"Rumpelstilzchen"

Ja, hätt'ste . . .
(Jahrgangsband 1928/29)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1929

Glossen 19 - 21
24. Januar bis 7. Februar 1929


19

Jeder einmal in Berlin - Alte Kriegskameraden - Treffpunkte - Die Konferenziers im Universum - Beim Frackverleiher - Auf dem Sturmball.

"Jeder einmal in Berlin!", lockt es von Prospekten und Poststempeln. Sehr richtig. Da in Berlin und Umgegend jeder zwölfte Deutsche lebt, trifft man sich am leichtesten da. Jedenfalls leichter, als wenn man von Berlin nach Nußloch oder Siebleben oder Podejuch fährt. Sagt sich das also auch ein alter Kriegskamerad, der in irgendeinem Nest hinter Göttingen lebt, und saust her, ihm zum Staunen, mir zur Freude. Ob ich noch wüßte, fragt er, was für eine Bowle ich in dem flandrischen Quartier für ihn angesetzt hätte, als er verlobt vom Urlaub zurückkam. Nein, das weiß ich wirklich nicht mehr; damals kannte ich noch an die hundert Rezepte. Wohl aber weiß ich, wie oft wir nächtlicher Weile in derselben fliegenden Kiste saßen, oben am Himmel festgenagelt von Scheinwerfern und umbrüllt von explodierenden Geschossen. Vor mir hatte Hauptmann Köhl bei dieser Bombenstaffel mit meinem wackeren Göttinger - eigentlich ist er Westfälinger - Franz und Emil gespielt, war auch einmal abgeschossen worden und war schwerverwundet gelandet. Der Papa, bayrischer General, auch so klein und stämmig, kam irgendwo aus der Etappe hergereist und besuchte seinen filium im Lazarett. Aber was sollen zwei Soldaten viel miteinander klöhnen ? Ein paar Worte, ein paar Grüße, ein paar Händedrücke, dann war der Sohn froh und der Vater fertig; und dieser ging alsbald mit dem Fäßchen Münchener Bieres, das er mitgebracht, zu Köhls Kameraden ins Staffelquartier und stand dort nicht eher auf, als bis der letzte Tropfen dahinwar. Dies und anderes sind so die Erinnerungen, die wir austauschen, während wir, nach dem Abendbrot zu Hause, in der Barberina sitzen, stillversunken. Irgendwelche Tanzmädchen aus einer Loge bewerfen uns mit Wattebällen. Wir blicken kaum auf.

Ähnliches gibt es alle Tage in Berlin. Man trifft sich. Man spricht vom Krieg, nur freilich selten von dem vielen Furchtbaren, häufiger von dem wenigen Lustigen. Man repetiert einander die Familienverhältnisse. Und die Welt rundum existiert für einen nicht. Tags darauf bin ich im Nationalen Klub im Zimmer des Leibregiments der preußischen Könige, des weiland Grenadierregiments aus Frankfurt an der Oder. Da sitzt ihr Kriegskommandeur, der Generalmajor a.D. Graf Finckenstein, der vorher die Gardejäger befehligte, noch früher dem Ersten Garderegiment zu Fuß angehörte, und erzählt mir allerlei Erhebendes aus Doorn, wo er sich im letzten Jahre wieder vier Monate aufgehalten hat, beim Kaiser Dienst zu tun. Einer seiner Vorfahren, der Feldmarschall, war Erzieher Friedrichs des Großen gewesen; solche Verknüpfungen gehen durch Jahrhunderte. Wiederum im Nationalen Klub ein paar Tage vorher, da sind etliche Dutzend Herren und Damen Gäste der Abgeordneten Freiin v.Watter, die von ihrem Onkel, dem Generalleutnant a.D., dem Spartakistenbezwinger aus dem Ruhrgebiet, dabei unterstützt wird. Eine Weile plaudere ich mit einem Fräulein v.Kluck, die als Operationsschwester, wie ich höre, schon über 6000 Narkosen gemacht hat, und erfahre erst später, daß sie die Tochter des Generalobersten ist, der da drüben sitzt, bolzengerade und frisch trotz seiner schon 83 Jahre. Da puppert einem doch das Herz. In Nußloch oder Siebleben oder Podejuch kann man das nicht so haben.

Wenn ein jüngerer Kriegskamerad berlinhungrig hierherkommt und wenig Zeit hat, sage ich meist, er müsse einen Abend im Betrieb Kempinski im Haus Vaterland verbringen, da habe er Berliner Rummel in modernster großstädtischer Art. Das wollte auch mein Unglückswurm aus dem Dorfe hinter Göttingen. Geriet aber statt dessen, das haben "die aus der Provinz" nun mal so an sich, versehentlich vorn in das Kaffeehaus Vaterland, das vor dem Kriege Picadilly hieß und immer noch Wunschzentrale aller Berliner Dienstmädchen an ihrem Ausgehetag ist. Da gibts was fürs Herz. Da läßt die Kapelle den "weißen Flieder wieder blüh'n", aber paukt auch mit Tschingtara die alten lieben Märsche. Natürlich gehen nicht nur Dienstmädchen hin. Der Untergrundbahnhof Potsdamer Platz ist ja just vor der Tür und ein bequemer Treffpunkt als Ersatz für die lange vor dem Kriege ein paar Schritte weiter dort befindliche Normaluhr, die die gleiche Aufgabe hatte. Aber sogenanntes Mondänes sieht man in diesem Kaffeehaus nicht. Wer die äußerliche Hyperzivilisation mit lauter künstlichen gemalten an Stelle der wegrasierten natürlichen Augenbrauen bei den Damen und ähnliches mehr sehen will, dem empfehle ich, eine Filmpremière im Universum am Kurfürstendamm - Lehniner Platz - mitzumachen. Ihm wird da sicher ganz kurfürstendammerisch blümerant zu Mute, so viele Düfte wogen da durcheinander und so viele Farben auf Damenwangen schreien ihm ins Gesicht. Schon am Eingang gibt es etwas Absonderliches. Da steht wie ein Kirchturm der größte Mann Berlins, der junge Portier des Universums, wohlgemessene 2,21 Meter lang und ganz proportioniert. Jeder möchte einmal neben ihm stehen. Vor jeder Vorstellung ist er ganz umbrandet. Die Damen kuscheln sich richtig an ihn heran. "Ich höre ganz deutlich Ihr Herz klopfen", wispert eine ihm zu. "Nee, meine Dame, das ist bloß die Bauchschlagader!", erwidert er lächelnd. Nebenan hat das Kabarett der Komiker sich sein riesiges, gar nicht mehr intimes, akustisch unmögliches neues Heim zum Großverdienen erbaut; da fällt jeder Witz in den luftleeren Raum. Auch da ist Berlin Wehweh, das gemalte, reichlich vertreten, leider aber auch immer noch guter Berliner Mittelstand, der der irrigen Meinung ist, da gebe es Humor. Alle Kabarettisten zusammen wurden jüngst in einer Nachtvorstellung zu Gunsten der Witwe von Erich Kaiser-Titz losgelassen. Es war durchaus galizisch. Die Ufa, die die Taktlosigkeit dieser Leute wohl noch unterschätzt hatte, war so freundlich gewesen, ihnen den Palazzo am Lehniner Platz zur Verfügung zu stellen. Als bald wurde losgewitzelt. Zunächst über Hugenberg, den Vorsitzenden des Aufsichtsrates der Ufa, also den Gastgeber. Dann - über den Kaiser. Ein Kabarettist namens Grätz, der während des Krieges sicherlich erfolgreich reklamiert oder höchstens Etappenschreiber war, "dichtete" für die Wehwehleute den Vers:

