"Rumpelstilzchen"

Klamauk muß sein !
(Jahrgangsband 1927/28)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1928

Glossen 37 - 39
24. Mai bis 7. Juni 1928


37

Der Sommer ist da - Kabarett-Pleite - Das "Delphi" - Im Top-Keller - Nach den Wahlen - Der Fall Heilmann - Das Raketenauto - Geheimrat Professor Schütte - Von Herrenpartien.

Der Sommer ist nun unleugbar da: die Berliner Asphaltwüste beginnt zu stinken, die Blumenkästen auf den Balkonen und die Damen auf der Tauentzienstraße sind frisch angepinselt, einige Tanzkabaretts machen Pleite. In der Florida am Anfang des Kurfürstendamms sind rund 240 Plätze. Auf diesen 240 Plätzen sitze vorgestern ich ganz allein und arbeite ungestört meinen Packen Abendzeitungen durch. Von meiner kleinen Zeche können die 7 Musiker, die vortragenden und tanzenden Artisten, die 6 Kellner, das Küchenpersonal, die 3 Garderobefrauen, der Portier, der Zigarrenjunge und der Gruß-August natürlich nicht leben. Am 1. Juni schließt die Florida daher ihre Bude. Wir haben wirklich ein bißchen viel von solchen Stätten, von denen nur einige, darunter die Barberina in der Hardenbergstraße, ihr großes Stammpublikum und stets auch genügend Fremdenbesuch haben, so daß sie gesichert sind. Es entstehen immer noch neue, die die alten durch luxuriöse Aufmachung zu überschreien versuchen, aber der Reiz der Neuheit läßt schnell nach. Vor ein paar Monaten "mußte" jedermann einmal in der Casanova-Bar gewesen sein, das gehörte sozusagen zur Bildung. Heute hat sie ihre Rolle schon an das Delphi abgetreten, das mit einem Aufwand von angeblich 2½ Millionen Mark neben dem Theater des Westens erbaut ist. Zwei Riesensäle mit je einem kleinen Tanzparkett in der Mitte und vielen Hunderten von Schlemmertischchen und Sesseln auf dickem rotem Teppich, über allem eine nachtdunkel getünchte hohe Decke, aus der wie Sterne die Glühbirnen strahlen: es wird der Eindruck vorgetäuscht, als säße man in südlichen Landen unter freiem Himmel in lauer Frühlingsnacht. Etwa auf der Piazza in Venedig. Oder in irgendeinem anderen Säulenhof von ungeheurem Ausmaß. Wirkliche und bloß mit guter Perspektive gemalte Standbilder auf einer durchlaufenden Pergola erhöhen die Täuschung. Und das ganze nennt sich Delphi: wahrscheinlich wird die erste und die letzte Frage an die Pythia lauten, wie man dem Konkurs entgehen soll. Soviel Amerikaner, die einen Trip "to Berlin" machen und die Kosten für unseren Vergnügungsbetrieb aufbringen, gibt es ja gar nicht. Unsere Berliner Kriegs- und Revolutionsgewinnler von der betriebsamen Rasse können aber allein das Geld nicht aufbringen, obgleich fast nur noch sie sich solchen Prachtaufenthalt am Abend zwischen leuchtenden Hummern und sprühendem Champagner leisten. Dazu fehlt dem Delphi auch jede Intimität, jede Behaglichkeit. Es ist nur Protzerei. Außerdem ist es falsch angelegt. Wenn in dem einen, einige Stufen tiefer gelegenen Saal - "Gesellschaftsanzug vorgeschrieben" - Professionals tanzen und mimen, beginnt die große Wanderung derer von den Schlemmertischchen, die auch was sehen möchten, in die Nähe, und das bringt Unruhe und Ungemütlichkeit an diese doch zum Genießen bestimmte Stätte, bringt Zusammenstöße mit balanzierenden Kellnern und Skandal wegen der schlechten Unterbringung bei knalligen Preisen. Wenn hier gelegentlich ein guter Deutscher aus der Reichshauptstadt sitzt, kommt er sich wie verloren unter allerlei Fremdvolk vor. Es geht uns da wie den Parisern, die längst nur noch Lieferanten und Bedienstete in dem "mondänen" Vergnügungsrummel sind, nicht mehr Teilnehmer. Auch der Montmartre dort ist ja nur noch eine Nummer für Cooks Rundfahrtautos.

Das Spritzige, das es dort ehedem gab, versucht man jetzt auch bei uns nachzuahmen. Im sogenannten Bülowbogen. Dufte Gegend. Wenige Laternen. Viele Apachen und so. Also das richtige Gelände. Da gibt es, in der Schwerinstraße, den sogenannten Top-Keller, in dem jetzt "Die Unmöglichen" ihr Heim aufgeschlagen haben. Dieses neueste Kabarett ist bewußt einfach und bewußt frech. Nichts von Pracht. Ein erblindeter großer Spiegel ist der einzige Schmuck in dem Lokal, von dessen Wänden der Putz bröckelt oder mit schmieriger alter Tapete verklebt ist. Man trinkt helles Bier; freilich kostet das kleine Glas 90 Pfennig. Oder einen Schwedenpunsch. Oder eine Orangeade. Oder für 1 Mark ein Gläschen sauren Mosel. Die Wände sind mit "komischen" Inschriften beklext (darunter eine: "Herzlichen Gruß zur Eröffnung. Mussolini") und mit einigen Blättern von George Grosz, einigen seiner bekannten antinationalen Roheiten, behängt. Das Ganze ist überhaupt so eine kleine Piscator-Filiale. Das Lokal selbst besteht schon seit 1887 und führte zuletzt neben dem offiziellen Titel als Top-Keller noch unter der Hand die Bezeichnung: Lesbotanischer Garten. Eine ziemlich üble Weiblichkeit versammelt sich da. Wahrzeichen des neuen Unternehmens ist - der Nachttopf. Und das Feldgeschrei lautet:

Wir sind die neue Geistigkeit,
Wir machen's mit der Dreistigkeit.

