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Im Park von Bellevue - Max Reinhardts neue Bleibe - Die "Artisten" im Deutschen Theater - Unten im Restaurant - Geschiedene Künstlerehen - Von Helden und Heldenverehrung.
Irgendwo draußen lärmt die Stadt. Aber hier im Park des Schlosses Bellevue, zwischen Spree und Tiergarten, ist tiefer satter Frieden. Das Schloß selbst, von dem aus in den letzten Jahrzehnten immer unsere jungen Prinzenbräute ihren Einzug in Berlin nahmen, ist heute zu lauter Amtsstuben eingerichtet und sozusagen fiskalisch verwohnt; da werden tagsüber fleißig Akten geschrieben. Aber der Park ist frühmorgens menschenleer. In Lindenbäumen und Rhododendronbüschen singen die Vögel. Erst am Nachmittag kommen einige Spaziergänger; die große Masse bleibt draußen im Tiergarten. Es ist wunderbar idyllisch hier innen. An früher Höfisches gemahnt nur, ganz unauffällig, ein kleiner Obelisk mitten im Park, der des Prinzen August gedenkt und seiner tapferen Haltung 1813 in der Schlacht bei Kulm. Er war ein Neffe Friedrichs des Großen und schlug sich als Brigadekommandeur unte Kleist hervorragend im ganzen Befreiungskriege. Nachkommen hat er nicht hinterlassen, denn der Roman seines Lebens ging nicht in Erfüllung. Er liebte die schöne und geistvolle Madame Récamier, deren weltberühmtes Bild - im Directoirekostüm auf einer Chaiselongue - jede Kunstgeschichte kennt, wollte sie auch heiraten, mußte aber aus politischen und religiösen Gründen verzichten. Es wurde nichts aus dem Sommernachtstraum im Park zu Bellevue. Einer aber, der Sommernachtsträumen Leben zu geben versteht, siedelt sich jetzt hier an. Der Professor Max Reinhardt, dessen Titel noch alte gute Friedensware ist, der Gott der Schauspieler, der in Berlin und Salzburg und Newyork so wundersam auf seinen Bühnen die Sinne einzufangen weiß. Der preußische Staat hat ihm das Haus, das früher der Gartendirektor hier bewohnte, vermietet. Es wird jetzt - unter Schonung und Erhaltung des Althistorischen, namentlich der Deckengemälde aus friderizianischer Zeit, - von Grund auf erneuert, "mit allen Schikanen" moderner Behaglichkeit versehen. Von den drei Brüdern, die gemeinsam "das Theatergeschäft betreiben", Max und Edmund und Siegfried Reinhardt, wohnt der zweite schon hier, im Oberstock, um den Umbau zu beaufsichtigen, bis dann Max Reinhardt einziehen kann. Ihm gehört ja schon das Schloß Leopoldskron, das er den Habsburgern abgekauft und wo er seine millionenwerten Kunstschätze untergebracht hat. Das hier im Bellevuepark aber wird kein Schloß, sondern ein verträumtes Häuschen, ist schon heute epheuumsponnen und fliederumstanden, eine abgeschlossene kleine Welt noch eigens für sich in dem schon umfriedeten Park, der schönste Fleck in dem sonst so unholden und unruhigen Berlin, eine Entdeckerfreude für jedermann, der hierher kommt.
Vor Jahren habe ich von der Trennung des Professors Reinhardt von seiner Frau erzählt. Else Heims, die große Darstellerin, hatte sich ihm, als er noch unerkannt durch die Welt ging, ein kleiner Regisseur war, gesellt und an seinem Aufstieg mitgeholfen. Zwei Buben gebar sie ihm. Nach zehn Jahren heiratete er sie. Dann wurde er ihrer überdrüssig und benahm sich häßlich in dem Trennungsstreit, wollte nicht einmal mit einer entsprechenden Apanage herausrücken und machte Ausflüchte vor dem für ihn zuständigen Gericht in Preßburg, seiner alten ungarischen, jetzt tschechoslowakischen Heimat. Er schleuderte das herrische Wort in die Öffentlichkeit: "Ich habe der Welt noch so viel zu geben, daß sie mich von einer Frau befreien sollte, die ich nicht mehr mag!" Das ist typisch für seine Rasse und für seine Klasse: daß man eine Zitrone, die man ausgepreßt hat, fortwirft. Aber man muß, wenn man ehrlich sein will, zugeben, daß er mit seinem Vordersatz recht hat; er beschenkt uns noch immer aus dem Reichtum seiner Phantasie.
