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Gründet Reichsverbände - Keine Wandervögel mehr - Tanz im Freien - Noch einmal der Chile-Wein - Steuerfreiheit für Millionäre - Der Minister mit drei Wohnungen - Im Wannseezuge.
Wenn man es eilig in Berlin hat und im Telephonbuch einen Herrn Müller oder Kohn aufsuchen muß, dessen Vornamen man nicht kennt, kann man blaurot anlaufen. Beinahe so ist es aber auch schon, wenn man irgendeinen Reichsverband nachschlägt. Viele von ihnen mögen ja blutnötig sein. Aber ich habe den Eindruck: am nötigsten für den Herrn Generalsekretär. Wer heute einen Lebenszweck und eine feste Einnahme haben will, der gründet einen Reichsverband für etwas oder gegen etwas und wird sein Geschäftsführer. Der Verband beteiligt sich an etwas für etwas oder gegen etwas. Er macht Eingaben an Behörden und Parlamente für etwas oder gegen etwas. Er beruft Protestversammlungen ein. Er veranstaltet ein Jahresfest mit Tombola und, so ist es in Berlin Sitte, mit 30 prominenten Künstlern, von denen kein einziger erscheint. Dann wird ein Pressechef ernannt, der die Zeitungen mit Zuschriften und Drucksachen bombardiert, die bestenfalls einmal unter "Vereinsnachrichten" in Nonpareilleschrift, meist aber im Papierkorb landen. Jede Satzungsänderung ist eine Staatsaktion. Es fehlt nur noch ein Reichsverband gegen Vereinsmeierei; der hätte in Deutschland das reichste Arbeitsfeld. Je mehr es einem Lande an Männern gebricht, desto mehr Vereine hat es, - aber niemals kann man doch aus hundert halben einen ganzen Mann machen. Der wird nicht aus Abstimmungen und Vertrauensvoten, sondern aus Gehorchen und Befehlen geboren.
Das scheint allmählich zunächst unserer Jugend einzuleuchten. Sie fängt wieder an diszipliniert zu werden. Schon seit Jahren ist es mir augefallen, daß man in Berlin und Umgegend kaum mehr "Wandervögel" in der bekannten Vorkriegsaufmachung trifft. Wo man wirklich noch einen Schillerkragen und eine wehende Mähne sieht, da sind es meist junge Kommunisten. Weil die Wandervögel vielfach undiszipliniert und verträumt und unklar gefühlsselig waren, sind sie zum Teil nach links abgeglitten und haben unter der roten Jugend allerdings manches Gute ausgerichtet. Aber die nationale männliche Jugend ist heute schon pfadfindermäßig angezogen und stellt sich unter militärisch straffe Zucht. Einer meiner eigenen Söhne erklärte noch nach dem Kriege, er werde nie im Leben einen Hut tragen; heute warte ich von Tag zu Tag darauf, daß er mich um einen Zuschuß zu einem Frackanzug bittet. Vor acht Jahren kannte ich Lehrerinnen, die in Sandalen und mit zerkratzten kahlen Waden herumliefen. Die seither mündig gewordenen Jahrgänge aber haben wieder seidene Strümpfe. Die "jugendbewegte" Urwüchsigkeit und Schlampigkeit ist Gegenstand des Spottes in der Jugend selbst geworden. Es mag sein, daß noch hie und da im Reiche - auch die prächtig disziplinierte Roßbacher Spielschar gehört ja dazu - die alte Wandervogeltracht, leicht verändert, auch in unseren Kreisen noch üblich ist, mit Schillerkagen und Klampfe und Kochtopf, aber in Berlin und Umgegend ist es damit aus. Hier hieß es früher immer, wenn es Skandale und Beshwerden gab, man müsse zwischen "richtigen" und falschen Wandervögeln unterscheiden. Jetzt hat man es leichter. Es sind fast ohne Ausnahme falsche, nämlich rote; und man geht draußen in weitem Bogen um sie herum. In der Innenstadt waren sie es, die in diesen Maitagen auf dem Potsdamer Platz und Alexanderplatz, am Wedding und in Neukölln demonstrierten, davonliefen, Haue kriegten und schuld daran waren, daß schließlich 23 Tote, meist aus den Reihen Unbeteiligter, als einziger "Erfolg" der Krawalle von ihren Angehörigen begraben werden müssen.
Am morgigen Himmelfahrtstag - ich schreibe schon vorher, denn ich will auch durchbrennen - wird man ja noch alle Flußläufe und Waldwege um Berlin von diesen Wanderern bevölkert sehen, weil sie nach der Niederlage in den ersten Maitagen nun einen Renommierbummel dort, wo er nicht verboten ist, nötig haben. In der Stadt selbst hat, wie gesagt, unter Bürgerlichen die herkömmliche Tracht wieder gesiegt. Schon wegen des Tanzens. Man kann es unseren jungen Mädchen nicht verdenken, wenn sie jetzt, wo bei dem plötzlichen, tropisch plötzlichen Sommerausbruch wieder "überall im Freien" getanzt wird, sich nicht gern einem Langmähnigen mit Zottelbrust in den Arm schmiegen. Schon vor dem Kriege wurde jährlich am 14. Juli, am Bastilletag, dem Nationalfest, in Paris auf den Straßen getanzt. An lauen Sommerabenden auch wohl auf der Digue zwischen Ostende und Westende. In Deutschland nirgendwo. Jetzt aber geht der Berliner - und auch der hergereiste Fremde - nachmittags und abends in den Krollgarten am Königsplatz, Verzeihung, am Platz der Republik, der in diesem Jahre auf den verdoppelten Umfang gebracht worden ist und rundherum, nicht wie bisher nur an der Ostseite, große Weinestraden hat; in der Mitte den schönen großen Tanzplatz im Freien. Es fehlt das zauberische Meeresleuchten der Augustnächte von Ostende. Dafür rauschen aber die Bäume des Tiergartens herein. Wir gehören zu den ersten Gästen nach der Eröffnung am vorigen Montag bei 28 Grad Lufttemperatur und 4 Grad unserer Ananasbowle. Noch tanzt kein Paar zu der guten Musik. Aber während diese Neues und Altes fiedelt, auch "Josef lehrt - Fräulein Schmidt - einen neuen Schritt" mit dem Kehrreim:
"Aber Josef, Josef, laß los! |
tanzt weltvergessen und rhythmusbesessen ein kleines vierjähriges Mädchen, die Arme in Verzückung erhoben, taktgemäß mit Wechselschritt daher. Kommt ein kleiner fünfjähriger Junge, sagt "Du! Du!", hopst und tapst. Ein einziger Blick auf ihn, dem die Musik offenbar nicht in den Gelenken sitzt, und schon ruft das Mädchen "Laß mich! Laß mich!" und wirbelt in Pirouetten davon. Die Mutti schaut glücklich zu. Ob das Kind Tanzunterricht bekomme, frage ich. Aber neine, das Kind solle nicht affig werden; aber es habe früher tanzen als sprechen können, es sei schon im zweiten Lebensjahr jedem Rhythmus gefolgt und erfinde selber immer wieder neue Figuren. Da kann man doch wirklich sagen, daß nicht "der Krieg daran schuld" ist. So etwas liegt einfach im Blut, und der Tanz ist nur übersetztes Pulsen. Vielleicht wird die Kleine einmal eine berühmte Tänzerin; auf jeden Fall aber eine Wonne für den Partner.
