch schlanke, aber auch schon ganz füllige Gestalten; sie haben wieder allerlei, womit man wackeln kann. Sind sie auf der Startbahn hin und her geschwebt, so kreisen sie noch in Umgang und Galerie. So bekommt sie jedermann verhältnismäßig nahe zu sehen und kann gierig Stoffe und Machart und Drapierung beäugen. Einzelne Damen, die zu dieser Schau ihr Verblüffendstes angezogen haben, halten es auf ihrem Sitzplatz nicht mehr aus, stehen auf und gleiten im Umgang und auf der Galerie zwischen den Mannequins hindurch und sind selig, wenn sie selbst für eines gehalten werden.

Natürlich empfindende Männer stört es, wenn irgend eine Frau von Bühne oder Film, die in Kollegenkreisen "die Burgruine" genannt wird, oder irgend eine Dame der Gesellschaft, die ihr erstes Jahrhundert schon hinter sich hat, mit Kitt und Schminke Jugend vortäuschen will. Sie soll jung bleiben, aber nicht jung scheinen. Solch eine ewig Junge ist, obwohl sie ihr Alter und seine Beschwerden nicht verbirgt, die berühmte Pariser Diseuse Yvette Guilbert, die in Wirklichkeit Frau Schiller heißt. Alle Jahre kommt sie noch nach Berlin und entzückt ihr Publikum durch den meisterlichen, beglückenden Vortrag alter Chansons, lieber oder frecher oder schauriger Chansons. Ich war noch ein Junge, da erschütterte mich schon ihr "La Glu", da mußte ich schon den Atem anhalten und die Tränen herunterschlucken, wenn sie das Lied vom herausgerissenen und daherrollenden Mutterherzen hauchte, über das der Muttermörder - seine Geliebte hatte das Herz verlangt - gestolpert und ausgeglitten war. "Hast du dir wehgetan, mein Kind ?", zirpt eine feine Stimme aus dem blutend daliegenden Herzen. Das ist so eindrucksvoll, daß man nachher nachts nicht schlafen kann. Auf die Materie kommt es nicht an, sondern auf die Seele im Vortrag. Auch das Frechste und Schaurigste entläßt den Hörer mit dem Vorsatz, ein besserer Mensch werden zu wollen. Yvette Guilbert, einst jung und derb und brandrot, ist jetzt eine graue alte Frau, aber von leuchtender Güte und immer noch dem früheren lieben Augenzwinkern. Auch diesmal rief rasender Beifall sie immer wieder nach Schluß aus dem Künstlerzimmer heraus und auf das Podium die 14 Stufen hinauf. Sie spielte nicht die jugendlich über den Applaus Beglückte, sondern sagte schalkhaft und mütterlich: "Kinder, hört auf und geht nach Hause schlafen! Erspart mir hier die 14 Stufen!"