Unvergessen ist uns Berlinern immer noch der Sommernachtstraum Shakespeare-Reinhardts, den vor dem Deutschen Theater noch nie ein anderes so von Poesie durchtränkt erlebt hatte. Dann das Mirakel Vollmöller-Reinhardts und hundert andere Stücke bis zum 200 Jahre alten Diener zweier Herren Goldoni-Reinhardts, die alle zu lauterster Romantik wurden. Und immer noch neue verblüffende Gaben kommen aus dem Füllhorn. Jetzt kommt uns Reinhardt - eine Frucht seines langen Aufenthaltes in Newyork und Hollywood - auf einmal amerikanisch, inszeniert er die Komödie in 3 Akten und 10 Bildern "Artisten" von George Watters und Arthur Hopkins, bearbeitet von Ossip Dymow, einen schlechten und sentimentalen amerianischen Reißer, so, daß selbst der Filmstar Lilian Gish, von drüben mitgekommen, die Hände über dem Kopfe zusammenschlägt und sagt: "Nein, was ist unter den Händen dieses Zauberers daraus geworden!" Das Deutsche Theater nimmt Liebhaberpreise für den Eintritt, bisher unerhörte Preise, Caruso-Preise. Kann es. Es wird trotzdem den Sommer über nicht leer werden. Alle Fremden werden es besuchen; und auch die Einheimischen werden lieber auf drei andere Freuden verzichten, um diese eine zu genießen. Die Erstaufführung mit der Auffahrt des ganzen Kurfürstendamms habe ich mir geschenkt, bin erst in der vierten oder fünften gewesen. Neben mir saß eine bekannte Grotesktänzerin, deren groteske Häßlichkeit so eindringlich ist, daß die meisten Menschen es nicht glauben wollen, daß eine feine und gute Frau sich darunter birgt, und starrte weltverloren auf die Bühne. Hinter mir stöhnte vor Lust eine junge blonde Dame, die, nach eben bestandenem Examen im Wiener Konservatorium, zu diesem Erlebnis hergereist ist. In der Fremdenloge lehnte sich Fritzi Massary hingerissen weit über die Brüstung, ihr Gatte Pallenberg neben ihr. Alte Kunstkenner mit grauen oder auch noch braunen Vollbärten füllten das Parkett; es war ungeheur viel "Geistigkeit" im Saal und folge atemlos dem verspielten Getue da vorn und der heiteren Grazie, in die das exzentrische Variétéstück getaucht ist. Es ist ganz amerikanisch mit seinen technischen Tricks, mit seinen Akrobaten, mit seinen gemeckerten und gesummten Nigger-Chorälen, mit seinem vielen Mädchenfleisch, mit seinen Drehbühneneffekten; es bringt die "greatest show of the world" vor und hinter den Kulissen, wir sehen eine fabelhafte Schlangendame aus Paris, eine bildhaft schöne Balletteuse aus Newyork, wir sehen als femme nue die Chinesin Grace Tschiang, den Nigger Douglas als Steptänzer, verschiedene Springer ersten Ranges und eine Reihe von Girls auf Proben vor ihrem Manager, in ihren Garderoben beim An- und Abschminken, in ihrer Artistenkneipe, ja sogar in der Vorstellung des Variétés selbst, hier mit dem Rücken zu uns, für ein Theater im Theater daherwirbelnd, für ein Publikum spielend, das im Hintergrund der Bühne in Rängen und Logen untergebracht ist; aber dieses nervenerregende Spiel, über das Reinhardt sich vielleicht insgeheim lustig macht, die "Zirkuskunst", von der Goethe sich wohl entsetzt abgewendet hätte, er, der schon seine Demission geben wollte, als einmal ein Hund auf die Weimarer Bühne kam, bringt uns dabei einige Menschendarsteller, um derentwillen allein sich der Besuch der Aufführung lohnt. Da ist der tragisch-sentimentale Held des Stückes, der haltlose und verbuhlte Tanzclown, die große Nummer. Dazu hat sich Reinhardt den Russen Wladimir Sokolow geholt, der bei Stanislawski angefangen hat, mit Tairow zu uns kam, ein erschütternder Meister der Schlichtheit, der gelegentlich mit nur einer Handbewegung, mit nur einem leisen Kopfschütteln mehr sagen kann als alle dröhnenden Deklamationen. Da ist die junge Frau des Clowns, seine Stütze und sein Opfer und dann wieder sein letzter Halt, die lispelnde, aber so durch und durch blonde Grete Mosheim, die kürzlich - die Zeitungen erzählten davon - geheiratet hat, nachdem vorher ein kurzer Flirt mit Harry Liedtke, der damals noch der Mann von Käte Dorsch war, "nicht realisiert" worden war; sie spielt ihre Rolle unglaublich glaubhaft, und Berlin W sieht sie außerdem liebend gern in dieser Rolle zum ersten Mal mit entblößten Schenkeln. Da ist Max Gülsdorff als redlicher Toggenburg der Clownsfrau, der als "anständiger Kerl" eine ungemein schwierige Aufgabe hat, die nichts Reißerisches hat, die er aber zum Liebhaben edel durchführt. Da ist schließlich ein neuer Mann aus Wien, der den Komiker in den "Artisten" spielt, den Inspizienten des Variétés Jimmy, Hans Moser, eine Art Charlie Chaplin, der die stärksten Lachreize auslöst und als echteste Mischpoke den Kurfürstendammherzen nahe steht.
In diesen Tagen hat auch das Restaurant unten im Deutschen Theater seine Hochsaison. In dem alten Bau, indem uns Brahm zuerst naturalistisch, Reinhardt dann romantisch kam, gibt es kein "Foyer" mit auf und ab wandernder Toilettenschau knabbernder Menschen, aber ein richtiges Restaurant mit vielen Stuben und behaglichen Sesseln in Kellergeschoß, alten Bildern und Uhren an den Wänden, das zu längerem Verweilen einlädt. Auch warme Abendgerichte und ein guter Tropfen sind da - neben dem üblichen: belegten Schnittchen, Würstchen, Bier, Süßigkeiten - zu haben, und wer, zum Bersten erfüllt von den Eindrücken eines solchen Abends, nicht erst irgend wohin zum "Theatersouper" fahren, sondern gleich geistig explodieren will, der geht wohl mit den Seinen hinunter und trifft bisweilen auch Leute vom Schauspielervölkchen da beim Nachtmahl. Sie alle sind im Banne des großen Zauberers, Entdeckers, Talentefinders, und erzählen mit leuchtenden Augen von ihm. Sie fühlen sich auch nicht etwa "entehrt" durch das Variétéspiel und das Zusammenwirken mit Niggern und Jazzbanditen und Parterreakrobaten. Sie haben das Gefühl, daß ihrer aller Schicksal doch das gleiche ist, ihrer aller künstlerische und bürgerliche Atemluft dieselbe; und ein bißchen auch das Haltlose, das Flatterhafte dieses Tanzclowns in dem Stück, der in seinem Fach ein Genie ist, aber aus Charakterschwäche an dem Leben scheitert.
