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Teure Amusements - Platz für den Ochsen - Das Grüne in Berlin - Im Wanderzelt - Hermannswerder - Der Templiner See in Flammen - Von früheren Abgeordneten - Erinnerung an Spaa - Schneiderin und Dienstmädchen.
Unsere Neureichen, die trotz aller Vermögensabgaben und Sozialisierungen gut geschont die Inflation und Deflation überstanden haben, mimen Kultur. Sie nehmen englische Konversationsstunden und sitzen nachmittags auf dem Polofelde bei Berlin-Frohnau; vielleicht hält sie am Ende doch jemand für einen Lord. Sie treten auch, was nicht ganz so einfach ist, in den neubegründeten Feinschmecker-Klub ein, der gelegentlich ganz sagenhafte Soupers gibt. Sie bezahlen 75 Mark für einen Platz im Parkett oder ersten Rang, wenn Schaljapin in der Staatsoper singt, also mehr, als in irgend einer anderen europäischen oder amerikanischen Großstadt entrichtet wird. Auf diese Weise bekommt Berlin durch die heute oberen Fünfhundert und ihre Familien einen dünnen Glanzlack, der bald wieder abspringt, aber vorerst den ausländischen Besucher verblüfft. Die Fremden halten diese Neureichen für deutsches Volk und sagen sich, ein so wohlhabendes Volk könne natürlich bezahlen. Bis auf Heller und Pfennig 132 Milliarden Goldmark, erklärt hart und bestimmt der Franzose, der selber sich daheim niemals so viel leistet. Was es in Paris an extravaganten Dingen gibt, das ist Nepp für Amerikaner und Deutsche, nicht gemimte Kultur.
Die Berliner Oberschicht der Revolutionsgewinnler und Schrottmillionäre läßt dabei die Künstler, wenn sie nicht ausnahmsweise ihr versippt sind, erbarmungslos verhungern. Sie bestellt kaum mehr Bilder und Skulpturen. Dafür kann doch der Staat sorgen oder die Stadt, sagt sie. In Stadt und Staat aber sitzen in den entscheidenden Parlamenten doch Botokuden. Sie haben freilich den guten Willen, Berlin zu schmücken; natürlich sinngemäß und modern zu schmücken. Also wurde für einen Platz, der im Schlachthofviertel liegt, ein Riesenochse aus Erz bestellt, angefertigt und mit 360 000 Mark bezahlt. Nachher erwies es sich, daß an der in Aussicht genommenen Stätte schon ein Untergrundbahnhof projektiert war. Es ist kein Raum da für den Ochsen; seither fahren die Stadtväter umher und suchen einen.
Wenn so etwas unter dem alten Regime geschehen wäre, - nicht auszudenken, was man da gehöhnt hätte . . .