"Wilhelm II. charterte sich die letzten Mitropas
Und haute ab mit den heiligsten Gütern Europas",

so daß ob dieser Unanständigkeit kurz vor dem 70. Geburtstag sogar der Rundfunk die Sprache verlor und einer ihrer Nachtwachbeamten, Gott segne ihn, sicherlich war es ausnahmsweise ein Deutscher, entsetzt auf den Knopf hieb und die weiteren Ergüsse des Herrn Grätz für die Welt da draußen unterbrach. Ich kenne einen anderen Vers für diejenigen, denen nach Hindenburgs Wort die Treue das Mark der Ehre ist. Zum ersten Mal habe ich ihn, unter knatternder schwarzweißroter Fahne, während von der Straße herauf Luxemburger und Liebknechte in unsere Wohnung zu schießen drohten, am 27. Januar 1919 hinausgerufen:

"Wir woll'n das Wort nicht brechen,
nicht Buben werden gleich,
Woll'n predigen und sprechen
Von Kaiser und von Reich!"

Wenn in diesem Jahre der Morgen von Kaisers Geburtstag naht, werden 7000 Menschen, ohne daß wohl viele von ihnen an die Bedeutung des Tages denken, in den Räumen des Zoo sich auf dem Presseball drängen. Für dieses repräsentativste aller Feste in dem nachkaiserlichen, hoffestlosen Berlin werden große Aufwendungen gemacht. Wie die Modeberichterstatter feststellen, sind diesmal rund 2000 neue Abendkleider eigens für den Presseball in Arbeit. Noch einmal versuchen die Männer durch die Pracht ihrer Frauen ihren gesellschaftlichen Kredit zu heben. Aber nun die Kehrseite der Medaille. Etwa 3000 Herren besuchen den Ball. Von ihnen geht fast ein Drittel vorher notgedrungen - zu einer Frackverleihanstalt. Anno Toback bekam ihn schon oft der Abiturient. Der erwachsene junge Mann der Gesellschaft hatte ihn sicher. Heute kommt er mit dem schwarzen Tanzjackett aus, leistet sich allenfalls einen Smoking, scheut aber die Ausgabe für einen Frackanzug. Es werden ja schon Hochzeiten im Wandervogelkostüm gefeiert. Ein hergereister junger Mann, der von mir auf den Presseball geführt sein will, besitzt auch keinen Frack. Wir schlagen im Telephonbuch, im Adreßbuch nach, wir finden mehrere Leihanstalten. Mit einigem Unbehagen gehe ich mit und stelle mir vor, wie da altes unmodernes Gelump hervorgeholt wird, modrig und mottenkugelduftend, vielleicht noch erträglich für einen Aushilfskellner im Sommerbiergarten. Aber ich bin dann überrascht, in einem "erstklassigen" Schneideratelier zu stehen, wo es so gut wie neue Frackanzüge, ganz modern, für alle Größen und Dicken in unglaublicher Anzahl gibt. Sogar kleine Änderungen werden noch gern vorgenommen. Die Miete beträgt 15 Mark, mit weißer Weste 18 Mark.

Und nicht nur ausschließlich sogenannte arme Schlucker staffieren sich hier aus. Während ich da bin, wird vom Hotel Eden, man denke, vom Hotel Eden in der Budapester Straße, angerufen: nicht weniger als sechs "vornehme" Gäste des Hauses erbitten Sendung von Fracks in den und den Größen. Wird gemacht. Dazu ist noch alles aus "prima echt englischen" Stoffen. Vor dem Kriege spottete man über diese Fremdsucht. Wußte man doch, daß die "echt englischen" Stoffe in Kottbus gearbeitet und von dort zuerst nach London geschickt waren. Aber heute, wo unsere gesamte Industrie unter Steuern und Dawesfrohn erliegt, kann tatsächlich trotz Zolles die englische Manufaktur billiger nach Deutschland liefern als die deutsche. Silberstreifen am Horizont. Man hat uns herrlichen Zeiten entgegengeführt.

Man vergißt das ein bißchen im Trubel der Kostümfeste. Da kann man ja aus Nichts plus Etwas eine Kleidung zurechtbasteln. Auf dem Sturmball bin ich diesmal wieder gewesen, habe wieder Jussuf Abbo und manchen expressionistischen Maler dort getroffen, aber alles andere als Sturm und Drang. Man vergißt mal im Arm seines Mädels die Umwelt, aber man ist gehetzt. Solange man tanzt oder sich auf irgendeine Treppenstufe malerisch hingießt, ist man vor Ungemach sicher. Sowie man aber auf einen Stuhl zugeht, steht schon der Kellner mit der Weinkarte da. Weinkarte ? Um Gotteswillen! Alsbald wankt man weiter. Eine so armselige Tombola wie auf diesem Sturmball habe ich noch nie gesehen; es gab Gewinne, die aus einem Päckchen - sechs Rollen - bunter Papierschlangen bestanden. Ich möchte mal Parker Gilbert auf solch einen Ball führen. Dann würde er nicht mehr von deutschem Wohlleben fabeln.
24. Januar 1929 (Donnerstag)


20

Auf dem Presseball - Die Prominenten von Müller bis Scheidemann - Oberstleutnant Siegerts Heimgang - Grelling in Florenz - Maria Rasputin als Zirkusattraktion.