Sie alle sind heute ganz ehrbare Leute, sie verzichten auf das Standesamt nicht mehr, als es "die Philister" auch tun. Sie bemühen es sogar häufiger; denn sie lassen sich häufiger regulär scheiden. Nur jede zehnte Künstlerehe bleibt bestehen, obwohl diejenigen, die in einer solchen Ehe sich "verrechnet" haben, meist - ganz anders als Reinhardt - sich verzweifelt gegen ihre Auflösung wehren, gern den Treubund weiter bestehen ließen. Wenn aber Mann und Frau beide als Darsteller arbeiten und nicht gleich nach der Heirat der eine von beiden entschlossen die Laufbahn aufgibt, kommt doch einmal der Augenblick, wo der eine Ehepartner begeistert von einem Erfolge nach Hause kommt und von dem anderen den Keulenschlag empfängt: "Pah, einen schönen Schmarren hast du da hingelegt!" Die künstlerische Eifersucht ist die ärgste, und auch sonst gibt es ja gerade an der Bühne Eifersuchtsgelegenheit genug. Schon wegen der Anbeter aus dem Publikum. Als dreiundzwanzigjähriger glühender Jüngling habe ich einmal der Schlangendame in einem Wanderzirkus eine Schachtel Konfekt geschenkt; nur die rechtzeitige Erkenntnis ihres Mannes, des Clowns, - ich selber hätte ihre Jungfräulichkeit beschworen -, daß ich ganz harmlos war, verhinderte ein Drama. Noch ärger als mit dem Publikum ist es mit den Kollegen und Kolleginnen. Das frißt täglich an der Leber. Man sieht Gespenster. Man will sich rächen. Wie du mir, so ich dir. Und so splittern die Künstlerehen. Aber immer wieder gibt es neue. Warum besteht Paul Wegener auf so hohen Gagen ? Weil er sechs Haushaltungen bezahlen muß, zum sechsten Mal verheiratet ist. Emil Jannings, glaube ich, fünfmal. Seine erste Frau, Hanna Ralph, verbot ihm, in einer Filmszene Pola Negri auf den Arm zu küssen. Aus ähnlichen Gründen wurde er nachher auch von Lucie Höflich geschieden. Lucy Doraine - das ist ihr Künstlername, sie ist die Tochter eines deutschen Professors der Geschichte - und Eva May haben auch verschiedene Ehen probiert. In der Mehrzahl der Fälle ist nicht Leichtsinn die Ursache, sondern ganz unbegründete Eifersucht; es ist eine leidvolle Sache. Aber das große Publikum schnüffelt da gern hinein, liest nicht nur begierig die Notizen der Standesämter, sondern sieht sich auch leidenschaftlich Stücke an wie jetzt die "Artisten" Reinhardts, in denen es einen Blick in die Welt der Kulissen machen darf.
Und dann steht es Polonaise, um die Namensunterschrift eiens Künstlers oder einer Künstlerin zu erhaschen. Auch das ist in Berlin jetzt industrialisiert. Für die einzelnen Stars werden von Unternehmern besondere Unterschriftentage arrangiert. Stolz tragen Fritz oder Lieschen die Beute nach Hause. Nach Berlin W nicht nur, sondern auch nach Berlin N und Berlin O. Und dort unter das Kopfkissen. Im Moorbad Saarow bekommt eine Krankenschwester die glänzendsten Trinkgelder, weil sie Masseurin Harry Liedtkes ist und gelegentlich so nett davon plaudert. Wir können ohne Helden nicht leben. Sind es keine Heerführer und Staatsmänner mehr, dann die von der Bühne, die vom Flimmerlaken, die vom Boxring.
14. Juni 1928 (Donnerstag)
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Der Sonntagsausflug des Pflastermüden - Krönungsfest im Lunapark - Deutsche Fußballer - Vom Einzug der Ozeanflieger - Jugend im Studentinnenheim - Die alte Schauspielerin.
Wenn ein Gaul pflastermüde wird, schickt man ihn für ein paar Monate auf den Acker. Schade, daß ich kein Gaul bin. Pflastermüde bin ich längst. Es fehlt mir nicht an lieben Einladungen auf das Land oder in irgend eine kleine Stadt, aber ich kann ja nie fort; höchstens am Sonntag auf ein paar Stunden. Auch das nur selten. Aber manchmal macht sich übermächtig der Drang geltend, in die von der Großstadt verstockte Lunge eine ordentliche Mütze voll Seeluft einzuatmen. Und da stehe ich nun diesmal an dem schmalen Sund zwischen dem Festland und Rügen, schaue nach Dänholm hinüber, wo der Nachwuchs für unsere kommende neue Flotte straff erzogen wird. Möven kreischen. Sieh mal einer an, so was hat man also auch hier, "in der Provinz", in Stralsund ? Ich dachte, nur am Hafenplatz in Berlin. Ist ja schon bald wieder ein Jahr her, daß ich auf dem großen Wasser war. Dann sitzen wir im Goldenen Löwen am Markt, wo man genau so gut ißt und trinkt wie in einer Berliner Luxusstätte, und blicken durch das edle Maßwerk des Rathauses hindurch in den blauen Himmel. Vor genau 300 Jahrn wehrte Stralsund sich erfolgreich gegen Wallenstein, eine kleine Stadt gegen den mächtigsten kaiserlichen Feldherrn der Zeit. Man rüstet schon zur Jubelfeier. Vielleicht mit ein wenig bitterem Gefühl auf der Zunge: die großen Herren in Berlin halten heute von Unterwerfung mehr als von Widerstand, und es ist fraglich, ob das Reich Veranlassung nimmt, aus der Erinnerung an sieghaften deutschen Bürgertrotz heraus unserem Volke den Wehrgedanken wieder einzuhämmern. Berlin ist geschichtslos geworden. Aber wo man auch sonst hinkommt in deutsches Land, überall saugt man Geschichte ein, überall sprießt Hoffnung auf die Zukunft. Hier lese ich sie aus den strahlenden Blauaugen eines jungen Rekruten. Drüben auf dem Markt vor dem Café Mehlert stehen noch einige. Unter den 4 Millionen Berliner verflüchtigt sich das eine Wachtregiment völlig, da merkt man gar nicht mehr, daß wir eine Nation von Kriegern gewesen sind. Man muß wirklich einmal "in die Provinz", um wieder daran glauben zu lernen.