Auch ohne erzene Ochsen macht Berlin, das wegen seiner Kuchentellerflachheit und wegen seines Mangels an althistorischer Monumentalität freilich nie "die schönste Stadt der Welt" werden kann, trotzdem auf fremde Besucher einen guten Eindruck. Nicht nur, weil es - nach der Verlumpung in Revolution und Inflation - wieder sauber und ordentlich ist, eine Stadt der Arbeit im Sonntagskleid, sondern auch, weil es allein unter den sechs größten Millionenstädten der Welt sich noch die Liebe "for't Jriene" bewahrt hat. Nirgends in Amerika findet man so viele Bäume in Hauptstraßen, so viele Spielplätze, so viele Parks. Dafür strengt die Stadt sich an, dafür gibt sie reichlich Mittel; und wer einmal in Berliner Wohnstraßen einen Blick über die Balkons mit ihren Blumen und lebenden Hecken geworfen hat, der weiß, daß es die Natursehnsucht der Berliner ist, die dem Magistrat die Richtung gibt. Heute sieht man auf den Balkonen und Loggien und Veranden überall bekümmerte Gesichter und geschäftige Hände, denn der Wirbelsturm am Mittwoch hat die Bohnenranken zerrissen und die Geranien geknickt. Daß er auch Tiergartenbäume, neunzigjährige Riesen, entwurzelt und umgeworfen hat, das liest man und sieht man, aber das geht einem nicht so nahe. Und diese Pflege des bißchen Grün an der Front der Wohnung lockt dorthin, wo das Grün verschwenderisch im Freien zu haben ist: von Jahr zu Jahr mehr weiß der Berliner seine herrliche Umgebung zu schätzen. Vor 40 Jahren wußte er es noch nicht. Wer etwa "an de Pumpe" - im Stadtteil Gesundbrunnen - in Berlin N geboren war, der kam kaum je auch nur bis zum Kreuzberg in Berlin S. Das war schon zu weit. Man ging sonntags allenfalls "mang die Zelten" an der Spree zu Bier und Musik, und ganz Kühne machten einen Spaziergang "bis an de Puppen", nämlich bis zu den griechischen Statuen, die damals am Großen Stern im Tiergarten standen und von denen diese jetzt in ganz Deutschland übliche Bezeichnung für etwas grenzenlos Weites stammt. Sonst blieb man in seiner Straße. Die Buben in Röhrenstiefeln, die Mädel in Knöpfstiefeln mit Troddel hatten da im Winter neben dem Bürgersteig ihre Glitschbahn, im Sommer ihre Pfütze, das war für die Jugend Seligkeit genug.
Die Kinder jener Buben und Mädel bevölkern heute die Havel und die Oberspree und die 68 großen und kleinen Seen um Berlin und ihre Ufer. Unzählige Wanderzelte überall. Da schlafen die Kameraden oder die Pärchen oder die Familien in der Nacht zum Sonntag und zum Montag, auch wenn sämtliche Tanten Schauerdinge von kommendem Rheumatismus erzählen. Tagsüber wird geschwommen, gerudert, gesegelt, abgekocht, gewandert, getanzt. Das macht gesund und härtet ab. Schon jenseits Potsdams, auf einer Seite vom Templiner See, auf den anderen von Havel und Judengraben umschlossen, liegt eine große Insel, Hermannswerder, die einen Gutsbezirk für sich bildet. Zwischen den Bäumen lugen da eine Kirche, ein Krankenhaus, mehrere Wohn- und Schulgebäude hervor. Es ist die "Hoffbauersche Stiftung", der die Insel gehört, ein großes Erziehungsinstitut in christlich-nationalem Sinne für junge Mädchen, wo vom Säuglingsheim bis zur Oberprima alles und in jeder Schulgattung vorhanden ist. Namentlich Auslandsdeutschen empfehle ich dieses Institut immer ebenso gern für ihre Töchter, wie das Baltengymnasium in Misdroy auf der Insel Wollin an der Ostsee für ihre Söhne. Auf Hermannswerder haben die Kinder natürlich alles, was der Berliner nur am Wochenende sich erst leisten kann, und der Sport in Luft und Sonne und Wasser und Wind stählt ganz prachtvoll. Bei dem Potsdamer Empfang der Ozeanflieger neulich gab es stundenlanges Stehen und Marschieren, eine harte Anstrengung für die Schulen; und da waren die "Hoffbauerschen" - die Mädels defilierten im Sportanzug - besonders stolz darauf, daß einzig und allein aus ihren Reihen "auch nicht eine umgekippt" war, während unter den Angehörigen anderer Schulen verschiedentlich Ohnmachtsanfälle zu verzeichnen waren.