Sollte ich die Zeit ihrer Blüte erleben, so werde ich dann jedenfalls, wenn es nach den Wünschen der Linken geht, schon verblödet sein; wenn ich es nicht überhaupt schon sei, meint sie. Zu meinem innigen Vergnügen lese ich nämlich in einer radikalen Berliner Monatszeitung, Rumpelstilzchen habe im letzten Bande ("Klamauk muß sein!") seiner Plaudereien, um französischem Rotwein Abbruch zu tun, chilenischen Rotwein empfohlen; da würden die Franzosen es ihm gönnen, wenn er sich daran das Delirium ansaufe! Wörtlich so. Famos, famos. Der fromme Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen, denn dazu ist der Wein erstens zu rein und bin zweitens ich zu mäßig. Aber nun will ich ihn, den Berliner Französlingen zum Trotz, erst recht empfehlen und sogar öffentlich den Vertreter nennen, von dem ich ihn beziehe: Kapitänleutnant a.D. Sinnecker, Berlin-Reinickendorf W, Berliner Straße 82. Und zwei Geschichten dazu erzählen. Hier die erste: Das Haus Seefahrt in Bremen, die Vereinigung von Großkaufleuten, Schiffsreedern und sonstigen hanseatischen Prominenten, veranstaltet neulich wieder die bekannte alljährliche "Schaffermahlzeit", zu der traditionsgemäß französischer Rotwein gereicht wird. Zu Angeboten werden 17 große Weinfirmen aufgefordert. Eine schickt dazu - wie verlangt, etikettlos - drei Flaschen des köstlichen chilenischen Cap Coronel. Zehn Herren der Gesellschaft und ein geprüfter Weinschmecker kosten die Proben. Nicht einer kriegt es heraus, daß der Cap Coronel nicht französisch ist; und dieser Cap Coronel wird unter den fünf besten Weinen herausgestellt. Allerdings dann, da nun einmal französischer der Tradition entspreche, nicht aufgetischt. Nun die zweite. Der Inhaber der chilenischen Weinfirma, glühend national, Stahlhelmmann, der nie in seinem Leben auch nur einen Tropfen welschen Weines verkaufen würde, sondern ihn durch den vom Cap Coronel, wo deutsche Kreuzer den herrlichen Sieg über Engländer erfochten, möglichst ausstechen will, erfährt, daß die hinterlassene Tochter des Admirals Graf Spee - er selbst und seine beiden Söhne sind bei den Falcklands-Inseln gefallen - nicht gerade mit Glücksgütern gesegnet ist. Und er weiß, wie die Deutschen in Santiago und Valparaiso und sonstwo in Chile denken, denn die haben, als der neue deutsche Gesandte hinkam und sich einen Empfangsabend mit schwarzweißroten Fahnen verbat, ihn wissen lassen, daß sie ihm dann überhaupt kein Empfangsfest machten. Also diese Deutschen werden von dem Chilewein-Importeur mobilgemacht für die Gräfin Spee, und nahezu 11 000 Mark ergibt die Sammlung!
Das sind übrigens dieselben Chiledeutschen, die seinerzeit, als ich von "Emden"-Kapitän Müllers Witwe erzählte, die, weil erst nach der Pensionierung ihres Mannes mit ihm verheiratet, keinen Pfennig Witwengeld erhalte, im Handumdrehen über 20 000 Mark für sie zusammenbrachten. Es sind die besten Deutschen, unsere Auslandsdeutschen. Wenn sie aber nach Berlin kommen, müssen sie ihre Zunge hüten; denn das Republikschutzgesetz ahndet scharfe Kritik und böses Gelächter. Aber wissen möchte ich doch, was unsere Auslandsdeutschen zu der Aera Hilferding sagen. Dieser Sozialdemokrat bringt, weil sonst das Reich aus den Ultimosorgen nicht herauskommt, ein Gesetz ein, das die Steuerfreiheit für Millionäre proklamiert! Nämlich, wenn sie die neue 500-Millionen-Reichsanleihe zeichnen. Schade, daß ich gerade keine Million in der Westentasche habe. Dann hätte ich mein Lebtag davon 70 000 Mark jährlich Zinsen, brauchte keine Kapitalertragssteuer, keine Vermögenssteuer, keine Einkommensteuer davon zu bezahlen, wäre also gänzlich steuerfrei, und wenn ich stürbe, brauchten meine Hinterbliebenen nicht einmal Erbschaftssteuer zu entrichten! Neben der sozialistischen Phrase eine so kapitalistische Praxis, das ist überhaupt noch nicht dagewesen. Den Steuerausfall müssen dann alle diejenigen aufbringen, die kein Vermögen, sondern nur Verdienst aus ihrer Arbeit haben. Herrlichen Zeiten führt die Sozialdemokratie uns entgegen . . .
Ihre Führer haben es schon jetzt ganz gut. Trotz der Wohnungsnot verfügt beispielsweise der preußische Innenminister Grzesinski über drei Wohnungen. Erstens seine Dienstwohnung in Berlin. Zweitens die Wohnung seiner Frau in Kassel, der er einmal geschrieben hat, daß sie jetzt nicht mehr zu ihm passe, wo er Minister sei. Drittens das Haus Nr. 3 in der Straße G. 6 der neuen Villenkolonie im Grunewald. Dort haust die Schauspielerin Daisy Torrens. Sie tritt meines Wissens in keinem Theater auf. Von der demokratischen Vossischen Zeitung wurde sie - offenbar irrtümlich - jüngst als "die liebreizende junge Gemahlin des Ministers" bezeichnet, und weil es offenbar nur ein Irrtum war, erhob auch kein Staatsanwalt Klage wegen Beleidigung. Es gab nur ein Dementi. Herr Minister Grzesinski dementierte, daß er mit seiner "liebreizenden jungen Gemahlin" kürzlich auf einer Vergnügungsreise in einem österreichischen Hotel abgestiegen sei. Das glaubt ihm jedermann auf's Wort. Sozialdemokratische Genossen-Minister lügen ersten überhaupt nie und zweitens befindet Frau Grzesinski sich tatsächlich in Kassel.