Dafür haben wir in der Reichshauptstadt ständig Krönungsfest. "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land ?" Die soll als unsere Königin gekrönt werden. Ei, das muß herrlich sein, denkt das Jungmädel in Stralsund oder Stolp; da möchte man wohl dabei sein. Kinder, ich sage euch: es ist alles Schiebung! Wenn ihr mit euren frischen Gesichtern herkämet, ohne zu einem zahlungskräftigen Klüngel zu gehören, Ihr fielet bei der Königinwahl glatt durch, auch wenn die schönste Berlinerin vor euch verblassen müßte. Unsere neue "Sommerkönigin" heißt jetzt Daisy Langner. Ihre schärfste Mitbewerberin war Fräulein Tilly Garden. Um beide rissen sich zwei Filmgruppen die Arme und die Hundertmarkscheine im Lunapark aus, bis Daisy für die eine der beiden Firmen mit 640 Stimmen Mehrheit siegte. Wie man das macht ? Je nun, das "Publikum" stimmt doch ab, jede Eintrittskarte zum Lunapark verleiht das Wahlrecht. Und da - kauft man eben Eintrittskarten! Das wirkliche Publikum applaudierte stürmisch der schönen Schauspielerin van Düren oder der siebzehnjährigen Waltraut Luck oder der jungen Tanzelevin Stöckler. Es schrie und tobte und brüllte nachher, als es die Schiebung merkte; die Neugekrönte mußte flüchten, sonst hätte sie "noch was besehen". Hinter ihr dirigierte ein Filmregisseur den Feldzug. "Machen Sie schnell, mein lieber Cronheim, kaufen Sie noch 50 Eintrittskarten!" Und noch und noch. Man will das Ding doch drehen. Welch' eine Reklame für eine Filmgesellschaft, wenn sie die Sommerkönigin von 1928 als die "schönste Berlinerin" für sich buchen kann! Die andere Gesellschaft war auch nicht faul, kaufte auch auf Deubel komm' raus Stimmkarten für die ihr verpflichtete Kandidatin, so daß die Kurse stiegen und fielen. Bald war Daisy oben, bald lag Tilly unten. Wie ein geölter Blitz sausten die Kuriere der kämpfenden Gesellschaften zwischen den Stimmkassen und den Wahlbureaus hin und her. "Eichberg macht's!", schreit plötzlich einer hysterisch auf. Eichberg ? Eichberg ? Nicht eine einzige der 25 jungen Damen, die uns von dem Vorprüfungsausschuß zur Wahl gestellt sind, heißt so. Richtig, das ist ja eine Filmfirma, die für ihre Sekretärin eintritt, die Daisy oder die Tilly, ich weiß nicht mehr. Alle Macht geht vom Volke aus, steht in unserer Verfassung. Alles ästhetische Urteil steht dem Publikum zu, heißt es in den Bedingungen zur Wahl der Schönsten. Aber da sieht man einmal den Schwindel des ganzen Parlamentarismus; Schiebung, nichts als Schiebung. Niemals entscheidet wirklich das Volk. Bei der erfolgreichen Partei geht es nachher natürlich hoch her, da werden die Champagnergläser auf den Sieg "der guten Sache" geleert, da werden das Gesicht und die Formen der "miesen" Gegenkandidatin bekrittelt, da geht man über die vom wirklichen Publikum Erkorenen mit einem Achselzucken hinweg; wieder einmal haben die größten Wahlgelder es geschafft.
Wenn es keine Schiebungen gäbe, wenn es überall fair herginge, lebten wir in der besten aller denkbaren Welten. Aber nicht einmal im Sport, in dem doch die tatsächliche Leistung entscheiden soll, ist das zu erreichen. Immer wieder Fehlurteile. Immer wieder Skandale. Unter den Fußballern Berlins ist die Erregung vom Amsterdamer Olympia her noch im Steigen. Es hat sich dort erwiesen, daß nicht die Engländer oder Nordamerikaner oder Australier die besten Stürmer und Torwächter sind, sondern daß Deutschland, Italien, Südamerika zur Zeit die tüchtigsten Mannschaften haben. Schließlich mußte Deutschland sich mit dem dritten Platz begnügen, weil es im Endspiel von Uruguay besiegt wurde, "in einem raffiniert gemeinen Spiel der Uruguayer voll heimtückischer Schmutzigkeiten", wie sogar das keineswegs deutschfreundliche Amsterdamer Allgemeen Handelsblad schreibt; die Uruguayer hatten den Trick, die Gegner mit dem Stiefelabsatz in die Fesseln zu treten, neben anderen Roheiten so "erfolgreich" angewendet, daß sechs Deutsche schwerverletzt in ärztliche Behandlung kamen und daraufhin das Spiel - das ist der "völkerverbindende" Sport - wüst ausartete, weil dann auch unsere getretenen, geschlagenen, ins Gesicht gespieenen Landsleute sich ähnlich zur Wehr setzten. Der Deutsche Fußballbund hat nun nicht etwa eingegriffen, protestiert und Abbruch des Spieles verlangt, sondern noch nachträglich - aus Liebedienerei vor dem Auslande - zwei der Opfer der Uruguayer wegen unfairen Spiels bestraft! Das geht denn doch über die Hutschnur. Der Deutsche, der so viel auf seine weiße Weste gibt, steht nicht auf dem englischen Standpunkt: "Right or wrong, my country!", er will, daß das Recht sich durchsetze, nicht sein Land, aber bis zur Selbstentwürdigung darf das nicht gehen. Fußball ist bei uns im letzten Menschenalter sehr volkstümlich geworden. Auch in Deutschland geht das Spiel nicht immer ohne Rauferei ab, bleibt jedoch ritterlich; Engländer und Amerikaner haben zuerst es ausarten alssen; bei ihnen sind auch Todesfälle dabei keine Seltenheiten. Die Gefallenen erhalten als Nationalhelden ihr Denkmal.