Das stimmt schon; nur ist leider von Geist sehr wenig zu merken. Mehr Marseille als Paris. Mehr Hafenkneipe als Kabarett. Vor der Vorstellung und in den Pausen vergnügt das Publikum ein etwas fettiger großer Matrose, der wie ein Berliner Marstall-Matrose von 1919 aussieht und auf der Brust etwas unrasiert ist, aber wirklich aus Bremerhaven stammt. Das ist so ein Talent aus der Kombüse eines Heringsloggers. Fabelhaft musikalisch. Hat er nicht gerade sein Banjo oder eine Harmonika. so steckt er zwei Finger in den Mund und pfeift gellend, aufreizend, fortreißend, aber gut und richtig. Und wenn er auf irgendeinen Tisch mitten unter dem Publikum springt und dort Steptanz oder Bauchtanz exekutiert, dann könnte man denken, er sei ein Professional. Seine Witze sind derb, aber nicht ganz so schamlos wie die der "Unmöglichen" auf dem Podium, dieser Piscator-Jüngelchen mit Hängenase und Kurfürstendamm-Mädchen mit Schnürfurche am Oberschenkel. Es sind sozusagen Noahs Kinder, die des Vaters Scham entblößen. Das hat sich in Jahrtausenden nicht geändert. Nur durch Ehrfurcht kommt man zu Größe, aber Ehrfurcht steht nicht im Wörterbuch dieser Leute.

Man begreift bei solchen Gelegenheiten, wie der Satz vom Untergang des Abendlandes aufkommen konnte. Es gehört wirklich eine so starke Faust wie die Mussolinis dazu, um ein Volk noch zurückzureißen. Zum erstenmal geht jetzt nach dieser Reichstagswahl, die den Roten beider Schattierungen nahezu die prozentuale Stärke von 1919 wiedergebracht hat, ein Begreifen und Erzittern auch durch unsere Mittelparteien. Sie haben alle verloren, verhältnismäßig am meisten die Demokratie, viel aber auch die Deutsche Volkspartei und sogar das Zentrum. Sie sehen nun, wem allein ihr gemeinsamer Kampf gegen die Rechte genützt hat; vielleicht sehen das auch noch einmal die Jungdeutschen mit ihrer Parole der Wahlenthaltung ein. Werden uns allen die Augen geöffnet, so ist schon viel gewonnen; eine Krankheit muß ja auch erst richtig ausbrechen, ehe sie geheilt werden kann. Auf der äußersten Linken aber züngelt bereits die Hoffnung auf, daß der demokratisch-parlamentarische Staat, der doch noch immerhin einen Rechtsstaat vorstellt, demnächst sein Ende finden und durch den sozialistischen Parteistaat abgelöst werden könnte. Ob der Rechtsstaat schon zermürbt genug dazu ist oder noch Kräfte der Wiedergeburt in sich hat, das werden wir ja demnächst aus der Erledigung des Falles Heilmann entnehmen können. Nachgerade scheint es freilich, als ob wir uns schon "russischen Zuständen" nähern, wie sie vor etwa 50 Jahren in den Verschen ironisiert wurden:

In Rußland lebt man nach Gesetzen!
Die darf der Zar zuerst verletzen.
Sodann des Kaisers Kindern
Steht's zu, das Recht zu minden.
Und schließlich auch noch jedermann,
Der die Gebühr bezahlen kann.

Setzt man für Zar den heutigen Herrscherbegriff ein, nämlich sozialistischer Parteibonze, und für die Zarenkinder die Parteiversippten bis zum Typus Barmat, für die Gebührenzahler aber unsere Kurfürstendammer, dann passen die Verse auch für uns. Heilmann, der jetzt auch in den Reichstag gewählte Führer der preußischen Sozialdemokratie, hat eine Reihe von peinlichen Fragen, die während der letzten Wochen der "Tag" an ihn gestellt hat, unbeantwortet gelassen. Er denkt wohl auch: "Wir machen's mit der Dreistigkeit." Es war ihm Eidesverltzung in Sachen seines Freundes Barmat vorgeworfen worden, und das, wie man bei dem angesehenen großen Scherlblatt annehmen muß, doch wohl nicht ohne gründliche vorherige juristische Durcharbeitung des Materials. Nun hat der politische Beauftragte des Stahlhelms das Material als Anzeige an die Staatsanwaltschaft übermittelt: da kommt also die Probe darauf, ob wir noch Rechtsstaat sind, in dem jeder Bürger vor dem Gesetz gleich und dem Gesetz verantwortlich ist, oder ob Parteipolitiker bei uns schon über dem Gesetze stehen und unangreifbar sind.