"Was ist das für ein Idiot ?", fragt sich die elegante Dame auf dem Presseball, während sie abweisend den Kopf schüttelt. Nämlich ein fremder Herr bittet sie um einen Walzer. Ein fremder Herr, ausgerechnet auf dem Presseball. Als wenn man auf irgendeiner Tanzdiele wäre! Nein, auf den Presseball geht man nur paarweise oder man paart sich mit nahestehenden Bekannten. Wer allein kommt, etwa ein hergereister Nichtberliner, der keinen solchen Anschluß hat, der kann stundenlang im Marmorsaal, Kaisersaal, Gartensaal, Bankettsaal, in der Roten, Grünen, Gelben Veranda und in den oberen Räumen herumirren, unter annähernd 7000 ihm unbekannten Menschen, ohne auch nur zu einem Fetzen Geplauder zu kommen. Er bleibt völlig einsam. Außerdem "bemerkt" er noch nicht den Fünfzigsten oder die Fünfzigste von den "Prominenten", die da sind und tags darauf in der Zeitung stehen. In   d e m   Gewühl! In  d e m  Durcheinanderquirlen!

Nur in dem eigens hergerichteten Marmorsaal, in dessen Parterrelogen die "Ehrengäste" dafür, daß sie Freikarten bekommen haben, wie angewurzelt sitzen bleiben, kann man sich an diesen vorbeischieben und sie, wenn man im Geiste die Witzblatt-Bilder passieren läßt, feststellen. Natürlich thront da auch der gegenwärtige Reichskanzler, Herr Müller, der für sich und seine Frau eine Einladung bekommen hat, aber noch drei Töchter und zwei Sekretärinnen bei sich Platz nehmen läßt. Er sitzt ein bißchen im Hintergrunde, dafür vorneweg Guérard, der Zentrumsverkehrsminister, im Schmuck päpstlicher Orden. Wußten Sie noch nicht, daß der Presseball das Ordensfest der Republik ist ? Wer was hat, läßt was hängen. Da sind Staatssekretäre mit dem Roten Kreuz zum Halse heraus, Bankdirektoren mit exotischen Sternen auf der Brust, dazwischen schlichte Staatsbürger mit ihren Kriegsorden. Nur die fremden Diplomaten kommen meist in gänzlich unverziertem Frack, dafür aber ihre Frauen mit desto mehr Juwelen. Unter diesen Damen diesmal auch ein Püppchen in Nationaltracht, die Frau des japanischen Militärattachés Hatori, in Kimono und Obi und beim Tanze klappenden Holzpantöffelchen, nur allerdings auch mit Schnittkopf. ohne die kunstvolle japanische Frisur. Manch' eine Dame, die zum ersten Mal auf dem Presseball ist und vielleicht sogar auf Anhieb mit ihrem Kleide in dem Modebericht der Zeitungen steht, weil ihre Schneiderin Inserentin ist, bemerkt zu ihrem Leidwesen, daß sie kaum bemerkt wird. Es ist nämlich zu eng in dem Gewoge, als daß jedermann seine Pracht entfalten könnte, und es gibt auch viel zu viele Toiletten, die mit dem Anspruch auf Bemerktwerden daherspazieren. Die berühmtesten Leute werden übersehen. "Den Major v.Hindenburg und den Freiherrn v.Hünefeld hätte ich so gern gesehen, und Kathinka v.Oheimb-Kardorff und Käte Dorsch hast du mir auch nicht gezeigt!", klagt nachher die Gattin, obwohl man sie mindestens hundert Mal leicht gekniffen und dabei gesagt hat: das ist der und das ist die! Hunderte anderer hat überhaupt kaum einer gesehen, nur sind sie als Prominente, bei der dreifachen Kartenkontrolle am Eingang, von dem Ballausschuß notiert worden, der die Namen dann den Berichterstattern übermittelt.

Rücken an Rücken mit einer viel angesprochenen älteren Dame habe ich selber lange gesessen und erst zum Schluß gemerkt, daß es Asta Nielsen war. Sie tanzt natürlich nicht mehr. Auch Henny Porten, die viel länger die junge bleibt und auf Schminken und Kitten verzichten kann, macht nur noch Belladonna-Augen und bleibt still an ihrem Platz. Einen Tisch weiter sitzt im Kronenschmuck ihrer auffallend aschblonden Flechten Frau Direktor Weidlich aus Frankfurt. "I.G.Farben, vastehste!", sagt ein Kundiger. Drüben an der anderen Seite des Saales der Chef der Marineleitung, Admiral Raeder, unweit von ihm der Reitergeneral v.Kayser, den ich einst als Rittmeister kennengelernt habe, als er seinen unverwüstlichen alten Schimmel zum Siege über die Hindernisbahn steuerte. Andere Leute haben den Prinzgemahl der Niederlande gesehen und Dutzende ihrer Filmlieblinge wiedererkannt. Wir selber haben uns diesmal, auf Einladung des Generalkonsuls Zerrenner-Sao Paulo, an seinem Tisch installiert, zum ersten Mal in unserem Leben in den Marmorsaal gemauert. Eigentlich gehören wir schlichten Menschen gar nicht dahin, wo jeder Sitzplatz 50 Mark extra kostet, aber unsere Gastgeber sind so liebe Leute, und ein prächtig gewachsener brasilianischer Oberst deutscher Abkunft und eine Dame von südländisch reifer Schönheit ist auch bei ihnen. Um 2 Uhr haben Zerrenners genug und setzen uns als Alleinerben ihrer Loge ein. Nun halten wir Cercle ab. Pfabelhaft! Die Frackbrust beult sich stolz. Schon ist die Dame mit dem Chrysolith-Diadem an unserem Tisch, Nr.17 aus dem Modebericht des Lokalanzeigers; solch ein Diadem pflegten vor hundert Jahren Könige zu verschenken. Damals trug man aber hochgetufftes Haar. Auf eine glatte Frisur von heute paßt kein Geweih. Nun wird es im Marmorsaal schon leerer, man kann einzelnen Paaren schon mit den Augen folgen, und als meine Frau plötzlich, während wir in einem Slow Fox dahingleiten, mit einem Kopfruck über die Schulter sagt: "Da tanzt ja die junge Tochter von Frau Major Schwenke mit ihrem Mann!", kommen wir vor Freude ins Stolpern. Jetzt ist die Zeit, wo man persönliche Bekannte entdeckt. Jetzt wird es aber auch in dem "repräsentativen" Marmorsaal ungemütlich für unsereins, - man verdrückt sich in den Gartensaal unten, wo es immer bis zum Kehraus dicht besetzt ist.