Wir sind zur Zeit keine Nation, sondern nur ein Haufen von Wahlberchtigten. Es schwingt kein einheitlicher Nationalstolz durch das Land. Vor dem Einzug der Ozeanflieger in Berlin wurden auf den Straßen Flugblätter verteilt, wonach sich der klassenbewußte Arbeiter von dem "Empfangsrummel" fernzuhalten habe. Es war trotzdem ein überwältigendes Bild, die Hunderttausende zu sehen, deren gläubige Hoffnung sich an die große deutsche Leistung klammert und die daher den Köhl und Hünefeld huldigten. Aber die Masse dieser freudig Erregten bestand eben aus "Nationalen"; alles bei uns wird zur Parteisache. Auf dem Tempelhofer Felde sprachen unsere Flieger noch begeistert und frisch, beschworen sie noch die unvergeßlichen Eindrücke aus Amerika, wo eine wirkliche Nation es "hundertprozentig" ist, wo frühmorgens jede Schule ihre Flaggenparade hat und jeder Poststempel für die militärische Ausbildung aller Bürger in Sommerlagern wirbt. Am Abend bei Kroll war Köhl innerlich schon müde, seine Rede zerflatterte, und krampfhaft suchte er sich selber durch Erinnerungen an die große Glückszeit unserer nationalen Einheit im Kriege aufzuputschen. Bei den Feiern draußen im Reiche, in München, in Stuttgart und anderswo, werden nicht mehr Hunderttausende Spalier bilden, denn die Bevölkerung ist dort nicht som zusammengeballt wie in Berlin, aber vielleicht erblicken Köhl und Hünefeld dort mehr "Nation" als hier und erhalten dort wieder neuen Auftrieb.
Die Älteren unter uns kennen aus dem Leben und aus der Geschichte das Auf und Ab an dem moralischen Pegel der Volksseele, wir halten also in Hoffnung fest zum Fähnlein und wissen, daß irgendwann ein Großer uns wieder emporreißen wird. Aber daß die Jugend zur Zeit nichts mehr von den Kämpfen um unsere Volkserneuerung wissen will, das ist verständlich. Sie hat, abgesehen von den gutdisziplinierten Roten, bei den Wahlen zum großen Teil nicht mehr mitgemacht, auch wenn sie das Wahlrecht zum ersten Mal ausüben durfte. Es fehlt ihr der Große, dem man folgen kann, sie sieht nur die geschäftigen Kompromißler der Politik, die Diätengesegneten und redseligen Erwählten der Parteihierarchie, die, "um Schlimmeres zu verhüten", jede halbe Maßregel begrüßen und vor jedem Radikalismus - aber die Jugend ist immer radikal - höllische Angst empfinden. Die haben wirklich nichts Hinreißendes. Die Gewerkschafter unter ihnen, die es in jeder Partei gibt, predigen neuerdings sogar die Auflösung aller Gegensätze (abgesehen natürlich von dem zwischen Arbeiter und Unternehmer), das Aufgeben des Kampfes um Monarchie oder Republik, um Freiheit oder Knechtschaft, und das Aufgehen nur in den Sorgen des armseligen Alltages. Und da sagt sich denn die Jugend, die keinen Großen sieht, daß es nicht lohne, den Kleinen und Besorgten und Entschlußlosen zu folgen, und lebt auf ihre Weise für den Tag und in den Tag hinein.
Man macht sich also berufstüchtig und man genießt im übrigen sein Leben. In der Berliner Straße in Charlottenburg steht, innen sehr behaglich und komfortabel eingerichtet, das Studentinnenheim, das während des Krieges von der Stifterin Frau Ottilie v.Hansemann, eröffnet worden ist, ein Prachtbau in parkähnlichem Garten: "in den Wogen des Lebens ein Hafen, im Brausen der Weltstadt ein Heim", wie eine begeisterte Insassin schreibt. Eine andere nennt es "ein Dorado von Schönheit, Behagen, Ruhe, Anregung und Freiheit" und sagt weiter: "Man atmet hier förmlich Kultur. Jede Geschmacklosigkeit, jedes grelle Lachen, jeder Klatsch müßte vor Schreck über sich selbst versinken. Aber auf allen Gesichtern liegt ein Glanz von Freude, Harmonie. Keine sieht verstudiert, abgehetzt, übernächtig oder flüchtig angezogen aus. Selbstverständliche Vornehmheit ist der Geist des Hauses." Man kann den jungen Damen die Genugtuung wirklich nachfühlen, wenn man dieses Haus, in dem ihrer 112 untergebracht werden können, gesehen hat, mit der köstlichen Gartenterasse, dem Sportplatz zwischen alten Bäumen, den bequemen Klubsesseln in den Gesellschaftsräumen und der reizenden Einrichtung der Einzelzimmer, wo vom mächtigen Bücherschrank bis zum mannshohen Ankleidespiegel sich alles befindet, was ein studierendes Jungmädchen sich nur wünschen kann. Natürlich ist das ein Heim, in dem die volle Pension ein ganz artiges Sümmchen kostet. Aber die Eltern sind sehr beruhigt, weil es da eine Oberin und eine Hausordnung gibt, wonach die Insassen, wenn sie nach 12 Uhr nachts heimkommen, am Morgen melden müssen, wo sie gewesen seien. Auch ist Herrenbesuch auf den einzelnen Stuben nicht gestattet. Nur in den Parterresälen und im Garten mit den vielen Lauben, die auf Stunden vorausbestellt werden. Dahin kommen die erlaubten Besuche, nämlich nahe Verwandte, Brüder und Vettern; namentlich von diesen hat jede Studentin welche in Berlin. Manchmal kommen auch Väter, die fabelhaft jung aussehen; und klirren mit Bowlengläsern durch den Garten in die bestellte Laube. Hinter den Büschen kichert schalkhaft Gott Amor. Ich wünschte den jungen Damen, daß es in diesem Jahre eine Unzahl lauer Sommerabende gäbe, kein Regen sie zwänge, mit ihren Besuchern ein großes offizielles Empfangszimmer im Heim aufzusuchen, in dem dann doch alle "Verwandten" zusammensitzen müßten. Es ist doch schön, daß in diesem Punkt die Welt sich nicht ändert, daß kein Garçonnetum unsere jungen Mädchen aus der Art geraten läßt. Die Mütter haben sich einst in ihrer Jugendzeit mit ihren Vetter am Schloßteich oder in der Konditorei getroffen, die Töchter tun jetzt dasselbe in den eigens dazu bereitgestellten Lauben im Pensionsgarten; eigentlich ist dieses noch netter, obwohl die Mütter vielleicht erklären, das Netteste dabei fehle, nämlich das Geheimnis und das Unerlaubte.