Eines macht uns aber auch in den dunkelsten Zeiten immer wieder stolz und froh, das ist der deutsche Kopf, der deutsche Erfinder, der deutsche Held. Eben erst haben wir, nachdem vor einigen Wochen der Amerikaflug Köhls und Hünefelds uns das Herz erhoben hat, den Raketenwagen Sander-Opel in Berlin daherbrausen sehen. Der feurige Drache ist unser Traum seit Jahrtausenden. Nun haben wir ihn in Wirklichkeit erlebt, nur daß er nicht durch die Lüfte einherschoß, sondern noch auf der Erde blieb; aber auch so war es grauenhaft schön. Cyrano von Bergerac hat ihn in einem Roman vorausgeahnt. Aber noch früher, genau im Jahre 1405, hat schon der Deutsche Konrad Kyeser von Eichstädt die Rakete, mit deren Hilfe man einen Drachenaufsteig bewerkstelligen könne, beschrieben; diese Handschrift wird noch heute in der Universitätsbibliothek zu Göttingen aufbewahrt. Pulver- und Dampfraketen dienten im 18. Jahrhundert in England zu Versuchen. Unser großer Mathematiker Gauß sah schon in die Zukunft, als er sagte: "Das mit den Raketen ist eine Entdeckung, größer als die von Amerika." Und nun steht das erste wirkliche Raketenfahrzeug auf der Berliner Avus vor uns geladenen Gästen, von dem Deutschen Sander in den Opelwerken erbaut. Nach ein paar einführenden Sätzen durch Geheimrat Schütte und Fritz v.Opel besteigt dieser dann das motorlose Auto, das ganz flach gebaut ist, zwischen den Rädern zu beiden Seiten kurze Stummelflügel hat, wie ein glänzend schwarz polierter Riesenmistkäfer aussieht. Nur kriecht es nicht so bedächtig wie er dahin. Sobald der Fahrer auf den Fußhebel tritt, der die Raketenzündung auslöst, schießt es sofort auf und davon. Einen Augenblick sieht man Opels gebräuntes Gesicht unter dem blonden Haarschopf, in einem Sekundenbruchteil starrt man in das Feuermeer, das achtern aus den 24 Mitrailleusenrohren des Autos sprüht, und schon ist alles in dichten Rauch gehüllt, in die milchweißen Abdämpfe, die die Sonne verdunkeln und einen keine zwei Schritt weit sehen lassen. Alles duckt sich, hält den Atem an. Langsam verziehen sich die Schwaden. Noch nebelhaft taucht ein Schutzmann in dem Blickfeld auf, dann ein Stück Rasen, nun wieder der jenseitige Straßenrand mit seinem Publikum. Ein Ruf pflanzt sich auf der Autorennstrecke fort: "Er kommt zurück!" Schon donnert und zischt der feurige Drache in 180-Kilometer-Tempo wieder an uns vorüber; 400 Stundenkilometer könnte er, wenn er wollte, machen, 10 000 Stundenkilometer sind für ein Raketenflugzeug denkbar. Ganz benommen macht man sich auf den Heimweg: das Tor zu einer neuen Welt tut sich auf. Nach dieser rasenden Fahrt in Lohe und Rauch bin ich den Spuren nachgegangen. Sie sind nicht schnurgerade. Sie flattern. Der Wagen ist durch die dauernden Explosionen aus dem Heck also nach vorwärts "geschleudert" worden. Seine Räder spielten eine untergeordnete Rolle. Trüge er nicht zu beiden Seiten "verkehrt", also als Tiefensteuer, angebrachte Flügel, die ihn an den Boden drückten, wenn er gegen die Luft anbrauste, so wäre er womöglich in die Höhe gesprungen. Die stählerne Faust des jungen Fritz v.Opel und Entschlußfähigkeit in Hundertstelsekunden gehörte dazu, um das Raketenauto richtig zu steuern; sonst, bei einem Versehen nur um Millimeter, nur um Zehntelgrade, hätte es den Kopf Opels gekostet, ein Massenunglück vielleicht unter den Zuschauern herbeigeführt. Fritz v.Opel selber erzählt, wie er, noch in der Kurve, neue Zündungen durchgetreten habe. "Hinter mir heult es auf und wirft mich vorwärts. Die Beschleunigung ist ein Rausch. Ich überlege nicht mehr, die Wirklichkeit verschwindet, ich handle nur noch im Unterbewußtsein. Hinter mir das Rasen der ungebändigten Kraft. Ich merke, das Steuer ist zu hoch übersetzt. Ich kann den Wagen kaum halten, ich fühle, daß er vorn schwimmt . . ." Noch ist solch eine Fahrt also eine Mensur mit dem Tode. Nach ein paar Jahren aber wird das Lenken dieser Wagen vielleicht ein Beruf wie der des Lokomotivführers sein. Freilich nicht auf den Landstraßen. Auch nicht im Weltenraum mit seiner Luftleere, also ohne den nötigen Luftwiderstand zum Steuern, und seinen 253 Grad Kälte, die sich bei der Rückkehr in die Atmosphäre durch Reibung auf rasender Fahrt in Weißglut von 300 Grad Hitze verwandeln können. Wenn aber ein Mann von der technisch-wissenschaftlichen Bedeutung des Geheimrats Professor Dr. Schütte einen Europa-Amerika-Flug von nur 5 Stunden in absehbarer Zeit in Höhen von 40 oder 50 Kilometern für möglich hält, so will ich das gern unterschreiben. Es ist jammerschde, daß das Lebenswerk dieses hervorragenden Deutschen - Schütte selbst ist, wie ich schon früher einmal [5.Band/Glosse 10] erzählt habe, eine Entdeckung des Kaisers, dem sein Genie vor Jahrzehnten auffiel, als Schütte noch die Schleppversuchsanstalt des Nordeutschen Lloyd leitete - es ist jammershade, sage ich, daß Schüttes Lebenswerk durch den schmählichen Ausgang des Krieges zerstört worden ist. Sein Name wird einst neben dem des Grafen Zeppelin in unseren Annalen erstrahlen; verdankt doch, um nur eines anzuführen, das Zeppelin-Luftschiff seine neue Stromlinienform dem Schütte-Lanz-Luftschiff. Im vorigen Jahre überraschte mich Geheimrat Schütte freudig durch sein großes Erinnerungswerk "Der Luftschiffbau Schütte-Lanz 1909-1925" (Verlag R.Oldenbourg, München-Berlin) mit einer freundlichen Widmung, einen Prachtband mit zahlreichen Abbildungen und Aufsätzen, der zu den Meilensteinen in der geschriebenen Geschichte des deutschen Kopfes gehört. Als Motto hat Schütte diesem Buch die Worte vorangesetzt:

Denn nur wer der Vergangenheiten
Geheimnisvollen Zauber spürt,
Kann recht in sich die Kraft bereiten,
Die zu der Zukunft Taten führt.

Daran mußte man so recht wieder denken, als auf dem Redneraltan der Avus an diesem Mittwoch das weiße Löwenhaupt Schüttes erschien, als Wegkünder zu neuen Taten, als Prophet deutscher Zukunft, während unten das Raketenauto auf seinen Lenker wartete. Noch verlangt uns nicht nach Partien auf den Mond oder gar den Mars. Aber Hochbahnen quer über den Kontinent, mit zwangsläufiger Schienenführung, sehe ich schon kommen, auf denen wie ein Komet mit Feuerschweif zylindrische Wagen einherschießen: in anderthalb Stunden von Berlin bis Rom, in wenigen Minuten von Berlin an den Badestrand in der Ostsee.

Einstweilen gibt es in Berlin freilich noch sogar Pferdedroschken. Unglaublich, aber wahr. Ein solches vorsintflutliches Vehikel sah ich am Himmelfahrtstage, dem Tage der "Herrenpartien", über den Reichskanzlerplatz trotten, geschmückt mit Papierrosetten und einem großen Schilde: "Ohne die Olle!" Im Wagen saßen Vater und Sohn mit ernstem Gesicht. Scheußlich, wenn imm er wieder 10 Pfennig auf der Taxameteruhr weiterhüpfen, nicht wahr ? Diese alljährliche Demonstration des kleinen Mittelstandes ist teuer. Ohne die Olle! Dabei hat sicher die Olle selber die beiden sauberen Ösen an das Schild genäht. Dem Verein der "Portogieser" - der Portiers - hatten sich diesmal auch zwei Ehefrauen angeschlossen und waren trotz allen Foppens nicht abzuschütteln, hielten tapfer durch, auch an der Cognacpulle. So waren sie wenigstens sicher, den richtigen Mann heimzukriegen. In dem gepolsterten Möbelwagen einer anderen Herrenpartie hat es nämlich Verwechslungen gegeben, beim Brüderschaftstrinken tauschte man Adreßkarten und Hausschlüssel aus, die man um den Hals hängen hatte, und die Kutscher schleiften dann abends lauter unpassende Ehemänner die Treppen in Berlin hinauf. Die reine Herrenpartie stirbt aus, selbst die Kollegenschaft bei Rudolf Hertzog macht sie schon "mit Damen". Als völlig Nüchterner geriet ich in eine so gemischte Partie. Mir wurde kolossal zugeprostet. Ich sollte nur trinken, nicht sprechen. Eine stattliche Madam hieb mich auf die Schulter und deklamierte:

Tu nich so jebildet,
Mensch, wer will det!