Auch da fehlt es natürlich nicht an Prominenten. Unter den Unermüdlichsten im Frack richtig Philipp Scheidemann. Er läßt, im Schmucke seines spärlichen grauen Haarkranzes, so leicht keinen Ball und keine elegante Edelproletarierin und keine Champagnerflasche aus. Er hat es, wie er ja selber in seiner Biographie erzählt, "immer verstanden, am Spundloch des Lebens zu sitzen". Er sitz auch noch gegen &frax12;6 Uhr früh, als wir aufbrechen, im Gartensaal; oder tanzt, zu den Klängen der Kapelle Jefim Schachmeisters, mit einer zitronengelben Dame, die durch ein schwarzgerändertes Monokel im Auge das Bemerktwerden zu erreichen sucht. Aber hier ist richtige Ballstimmung. Hier entflieht man der eigenen Prominenz, die man im Marmorsaal des Zoo niemals, in der Roten Veranda davor kaum und an den äußersten Enden der Flucht, der Grünen Veranda auf der einen, dem Kaisersaal auf der anderen Seite, auch nur selten ablegen kann. Hier wird unentwegt getanzt, auch von jüngerem Volk. Hier ist diesmal schon Scheidemann der Senior, während oben die Lebenslust bis zu den Herren in den Achtzigern sprüht, so unserem Generalkonsul Zerrenner, so drüben dem früheren Unterstaatssekretär Fritsch, einer Exzellenz noch aus dem alten System. Die von früher denken an früher zurück. Da waren die Gewänder noch schlichter; und die Ehrengäste von einer ganz anderen Sorte. Auch wir gedenken des Einst. Punkt zwölf Uhr, in der ersten Minuten des 27. Januar, stehen wir, vier Damen und fünf Herren, unauffällig auf und leeren unser Glas auf das Geburtstagskind, auf den einzigen Deutschen, dem heute noch von Verblendeten das Heimatrecht in der deutschen Heimat verwehrt wird.

Am Tage vorher ist einer der Begabtesten aus der Kaiserzeit heimgegangen, von tückischer Krankheit eilig gefällt, noch in seinen besten Jahren: der Oberstleutnant a.D. Siegert, der im Kriege Inspekteur der Fliegerwaffe war. Schon im Frieden kam ich mit ihm in nahe und freundschaftliche Berührung. Er war Major und Kommandeur des Fliegerbataillons in Metz. Wenn so ein nach damaligen Begriffen würdiger Herr eine detachierte Kompagnie besichtigte, unterschrieb er vorher noch alles, was der Adjutant ihm vorlegte, setzte sich dann in einen Eisenbahnwagen 2. Klasse, fuhr hin und zog dafür seine Tagegelder ein. Anders Siegert. Er war der erste, der - die einen lächelten, den anderen graute es - von Metz nach Darmstadt   f l o g,   wenn er dort inspizierte. Kurz zuvor hatte noch Oberstleutnant Groß, der Luftschiffer, der nach Paris und Monaco zum Studium der neu aufgekommenen Fliegerei geschickt worden war, in seinem dienstlichen Bericht erklärt, für diese Akrobatenkunst seien ihm seine Offiziere zu schade. Siegert aber sah über Jahrzehnte hinweg hellsichtig in die Zukunft. Er sah schon Luftschlachten voraus, als der vielbejubelte Höhenrekord auf der internationalen Konkurrenz in Berlin-Johannisthal erst 89 Meter über dem Erdboden betrug. In den Krieg zog er als Frontkämpfer, an der Spitze der damals größten Fliegerabteilung, nach Flandern, um später, als man sein ungeheures Organisationstalent, seine stürmende Energie, seinen bergeversetzenden Glauben erkannt hatte, nach Berlin zur Leitung der Inspektion berufen zu werden. Nun war er, der Feuergeist, der am liebsten auf Mephistos Mantel durch die Lüfte daherritt, als Baumeister der Fliegerwaffe in Bureauarbeit mit einem bald schier unbersehbaren Heer von Beamten gebannt, dazu wurden ihm aus einer fremden Waffe ein General und ein Oberst vor die Nase gesetzt, obwohl er allein in das oberste Kommando gehört hätte. Aber der Feuerstrom durchbrach trotzdem alle Dämme. Das Feuer ergoß sich in die Adern jedes Fliegers, jedes Abteilungsführers, jedes Geschwaderkommandeurs. Wie liebten wir ihn, wie schwärmten wir für Siegert! Von dem jungen Bismarck sagten nachsichtig lächelnd die Juristen, daß die Urteile, die er als Referendar zur Übung auszuarbeiten hatte, eigentlich samt und sonders nur blitzende Zeitungsfeuilletons waren. Derselbe "Feuilletonismus" wurde Siegert nachgesagt. Seine tausend Worte Stacheldraht kolportierte man überall an der Front. Das funkelte nur so von genialischen Einfällen. Da war nichts Hergebrachtes, nichts Bureaukratisches, aber jeder Befehl war hinreißend, war bezwingend. Mir selber, der ich doch so gut wie Altersgenosse von ihm war, schrieb er Anfang 1917, es sei eine Lust, zu leben: binnen kurzem würde der Krieg nur noch in den Lüften entschieden, würden Infanterie, Kavallerie, Artillerie nur noch unter Führung der Flieger eingesetzt; ich solle doch als ehemaliger Luftikus jetzt auch zur Fliegerwaffe übertreten. Noch antwortete ich bedächtig. Noch zitierte ich das englische Sprichwort "it's a hard job, to teach an old monkey new tricks", es sei harte Arbeit, einem alten Affen neue Tricks beizubringen. Aber seine Begeisterung zwang mich doch, und ich habe es nie bereut. Nie habe ich einen Menschen gekannt, der so ganz drängendes, jeden Widerstand sprengendes Leben war. Das schier Unmögliche reizte ihn. So stampfte er Armeen von Flugzeugen und Fliegern aus der Erde, so schaffte er in dem abgesperrten rohstofflosen Deutschland immer wieder alles Nötige für die Luftfront. Nebenbei war er der großartigste Erzieher seiner doch fast durchweg blutjungen Offiziere. Wenn er ihnen sagte, der Flieger müsse eine Kreuzung von Zirkusdirektor und hundertarmiger Göttin Kali sein, verstanden sie es. Wenn er in einem Tagesbefehl, nach etlichen üblen Vorkommnissen in der Etappe an der Westfront, schrieb, es empfehle sich nicht, daß der Fliegerleutnant mit Reitpeitsche, Pour le Mérite und Sturzhelm eine Tanzbar aufsuche, jauchzten sie. Im Dezember 1917, nach unserer Offensive in Italien, traf ich ihn in Udine, er nahm mich in sein Auto, wir fuhren die erstürmte alte Front ab und hielten dann am Isonzo: hier füllte er eine Flasche mit Wasser aus dem Wildstrom, damit solle sein eben in Berlin geborener Jüngster getauft werden. Echt Siegert! Anfang November 1918 war er wieder der Einzige, der Rat wußte. Er habe Hunderte von Offizieren und Flugzeugen in Döberitz und sonstwo um Berlin, die müßten sofort an die Bahnstrecke nach Hamburg und an andere Gefahrpunkte fliegen, die Züge anhalten, die roten "Matrosen" entwaffnen, die Revolution ersticken; mit dem fertig ausgearbeiteten Befehl ging er ins Kriegsministerium. Vergeblich. Das Genie scheiterte an den Bedenklichen. Kein Wunder, daß ihn da die Verbitterung packte. Ich kenne seinen Stammbaum nicht, ich weiß nicht, ob der am Körper dicht Schwarzbehaarte vielleicht Gascognerblut in sich hatte, viel Keckes, etwas Theatralisches, aber jedenfalls hatte er eine ingrimmige Freude an dem scharf geschliffenen Wort und scheute es auch nicht gegen die Bonzen. Er, der 1918 selber als Kriegsminister am rechten Platz gewesen wäre, er, dem man nicht einmal den Pour le Mérite gegeben hatte, weil er immer ein unbequemer Untergebener gewesen war, schrieb etliche Jahre nach dem Kriege: "Orden sind Garderobemarken, die man beim Ablegen seiner Gesinnung erhält." Da traf ihn der große Bann; die ihn, den Genialischen, nicht kannten, machten Ehrengerichte wider ihn mobil. Man schob ihn nach links ab; er konnte die drängende Fülle seiner Gestalterkraft in glänzenden Reisefeuilletons nur noch in einem Ullsteinblatt loswerden. Ein paar Ansichtskarten - aus Island, aus Indien - bewahre ich von ihm noch auf. Einmal habe ich ihn noch in seinem Heim in der Bundesallee Nr. 9 in Berlin-Westend aufgesucht und mich an diesem Feuergeist mit dem dabei grundgütigen Herzen erlabt. Daheim, unter vier Augen, spielte er auch kein Theater. Nur auf der großen Weltbühne muß man es, um den Stumpfsinn aufzurütteln; das hat nicht nur Napoleon, das hat sogar Bismarck verstanden. Und bei Siegert hätte dieser sicher nicht beklagt, was sonst dem Deutschen fehle: Siegert hatte wirklich die bismärckische "halbe Flasche Sekt im Leibe".