Am vorigen Sonnabend große Uferbeleuchtung des Templiner Sees. Meilenweit flammte das Rot empor. Dann steigen die Garben des Brillantfeuerwerks an verschiedenen Stellen. Viele Hunderte von Segelbooten, Ruderbooten, Motobooten machen "italienishe" Nacht mit bunten Lampions über die Toppen und gleiten leise um uns her. Wir befinden uns auf einem Motorschiff der Elite-Autorundfahrt-Gesellschaft bei guter Mitropa-Verpflegung, Musik und Tanz. Erinnerungen tauchen auf: an die Schloßbeleuchtung in Heidelberg, an manche Serenade und historische Regatta in Vendig. Aber dieses Berliner Flammenfest ist eigenartig und grandios. Dazwischen sieht auch der Mond es sich an und streut blinkendes Silber auf den See. Man trinkt sich satt an der wundersamen Schönheit. Natürlich ist es eine Wohltätigkeitssache, für Altveteranen; sie schließt mit einem Fackelzug von Tausenden am Ufer unter alten Märschen der Stahlhelmkapelle und mit einem lodernden Flammenstoß. So etwas müßten wir am wirklichen Nationalfesttagen den Fremden vorführen. Das wäre für sie unvergeßlich. Das ginge noch über den Narzissentag in Montreux und fast alle ähnlichen Veranstaltungen und müßte Glanzpunkt unserer "Saison" bei Sommerbeginn sein. Wenn unsere republikanischen Behörden klug sind, dann machen sie das jetzt und warten nicht erst, bis später einmal - die Monarchie den Gedanken aufnimmt.
Man spricht ja wieder von Republik und Monarchie. Der Abgeordnete Lambach hat die Frage aufgerührt und zu seiner grenzenlosen Verblüffung dann gesehen, daß sämtliche deutschnationalen Kollegen Mann für Mann sich als unentwegt monarchisch bekannten. Da tat er es denn auch und erklärte seine Zweifel für Eifer.
Es ist also nichts mit der "Erschütterung" der Rechten durch diese Frage; obwohl mancher "Alte" - irrig behauptete Lambach, nur die Alten hielten noch zur Krone - nach den Wahlen nicht mehr wiedergekehrt ist. Einer der ersten Gentlemen unter ihnen, mir besonders lieb wegen der ruhigen Würde, mit der er als fast Siebzigjähgriger noch den Verlust von Stellung und Vermögen trug, war der Geheimrat Dietrich. Vom Auto auf die Trambahn vom Reitpferd auf den Velotrab, das ist nicht leicht; und schwerer vielleicht noch, Bedürftigen nichts mehr geben zu können, wo er doch so gerne gab. Natürlich war er in den letzten Jahren, trotz sonstiger Elastizität, oft schon recht müde. An einem schwülen Nachmittag saß er als Vizepräsident im Reichstage auf dem kurulischen Sessel, die Debatte ging zu Ende, es wurde still, aber es erfolgte nichts: Dietrich war eingenickt. Da rief Adolf Hoffmann: "Warraftig, a pennt!", und dann, zum Publikum gewendet: "Mit den Dietrich hättense ruhig kennen in meine Filla einbrechen!" Unter den älteren Herren des vorigen Reichstages, die nicht wiedergekehrt sind, war neben Tirpitz der bedeutendste vielleicht der General Graf v.d.Schulenburg, der Chef des Stabes der Kronprinzenarmee, in den Novembertagen in Spaa einer der wenigen Männer aus Stahl und Eisen. Er hielt nichts vom Nachgeben, das die zivilen und militärischen Demokraten von Drews bis Groener dringend empfahlen, sondern schlug am 8. November dem Kaiser vor, ein Fluggeschwader, mit Offizieren bemannt, den Rhein entlangfegen und über allen Städten die Ankündigung abwerfen zu lassen, daß 100-Kilo-Bomben folgen würden, wenn nicht die Revolution sofort niedergeschlagen und auf den Kirchtürmen die weiße Fahne statt der roten gehißt würde. Hindenburg aber, durch Groener und die Berliner Parlamentsregierung beeinflußt, die von einem "Blutmeer" in Berlin sprachen, antwortete dem Grafen Schulenburg: "Sie sprechen, wie jeder richtige preußische Offizier sprechen muß; nur sind die Verhältnisse in der Heimat schon so, daß es nicht mehr geht." Es wäre, das wissen wir heute, doch noch gegangen. Aber auch der Kaiser selbst wollte nicht um die Krone gegen das eigene Volk kämpfen. Er stellte bewußt die nationalen über die dynastischen Interessen. Heute weiß freilich wohl auch er, daß damals beide Interessen identisch waren und daß eine über die Revolution siegreiche Monarchie ganz andere Waffenstillstands- und Friedensbedingungen erreicht hätte. Vorbei, vorbei.