24. Mai 1928 (Donnerstag)


38

Die Verwandlung der Haare - Tanten in der Großstadt - In der Ausstellung "Die Ernährung" - Rotfront zu Pfingsten - Hänisch-Beckers Schulerlaß - Mit dem "Theater- und Sparverein".

So ganz hellblonde Haare habe ich doch garnicht ? Merkwürdig. Da sind ein paar vorn über der Stirn, die glänzen ganz metallisch. Und ich gebrauche wirklich nicht Kamillentee oder Wasserstoffsuperoxyd! Mal sehen. Eins wird ausgerupft und auf den dunklen Jackenärmel gelegt. Du meine Güte: es ist silbergrau . . . Alle fünf habe ich dann entfernt und nach dem ersten unbehaglichen Gefühl herzhaft gelacht. Na ja. Irgendwann einmal kommt doch der Augenblick, wo man endgültig der "vorigen" Generation angehört. Irgendwann einmal fängt das Grauwerden an, wenn es sich auch über lange Jahre hinziehen mag. Jeder von uns, ob Mann, ob Frau, erlebt diese Erkenntnis. Mancher wird dann innerlich welk. Aber von manchem andern sagen dann die Leute: er hat so lustige Krähenfüßchen an den Augenwinkeln. Ganz gleich, wie man es aufnimmt, sicher ist jedenfalls, daß es - einsamer um einen wird. Selber wird man vielleicht herber, man nimmt leicht übel, man gebraucht scharfe Worte, man wird unleidlich. Es gibt, besonders in der Großstadt, ein Mittel dagegen. Es heißt: Anregung. Dafür müssen wir sorgen, dann leben selbst die grantigsten alten Tanten auf, kriegen jugendlich verklärte Züge und vergessen alle Bitterkeit. Jetzt zu Pfingsten sind rund 550 000 Berliner ausgeflogen, meist auf volle drei Tage, aber annähernd so viel Besucher aus dem Reiche statt dessen zu uns gekommen. Im Zoo und sonst überall nur noch Posemuckel und Umgegend, die Anregung sucht.

Tante Malchen aus Ostpreußen, unser häufiger Logierbesuch, ist diesmal ausgeblieben; hat am 20. Mai noch gewählt und 24 Stunden später alles zum Heimgang zurechtgelegt. Und ist dann fröhlich gestorben. Ich hatte ihr immer gesagt, sie solle zuletzt an mich zu denken versuchen, was für ein "trautstes Mannche" ich doch sei und wie nett wir uns manchmal geneckt hätten, da werde ihr das Hinüber leichter werden. Sie hat auch an mich gedacht, hat auch gelächelt. Ihre letzten Worte beim letzten Schmunzeln lauteten: "Der Lorbaß!" Nun wohnt eine andere Tante ein paar Wochen bei uns, eine von der Kunkelseite her, die sonst in einem Städtchen am Rheine ihr einsames Dasein spinnt, nahezu als Kleinrentnerin, ewig mit ihrem "Leiden" beschäftigt und mit den alten Bänden der Gartenlaube von 1863 an. Die wird jetzt systematisch von uns junggemacht. Das ist das ganze Geheimnis: den Mut zum Jungsein muß jemand einem geben. Da heißt es zunächst, das Interesse für die Umwelt wieder anregen, Neues sehen lassen, keine Zeit zum Spintisieren geben. Seit fünf Jahren hat Tante Agnes sich aus ihrem Häuschen in der kleinen Gasse kaum mehr gerührt, und als sie bei uns jetzt ankam, konnte sie kaum einen Fuß vor den andern setzen, behauptete auch, "nichts" essen zu können, erzählte nur von ihrem "Leiden" und von Testamentsvollstreckung und von den in den Unterrock eingenähten zweitausend Mark. Dann aber erlebte sie all das Merkwürdige, das in diesen fünf Jahren in der Großstadt geworden ist, sah zunächst an "mondänen" Orten alle die brennend rot geschminkten Frauenlippen und die offenen Kniekehlen selbst hochbetagter Damen und fing an, leise in sich hinein zu lachen. Begann gelegentlich ihr behagliches rheinisches Platt zu sprechen. Musterte beim Tanztee in einem Hotel einen Neueintretenden, sagte: "Dä schebbige Jüdd, dä fiese Jrosche!", und lebte förmlich auf. Freute sich, als in einem Kabarett - natürlich einem soliden für braves Publikum - der Ansager erklärte, es sei doch schön, daß der Wein am Rhein wachse und nicht an der Wupper, denn wie würde das klingen: "Ein wuppriges Mädchen beim wupprigen Wein!" Lernte auch - denn wir alle haben doch unsere Arbeit und können uns nicht immer um die Tante kümmern - den Knopf am Rundfunk zu drücken und sich dadurch allerlei Unterhaltung zu erschließen. War nur mit Recht erstaunt, daß der Rundfunk am 30. Mai die Erinnerung an die Seeschlacht am Skagerrak uns unterschlug, dagegen die Erinnerung an - den Todestag Voltaires feierte. An demselben Abend aber half der Tante, obwohl sie in den siebziger Jahren steht, kein Sträuben: sie wurde umfaßt und mußte zur Musik 2 Minuten foxtrotten! Das wird ihr ganzes Städtchen zu erfahren kriegen. Das ist ein Glanzpunkt. Und nachher hat die Tante kein Bromural genommen, sondern nur zwei Gläser des so köstlichen und so billigen chilenischen Weines, des 1922er roten Cap Coronel, und doch herrlich geschlafen.