Dank dem bewundernswerten Takt und Feingefühl der roten Presse spricht sich dergleichen nicht herum, und so weiß die Masse nur, daß ihre Führer "vaterländische Opfer" bringen, wenn sie Minister werden. Die Masse weiß, wie armselig proletarisch die Minister leben und wie notwendig es ist, ihnen in Mai-Demonstrationen den Achtstundentag zu erkämpfen. Am Morgen des 1. Mai, an dem in der ganzen Stadt die geschlossenen sozialdemokratischen Mai-Versammlungen stattfanden, fuhr ein Bekannter von mir mit einem zweiten Herrn im Wannseezuge von Zehlendorf nach Berlin. Ein dritter, ein Waffenstudent, las in einer Ecke die Deutsche Zeitung. Mißfällig bemerkte das ein herzugestiegener Vierter im Bratenrock und krachenden Glacéhandschuhen, Kneifer auf der Nase, sichtliche November-Intelligenz. Nun kam noch Nummer fünf und sechs, ein bürgerliches Ehepaar mit einem stichelhaarigen kleinen Hund, der sofort auf den Polstersitz sprang, aber im selben Augenblick von der Frau zurückgerissen und auf den Schoß genommen wurde. Da brauste der Maifeierer auf. Was man sich eigentlich einbilde! Ein dreckiger Köter im Coupé! Was für ein Benehmen! Das müsse gemeldet werden! Die Dame, anfangs nur erstaunt, diente dem Aufgeregten nicht schlecht. Darauf der: "Wissen Sie überhaupt, wen Sie sich gegenüber haben ?" Daruaf sie: "Das ist mir gleichgültig, jedenfalls weiß ich, daß Sie sich proletenhaft äußern." Nun platzte der Eiferer fast vor Wut. Mein Bekannter aber zieht ein Taschentuch, wischt dem Hund die Pfoten, nachdem er die Dame um Erlaubnis gebeten, und weist das Taschentuch: es ist vollkommen sauber geblieben. Da steigt der Rote, dem die Luft ausgeht, wortlos in ein anderes Abteil,um. Es ist ein Skandal, daß Bourgeois überhaupt noch II. Klasse im Vorortzug fahren dürfen! Zu Fuß laufen müßte die Bande! Es lebe der sozialistische Zukunftsstaat mit seiner wahren Freiheit und Ritterlichkeit!
8. Mai 1929 (Mittwoch)
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Diesmal keine Eisheiligen - Herrenpartie - Sperling, Kuckuck, Pleitegeier - Zu Wasser zur Baumblüte - "Douaumont" in der Volksbühne - Eberhard Wolfgang Möller - Unsere Kriegsmütter - Prinz Alexander Ferdinands Einsegnung.
Diesmal haben die Eisheiligen also schlappgemacht; am Pancratius-, Mamertus-, Servatiustage gab es nicht den im Mai in anderen Jahren häufigen Kälterückfall. Schon der Himmelfahrtstag war "gegen jede Abmachung" ausnahmsweise nicht verregnet. Trotzdem gab er der alten Sitte der Herrenpartien keinen neuen Aufschwung; durch keine langen Kleider mehr behindert, hält die Frau von Jahr zu Jahr mehr Schritt mit dem Mann, macht sie sogar die Herrenpartie als guter Kamerad mit. Besonders, wenn nur ein einziger Herr die Partie macht. So überwogen denn die Pärchen die Gruppen. In der Kutscherschwemme des Schwedischen Pavillons am Wannsee traf ich vormittags die erste größere Schar der Unentwegten, die am Brauch noch festhielten und Lustigkeit vortäuschten, wenn sie mit ernster Miene einander Bescheid gaben: "Schmettern wir noch einen ?" "Dengeln wir noch einen ?" "Verlöten wir noch einen ?" Sie schmetterten, sie dengelten, sie verlöteten noch einen, aber ihre Augen hingen verloren am Eingang drüben zur Seeterrasse, wo die Menschheit paarweise einging, immer je ein Männlein und ein Weiblein. Spät abends sah ich diese Herrenpartie, an einer anderen Stelle, auf ihrem Lastauto heimfahren. Es war ein Lastauto voll müder, aber - nüchterner Männer. Wenn man sich am Himmelfahrtstage um der Kollegen willen, mit denen man die Partie verabredet hat, auch noch so sehr in die Brust wirft, - im Grunde will man gar nicht "los von Muttern" oder gar los vom Schatz. Noch ein paar Jahre, dann ist der alte Brauch ganz im Absterben. Man beneidet diejenigen, die sich schon emanzipiert haben. Man beneidet die Paddler, die hergerudert sind und nun paarweise vor ihren Zeltchen in der Sonne liegen und sich dazu vom Grammophon etwas vorspielen lassen. Man beneidet an der Pfaueninsel den Pfarrer von der Berliner Dreifaltigkeitskirche, der mit seinen vier großen Töchtern rüstig daherschreitet. Man beneidet am Stölpchensee die lustige Familie, der die Mutter im Grase das Picknick rüstet.
Über diesen See ziehen gerade ein paar kleine Privatmotorboote mit den "Reichsfarben" am Heck. Das sind die republikanischen Sportler, die für ihre Farben ausdrücklich Reklame fahren. Es gibt ja jetzt sogar einen republikanischen Verein für Fliegerei, den "Sturmvogel", der alle überzeugt schwarzrotgoldenen Luftinteressenten sammeln will. Auf Deutsch: die Schwarzweißroten zum Beitritt zwingen. Jetzt fehlt nur noch die republikanische Säuglingsmilch. Diese parteipolitische Abstempelung von der Wiege bis zum Grabe, im Berufs- und im Privatleben, im Sport, in der Unterhaltung, in der Kunst, fällt den großberliner Zeitgenossen allmählich auf die Nerven. Innerhalb einer Herrenpartie, an der die "republikanischen" Boote vorübersausen, wird melancholisch darüber debattiert. Und einer sagt: "Heute müssen wir vorsichtig sein und dürfen das beileibe nicht lächerlich machen, sonst setzt es Strafen. Früher war ein besonderer Schutz für staatliche Symbole gar nicht nötig. Als ich Gefreiter wurde und den Adlerknopf kriegte, damals 1910, gratulierten mir alle zu dem Sperling, wie er allgemein hieß. Und wenn einer Pech hatte und der Gerichtsvollzieher kam, die Adlermarke auf die Möbel zu kleben, nannte man sie den blauen Kuckuck, und kein Mensch wurde deswegen bestraft. Aber wenn jetzt einer Pleitegeier sagen wollte, dann würde der Staatsanwalt ihn gleich am Kragen fassen."