Für die breite Masse sind das erledigte Dinge, sie lebt nur in den Tag hinein, sie braucht Brot und Spiele, punktum. Aber jeder einzelne natürlich sein Extrabrot. Selbst in der alles nivellierenden Großstadt hat jedermann seinen Berufstick; niemals wird beispielsweise der Hotelkellner den Restaurantkellner als gleichwertig anerkennen. Augenblicklich, wie alljährlich vor der Sommerreise, sitzt wieder unsere Hausschneiderin bei uns am Tisch, ein schwer zu behandelndes und nicht leicht zufriedenzustellendes Fräulein, das aber sehr viel Phantasie in Farben und Formen besitzt und daher von uns verhätschelt wird. Ja, sie! Aber andere ? Also meine Frau sagt: "Ich muß aufstehen, ich muß den Nachmittagskakao für die Lucie machen!" Was ? Die Frau für das Dienstmädchen ? Unsere Schneiderin läuft rot an. "Ja," sagt meine Frau, "die Lucie liegt doch jetzt nachmittags immer 1½ Stunden im Bett, sie hat sich in den zwei Urlaubswochen gar nicht erholt, Fräulein Doktor hat das angeordnet." Aber da braust die Schneiderin auf. So ? Also im Bett ? Und wer verordne denn das für sie, die doch Schneiderin mit akademischer Bildung sei, auf Schneiderakademie gewesen ? Wer gebe ihr Ferien ? Wer koche ihr Kaffee ? "Aber mein liebes Fräulein," werfe ich ein, "dafür sind Sie doch selbständig!" Aber es hilft kein Begütigen. Wir haben es verschüttet.
Vielleicht machen andere Familien, wo das Dienstmädchen auch patriarchalisch wie das Kind im Hause gehalten wird, ähnliche Erfahrungen. In Berlin kann man jedenfalls immer wieder nur feststellen, daß die Neuordnung von 1918 uns innerlich nicht sozialer gemacht hat. Jeder neidet dem anderen das Seine, Klassengenossen sind eifersüchtig auf einander. Wir hassen nicht mehr den Feind, der uns alle bedrückt und - so viel machen die 132 Milliarden auf den Kopf der Bevölkerung aus - schon jeden Neugeborenen in Deutschland sofort mit einer Schuld von 2000 Mark belastet, wir unterschreiben vielmehr jede "Sicherheit" für ihn, aber wir ärgern uns über den Volksgenossen, der ein paar Groschen oder eine Stunde Bettruhe oder eine Tasse Kakao mehr hat als wir selber. Wir sind keine Nation, sondern wir sind Konkurrenten. Dazu hat uns die Klassenkampfidee gebracht. Solange sie herrscht, bleiben wir unerlöst.
5. Juli 1928 (Donnerstag)
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Krach vor dem Wehrministerium - Keine Wachtparade Unter den Linden - Somali-Schau im Zoo - An der Kaffeetafel - Die Deutschnationalen gehen nicht zur Pressa - "Arion" im Ufapalast.