Das sind die Ehrlichen, die so sprechen. Die weniger ehrlichen Mütter behaupten freilich, in ihrer Jugendzeit habe man überhaupt nicht geküßt; so wie gewisse Väter ja auch erzählen, sie seien als Schüler Musterknaben gewesen. Gott sei Dank, daß es immer Jugend gibt, die ihr Recht sich nimmt. Es kommt die Zeit, wo man verspielt hat, doch noch früh genug. Ich kenne eine ehemalige Schauspielerin, die heute so massig ist, daß man denkt, ein Bataillon marschiere im Gleichschritt heran, wenn sie über eine Brücke geht. Auch die war einst ein junges Ding und hatte ein entzückendes Seglerheim an der Oberspree. Vor fünf Jahren verlor sie ihren letzten Liebhaber. Jetzt spielt sie nur noch die Robuste und berlinert gern: "Sehnse mal det Händeken, doller wie dem Jötz von Berlichingen sein eisernet, da muß die Jungfrau von Orleangs ihre Knochen einzeln aus'n Bauch polken, wenn ick mit sie fechte!" Und dann wendet sich die Riesendame ab, damit niemand sieht, daß ihr die Tränen kommen.
Nein, wir wollen nichts gegen die Jugend sagen . . .
21. Juni 1928 (Donnerstag)
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Er tanzt so frech - "Weiblich" wieder Mode - Piscator-Pleite - Die "beiden Seehunde" im Schillertheater - Auch Mary Wigman gibt auf - Neger im Ufapalast - Erinnerung an Josefine Baker - Nach den Flieger-Festtagen.
"Er tanzt so frech!", klagt die junge Frau ihrer Freundin. Beide haben sich, das kommt ja häufig vor, mit einem Gent zum Fünfuhrtee in einer Berliner Hotelhalle getroffen, einem Kollegen des Mannes. Die Freundin antwortet nicht gleich; sie sieht die junge Frau nur etwas rätselhaft an. Da wird diese flammend rot. Tja. Hm. Pause. Das Schuldbewußtsein ist der jungen Frau auf die Stirn geschrieben. Uhr Tänzer ist gerad verschwunden, auf mich, den Femden am Nebentisch, achten die beiden Damen nicht. Ich lese wie so häufig hier vor dem Gang zur Arbeitsstätte die Abendblätter bei einer Tasse Kaffee, die Musik absorbiert das übrige Geschwirr, ich bin ganz ungestört. Nur zufällig sind die vier Worte zu mir herübergeweht, während gerade ein Moment Stille die Lärmruhe unterbrochen hat. "Er tanz so frech!" O du listige kleine Eva: es gibt doch kaum einen Mann, der vom verbotenen Apfel ißt, wenn er ihm nicht von der Frau gereicht wird. Dieser junge Gent hier, ich sehe es nachher, tanzt mit der Freundin doch ganz korrekt; nur dir gegenüber nimmt er sich mehr Freiheiten heraus, weil du - ihn dazu ermuntert hast. Vielleicht unbewußt; das will ich zugeben. In den letzten Jahren hat die fortschreitende "Emanzipation" der Frau, besonders in den Großstädten, die Beziehungen der Geschlechter umgeschichtet. Früher gab es gewisse von unseren Damen als unangenehm empfundene Männer, die überall ihr weibliches Gegenüber mit einem beharrlichen Svengali-Blick musterten, intensiv mit den Augen abtasteten. Heute machen das schon manche junge Mädchen, so daß unsereins, der Mann, rot wird. Manchmal freilich huscht dann ein Blitz des Einverständnisses hinüber, und der Flirt beginnt oder die "Frechheit" beginnt, aber die Lust zum Heiraten wird nicht gesteigert. Im Gegenteil: bei dem Gedanken daran bekreuzigen die Junggesellen sich innerlich. Instinktiv wittert endlich die Damenwelt die Gefahr. Merkwürdigerweise von Paris aus kommt daher die Losung in Mode und Sitte: "Werden wir wieder weiblich!" Und die ersten Anzeichen der neuen Reaktion merkt man jetzt sogar auf dem Tauentzien-Bummel in Berlin.
Die Garçonne, die schweifende blonde Bestie mit Monokel und Smoking, hat ausgespielt. Man ist äußerlich wieder unschuldiges Pensionatstöchterchen oder bewußte reife Frau. Sogar in der Bohêmewelt des Romanischen Cafés an der Kaiser-Wilhelm-Kirche werden die weiblichen Exzentrics seltener. Man läßt sich wieder gern den Hof machen und geht nicht mehr herrisch voran.