Siegert ist in seiner bescheidenen Mietswohnung gestorben; Dotationen wie 1871 hat es 1918 nicht gegeben. In einer schönen Villa in Florenz aber starb vor ihm der Richard Grelling, einer der Landesverräter, dessen Anklageschrift gegen das "kriegsverbrecherische" Deutschland im Auftrage der französischen Regierung in 200 000 Exemplaren kleinen Formats von dem Verlage Payot & Co. für Abwurf über der deutschen Front geliefert wurde. Grelling, ein Berliner, der drei große Mietskasernen von Millionenwert in Berlin besaß und noch während des Krieges seine Mieten zu steigern suchte, verklagte die Firma Payot & Co. in Lausanne, weil sie ihm angeblich nicht den ganzen französischen Judaslohn abgeliefert hatte. Sein eigner Sohn, deshalb von dem Vater prompt enterbt, wandte sich entsetzt in einer Gegenschrift von dem zusammengelogenen Machwerk ab, dessen Verfasserschaft der geldgierige Grelling zunächst auch abgeleugnet hatte. Erst nach der Revolution, als alle Lumpen hoch im Kurse standen, brüstete er sich öffentlich mit der Zermürbung der deutschen Front; seine und des ehemaligen Morgenpost-Redakteurs Rösemeier Flugblätter waren in Massen in schwarzrotgoldener Umrahmung über den deutschen Linien abgeworfen worden. Auch Salomon Grumbach und Edward Stilgebauer fehlten in dieser Hexenküche nicht, lauter Großverdiener, die das Geld des französischen Spionagedienstes wahrhaftig nicht nötig gehabt hätten, aber auch lauter überzeugte Demokraten. Es sei ein Skandal, heulte neulich die Tante Voß auf, daß man diese Leute ihr anhänge. Man hängt sie gar nicht ihr an. Sie sind leider von ihr geboren.