Als Berliner Sehenswürdigkeit hat die Herrenpartie bald ausgelebt, aber zur Baumblüte nach Werder müsse man auf jeden Fall, wird den Fremden von den Hotelportiers immer noch gesagt. "Um die Sitten der Eingeborenen dieses Landes zu studieren", haben also auch auf meinem Dampfer, der vom Bahnhof Friedrichstraße die Spree und dann die Havel in vier bunten Stunden hinunterfährt, verschiedene Tschechen, Ungarn, Italiener, Engländer, Südamerikaner aus den umliegenden Hotels Platz genommen. Sie notieren, daß alle halbe Minute irgendein Kellner "Bier gefällig, die Herrschaften" sagt; dann Kaffee, Keks, Schokolade, Salzstangen. Und das frühmorgens nach dem Frühstück. Sie notieren das Relief des großen Schlachtendenkers an der Moltkebrücke, das dem Berliner nie auffällt, und sie notieren den Besuch in den Gartenlokalen an der Spree. In den "Zelten" ist es noch leer. In einer anderen Freiluftkneipe sitzt eine einzige junge Dame unter grünem Laub und zwischen Sonnenkringeln an einem Tisch, während weit und breit sonst alle unbestzt sind. Steuert zielbewußt ein junger Mann auf sie zu, lüftet den Hut und sagt: "'tschuldigen, Fräulein, ist noch ein Stuhl frei ?" Man rutscht an der schwimmenden Jugendherberge im Tiergarten vorbei, dann an der Unendlichkeit Charlottenburgs mit seiner Großindustrie am Wasser, die der Berliner auch kaum kennt, und sieht gleich dahinter die riesige Siemensstadt. An der Schleuse gibt es Aufenthalt: "A g'schlagene halb Stund', hier warten ? Na Sie g'fallen mer!", ruft entrüstet ein Passagier dem Kapitän zu. Es ist nicht recht ersichtlich, weshalb er sich beschwert. Die ganze Zeit über hat er sich nichts angesehen, sondern nur seinen "Silbenrätselbleistift" benutzt - das ist nämlich so einer, der oben einen Radiergummi hat - und die Umgebung um Rat gefragt. "Wernigerode, sagen's, hoaßt die Stadt im Harz ? Jetz soll ma dees als Minchner wiss'n!" Auf der Havel, am Wannsee, auf dem Templiner und dem Schwielowsee löst der Mann immer noch sein Rätsel. Dann machen in Werder alle die Fremden, die Süddeutschen, die Westdeutschen, die Ostdeutschen, die Ausländer große Augen, drängen sich mit der Masse - denn Dutzende von Dampfern löschen hier Menschenfracht - zwischen den Rummelbuden und Luftschaukeln und den fast vor jedem Hause stehenden Tischen mit Obstweinen durch und streben nach oben zur Blütenhöhe. Kein Sitzplatz mehr: rund 60 000 Besucher in Werder. Dazu noch Schützenfest in der Stadt unten. Aber was man von Jahr zu Jahr mehr feststellt: kaum Mittelstand mehr, sondern junger Janhagel. Auch Janhagel mit Privatauto. Im Garten der Bismarckhöhe sitzen zwei solcher Ehepaare. Eine der Frauen ist schon zu Mittag "so blau", daß sie sich mit den Fingern Ölsardinen aus der Büchse nimmt, dann sich auf den Rücken legt und mit den Beinen in der Luft wedelt. Tschechen, Ungarn, Italiener, Engländer, Südamerikaner stauen sich an dem Tisch, kritisieren ihre Dessous und "die Sitten der Eingeborenen dieses Landes". Im Tanzsaal wird von dem heimtückischen starken Obstwein ebenso viel getrunken wie draußen. Die Tanzlust ist nicht sehr groß. Die Beine sind, ach, so schwer und der Kopf noch schwerer. Gelegentlich wird "Damenwahl" verkündet, dann rekelt ein Jüngling sich mal empor. Es wird Zeit, daß die "Boomblüte", die noch bis vor wenigen Jahren eine Sache voll Volkshumor war, aber jetzt immer platter wird, gegen Abend widerlich ist, allmählich so "exklusiv" wird wie ein Vorstadtrummel, nur noch von "Halbstarken" besucht.