Mordskrach in der Königin-Augusta-Straße; man denkt, die Kastanienbäume davor am Landwehrkanal müßten erzittern. Vor dem Reichswehrministerium hat ein Auto gehalten, dem ein Offizier aus irgend einer Provinzgarnison entstiegen ist. Er ist im Gebäude verschwunden. Sein Wagenlenker und noch zwei Soldaten, die ihn dienstlich begleitet haben, stehen draußen. Ein anderes Auto ist unmittelbar darnach gekommen und hält auch an der Bordschwelle. Ein Zivilist kommt da heraus und sieht die Soldaten scharf an. "Was will der Kerl ?", denken die, aber weiterdenken können sie gar nicht, denn schon ist der Krach da: warum sie ihn, den Reichswehrminister Groener, nicht grüßten, sagt der Zivilist zornroten Angesichts und pfeift die Leute an, daß sie nicht wissen, wie ihnen geschieht. Ich schlendere gerade unter den Kastanienbäumen entlang, auch andere Passanten bleiben einen Augenblick stehen. Arme Kerls, diese ahnungslosen Soldaten; sicherlich werden sie nachher auch noch bestraft, zum mindesten mit einem dienstlichen Verweis, denn sie hätten, wird ihnen gesagt werden, doch das kleine vorn rechts am Kühler hängende Läppchen sehen müssen, den Autostander des Reichswehrministers. Hätten sie, hätten sie, natürlich. Aber das Nichtsehen ist verzeihlich. Ich kannte im Felde einen General, der im Dunkeln von einem Soldaten nicht gegrüßt wurde, den er daraufhin - aber ruhig und freundlich - stellte. Der Soldat stotterte eine Entschuldigung, was erst recht falsch war, aber der General nahm es ihm nicht weiter krumm und sagte nur: "Machen Sie nächstens die Augen besser auf, mein Lieber, denn wenn ich nicht General, sondern Offiziersstellvertreter wäre, könnte es Ihnen dreckig gehen!" Auch Groeners Vorgänger, der Reichswehrminister Geßler, war einmal, das ist schon einige Jahre her, in ähnlicher Lage. Er ging in Zivil durch ein Biwak. Da klopfte ein Soldat ihn auf die Schulter und sagte: "Da staunste ? Hier is Betrieb!" Ohne ein Wort zu sagen, lachend, ging Geßler weiter; Mann und Offizier haben ihm diesen Takt nicht vergessen. Selbstverständlich hat der neue Herr, der ja Berufsmilitär ist und nur als republikanischer Minister in Zivil geht, in der Sache völlig recht, denn Grußdisziplin muß sein, aber die armen Teufel von Soldaten können einem heute trotzdem leid tun. Da hatten sie es früher, wo kein Zivilist gegrüßt wurde, doch leichter. Die Uniformen mußte man schon als Rekrut sich einprägen, und selbst Kaczmarek aus Oberschlesien konnte, wenn er nach den Abzeichen eines Generals gefragt wurde, siegessicher herausschmettern: "Hat sich General rote Beine und offene Brust und auf Kopp, wo wir Haare haben, Fedderbusch!"
Wenn man nicht gerade am Reichswehrministerium in der Königin-Augusta-Straße oder am Palais des Reichspräsidenten in der Wilhelmstraße vorübergeht, sieht man in Berlin kaum mehr Soldaten im Dienst. Die Geschäftswelt bedauert es, denn sie weiß, wie die Wachtparade früher zog. Es reisten Fremde eigens nach Berlin, um sie sich anzusehen. Sämtliche Ladeninhaber Unter den Linden sind neulich darum eingekommen, daß dieser Aufmarsch wieder eingeführt würde, haben aber abschlägigen Bescheid erhalten. Das Volk und die Fremden und die Geschäftsleute sähen die Wachtparade gern, aber die Ullsteinpresse ist dagegen. Als an den Skagerraktagen diesmal ein Zug Matrosen die Ehrenwache vor dem Palais Hindenburgs stellte und halb Berlin herzulief, berichtete die Vossische darüber unter der Spitzmarke: Verkehrsstörung. Man zerbricht sich den Kopf darüber, wie eine "Saison" in Berlin zu machen sei, um die Besucher heranzuziehen, aber schon die einfachsten und bequemsten Lockmittel weist man ab. Festspielwochen, wie man sie in Wiesbaden, München, Zoppot und anderswo hat, verleiten allein doch nicht dazu, das banausische Berlin aufzusuchen. Und in den großen Ferien, wo Berlin den stärksten Besuch aus dem Reiche aufzuweisen hat, sind die künstlerisch hervorragenden Theater bei uns geschlossen oder an Sommerdirektionen verpachtet, die großenteils französische Eindeutigkeiten - bei uns wirken sie nicht charmant, sondern nur roh - zur Aufführung bringen.