Alle Jahre wieder kommt auch Dr. Mathilde Ludendorff an das Rednerpult zu uns nach Berlin, spricht vor überfülltem Saal und wiederholt den Vortrag dann auf Rundreisen überall in der Provinz. Neuerdings spricht da auch immer ihr Mann, der anfangs nur mit großen Kinderaugen ihr zu Füßen saß. "Schweig' still, mein Herze!" Man muß es wirklich in beide Hände nehmen, um es zum Schweigen zu bringen, wenn der große Feldherr, dessen Name uns mit scheuer Achtung und zärtlicher Liebe erfüllte, sich so als Vortragsreisender verzettelt. Er führte einst die zusammengeballte Kraft der Nation. In der heutigen Zersplitterung, die er still hätte überdauern müssen, fanatisiert er doch bloß immer ein Grüppchen; die Mehrzahl der Hörer kommt nur, weil sein Name Sensation ist; und geht höchstens verwirrt, aber nicht gewonnen, wieder heim. Ein seltsam genialisches Paar hat sich hier zusammengefunden, beide hoch über allem Mittelmaß, aber beide, trotz aller Erkenntnis mancher Wahrheit, im Irrtum befangen. Er ist dabei das vertrauende Kind geblieben, Parsifal, der reine Tor. Das Dämonische hat sie; auch jetzt noch, wo sie längst aufgehört haben muß, den Renaissancemenschen zu spielen. Sie hat ein paar wundervolle - "tiefschürfende", sagt mancher - kleine Bücher geschrieben, von denen ich das über "Der Seele Ursprung und Wesen" und ein anderes, das dem Eros gewidmet war, wiederholt gelesen und warm empfohlen habe. Aber diese Frau ist, wie die Antike es nannte, der Hybris verfallen, geradezu der Selbstvergottung. Schon vor Jahren schrieb sie in einem Briefe, der mir vorliegt: "Ich bin mir selber Gesetz; ich bin nicht weniger wie Goethe und Christus." Sie nahm sich Männer und warf sie wieder weg, zuerst den Oberprimaner v.Kemnitz und nachher andere, vielleicht, weil sie wie der Christophoros der Legende "den Größten" suchte, um ihm zu dienen, aber sie riß alle nur mit fort, konnte nie dienen, war immer der Herr. Nun hat sie den Größten, der erreichbar war, bekommen, und auch er wird von der dunklen Gewalt dahergeschwemmt. Ihre drei Kinder aus erster Ehe hatte sie ungetauft gelassen. Der Gedanke war ihr wohl unerträglich, sie Gott anzugeloben. Es gab Zeiten, wo sie von Garmisch eigens nach Berlin reiste, um die von ihr angeschwärmte Sozialistin Lily Braun zu besuchen. Zu diesem Ausgangspunkt ist sie nun wieder zurückgekehrt, indem sie mit infernalischem Haß das Christentum verwirft, weil es "nicht blutmäßig deutsch" sei. Sie verwirft überhaupt alles, was nicht Erich Ludendorff oder Mathilde Ludendorf ist: Ihr sollt keine anderen Götter haben neben uns! Alle Großen in der Weltgeschichte waren nichts, Wilhelm I. war erkauft, Hindenburg ist ein Verräter, der Krieg von 1870 war ein Unglück; kein Nietzsche kam uns je so als Brecher alter Tafeln. Und selbst wenn die Beiden mit diesem hellen Wahnsinn Recht hätten: sie werden nie damit ein Volk hinter sich scharen. Nach Ansicht des Ehepaares Ludendorff ist die ganze Weltgeschichte nur eine einzige Verschwörung von Juden, Jesuiten, Freimaurern gegen das Deutsche, seit Jahrhunderten zweckhaft und einheitlich geführt. Den Hörern geht ein Schauer über den Leib. Sie sehen es bildhaft vor sich, wie, sagen wir, im Jahre 1736, ein Sanhedrin zusammengetreten ist, um zu beschließen, daß im Jahre 1918 gegen den Widerstand Ludendorffs die Weltherrschaft der Internationale errichtet werden solle. So ungefähr hört es der Versammlungsbesucher heraus. Er geht nicht in gehobener Kampfesstimmung hinweg. Er leistet nicht praktische Abwehrarbeit gegen den Juden, den Jesuiten, den Freimaurer. Er ist nur von einer Art Gespensterfurcht erfüllt; und wenn ihm dann am Stammtisch der Mund von dem übergeht, wes das schwere Herz voll ist, so macht er sich und eine ursprünglich gute Sache nur lächerlich. Es ist das Schicksal aller, die die Besonnenheit verlieren und nicht Maß zu halten verstehen, daß sie von noch Maßloseren abgelöst werden. Im Tannenbergbund, der Gefolgschaft Ludendorffs und seiner Frau, kenne ich manchen Mann, dem ich gesinnungsmäßig nahestehe und herzlich befreundet bin, aber auch diese Männer werden einst, wenn ein Über-Tannenberger, ein Ultra-Tannenberger kommt, vielleicht zu den "Verrätern" gestoßen werden. Und dann kommt die Zeit, wo es heißen wird, auch Mathilde Ludenddorff sei von der Internationale erkauft gewesen, um Hader unter die letzten aufrechten und unabhängigen Deutschen zu bringen. "Vare, Vare, redde legiones!", barmte ein römischer Kaiser nach der Schlacht im Teutoburger Walde; Varus solle ihm die zersprengten Legionen wiedergeben. Wer gibt uns unseren General Ludendorff wieder ? Wer rettet ihn für uns zurück aus dem Dickicht ? Er selber glaubt es freilich nicht, daß wir mit aufrichtiger Erschütterung so fragen. Er zieht landauf, landab mit der Botschaft: "Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich!" und hält uns für seine Feinde, für Verräter, für erkaufte Mietlinge. Alle Internationalen aber lachen sich ins Fäustchen.

Kampf muß freilich sein. Schon jeder Geschäftsmann wehrt sich gegen die Konkurrenz seiner Haut. Auch in der Politik fliegen die Späne nur so. Das macht Laune. Ich selber raufe kräftig mit und habe meinen diebischen Spaß daran, wenn gegnerische Zeitungen mich als einen Ausbund von Verworfenheit abmalen; bei meinen Freunden schadet es mir nichts und bei den Lauen macht es auf meine Schriften erfolgreich aufmerksam. Nur eines habe ich nie begreifen können: wieso anonyme Briefe als Kampfmittel angesehen werden können, obwohl sie nur Portobereicherung für die Post sind, eine Aufregung aber höchstens für empfindsame alte Damen. In Berlin kriegt jeder im öffentlichen Leben stehende Mensch haufenweise solche Briefe. Ein Schreiber hat sich mir gegenüber besonders angestrengt und in Briefen sich einigermaßen unflätig namentlich über das Kaiserpaar geäußert. Neuerdings rief er - ein angeblicher Lehrer, angeblicher Kommunist - auch telephonisch bei uns an. Kostenpunkt für ihn jedesmal 15 Pfennig. Zuerst traf er am Apparat immer meine Frau und eröffnete das Gespräch mit den Worten: "Du verdammte Sau!" Dann war zufällig ich einmal daran und hörte die Begrüßung: "Du gemeines Geschmeiß!" Worauf ich erwiderte: "Schön, duzen wir uns, also was willst du ?" Es tönte zurück: "Dir den monarchistischen Hintern versohlen!" Darauf ich: "Aber das geht ja telephonisch nicht, da mußt du uns schon mal zum Kaffee besuchen!" Im Apparat war deutlich zu hören, wie der Mann nach Atem rang. Schließlich stammelte er: "So eine Frechheit ist doch noch nicht dagewesen!" Seither ruft er nicht mehr an.
25. Februar 1929 (Montag.)



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© Karlheinz Everts