Aber solange das Volk Brot und Spiele hat, denkt es über solche Zusammenhänge nicht viel nach. Heute kann man überall tanzen. Heute gibt es überall Kabarett und Variété. Die alten, nahezu klassischen Stätten, beispielsweise der circensischen Kunst, haben es schon schwer, sich da zu behaupten, und müssen immer Sensationelleres erfinden, um das Publikum zu halten. Schulreiten, Panneaureiten, Jockeyakt, Freiheitsdressur, Clownerie, Akrobatik genügen schon lange nicht mehr. Schon vor etwa einem Menschenalter kam die Pantomime hinzu, schließlich mit einem großen Wasserschaustück am Ende, dazwischen farbenprächtige Balletts. Nach dem Kriege wurde aus der stummen Pantomime eine gesprochene Revue, richtiges Theater, Konkurrenz für den auf anderen Bühnen gezeigten effektvollen Blödsinn. Noch nicht genug! Zieht noch zu wenig! Und da ist Paula Busch darauf verfallen, in ihrem Zirkus das Schaustück "Der aus Sibirien" nicht nur mit 40 echten Eisbären, sondern auch - mit der echten Tochter Rasputins zu geben; im Zirkus sagt man übrigens: Raß Putihn, mit Betonung auf der ersten Silbe. Richtig spräche man es "Rasputjin" aus, die zweite Silbe betont. Das ganze ist aber nur Spitzname ("der Schürzenjäger") für den Wanderredner Grigorij Jefimowitsch Nowyj, der niemals Mönch, sondern ursprünglich Fuhrmann und später ein Gottesanbeter eigner Art war, ein mittelalterlicher "Geißler" und Orgiast, der dank seinen hypnotischen Eigenschaften schließlich eine große Rolle am Zarenhofe spielte. Er ist da zu einer weltgeschichtlichen Erscheinung geworden. Das beste, atemraubend fesselnde Buch über ihn und seine Zeitgenossen, das ich gelegentlich immer wieder lese, ist Snessarews "Verhängnis der Zarin", deutsch im Brunnenverlage in Berlin erschienen, ein großartiger Roman, den ich aber unter meine Geschichtswerke eingereiht habe; er verdient es. Nun sitze ich hier im Zirkus, sehe mir den fabelhaften Blödsinn des "Der aus Sibirien" an, der reine Kolportageliteratur für Dienstmädchen ist, und möchte nachher eigentlich Maria Rasputin selber sprechen. Ich kriege es aber nicht fertig. Ich mag nicht. Da tanzt, mehr schlecht als recht, etwas ungelenk, eine russische Bäuerin, um sich und ihre Kinder zu ernähren, nachdem ihr Vater ermordet und die Familie verarmt ist. Nur der Name ist Sensation. Laßt sie in Frieden. Auch wenn eine Tochter Matthias Erzbergers einmal vor das große Publikum hinträte, wäre Schweigen ein Gebot des Taktgefühls.
31. Januar 1929 (Donnerstag)


21

Freund Hünefeld - Immertreu vor Gericht - Die armen Zimmergesellen - Nacktplastiken in der Friedrichstadt - Fritzi Massary - Pallenberg über die Berlinerin.

Seit gestern will mir eine alte Bibelstelle nicht aus dem Sinn: "Es ist mir leid um Dich, mein Bruder Jonathan; ich habe große Freude und Wonne an Dir gehabt; Deine Liebe ist mir sonderlicher gewesen, denn Frauenliebe ist." Man mußte ihn liebhaben, diesen Freiherrn v.Hünefeld, der selber von Liebe zu Deutschland lohte und von Herzen Gott und dem König diente. Ein Mensch: ganz Idee und ganz Tat. Ein Mensch: täglicher Sieger über den von Krankheit zermürbten, im Kriege zerschmetterten Körper. Nichts, was andere Lebensgenuß nennen, war ihm beschieden. Er nährte sich von Milch und etwas Zwieback. Er war auf einem Auge fast blind und so nervenempfindlich, daß er keine Brille tragen konnte; auf dem anderen, wo er - wahrlich nicht aus Geckentum - ein scharfes Monokel trug, so kurzsichtig, daß er beim Greifen nach einem vor ihm stehenden Glas dieses manchmal umstieß. Ein linkischer Körper wurde allein durch eisernen Willen zu höchster Leistung gezwungen, im Granatfeuer vor Antwerpen, in der Flugnacht über Labrador. Immer wieder mußte Hünefeld unter das Messer der Ärzte, auch vor und nach seinen beiden Weltflügen. Jetzt ist er der vierzehnten Operation erlegen. Drei Tage vor seinem Tode erhielt ich seinen letzten Brief, in dem er mir schreibt: "Sie glauben gar nicht, welch eine unendlich große Freude Sie mir mit Ihren gütigen und lieben Zeilen gestern gemacht haben; daß Sie dabei aber auch noch meiner Mutter gedachten, hat mich beinahe noch tiefer gerührt, als das mir seit Jahren von Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin ständig bewiesene freundliche Wohlwollen es ohnehin tut." Nicht ein Wort von der unmittelbar bevorstehenden Operation in dem Brief; Hünefeld hat von sich und seinen Nöten nie viel Wesens gemacht, auch wenn er unter Schmerzensschweiß sich wieder irgendeine unerhörte Leistung abtrotzen mußte. Er war eine grundbescheidene Natur, ließ sich am liebsten auch nur einfach "Hünefeld" anreden. Als ein ihm Nahestehender einmal an den "verehrten Herrn Baron" schrieb, antwortete er sofort mit der Unterschrift: "Ihr E.G.Hünefeld, für Sie niemals Baron oder Freiherr!" Er war nicht vermögend. Was er in Amerika durch Vorträge verdiente, benutzte er dazu, um seine "Bremen" dem New Yorker Museum und die Ostasien-Maschine nachher dem Aeroklub in Tokio schenken zu können, damit Deutschlands Ruhm hüben wie drüben gekündet würde. Diese große Erinnerung bleibt. Und es bleibt die Erinnerung an einen der liebenswertesten Menschen und aufrechtesten Bekenner unserer Zeit; und in seinen Gedichten und Geschichten und Gesichten hinterläßt er uns ein kostbares Vermächtnis. Jedes einzelne Buch möchte man auf den Arm nehmen und streicheln.

Niemals brauchte er bedauernd zu sagen, ja, hätte er doch dies oder das getan; denn er hatte immer alles schier Unmögliche getan. Er war das Gegenteil der vielen Herren Hättich und Wärich. Wie seelisch arm sind wir doch geworden, daß jetzt nicht alle Deutschen ehrfürchtig ihr Haupt entblößen! Vor einem Depeschenaushang stehen ein paar Leute und lesen die Todesnachricht. Und zucken dann die Achseln: "Der Hünefeld ? Der Reaksjonär ?" Damit ist er für solche Menschen abgetan, die nicht ahnen, wie sehr er uns alle bereichert hat.