Auf einmal gehört sie also nicht mehr zur "vorigen" Generation, sondern lebt mit der unserigen mit. Wir werden sie auch noch auf die obere Plattform des Funkturms bringen, an einem schönen Sonnabend zum Kaffee in den Flughafen, an einem ruhigen Vormittag in die Ausstellung "Die Ernährung". Eine solcher großen Schauen löst ja jetzt immer die andere ab, seit wir draußen am Kaiserdamm die großen Messepaläste haben. Köln hat die Pressa, Berlin jetzt die Fressa. Natürlich kann man die tagelang studieren; und wenn es nur die Darstellungen aus dem Hygienemuseum in Dresden wären. Aber Tantchen braucht nur einige wenige Sachen zu sehen. Etwa den Musterstall, wo man die Kühe elektrissch melkt und die noch warme Milch gleich nach dem Durchseihen an das Publikum abgibt. Oder die moderne Bäckerei "am laufenden Band", wo vom Kneten und Teilen und Abwiegen und Formen des Teiges an die Maschine bis zum Verpacken der fertigen Brote alles besorgt; in langsamer Fahrt, 45 Minuten lang, bewegen sich die Brote durch den Ofen, der durch eine Reihe von Fenstern einen Blick auf die allmähliche Bräunung gewährt. Ein Münchener steht gerührt davor und träumt von der Zeit, in der auch das Hofbräu mit laufendem Bande arbeiten wird: man sitzt daran, trinkt die sich heranschiebende Maß leer, und schon kommt die nächste.

Unter der halben Million Deutscher aus dem Reiche, die zu Pfingsten "nach Berlin gemacht" und unter anderem auch die Ausstellung besucht haben, trug diesmal ein großer Teil eine Art Uniform. Rotfront. So im einzelnen und in kleinen Gruppen sind das ganz manierliche liebe Deutsche, wie wir alle, und "sehen gar nicht kommunistisch aus", behauptet Tantchen ganz erstaunt. Es ist viel sehniges, gesundes Jungvolk darunter, aber wenig ehemalige Frontkämpfer; die findet man mehr im Stahlhelm. Zwischen beiden aber steht die Karikatur auf alles Soldatische, das Reichsbanner. Das sind die Leute meist sozialdemokratischer Schulung, die Pazifisten zu sein vorgeben und für Verweigerung des Kriegsdienstes auch dann, wenn das Vaterland in Not ist, agitieren, aber äußerlich zu Reklamezwecken den ganzen militärischen Klimbim mit Trommeln und Pfeifen und Fahnen nicht missen mögen. Da ist Rotfront doch aus anderem Holze geschnitzt. Nur ist es leider der Bürgerkrieg, nicht der Befreiungskrieg gegen den Landesfeind, den Rotfront herbeiführen will. Es sind Geschobene wahrhaft satanischer ausländischer und blutfremder Kräfte. Sie werden nur zerstören, nie aufbauen können. Ihre Erziehung ist Zuchtlosigkeit. Was soll aus einem Kindergeschlecht werden, das solche Demonstrationen mitmacht, wie die vom Pfingstsonntag im Lustgarten ? Um das ganze Königliche Schloß herum lief ein etwa 1½ Meter breites rotes Band mit den Rieseninschriften: "Wir geloben, zur Verteidigung der Sowjetrepublik immer bereit zu sein! Gegen Bürgerblock und Koalition, für die Arbeiter- und Bauernregierung!" Das letzte Wort ist natürlich Schwindel, das Ganze nur eine Übersetzung russischen Diktats. Vor diesem Formelkram aber bauen sich Lastautos voll Kinderfracht auf. Inschrift: "Lehrer, Pfaff, sie zittern beid', hören sie den Kampfruf: sind bereit." Nein, sie zittern nicht. Aber sie sind traurig und müde. Da hat neulich der Kultusminister Becker einen alten Erlaß des Sozialdemokraten Hänisch verschärft erneuert, wonach es jedem Lehrer an den Kragen geht, der einem Schulkind auch nur einen Klaps auf die Finger gibt. "Geprügelt" wurde in unseren Schulen überhaupt nicht; und auch in alten Zeiten nicht so viel, als die Sowjetmiliz in Rußland heute noch Erwachsene prügelt. Also der Erlaß war unnötig. Aber die Berliner Kinder kennen ihn natürlich alle. Seither sind sie zum großen Teil interesselos. "Uns kann keener!" Der Mann da vorn auf dem Katheder mag erzählen, was er will, man hört nicht hin. Mag er schelten. Mehr darf er nicht. In pädagogischen Ausstellungen bei uns werden "fabelhafte" Leistungen (Kind und Kunst) und verblüffende Arten der Methodik gezeigt, aber das sind Potemkinsche Dörfer. In Wahrheit nimmt der Bildungsgrad reißend ab. Jeder erfahrene Lehrer weiß es und beklagt es, aber gegen die roten Kulturpäpste in Berlin kann er nichts machen, die arbeiten mit Bannstrahl. Und nun die ganz Kleinen bei Rotfront! Da werden wir erst was erleben; und Rotfront ist ja unverboten. "Wir lassen uns nicht verbieten von den schwarzweißroten Banditen!", steht auf einer Inschrift. Nein, wir lassen uns nicht und uns nichts verbieten, "Rotfront marschiert! Stahlhelm krepiert!" Dieses letztere ist freilich nicht der Fall, das werden die Herrschaften noch einmal merken; um den Stahlhelm ballen sich alle Kräfte, die uns wieder emporführen werden. Aber einstweilen johlt die rote Jugend. Auf sechs Lastautos sind mit roten Halstüchern Achtjährige, Neunjährige, Zehnjährige gepökelt. Sie fühlen sich als Mittelpunkt der Schau. Sie wollen Aufmerksamkeit erregen. Und da kitzeln und knuffen die kleinen Jungen die Mädchen und greifen ihnen unter die Röcke . . .

Manchmal denke ich, die Mütter solcher Kinder müsse ein Grauen überkommen; und eines Tages würden die Mütter dem ganzen Unsinn ein Ende bereiten. Überall, wo man nach Geschlechtern getrennt wählen ließ, ist ja jetzt auch festgestellt worden, daß die deutschen Frauen mehr rechts stehen. Ihr Prozentsatz bei den Sozialdemokraten und Kommunisten ist zurückgegangen. Aber was bei der geheimen Wahl geht, das ist offen vielfach noch nicht möglich. Die Männer haben da eine lockere Faust. Daher sind viele Mütter heute ebenso traurig und müde wie die Lehrer. Auch wenn noch Tausende von ihnen zum Lustgarten gepreßt werden.