Man soll das Volk bei seiner Arbeit aufsuchen, wenn man es kennen lernen will, hat schon Gustav Freytag gesagt; sucht man es bei seinem Vergnügen auf, wo die Berührung freilich leichter ist, so bekommt man nicht immer ein richtiges Bild. Fast am allerwenigsten ist heute das Theater ein untrüglicher Kulturpegel. Dazu wird es zu sehr von den Grüppchen der Intellektuellen der anderen Rasse aus Berlin W und von den Parteigestempelten bestimmt. Was ist aus der wundervollen Volksbühne geworden, die einst unter Friedrich Kayßler unsere beste war! Ein Tummelplatz für zuchtloses Ensemble und ein Demonstrationsort für die kommunistische Galerie. Die stiert vor sich hin und wartet auf das Stichwort. Dann brüllt sie. Dieses Stichwort wird ihr von der verängstet spießerischen sozialdemokratischen Leitung des Theaters immer zugeworfen. Als nach der Mai-Revolte die Berliner Erstaufführung von Eberhard Wolfgang Möllers "Douaumont" vor sich ging, hatte man das im Buchtext gar nicht vorhandene Stichwort "Auch über Euren Köpfen sausen die Knüttel!" eingefügt, worauf alsbald das donnernde Echo kam: "Nieder mit Zörgiebel! Nieder mit den Bluthunden von Polizisten! Hoch Moskau! Hoch die Weltrevolution!" Die Schauspieler, mißbraucht zu politischen Einpeitschern, spielten erregt und schlecht, lange nicht so ausgeglichen wie die der Uraufführungen in Dresden und Essen. Jetzt ist der Alb von ihnen gewichen, obwohl noch fast an jedem Abend dasselbe Theater im Theater stattfindet; sie spielen ausgezeichnet, nur der Hauptdarsteller, Leo Reuß, schreit noch zu sehr, ist noch zu sehr Kulissenreißer, statt das Dumpfe, Verglotzte, Visionäre des Soldaten-Heimkehrers wiederzugeben. Alles dies hat dem Stück des jungen Dichters in Berlin geschadet. Ach so, das sei diese kommunistische Sache, jawohl, man wisse Bescheid, sagt jedermann. Ich selber, als alter Frontsoldat, als voraussetzungsloser Kritiker, habe aber bis in die tiefsten Tiefen erschüttert dagesessen und innerlich dem jungen Dichter für sein Werk gedankt. Meine weniger unbeeinflußte Frau neben mir zupft mich am Ärmel und - die Sache geht ihr auf die Nerven - raunt mir zu: "Das ist aber doch ganz revolutionär!" Da schwillt mir fast die Zornader. Ich möchte nicht im Einsaugen der gewaltigen Gesichte gestört sein. "Schillers Räuber waren viel revolutionärer!", knure ich kurz. Atemlos folge ich der Handlung. Der Heimkehrer Odysseus! Der Mann, in dem das große Erleben vom Kriege, von Verdun, von Douaumont, noch so brandete, daß er Jahre nach dem Kriege nicht heimfand, sondern erst innerlich seiner selbst Herr werden wollte. Nun ist er daheim. Nun kommt die letzte Krise. Nun findet er, zunächst unerkannt, ein Plätzchen im Hause seiner zimmervermietenden Frau, der reinen, von Freiern umworbenen, die sich kümmerlich mit dem heranwachsenden Sohne durchschlägt. Alle Phasen der Odysseus-Tragödie, ins Modernste übertragen, spielen sich vor unseren Augen ab. Der Mann erficht endlich den Sieg über die Gegner und über sich selbst, aber erst, nachdem er ihnen in Szenen von ungeheuer eindringlicher Gewalt das Grauen und die Größe des Krieges klargemacht hat. Wie die beiden Freier, der Schieber und der Studienrat, für die der Krieg in Großverdienen oder in Hurrapatriotismus sich erschöpfte, ihn nun sehen, wie er sie schüttelt, wie vor den hypnotisch Gebannten auf der Bühne aus dem möblierten Zimmer sichtlich die Kasematte 8 von Douaumont wird, wie sie zusammensinken und wie alle Tünche von ihnen abfällt, das ist von Shakespearescher Wucht, das ist von einer Größe, wie sie bisher keiner unserer jungen Dichter erschaute. Der Auftritt, der nachher zu den Demonstrationen Anlaß gibt, spielt in einem Kino. Man hat den Heimkehrer, um ihn "vernünftig" zu machen, zu diesem Amüsement geschleppt. "Blut und Rosen". Pulverdampf und Liebesgeschichte. Kitsch. Das kennen wir. Ich bin ja in dem Fliegerfilm "Wings" gewesen und weiß die Mischung; jeder Soldat sagt da nur: man kriegt das große Kotzen. Den Heimkehrer aber packt die Wut. Er macht Aufstand im Kino. Er reißt die Leinwand herunter. "Das ist Revolution!", empfindet die Galerie. Jawohl, aber es ist die Revolution des Frontsoldatentums gegen das Verpinseln des großen Sterbens für eine Idee.
Bei Eberhard Wolfgang Möller ist es noch allerlei mehr. Er wollte nicht nur das erste deutsche literarische "Denkmal des unbekannten Soldaten" schaffen, sondern auch das erste deutsche literarische Denkmal für die Kriegsmutter. Er war ein Kind, als der Sturm losbrach. Der Vater - der Bildhauer draußen in seinem schönen Häuschen mit Garten in Berlin-Südende - hatte es während des Krieges und hat es noch heute knapp. Ein Wunder, ein wahres Wunder, wie da die Mutter alles zusammenhielt und zwei Söhne durch das Gymnasium und auf die Universität brachte. Der jüngere studiert die Rechte. Der ältere, unser Dichter, hat sein Studium, Philosophie und Ästhetik, beendet. Es ist nicht nur seine Mutter, die hier, nicht einmal als Hauptfigur, ihr Denkmal erhält, sondern die deutsche Mutter und Frau überhaupt. Das ist ein Typ, der für die Intellektuellen von heute ja gar nicht existiert; sie interessieren sich nur für das Franziska-Problem der Halbwüchsigen oder für die Dreiecks-Mondäne. Ein prächtiger, kluger, gebildeter Mensch, dieser junge Möller, - man "muß ihn direkt lieb haben", weil er so aus seiner eigenen Seele heraus Richtung faßt und sich keiner "Richtung" von außen verschreibt, keiner Partei und keiner Strömung. Es sei denn die eine Strömung, die einmal fortreißend werden muß: deutsche Jugend! Er gehört zu einer Jugend, die es hart gehabt hat. Von des Vaters Hand modelliert steht draußen im Steglitzer Stadtpark ein bronzener Jüngling, steht noch manche Porträtbüste in Häusern, die früher wohlhabend waren, aber die Zeiten sind eben andere geworden. Und das härteste für diese Jugend, die den Krieg als Kind erlebte, war doch nicht einmal das materielle Entbehren, sondern der Zusammenbruch und darnach das große Schweigen. Sie war immer gläubig gewesen. Sie hatte bis zum letzten Tag auf den Sieg der guten Sache gebaut. Und nun war alles verloren und - zehn Jahre lang bemühte man sich, über den Krieg hinwegzudenken. Nichts von Größe! Alles Schwindel!
Eberhard Wolfgang Möller baut, ohne jeden Hurrahpatriotismus, das erschütternd Große für uns wieder auf. In Frankfurt, Stuttgart, Hamburg, Wien und anderswo wird "Douaumont" noch über die Bretter gehen und dafür zeugen. Möller gehört zu den "Jungen", die es nicht verstehen, daß Deutsche, etwa am Volkstrauertag, nicht zwei Minuten zu Ehren der Gefallenen stillzustehen vermögen, sich in Ehrfurcht zu beugen, sondern immer Deutschenlied und Internationale gegeneinander prallen lassen.
Ein paar Tage vorher habe ich etwas von deutscher Jugend gesehen, das auch nicht ohne Eindruck auf mich blieb. Von deutscher, fürstlicher Jugend.