Aber was dieser Tage der Immertreu-Prozeß aus der Hefe der Großstadt enthüllt oder vielmehr nur andeutet, das wird natürlich verschlungen, denn das "Heldentum" der Verbrecherwelt prickelt. Es ist ja "psychologisch" so fesselnd! Es hat schon früher Zeiten verlogener Romantik und Sentimentalität bei uns gegeben, wo der gütige Räuber, die edle Kokotte, der verkannte Mörder literarisch salonfähig waren und über die Abschaffung der Todesstrafe debattiert wurde. So vor achtzig, neunzig Jahren; ganz wie heute. Man muß immer wieder sagen: wir werden nicht dauernd schlechter, nicht dauernd besser, sondern alles vollzieht sich in Wellenbewegungen. Aus Wolfgang Menzels, des großen Heine-Gegners, Betrachtungen über den Geist seiner Zeit, der um etwa 1845, könnte man jetzt seitenweis zitieren, was ganz auf unsere Tage paßte. Namentlich das Kapitel "Vom Eskamotieren des Bösen". Was ist gut, was ist böse ? Es ist alles nur psychologisch interessant, sagt man wieder einmal. Und wie einst Frau Wolf Wertheim dem Köpenicker Räuberhauptmann eine lebenslängliche Rente stiftete, so sitzt heute Frau Ullstein in Juwelen und kostbarem Pelz auf der Pressebank in Moabit und verfolgt mit bebenden Nüstern das forensische Schauspiel. Das gute Dutzend Angeklagter vom Verein "Immertreu", dessen Zusammenstoß mit den Zimmergesellen drei Todesopfer gehabt hat, enttäuscht zunächst die Zuschauer. Da ist kaum einer, der so aussieht, wie der Kommunosozialist Heinrich Zille "sein Milljöh" zu zeichnen pflegt, sondern es sind stämmige, zum Teil feiste Leute in gut bürgerlicher Kleidung, die es sich leisten können, eine ganze Reihe der teuersten Anwälte Berlins zu besolden. Die werden sie schon freikriegen, heißt es. Bis auf einen sind alle Angeklagten vorbestraft. Und wieviel Jahre Zuchthaus-Erinnerungen im Zuschauerraum und in den Korridoren vertreten sind, läßt sich kaum abschätzen. Jedenfalls muß man auf seine Sachen achtgeben. Dem Rechtsanwalt Dr. Frey ist gestern - man denke, aus dem Anwaltszimmer heraus - sein Nerzpelz im Werte von 5000 Mark gestohlen worden, während er gerade mit dem Obmann des Ringes Großberlin, zu dem "Immertreu" und die anderen Vereine des unterirdischen Berlin gehören, verhandelte. Ein paar ebenfalls gut bürgerlich angezogene weibliche Wesen aus dieser Welt sitzen während einer Pause in der Kantine des Kriminalgerichts; in ihrem eigentlichen Berufe gehen sie vielleicht auf die Straße "anschaffen" für solche Leute wie die Angeklagten. Und eine trumpft auf: "Wer sitzt uff de Anklagebank ? Det sin Männa! Warum haun se sich mit de Rotzjungs ?" Mit diesem Titel werden die Zimmergesellen bezeichnet, die, zum großen Teil in ihrer herkömmlichen Tracht, vor Gericht als Zeugen vernommen werden, nämlich von den Anwälten in die Kneifzange genommen, bis sie nicht mehr wissen, wer angefangen hat und was der Unterschied zwischen einer Haustür und einem Billardstock ist. Außerdem ist ja Waffenstillstand zwischen ihnen und der Unterwelt abgeschlossen worden. Es soll nichts herauskommen; schon die Polizei hat sich ja nur zögernd und lustlos eingemischt und wird vor Gericht auch schlecht behandelt. Überdies kommt zu den Zeugen manchmal von der Anklagebank aus halbgeschlossenen Lidern ein Blick geflogen, wie vom Krokodil im Aquarium zum Kaninchen: paß' auf, du, gleich schnappe ich zu! Und dann geht den Zeugen der Atem aus und sie erkennen keinen Täter wieder. Es sind Zustände fast wie in Chicago, sagt ein Weitgereister. Um die Zimmergesellen kann es einem leid tun, um diese jungen strammen Burschen. Sie stehen da in ihrer seit hundert Jahren unveränderten Zunftkleidung, der schwarzsamtenen Trompetenhose, der Samtweste mit Perlmuttknöpfen, dem eigenartigen Bindeschlips - der "Ehrbarkeit" - am Hemde, dem Ring am linken Ohrläppchen und dem riesigen Schlapphut, nur ohne Knotenstock, Handwerkszeug und Ränzel, mit dem man ihnen "auf Wanderschaft" durch ganz Europa bis nach Ägypten hin, meist in Trupps, begegnet. "Vater, sind das Schlowaken ?", fragte mich einmal, als es noch klein war, eins meiner Kinder. Nein, es sind deutsche Zimmergesellen, die mit ihrem "Gott grüß' das ehrsame Handwerk" und - allerdings - vielem Saufen und allerlei Mädelsgeschichten noch ein Stück rauhes Mittelalter sich bewahrt haben. Was sollen diese schlichten Menschen gegenüber den großen Advokaten-Kanonen, die, wie erzählt wird, gegen ein Extrahonorar von 10 000 Mark, das der Chef vom Ring Großberlin ihnen gibt, überhaupt anfangen ? Sie werden angeschnauzt. "Nehmen Sie doch den Schmutz aus Ihren Ohren, ich habe doch schon einmal alles gesagt!" Und nun stammeln sie und lassen sich verblüffen. Ein Zimmergeselle aus Hamburg sagt, ohne die Angeklagten überhaupt angesehen zu haben, von vornherein: "Da kenn' ich keenen von!" Ein Zimmergeselle aus Worms bekundet: "I hab' nor gsehe, deß viele Mensche uff ihn oigschlage habe!" Derweil steht draußen der Große Generalstab der Immertreuen, alle in "feinster Schale"; der Chef, mit dem großen goldenen Ehrenring, delegiert Verbindungsoffiziere zu den berühmten Anwälten, wird in weitem Kreise durch Leute zweiter Garnitur gegen neugierige Ohren abgeriegelt. Diese Wachtposten sind schon eher Zille-Typen, gleichen schon eher den Gestalten, die man mitunter nächtlicherweile am Schlesischen Bahnhof oder am Bülowbogen oder in der Schönhauser Straße herumstreichen sieht. Es ist alles wohlorganisiert. Der Präsident des Gerichtshofes - er ist schließlich auch nur Mensch - scheint der Suggestion schon zu erliegen. Was soll er mit Zeugen anfangen, aus denen nichts herauszukriegen ist ? "Was wollten Sie denn auf der Straße machen ? Eine Zigarette rauchen ? Deutschland, Deutschland über Alles singen ?", haucht er ärgerlich einen Zeugen an. Da sagt einer der Zimmergesellen laut und vernehmlich: "Pfui!" Arme junge Kerle. Ihr kriegt eine Ahnung von Justiz und Staatshoheit.