Es gibt mehrere Frauenzeitungen und Hunderte von Frauenvereinen in Berlin, darunter aber in dieser Zeit des Zerfalls und der Auflösung aller hergebrachten Zucht auch die absonderlichsten. Irgendeine Komiteedame drängte mir neulich für 2½ Mark eine Karte für den Dampferausflug eines Frauenvereins auf. Man mußte Karten auch an Fremde loswerden, denn der Dampfer kostete 400 Mark Miete und die Blasmusik 90 Mark. Also los mit dem "Theater- und Sparverein Altes Geld" nach der Neuen Mühle bei Königswusterhausen! Seit Jahren bin ich nicht mehr im Spreegebiet im Osten, sondern nur im Havelgebiet im Westen Berlins gewesen, aber die Seen sind hier so schön wie dort, die Müggelberge so schön wie die Havelberge, und nur die großen Fabriken im Osten stören zunächst; gelegentlich fährt man durch Kalksteinstaub, gelegentlich durch Lysolgeruch. Es war alles in allem eine köstliche Fahrt bis in Laubwald und Vogelgesang hinein. Dazu wurde fleißig getanzt, obwohl nur drei oder vier ganz normal richtige Männer - neben Besatzung und Musik - an Bord waren. Dazu zwei Männer, geschminkt und gepudert, in Damenkleidern. Aber eine ganze Anzahl Frauen in Männerkleidern und mit gesuchten Männermanieren. Sie haben die polizeiliche Genehmigung dazu, sagt mir die Komiteedame; "sie sind nun mal so". Nun geht mir, wie der Berliner sagt, ein ganzer Seifensieder auf. Was draußen in der - wenigstens öffentlich - sittsameren Provinz sich scheu verbirgt, das spielt sich in der Großstadt dreister auf. Man ist jenseits von Gut und Böse. Die Damen im Herrenanzug machen denen im Frauengewand den Hof. Ein paar junge, unverbildete, gesunde Personen sind in den Kreis verschlagen, die große Mehrzahl aber ist alt oder häßlich, hager oder fett, zum Teil abstoßend, jedenfalls nicht anziehend für eine normale Umgebung. Alle Stände gemischt. Ich frage eine gebildete Dame aus, die "einst bessere Tage gesehen hat", aber das meiste ist Hefe aus der Ackerstraße, aus der Gerichtstraße, aus der Schwerinstraße, aus der Grenadierstraße. Alte Vermieterinnen "auf Stunden"; einige Geschäftsfrauen, die eine Freundin aushalten; eheverlassene Fettkolosse "mit Rente"; ein paar faltige Gesichter von männlichem Gelehrtentyp. Ich werde den Eindruck nicht los: es sind doch fast durchweg Ausgestoßene, die da in ihrem Verein "mal Mensch sein wollen". Wir nähern uns dem Anlegeplatz. "Die Fahnenjungfern her!" Ein kräftiges Mädchen in Hosen trägt beim Einmarsch mit Musik das goldgestickte große Vereinsbanner. Zwei weibliche "Leutnants" fassen die Bannerschnüre. Die eine der beiden Frauen ist die offizielle Freundin der Bannerträgerin, von der sie ernährt wird. Wodurch ? Durch den Verdienst auf der Straße, höre ich. Die Große "geht anschaffen", wie es in der Sprache dieser Leute heißt. Wer aber 10 Meter abseits den Zug sieht, der merkt nichts, der glaubt nur, daß einer der üblichen kleinbürgerlichen Vereine sich da erlustiere.

Im Restaurant und im Grünen wird ausgepackt. Kalte Rippchen, Kartoffelsalat, Eier, belegte Brötchen. Man ist lustig, man ist mitunter auch etwas stark frei. Daß der Name "Theater- und Sparverein Altes Geld" nur eine Tarnkappe ist, scheint mir klar zu sein. "Wieso denn ?", wirft eine Zwei-Zentner-Madam mir ein. Jede Woche zahle man eine Mark Beitrag; und auch sonst werde gespart. "Aber Theaterverein!", entgegne ich. Da macht die Frau eine runde Armbewegung, weist auf die verschiedenen Pärchen hin, die zum Teil nach Altweiberspittel aussehen, und sagt: "Is det denn keen Thiater ?"
31. Mai 1928 (Donnerstag)


39

Uniform mit Kragen und Schlips - Der Poussierwimpel - Der verprügelte Polizeivizepräsident - Regierungsboykott gegen den Kaiserlichen Yachtklub - Groener und der Kaiser - Bei den Hunderennen.

Wenn man früher ins Ausland ging, sah man erstaunt, am Ende gar bewundernd, die geschniegelten italienischen Carabinieri, die pschütten österreichischen Schaffner, die koketten dänischen Gendarmen an. Wie waren doch die unserigen im Gegensatz dazu zwar sehr stramm, aber doch bärbeißig, ungeschlacht, steifleinen! Man schämte sich fast ein bißchen, wenn man zum ersten Mal draußen war; bei der Heimkehr freilich, nach mancherlei üblen Erfahrungen, wäre man dann dem deutschen Schaffner, dem deutschen Schutzmann am liebsten um den Hals gefallen. Nun war man wieder in guter Hut, bei rauhen, aber treuen und ehrlichen Leuten. Nur: ein bißchen netter hätte man sie wirklich anziehen können. Jetzt ist endlich die Uniform-Reform gekommen, zuerst probeweise nach englischem Vorbild im Heere mit Kragen und Schlips, worüber das Urteil noch nicht abgeschlossen ist, dann bei Briefträgern und Schutzleuten ebenso. Über die Verkehrspolizisten, die jetzt am Potsdamer Platz, am Wilhelmsplatz und anderswo mit jagdgrünem Stehumlegekragen und schwarzem Selbstbinder dastehen, um den Hals also freier Zivilist sind, sonst aber mit Tschako und Gummiknüppel immer noch bewaffnete Macht, freue ich mich aufrichtig. Da hat die verehrliche Republik - was wahr ist, muß man anerkennen - ausnahmsweise Geschmack bewiesen. Zu einem solchen Gentleman mit Kragen und Schlips ist das Publikum viel zutraulicher. Er sieht so menschlich aus. Und auch die Beamten selbst sind gehoben; sie sind ein wenig eitel geworden, sie legen noch mehr Wert als früher auf das Adrette ihrer ganzen Erscheinung bis zu den spiegelblanken Ledergamaschen hinunter.