Auch in Geschmacksdingen vollzieht sich alles in Wellenbewegungen, in einem ständigen Auf und Nieder, und in diesem Wechsel fühlen wir augenblicklich, im Gegensatz zu dem tiefen Wellental unserer parlamentarischen Politik, ein leichtes Getragenwerden nach oben. Der ärgste Krampf in der Berliner Kunst scheint überwunden zu sein. Das begann in der Malerei schon vor ein paar Jahren mit der sogenannten neuen Sachlichkeit. Auf der Sprechbühne und der Tanzbühne hielt der Krampf länger an. Jetzt ist auch da die Krisis eingetreten. In den Staatstheatern wird wieder liebevoll inszeniert, herrscht nicht mehr einzig und allein Jeßners fürchterliche Treppe. Erwin Piscator, der uns nur mit Maschinentechnik und Kommunistenpropaganda in seinem Nollendorfftheater kam, hat den ersten Neuheitseindruck bald abgenutzt, hat sein Publikum aus Berlin W im Parkett und Berlin N auf der Galerie nicht mehr fesseln können, und sein Werk ist in Konkurs gegangen. Die Geldgeber, die Weill und Katzenellenbogen, halten es nicht weiter aus. Die kleinen Darsteller seiner Bühne - die großen wie Max Pallenberg und Tilla Durieux sind gesichert - liegen auf dem Pflaster und fassen sich an den Kopf: "Wie konnte man nur diesem roten Volksbeglücker so viel vertrauen!" Es ist ein magerer Trost für sie, daß ein illustriertes Blatt erst kürzlich "Piscator daheim" verherrlicht und die köstlichsten Abbildungen aus seiner verlockend eingerichteten Wohnung gebracht hat. Das Publikum will auf die Dauer wirklich nicht Krampf, sondern Unterhaltung. Das Schillertheater beispielsweise ist täglich gepfropft voll; da freut man sich an den harnlos lustigen "Beiden Seehunden" Rößlers, des Verfassers der behaglichen "Fünf Frankfurter", der hier eine vergnügte Kleinstadtkomödie aus einem imaginären Kurfürstentum gibt, in dem der hohe Herr selbst und der Dienstmann Nr. 6, die einander zum Verwechseln seehundähnlich sehen, ihre Rollen tauschen. Es fehlt nicht an neckischen Spitzen gegen einen parlamentarischen Vertreter der Demokratie. Aber auch das ist mehr liebenswürdig als bitter; das Publikum ist so "ungebildet", sich von A bis Z herrlich zu amüsieren. Anscheinend wendet es sich auch von den Verstiegenheiten der berufsmäßigen Ideentänzerei ab. In Bilderzeitschriften sieht man noch zuweilen gräßlich verzerrte Tanzgruppen, aber man betrachtet sie wie eine kulturelle Absonderlichkeit: zu den Aufführungen selbst geht man nicht hin. Auf dem Tänzerkongreß in Essen hat Mary Wigman soeben mitgeteilt, daß sie aus wirtschaftlicher Not gezwungen sei, ihre Mustergruppe sofort aufzulösen. Ich habe sie ein einziges Mal in meinem Leben gesehen, das "Dreieck", das "Chaos" und anderes mir vormimen lassen, und hatte genug, bin seither nie wieder hingegangen. Andere haben es in diesen Jahren nach mir getan, je nun, weil man doch halt ein gebildeter Mensch sein will; aber beglückt, so wie etwa nach einem Tanzabend von Niddy Impekoven, der Unvergeßlichen, oder selbst von Anna Pawlowa in deren guter Zeit, ist niemand heimgegangen. Jetzt bleiben die Zuschauer ganz aus, und da ist die wirtschaftliche Not eben da. Der sozialdemokratische Vorwärts nennt das einen Kulturskandal. Es gehe eine Kunstschöpfung zugrunde, die in der Welt nicht ihresgleichen gehabt hätte. Der Staat müsse eingreifen.
Das käme dann also wieder auf eine tendenziöse Subsidienkunst hinaus. Ich denke, so etwas gab es nur in der verruchten Monarchie. In einem Freistaat entscheidet doch ein kunstbegeistertes Volk.
Vielleicht wird das Volk von Berlin einmal auch der Niggerkunst überdrüssig und läßt sie nur noch als das gelten, was sie ist, als uneuropäisch-bestialische Groteskkomik, die nicht auf die Bühne gehört, sondern in die Exotenschau im Zoologischen Garten. Noch ist es nicht so weit. Noch werden tiefsinnige Essais über diese "Kunst" geschrieben, die jugendlich-ursprünglicher sei als unsere vergreiste des Abendlandes. Abgesehen von der Jazzmusik erlebten wir sie in Berlin nach dem Kriege zum ersten Mal im Apollotheater, wo in einer Revue ein herkulischer Neger, ohne daß ein an unser Rheinland denkendes Publikum alles kurz und klein schlug, rollengemäß ein weißes Mädchen an sich zu reißen hatte. Augenblicklich gastiert eine ganze Negertruppe im Ufapalast; der Filmbesuch im Sommer läßt nach, da sucht man nach zugkräftigem Ersatz. Zur Ehre dieses Gastspiels muß man sagen, daß es nichts Anstößiges bringt, sondern nur Jazzmusik, die man anderswo schon krasser hörte, Steptänzer, die man anderswo schon gleich gut sah, und neben ausgekrähten Niggergirls einen männlichen Komiker, der die Possierlichkeit eines gedrillten Affen hat. An die Truppe der Josephine Baker, die vor ein paar Jahren im Kurfürstendammtheater Rudolf Nelsons die fetten Berlin-W-Weiber in Ekstase versetzte, reicht die im Ufapalast nicht heran. Von Berlin aus ging die Baker nach Paris, hatte dort bald ein v eigenes Variété, scheffelte Geld. In Wien gab es einen Skandal um Josephine Baker, da empörte sich noch ein gesundes Volk: wie ist die Zeit doch so weit, wo wir die Wiener für dekadenter als die Berliner hielten! Die Baker kommt hereingeschlenkert oder hereingewirbelt, noch Mensch, noch Negerin; eine