Draußen in der Friedenskirche von Potsdam, im frühlingsduftenden Sanssouci, wurde des Prinzen August Wilhelm Sohn, Alexander Ferdinand, vom Domprediger Döhring eingesegnet. Noch nie sah ich so viele Zollern auf einem Fleck wie hier im Altarraum. Darunter mehrere kleine Mädchen in langem losen Haar, eines sogar mit Matrosenmützchen statt Topfhuts in alter guter Manier. Eine schlichte Feier ohne Hofmarschall und jegliches Brimborium, eine eindringliche Rede über das Heldische auch im Durchleben schwerster Zeit; und nachher unter den wirklich nicht üppigen Konfirmationsgeschenken für den jungen Prinzen das schönste: die Zusage, daß er von nun an Jungstahlhelmer werden dürfe.
16. Mai 1929 (Donnerstag)
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Season und Saison - Die Mailänder Scala ist da - Weshalb keine Serenaden ? - Geplante Führungen - Gewimmel auf dem Wasser - Großdeutsche Jugend - Emil Jannings' Heimkehr - Bloß kein Weekend mehr!
So etwas macht sich, aber man kann es nicht machen: eine "Season" nämlich.
Denn dazu gehört eine Society.
Ich bitte um Vergebung, daß ich die englische Bezeichnung anführe; aber damit wird die Lage gleich dem Leser klar.
Wir haben in Berlin doch keine Gesellschaft im Londoner Sinne, nämlich eine geschlossene Aristikratie mit und ohne Titel, die neben ihrem Stammsitz auf dem Lande, in dem man den Winter über familienhaft lebt, ein Stadthaus besitzt, das man Anfang Mai zur großen Treffzeit, genannt Season, bezieht. Schon vor Krieg und Revolution hatten wir nur Andeutungen einer Society; und jetzt haben wir gar nichts mehr, nur noch Kurfürstendamm. Nicht einmal ein "Corso", diese tägliche Wagenauffahrt der Vornehmen, die es sogar in Rom gab, ist uns je gelungen. Kaiser Wilhelm I. versuchte es damit. Aber zwischen die aristokratischen Viererzüge preschte ein neugieriger Schlächterkarren oder rumpelte eine Droschke zweiter Güte, und aus war es. Auch Kaiser Wilhelm II. scheiterte mit demselben Unterfangen nachher in der Siegesallee. Es fehlte uns ja vor allem auch das schauensfrohe und auf das Repräsentieren nationalen Reichtums stolze Publikum dazu; hierzulande neidete doch immer jedermann dem lieben Nächsten den Taler mehr und rechnete jedem Prinzen seine Apanage nach. Der "Mann auf der Straße" in London war ganz anders. Er blähte sich innerlich auf, wenn er dem Fremden die Bank von England zeigen konnte oder die breite Reiterallee Rotten Row im Hyde Park, auf der die Grauhaarigen und das Jungvolk der Gesellschaft Anfang Mai sich zu Pferde treffen, ehe die "Season" mit den Vorstellungen bei Hofe und den Festaufführungen in der Covent-Garden-Oper beginnt. Alles, was einen Namen hat, nicht nur die Aristokratie von Geburt, sondern auch die Aristokratie von Leistung kommt zum Königspaar; so ist augenblicklich beispielsweise die Tennismeisterin Helen Wills dabei. Nachher in Covent Garden blitzen Parkett und Ränge von altem Familienschmuck, wimmelt es da von Herzoginnen und Fürstinnen neben den Frauen auch von großen Industriekapitänen. Das Volk von London aber rast die fünf Treppen empor und stürmt auf der Galerie die Bänke, wo es für nur 2½ Mark Zutritt hat und sich dafür satt sieht an all der Pracht. Eine solche "Season", die in London damit abschließt, daß die Familein der Society ihren alljährlichen Ausflug auf den Kontinent antreten, können wir Berliner also nicht haben; heute weniger denn je. Wir nennen es auf französisch "Saison" und wollen es doch wieder erzwingen. Aber dazu fehlt uns der Hof, fehlt uns die Gesellschaft, fehlt uns das Volk.
Es kommt in diesem Jahr nur, nach ungeheurer Reklame in ganz Deutschland und dem Auslande, auf ein paar Festspielwochen in den Theater - und zwar zu einschließlich der Galerie unerschwinglichen Preisen - heraus, was mit viel weniger Trara München und andere deutsche Städte schon viel besser gemacht haben. Erwähnenswert ist darunter nur das mehrmmalige Gastspiel der Mailänder Scala. Mit über 400 Personen, mit Darstellern, Musikern, Perückenmachern, Garderobieren, Beleuchtern und der etwas verstaubten Szenerie ist die berühmte italienische Oper unter Toscanini hier und spielt für die Hochfinanz, die Diplomatie, die Stargagenbezieher und die wenigen sonstigen Leute, die sich den Eintrittspreis leisten können. Deshalb ergießt sich noch kein Strom von Fremden nach Berlin. Und in der Not der Zeit fehlt vor allem das, was in London den Kern ausmacht: der Landadel. Sitzt man jetzt im Theater, so hat man nicht den Eindruck, unter deutschen Menschen zu sein. In dem internationalen Publikum aber wächst der Ruf der italienischen Kunst. Mussolini hat Sinn für so etwas. Er hat einmal gesagt: "Ein Eisenbahnwagen voll guter Künstler ist mehr wert als ein Eisenbahnzug voll propagandistischer Broschüren."