Natürlich hat man, wie über alles Neue, leicht spotten. Im Kladderadatsch und anderen Witzblättern hat man die Uniform noch weiter ins Gentlemanhafte verändert, bis zur gestreiften Oxfordhose und Tanzschuhen. Nein, dahin kommen wir nicht. Ich glaube nicht einmal, daß der Poussierwimpel bei Polizei und Militär eingeführt wird, das dreieckig herniederhängende seidene Tüchlein aus der äußeren Brusttasche. Seit einiger Zeit besitze sogar ich eines, trage es aber nicht, sondern lasse es im Raritätenkasten liegen. Nein, wir sind schon zu sehr verweiblicht. Neulich sah ich zu meinem Entsetzen einen jungen Mann, dem sogar ein richtiges Spitzentaschentuch, so wie wir es zu Beginn des Krieges für unsere Damen in Brüssel kauften, an der Heldenbrust flatterte. Dann ist der Schritt zu Riechfläschchen und Lippenstift nicht mehr weit.

Also unsere Schutzleute sind jedenfalls Leute von Welt geworden. Es sind sehr umgängliche Leute. Wittern auch nicht mehr gleich Beamtenbeleidigung, wenn ein Angeheiterter - das ist ja heute eine seltene Figur - sie ein bißchen verkohlt. Vor der Bismarckhöhe in Werder sah ich einen Schutzmann den Wagenverkehr regeln. Das geschieht nicht durch ganz leichte Winke wie etwa in Paris, sondern das sieht für Fremde bei uns immer wie eine Gruppe Freiübungen aus; ist dafür freilich auch ganz unmißverständlich. Und da pflanzt sich ein Fröhlicher vor dem Schutzmann auf und ruft: "Sagen Sie mal, Herr Mu - mu - musikdirektor, macht das Ta - ta - taktschlagen nich müde ?" Der gute Verkehrspolizist schnarrte nun nicht etwa bösartig: "Meckern Sie mich nicht an!", schob den Mann auch nicht zur Seite, sondern sah mit unendlichem Wohlwollen auf ihn hernieder und erwiderte: "Nein, der Ta - ta - taktschlag ist mir viel leichter als Ihnen eben der Zu - zu - zungenschlag!", und hatte die Lacher auf seiner Seite. Nichts Menschliches ist dem modernen Schutzmann fremd. Er gebietet auch nicht gleich Ruhe, wenn ein paar Leute aus einem Tanzlokal stolpern und noch auf der Straße singen:

Was will der Mann da
Auf der Veranda
Bei Fräulein Lisbeth nachts um zehn ?

und ist, nicht etwa nur in den Reklamefällen, wo eine alte Frau über die Straße zu geleiten ist, die Höflichkeit selbst. Besonders die Ausländer erkennen das an, wenn sie auf einen Schutzmann mit weißer Armbinde stoßen, die ihn als sprachenkundigen Dolmetscher kennzeichnet. Aber im Dienste, sobald er auf ernsthaften "Widerstand gegen die Staatsgewalt" stößt, kann unser moderner Polizist trotzdem ganz altmodisch fest dreinhauen. Das hat dieser Tage sogar der Polizeivizepräsident Dr. Weiß erfahren, der, als er bei Kommunistenkrawallen begütigend eingreifen wollte, mit dem Gummiknüttel von Schutzleuten verdroschen wurde. Sie haben ihn natürlich nicht erkannt, "denn er war in Zivil", und in Zivil sieht er, sagen wir einmal, stark assyrisch aus, nicht wie ein deutscher Polizeivizepräsident. Man sagt, daß unsere Schutzmannschaft fast ganz sozialdemokratisch sei. Das glaube ich nicht. Wir haben in Berlin eine große Polizeikaserne, die einen Wahlbezirk für sich ergibt, und da hat es sich am 20. Mai wieder gezeigt, daß diese Beamten im Durchschnitt genau so wählen wie das ganze Volk: von den Nationalsozialisten bis zu den Kommunisten über Deutschnationale und Demokraten ist alles da.

Aber natürlich werden sie mit mehr oder weniger sanfter Gewalt gezwungen, einer "republikanischen" Organisation äußerlich beizutreten. Die Liste geht herum. Die Unterschriften registriert man. Ähnliches erleben wir ja überall. Jetzt ist es den aktiven Offizieren in Heer und Flotte ja auch verboten worden, dem Kaiserlichen Yachtklub anzugehören, weil dieser es abgelehnt hat, seinen Namen zu ändern und dadurch seinen Begründer zu verleugnen. Der Kaiserliche Automobilklub, der Kaiserliche Aeroklub haben nachgegeben. Der Kaiserliche Yachtklub nicht. Er ist ein völlig privater sportlicher Verein, es ist also hanebüchen genug, ihn von außen zu einer Namensänderung zwingen zu wollen. Aber die Linke jubelt dem Reichswehrminister Groener nun natürlich zu. Ich wüßte nicht, daß in der kaiserlichen Zeit etwa dem sozialdemokratischen Ruderklub "Vorwärts" in Berlin-Treptow jemals nahegelegt worden wäre, seine Herkunft zu vertuschen. Groeners Stellungnahme ist menschlich natürlich erklärlich. Er ist der einzige General des Hauptquartiers in Spaa gewesen, von dem der Kaiser sich nicht durch Handschlag verabschiedet hat. Er wurde, nachdem er im Gegensatz zu anderen erklärt hatte, das Heer stehe nicht mehr hinter seinem obersten Kriegsherrn und der Fahneneid sei ein leeres Wort, übergangen. Seither "existiert" der Kaiser für ihn nicht mehr. Als Groener am 2. Oktober vorigen Jahres im Rundfunk die Rede auf den 80jährigen Hindenburg hielt, kriegte er es fertig, dessen Leben zu schildern, ohne den Kaiser überhaupt zu erwähnen. "Man" berief den Feldmarschall an die Spitze, das Volk erkor ihn im Kriege, so etwa hörten wir es.