Auch unter ihnen gibt es natürlich gewalttätige Menschen. Ihr Altgesell, der in ihrem "Krug" die Unterstützungen ausgab und die Bücher führte, ist freilich schmächtig und blaß mit seinen 22 Jahren, aber in seiner Gefolgschaft stehen herkulische Gestalten. Die lassen sich nicht so leicht an die "Ehrbarkeit" kommen; wer den Schlips verliert, gerät für Monate in den großen Bann. Also sie schlagen auch zu, wenn Gefahr droht; nur sind sie keine Verbrecher. Aber in der Großstadt sind sie überall - denn sie können sich doch nicht gerade am Kurfürstendamm ein Vereinslokal mieten - in Nachbarschaft der Unterirdischen.

Die lauern abends in der Innenstadt und im Osten und Norden fünfzig Schritt abseits hinter jeder Dirne und stehen vor jedem der Lokale, in denen es zum Schluß die üblichen "Nacktskulpturen" gibt. Junge Burschen sehen wohl am Tage im Schaukasten - das ist heute anstandslos erlaubt - die Photographien dieser gänzlich ausgezogenen Mädchen und gehen abends hin. Erwarten weiß Gott welche Sensation. Dabei wird ihnen (der Eintritt selbst ist frei, nur Garderobegebühr wird bezahlt) ein unverschämtes Geld für eine Flasche sauren Weines oder gar nur einen Whisky-Soda abgenommen. Sie ahnen nicht, daß die "Künstlerinnen" arme ungepflegte Proletariermädchen sind, die für ihre Schaustellung nur 2 Mark für die Nacht bekommen. Mit der Arbeitslosenrente zusammen kann man davon freilich gerade leben. Die sogenannte goldene Jugend geht in diese Lokale längst nicht mehr. Sie sind demokratisiert. Im inneren Berlin stellt schon der junge Arbeiter das Gros der Besucher, wenigstens an den Sonnabenden.

Die goldene Jugend und das wohlhabende Alter haben bessere Lokale im Westen oder sie gehen aus Tradition zur Massary, die mit der zur Revue ausgebauten "Lustigen Witwe" wieder an der Stätte ihrer ersten Triumphe, im Metropoltheater, angelangt ist, wo sie einst mit dem unvergeßlichen Giampietro im Bunde die Zuschauer und Zuhörer hinriß. Vielleicht soll das ein Abschied sein. Es wäre auch die höchste Zeit. Frauen von nordisch-germanischer Abstammung - wie etwa Lucie Höflich - bleiben viel länger jung und wechseln doch rechtzeitig in das Fach der Mütter, während die Massary immer noch knospende Tänzerinnen mimen will. Sie hätte längst mit einem großen Vermögen sich zurückziehen können, denn 1200 Mark Tageshonorar sind kein Pappenstiel, aber, wie man sagt, ist das meiste davon immer in Spielklubs hängengeblieben. So viele unserer großen Darsteller und Darstellerinnen jeuen leidenschaftlich. Vor einigen Jahren hat Fritzi Massary - ich selbst habe es verblüfft anerkannt - durch eine kosmetische Operation die Gesichtshaut wieder glatt bekommen, sah sie wieder ganz jugendlich aus. Man würde jetzt, wo ihr hagerer Hals mit den vielen Strängen einem Rangierbahnhof ähnelt, selbst darüber noch hinwegsehen und die Augen schließen, wenn nur ihre Stimme noch zureichte, die schrill und blechern und nasal geworden ist. Was bleibt denn noch, abgesehen von ihrem darstellerischen Talent ? Lediglich die Toiletten; deren Luxus will Berlin W immer wieder genießen, um sagen zu können: "Sowas können nur wir uns leisten." Aber da täte es ein Haubenstock in einem Schaufenster doch auch. Man muß endlich einmal, frei von aller falschen Galanterie, das heraussagen, damit der Mitwelt die Erinnerung an die großen Tage der Massary nicht durch ihre Abstiegszeit völlig vertuscht wird. Es wäre erschütternd, sich vorzustellen, daß sonst schließlich sogar ihre Kurfürstendammer eines Tages sie sitzen ließen und nicht mehr kämen. Schon jetzt sind sie mit einem Massary-Stück nur noch zufrieden, wenn es eine junge blonde Gegenspielerin gibt; diesmal in der "Lustigen Witwe" die entzückende Uschi Elleot, Karola Toelles Schwester.

Auf wieviel Jahre man die Massary schätzt, darf man nicht mehr sagen, denn dann kriegt, wir haben es ja erlebt, ihr Mann, Max Pallenberg, aus Ritterlichkeit einen Wutanfall. Er als Darsteller humoristischer Rollen und als Wortjongleur ersten Ranges ist ja vom Alter für seine Person unabhängig. In dem diesjährigen Presse-Almanach, der Aphorismen über die Berlinerin bringt, hat er mit seinem Humor wieder den Vogel abgeschossen. Da schreibt er: "Den Bunzlauern antwortete ich seiner Zeit auf die Frage, was ich von der Bunzlauerin hielte: die Bunzlauerin ist die hinreißendste Frau der Welt! Sie fragen mich: was halten Sie von der Berlinerin ? Da kann ich nur sagen: Arme Bunzlauerin!" Das geht unseren Damen glatt herunter wie Schlagsahne, die sie Gott sei Dank wieder essen dürfen, seit Weibliches und Vollschlankes von der Mode nicht mehr so verpönt wird. Nur neigt sich schon wieder die Wage zur anderen Seite. Aus vollschlank wird fettschlank. Die Gummigürtel- und Korsettindustrie hofft auf gute Zeiten.
7. Februar 1929 (Donnerstag.)



Glossen 16 - 18

Jahresinhalt

Glossen 22 - 24

© Karlheinz Everts