Ein rechter Gedanke ist den Berliner Stadtvätern und dem Verkehrsamt freilich gekommen. Nicht der nächstliegende, das herrlichste Naturtheater auszunutzen, die großen Seenflächen und Flußläufe rund um Berlin, und da Serenaden oder sonstige Unternehmungen zu veranstalten, die ein Schauspiel für Hunderttausende wären, mit Sommernachtsfesten auf Luxusschiffen für die Zahler und mit Wasserfeuerwerk für die Zaungäste. Man könnte ja auch, wenn man nicht vereidigter Pazifist wäre, eine Miniaturschlacht vom Skagerrak am richtigen Jahrestage auf dem Templiner See aufführen. Oder Wikingerschiffe daherfahren lassen, etwas ähnliches wie die alljährliche historische Regatta vom Canal Grande in Venedig machen. Nein, darauf ist man nicht gekommen. Dafür aber auf den an sich auch sehr guten Gedanken, den Hunderttausenden von Saisonbesuchern das arbeitende Berlin zu zeigen, Wirtschaftsführungen zu machen: in Banken, Fabriken, Häfen, Druckereien, Funkstationen, Malerateliers, Telegraphenämtern, Trambahnstationen. Eine ganzen Monat lang sind täglich solche Besichtigungen vorgesehen, zu denen man sich (sie kosten einschließlich Beförderung nur 2 Mark für jeden Besucher) in dem Verkehrskiosk Unter den Linden melden muß. Aber es hat sich offenbar - in unserem Jahrhundert der Reklame - noch nicht herumgesprochen. Gestern wollte ich mir so das Großkraftwerk Klingenberg und die Färberei Spindler laut Programm ansehen, aber die Fahrt kam nicht zustande,weil sich, man höre und staune, die Mindestzahl von - 20 Teilnehmern dazu nicht auftreiben ließ! Und das in einer Stadt von vier Millionen Einwohnern mit angeblich jetzt besonders verstärktem Fremdenzustrom. Man sieht also wirklich: auch eine modernisierte Saison läßt sich so ohne weiteres nicht machen.
Auf das Wasser geht der Berliner natürlich auch ohne Saison, wenn das Wetter nur einigermaßen gut ist; und zu Pfingsten war es prachtvoll. Wir haben hier nicht die fürchterliche Enge wie auf dem oberhalb Londons so bescheidenen Wiesenflüßchen Themse, wir haben daher auch mehr als das Zehnfache der dortigen Sportfahrzeuge, eine Tatsache, über die die Engländer baß erstaunt sind, wenn sie - auf einer "Elite"-Rundfahrt - auf bequemem Motorschiff bei Mitropa-Verpflegung die Havel hinunter nach Potsdam fahren. An den wenigen Engen ist das Getümmel aber manchmal doch schier unentwirrbar. Dampfer und Motorschiffe, die den Seglern ausweichen müssen, tuten wie besessen. Das macht am Montag auch unser Dampferchen vom Märkischen Lloyd, streift aber doch den Bord einer Yacht. Deren graubärtiger alter Inhaber sagt darob, auf sein Straßenrecht sich berufend, nicht gerade Schmeicheleien. Worauf unser "Käptn", ein wenig schuldbewußt, ein wenig vorwurfsvoll, nur zu entgegnen weiß: "Ich habe Ihnen doch anjeheult!"
Wannsee und Müggelsee hatten 144 000 und 134 000 Besucher allein mit der Eisenbahn bekommen. Andere Seen im Laufe der Havel und der Spree oder abseits von ihnen hatten auch je an die 100 000 Gäste. Eine kleine Völkerwanderung ergoß sich zum Seddiner und Glienicker See, wo der Deutsche Pfadfinderbund und der Großdeutsche Jugendbund ihre Zeltlager aufgeschlagen hatten, mehrere tausend frischer Buben aus allen Teilen des Vaterlandes; die Mädchen waren in festen Gutsscheunen untergebracht. Am Sonnabend Anmarschtag. Von Meseritz und Danzig, von Bremen und Elberfeld, von Erlangen und Homburg und weiß Gott woher war die Jugend schon vor Tau und Tag, oft um 4 Uhr morgens aufgestanden, abgefahren, marschierte nun aber - alle Achtung - stramm und sauber daher und in militärischer Ordnung, einheitlich in farbigem Hemd und Kniehosen, gut diszipliniert bis zu den Dreizehnjährigen hinunter. In den Jahren nach dem Kriege habe ich an der Donau die Kinder des "Erwachenden Ungarns" gesehen, am Oeresund die Lager der dänischen Boy-Scouts, auch noch in manchen anderen Ländern die überall soldatisch erzogene Jugend, die dort noch etwas hat, was uns verboten ist: Scharfschießübungen. Bei uns in Deutschland ist der Sinn der ganzen Sache von oben her alle die Jahre hindurch verfehmt worden. Man liebt nicht die Erziehung zu primitiver Mannestugend, zu Tapferkeit und Gehorsam und Durchhalten und Kameradschaft, es sei denn, daß es sich um rote Jungmannen handelt. Um so tiefer jetzt der Eindruck in diesem Zeltlager bündischer Jugend, wo bei aller Betriebsamkeit keinerlei Unruhe herrscht, sondern alles in militärischer Sachlichkeit sich vollzieht. Unter dem beherrschenden Schwarzweißrot eine Vielheit bunter Wimpel mit ihren Symbolen und heraldischen Zeichen, dem Gardestern, der Sieg- und Kraftrune, der Wolfsangel, dem Danziger Wappen, dem Ordenskreuz der Ostmark, dem Rotweiß der Hanseaten. Und ein einheitlicher christlich-deutscher Geist als Weihe des Ganzen. Lagerwache, Post, Feldlatrine: alles sachlich und ordentlich. Man soll nach zwei Neffen eines Bekannten Ausschau halten, von denen der eine aus Breslau, der andere aus Rostock zu dem Bundestage gekommen ist. Wie macht man das nur in diesem Gewimmel von Tausenden Gleichgekleideter ? Aber man wird schnell durchgeschleust, schon ist der erste Knirps zur Stelle, bald bringt ein Student den zweiten heran. Zum Kirchgang, am Sonntag vor dem Sarkophag Friedrichs des Großen in Potsdam, haben die Jungens statt der grünen Kluft alle das weiße Festtagshemd angelegt, - und man ist erstaunt, hie und da ein buntes Burschenband darüber zu sehen. Es sind Studenten aus den großdeutschen Hochschulgilden, die beim Bundestag nicht geschlossen antreten, sondern als Führer oder als Gast bei der Jugendgruppe, aus der sie hervorgegangen sind. Kurze Hosen und Burschenband werden von ihnen nicht als Gegensatz empfunden, die dritte Eisenbahnklasse und der Rucksack oder gar Tornister stehen der "Couleurfähigkeit" nicht im Wege: es ist Nachkriegs-Jugend, es ist Langemarck-Jugend.