Kleinliches, allzu Kleinliches. Auf dem Schießplatz in Meppen, dem alten Versuchsfelde für die shwere Artillerie Krupps, wo auch "die dicke Bertha" und das erste Ferngeschütz erprobt wurden, ist der sehr sinnige Spruch zu lesen:

Hast du im Leben hundert Treffer,
Man sieht's, man nickt, man geht vorbei,
Doch nie vergißt der kleinste Kläffer,
Schießt du ein einzig Mal vorbei.

und ich glaube daß solch ein Spruch noch einmal für die Geschichtsschreibung das Motto abgeben wird, wenn sie Wilhelms II. gedenkt; den heutigen Regierenden wird sie aber etwas ganz anderes ins Stammbuch verehren.

Vielleicht, daß wir unter ihnen auf den Hund gekommen sind. Das braucht man jetzt aber nicht bildlich, sondern nur wörtlich zu verstehen. In der aufreibenden Jagd nach dem Neuen, das noch Zahler anziehen kann, ist man auf den englischen Windhund gekommen, den man jetzt überall in Berlin, wo ein Stadion oder eine Radfahrbahn steht, rennen läßt. "Dagewesen ?"   "Dagewesen!" Das sind zwei unendlich bedeutsame Worte für den Großstädter. Ob er etwas versteht oder nicht, ob ihm etwas Spaß macht oder nicht, das ist gleichgültig; aber mitmachen muß man, darüber sprechen können muß man. Wird das neue Volksvergnügen einschlagen ? Ich weiß nicht. Am ersten Hunderenntag sah ich rund 12 000 Menshen. Gestern abend aber verloren sich 270 in einer weiten Arena, die bei voller Besetzung für 18 000 Zuschauer Platz hat. "Fahrjeld ha'ck 80 Fennje ausjejeem und einjenomm' ha'ck bloß 15 Fennje!", klagt der Wärter eines Abtritthäuschens. In dem Logengebäude nur Interessenten, Komitee; die halbe erste Reihe; sonst nichts. Es hat einer einmal gesagt, er brauche einen Menschen sich bloß einmal anzusehen, dan wisse er, was der für einen Hund habe. Der Hund sei für den Menschen genau so eigen und charakteristisch wie die Handschrift. Bismarck mußte eine Dogge haben. Bülow mußte einen Pudel haben. Ich gestehe, daß ich darnach während des größten Teiles meines Lebens charakterlos gewesen bin, in zwei Perioden aber verschiedenen Charakter aufwies. Als ich vor meiner Berliner Zeit noch am Rande einer Stadt lebte, mit dem "flachen Lande" gleich hinter dem Hause, hatte ich einen russischen Windhund. Einmal in meinem Leben habe ich eine Hasenhetze über die Steppe hinter Windhunden mitgeritten, und die wundervolle Ästhetik der dahinfegenden Tierleiber hat mich begeistert. Im Kriege aber hatte ich anderthalb Jahre lang, im Osten, wo man sich das leisten konnte, plötzlich einen Teckel, und der gefiel mir deshalb so gut, weil er eine Persönlichkeit und nichts weniger als knechtisch war. Die englischen kurzhaarigen Windhunde nun, von denen wir schon 160 Stück in Berlin haben, also ganz ansehnliche Rennställe, sind, da wir in Deutschland das Gelände für Hetzjagden kaum haben, nur als Professionals für die schaulustigen Massen der Rennbahn da. Ich habe mir sagen lassen, daß in England das Interesse für Hunderennen schon nachlasse. Man hängt die Tiere jetzt uns an. Sie kosten bis zu 1000 Mark das Stück. Die sachverständigen Captains, Mayors, Colonels kommen gleich mit und sitzen neben unseren Rittmeistern, Doktoren, Grafen. In den Logen wird von puppenhaft geschminkten Damen viel englisch gesprochen. Very nice.

Der Lautsprecher brüllt einen Foxtrott in die Arena. Nach seinem Takt marschieren feierlich vier bis sechs Wärter in weißer Mütze und weißem Friseurmantel - sie stammen meist von der Führerhundschule für Blinde in Eichkamp und sind über die neue Verwendung froh - mit den Rennhunden an der Leine um die Bahn. Dann kommen die Tiere in den Käfig. Nun geben sie Laut: denn der ausgestopfte "elektrische" Hase beginnt zu rasseln, saust an seiner Latte um die Bahn. Beim Passieren des Käfigs klappen dessen Türen hoch, wie von der Sehne des Pfeils geschnellt stürzen die Tiere hinaus und hinterdrein. Sie fliegen geradezu. Die 500 Meter werden in durchschnittlich 28 Sekunden gemacht. Fabelhaft. Aber den Hasen kriegen die Hunde nie. Irgendwo in der elektrischen Zentrale sitzt ein Mann und sorgt dafür, daß der Hase immer 20 bis 30 Meter Vorsprung hat. Im Auslauf hinter dem Ziel werden die Hunde wieder aufgefangen und die Sieger, kenntlich an bunten Schabracken und Nummer, im Triumph an den Tribünen entlang geführt. Bis zum fünften Rennen habe ich es ausgehalten. Ich weiß also nicht mehr, ob im Preis von Steglitz Miß Millicent Jacksons "Cheerful Cocktail" oder Baron v.Hünefelds (des Amerikafliegers) "St. Gall" gesiegt hat. Die Rennen, auch die über Hürden, verlaufen fast durchweg so glatt wie eben ein Pfeilschuß. Zuletzt brüllt immer der Lautsprecher etwa. "Sieger 4, 3, 5, Kopf, zwei Längen, Zeit 27,5 Sekunden ." Nur einmal erlebte ich eine nette programmwidrige Szene. Beim ersten Hürdensprung karambolierten zwei Hunde, Falber und Schimmel, ließen deshalb Hase Hase sein und fingen eine solenne Balgerei an. Im übrigen aber jagten sie immer gehorsam und hoffnungslos dem unerreichbaren Hasenschwanz nach.

Ganz wie wir Menschen im Leben. Es ist eigentlich eine melancholische Sache. Aber wenn erst Totalisatorbetrieb eingeführt sein wird, kann die Wettlust vielleicht die Massen locken. Die Hunderennen sind fair. Da kann kein Jockey eine Schiebung machen. Zu so etwas sind die Hunde zu anständig.
7. Juni 1928 (Donnerstag)



Glossen 34 - 36

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Glossen 40 - 42

© Karlheinz Everts