verhältnismäßig helle, bananengelbe Negerin, mit glänzendem - man denkt, schlüpfrig gesalbtem - Kaviarkopf, und läßt sofort ihre einzelnen Glieder, ganz unabhängig von einander, spielen, schwingen, zittern, hüpfen, kreisen. Ein paar Muscheln um die Brüste, ein paar Federn um die Hüften, das ist alles, was sie anhat. Sie tanzt in hundert Variationen ganz eindeutig nur ein Thema: le triomphe de la lubricité. Zuletzt läuft sie auf allen Vieren, wie ein Mandrill mit hocherhobenem Steiß, ab in die Kulissen. Das ist wirklich nicht mehr zu überbieten. Wie Vögel mit den Flügeln schlagen, so agiert sie mit diesem Körperteil. Natürlich hat sie schon ihre Memoiren geschrieben. Und da - man muß das wörtlich anführen, wenn man diese Tierkunst richtig schildern will - sagt sie: "Man hat seit einiger Zeit seinen Hintern zu sehr im Verborgenen gehalten; und er ist doch da, der Hintern. Ich wüßte nicht, weshalb ich ihm Vorwürfe machen sollte. Allerdings gibt es Hintern, die so erbarmungswürdig sind, daß sie nur zum Sitzen taugen und zum - na ja." Es wäre ganz gut, wenn unsere Essaisten, die von der Kunst solcher Leute uns vorschwärmen, diese Offenherzigkeit studierten. Vielleicht kommen sie dann zu der Erkenntnis, weshalb die Nelson, Krakauer und Genossen immer wieder von Newyork oder Paris die Niggertrupps bei uns importieren. Nämlich als Begründung und Entschuldigung für die eigenen Ausartungen. Man bietet dem Volk eine perverse Kunst und sagt dann: "Seht, wir waren auf dem richtigen Wege; die Primitiven aus Afrika machen es noch toller." Aber ich denke, lange fällt das Volk nicht mehr darauf herein. Ich sage nichts gegen diese Darbietungen, soweit sie echt sind, denn sie erschließen uns ein großes Stück Rassenpsychologie, aber sie gehören nicht in den Kunsttempel, sondern in die Zoo-Arena. Und nach der Vorstellung gehören die Mitwirkenden nicht in den Gesellschaftssaal an die Tische deutscher Menschen, was kein Engländer oder Amerikaner, sondern außer uns nur der bastardierte Franzose fertigkriegt. Dann soll man sie wieder - ich verzichte auf das harte Wort Käfig - in ihre Compounds bringen, abgesondert von der übrigen Menschheit. Es gibt Neger genug, vor denen man den Hut ziehen kann, vor allem unsere Askari aus Deutschostafrika, dezu in Amerika manchen Gelehrten oder Gewerbetreibenden, aber was über unsere Bühnen herrollt, das ist tierischer Abschaum.
Manchmal will es uns allerdings bedünken, als sänken wir rettungslos zu ihm hin. Es gibt so viele weiße Neger, so viele Zwischenstufen schon in Europa. Wenn man einmal im Golfklub Wannsee oder an einer anderen Stätte "mondäner" Auslüftung gewesen ist, wundert man sich über die dort gesehenen Typen. Überall, wo es viel Geld kostet, verschwindet unmerklich der deutsche Mensch.
Nur sehr selten noch hat er seine Tage ungetrübter Erhebung. Das waren wieder die des Empfanges der Ozeanflieger, die nun abgelaufen sind. Nicht ohne mißtönendes Gekreisch. Dem Berliner Tageblatt wird es nicht so bald vergessen werden, daß es schrieb, alle diejenigen hätten in diesen Tagen die schwarzweißrote Flagge gehißt, die erfahrungsgemäß keinen Anstand und keine Gesittung besäßen. Mit diesem Klüngel hat Freiherr v.Hünefeld sich klar auseinandergesetzt. Was er getan habe, sagte er in dem überfüllten Sportpalast, habe er als Privatmann für Deutschland getan, ohne jede amtliche Unterstützung. Und wenn er als Privatmann nebst seinem Kameraden Köhl jetzt der Einladung zum Kaiser nach Doorn Folge leiste, so verbitte er sich jeden Einspruch; er habe das Recht darauf, Treue zu halten und kein Gesinnungslump zu werden. Derselbe Hünefeld aber hat auch erklärt, er freue sich, wenn das Reichbanner Schwarzrotgold ihn begrüße, denn auch er "kenne keine Parteien", wo es um das Ansehen des deutschen Namens in der Welt gehe. Ihn und seine beiden Kameraden zu sehen, hatte man in Berlin hundertfach Gelegenheit, und sie wurde reichlich und begeistert ausgenutzt, trotz allen Krächzens der Asphaltpresse. Etwas von der Begeisterung bekamen auch die Angehörigen ab, bis zu der kleinen siebenjährigen Pathy Fitzmaurice hinunter, die im Grunde froh ist, wenn sie unbeachtet im Hotel Kaiserhof mit ihren Puppen spielen kann. Stolz zeigt sie eine große Puppe vor und sagt mit komischem Ernst: "Wissen Sie, es ist ein bißchen schwer, diese jüngste meiner Töchter ist doch gestern in Deutschland geboren, kann also gar kein Englisch, und da versteht sie mich noch nicht!" Alle Angehörigen sind mit allerlei Geschenken überhäuft. Die Flieger selbst auch; außerdem haben sie zwei große Kisten voll unbeantworteter Briefe und Telegramme dastehen, an deren Sichtung ein Sekretär noch wochenlang zu tun hat. Bei den Feiern in Berlin hat es auch an erheiternden Momenten nicht gefehlt. Die Stadt gab ein Bankett im Rathause. Nach jeder Rede und jedem Hoch spielte die Musik die entsprechende Nationalhymne. Die deutsche. Die irische. Die amerikanische. Dann folgte unerwartet eine Rede auf Berlin, die Musik stockte eine Weile, intonierte dann aber frisch und munter: "Tochter Zion, freu - eu - eue dich!"
28. Juni 1928 (Donnerstag)
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