Das sind, neben den vielen aus anderen Bünden, die geborenen Rekruten für den einen Mann, auf den wir alle warten, der Deutschland wieder aus dem Elend herausholen wird. Der Führer allein schafft es nicht. Er braucht ein Volk, das man ihm erziehen muß. Mit dem Erziehen "im Geiste der Völkerversöhnung", aber voll Haß gegen den Volksgenossen der anderen Klasse, wie es seit der Weimarer Verfassung Rechtens sein soll, kommen wir nur immer tiefer in den Sumpf. Das Männliche muß Ideal sein. Einstweilen behelfen wir uns mit Ersatz, mit einer Heldenverehrung, die sich an die Schaubühne klammert, besonders, wenn sie Boxring heißt. Das haben wir von unseren Beefsteak-Vettern übernommen; es ist nicht alles für uns gut, was aus England kommt. Die Verhimmelung der Lieblinge vom wirklichen Theater aber ist uralt und auch bei uns heimisch. Wer sich darüber wundert, wie man jetzt den Filmstars nachläuft, der hat vergessen, daß einst bei uns begeisterte Studenten allabendlich den Bühnen-Heroinen die Pferde auszuspannen und sozusagen als Rickschah-Kulis ihren Wagen nach Hause zu ziehen pflegten. Es ist auch nichts dagegen zu sagen, wenn solches Künstlern widerfährt, die der Welt die deutsche Seele künden. Unter ihnen ist Emil Jannings sicher einer der größten. Man bemißt heute die Größe ja meist nach der Einnahme und man erzählt sich, daß Jannings, der nicht einmal ein "Filmgesicht" hat, sondern eher wie ein behäbiger Budiker aussieht, in Hollywood im letzten Jahre 1,4 Millionen Mark bezogen hat, was vielleicht etwas übertrieben ist. Einerlei: für "drüben" mag diese Wertung gelten. Uns ist Jannings als Verkörperer des europäisch-germanischen Menschen, dessen Inneres nicht mit Dollarscheinen gepolstert ist, viel mehr. Er war einst mit der blondbezopften Lucie Höflich verheiratet: das deutscheste Künstlerpaar, das wir je in Berlin gehabt haben. Nun ist er aus Amerika wiedergekommen, mit seiner jetzigen Gattin Gussy Holl, übrigens auch einer Deutschen, und deren Tochter aus einer anderen Ehe. Das ist bei Künstlern zuweilen eine etwas verwickelte Geschichte. Item, es ist Emil Jannings wie dem König David gegangen, dem sein Volk riet, er solle sich eine Junge nehmen. Alle drei, ihn und Frau und Kind, konnte man im Scheinwerferlicht bei der nächtlichen Willkomm-Aufführung der Ufa sehen und ihnen applaudieren. Scheinwerferlicht ist kalt; trotzdem standen dem Gefeierten die Schweißperlen auf der Stirn. Aber nachher sprach er ein paar gute Worte, ganz unamerikanisch, voll starken deutschen Heimatgefühls. Er hat eine so angenehme, klare, sonore Stimme, daß man wohl ein Gelingen des ersten großen Sprechfilms der Ufa von ihm im Herbst erwarten darf. Bisher haben wir eigentlich nur Geräuschfilme. Manche auf der Sprechbühne erprobten Stimmen werden undeutlich und kreischend, wenn sie in die Apparatur geraten; es ist schon ein Kreuz mit der neuen Erfindung.
An seiner Wiege, die in einem einfachen Heim in New York-Brooklyn stand, ist Jannings sein künftiger Ruhm nicht gesungen worden. Als er anderthalb Jahre alt war, zogen die Eltern nach Deutschland zurück. In Görlitz hat Emil Jannings die Bänke des dortigen Gymnasiums gedrückt, um ihm dann als Obertertianer Valet zu sagen und zur See zu gehen. Ein Jahr lang besegelte der kleine Schiffsjunge Ost- und Nordsee, dann kriegte er eines Tages in London das heulende Elend und kam wieder nach Hause. Aber alsbald packte ihn erneut die Unrast. Er wurde Schmierenkomödiant, spielte als Siebzehnjähriger mit umgehängtem Vollbart den Grafen Trast, spielte einmal am selben Abend abwechselnd (sie treten ja nie zusammen auf die Szene) den Karl und den Franz Moor mit schnellem Perückenwechsel, kam an feste, kleinere Theater, wurde von Max Reinhardt entdeckt und ging schließlich - "aus Dalles", wie er sagt - für 25 Mark täglich (und gemimt wurde nicht alle Tage) zum Film. Manchen seiner Filme habe ich gesehen, in "Sein letzter Befehl" den tiefsten Eindruck gehabt. Und nun sitzt dieser Jannings bei Schwannecke in der Künstlerkneipe und trinkt in langen Zügen mit vorgeschobener Unterlippe sein Pilsener und ist glücklich über sein liebes Deutschland. Einmal war er für den Quo-Vadis-Film sieben Monate in Rom. "Herrlich, herrlich", sagt er, "aber zuletzt zum Verrücktwerden; ich sehnte mich so nach tropfendem Regen im deutschen Walde!" Und wohl auch nach deutschen Menschen. Die seelische Leere der Hollywooder Dollarmacher ist nichts für ihn. Auch mit den üblichen Filmhelden hat er nichts gemein: er macht's nicht mit wattierten Schultern oder sieghaftem Verführerblick, und als er den "Patrioten" filmen sollte, wählte er zum allgemeinen Erstaunen nicht die Gestalt des Grafen Pahlen für sich, sondern die des wahnsinnigen Zaren Paul, der er solche ergreifenden menschlichen Züge lieh, daß der Zuschauer nicht von starkem Abscheu geschüttelt, sondern von tiefstem Mitleiden ergriffen wird.
Jetzt taucht Emil Jannings, nach Erledigung geschäftlicher Dinge, für zwei Monate in der Sommerfrische unter, ehe die neue Arbeit beginnt. Die Sensation seines Empfanges ist für die Berliner vorüber. Jede Woche bringt irgendeine neue Sensation oder irgendeine neue Mode. Augenblicklich ist das Schimpfen auf das vorjährige Evangelium vom Weekend Mode. Wenn damals Frau Schmidt kein Weekend-Häuschen, Frau Müller kein Weekend-Paddelboot, Frau Lehmann kein Weekend-Grammophon bekam, gab es Krach. Heute, wo man wieder "vollschlank" sein darf, schätzt die Berlinerin wieder das Ausschlafen im eigenen Bett daheim in den Sonntag hinein und dann den Sonntagsfrieden. Sie will doch einmal von der Wochenarbeit ausruhen und nicht immer hetzen; ein behaglicher Sonntagsausflug, ja, aber ein Übernachten außerhalb, nein. "Bloß keen Wehkenden mehr! Da is ja 't Ende von wech! Schnuppen un allerlei Weh kommt von 't Wehkenden! Ick bin for'n soliden Kaffeklatsch!"
23. Mai 1929 (Donnerstag)
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