Ein Segen, daß wenigstens der Zoologische Garten so repräsentabel ist, vielleicht der reichhaltigste und geschmackvollste in Europa überhaupt. Endlich ist hier auch das veraltete Photographierverbot, das es in Kopenhagen und anderswo nie gab, gefallen; gegen eine einmalige Gebühr von 50 Pfennigen kann man nach Herzenslust sämtliche Löwen und Giraffen und Kamele typen. Auch eine neue Völkerschau, die diesmal aus dem Somaliland von der Nordostecke Afrikas kommt, wirkt als Magnet. Diese überschlanken braunen Gesellen von vielfach reinem Araberblut sehen sehr gut aus, haben schöne Pferde, reiten mit dem großen Zeh im Bügelriemen, führen natürlich den üblichen Klimbim mit Lagerüberfall, Frauenraub, Speertanz usw. auf und verkaufen in den Zwischenpausen, um einen Groschen das Stück, kleine Holzpflöckchen, die sich an der Spitze leicht zerfasern lassen und als Zahnbürste dienen. So wie unsereins sich mit Rauchen, der Amerikaner mit Kauen dauernd unterhält, sind die Somali ständig am Putzen ihrer prachtvollen Gebisse. Klein-Karlchen brüllt, als er das sieht, und will weg. Zähneputzen: schrecklich, schrecklich! Klein-Karlchen hat sich die Menschen aus Afrika alle als so schön dreckig vorgestellt, die bei ihrer dunklen Haut sich überhaupt nie zu waschen brauchen, und nun polieren sie gar an ihren Zähnen herum. Nur Armina, die junge Schönste unter den Frauen und Kindern der 60 Kopf starken Horde, findet Klein-Karlchen sympathisch, denn von den 54 winzigen Zöpfchen, in die ihr Haar geflochten ist, trieft ihr das Fett herunter. Die braunen Kleinen machen Händchen. Sie kennen schon den Unterschied der Münzen und sagen: "Tanke! Gutt, serr gutt!", wenn sie ein 50-Pfennig-Stück statt eines Groschens bekommen. Die Mehrzahl der Besucher treibt natürlich nur rein äußerliche Schaulust her, sie sehen halbe Stunden lang dem Speerschmied zu, der die eisernen Spitzen auf einem Holzkohlenfeuer mit einem ganz primitiven Blasebalg, einem alten Sack, zum Glühen bringt, oder den Weibern, die aus buntem Bast sehr fingerfertig Matten flechten. Aber hier und da schaut ein größerer deutscher Junge doch versonnen in die Weite und denkt an Kontinente jenseits der Meere und an den alten Kolonialberuf der deutschen Rasse. Einer der Somali, der Häuptling, spricht gut deutsch, weil er schon seit Jahren in enger Geschäftsverbindung mit der Tierimportfirma Hagenbeck-Hamburg steht; der kann sich vor Fragen der wißbegierigen Jugend kaum retten. Unser altes ehemaliges Kolonialmuseum in dem Rundbau am Lehrter Bahnhof wird jetzt abgebrochen, einzelne Erinnerungsstücke aus der Ansegelung von Afrika in der Zeit des Großen Kurfürsten finden sich im Museum für Meereskunde, koloniale Andenken aus jüngerer Zeit in geringer Anzahl im Völkerkundemuseum, vielleicht steht auch noch Wißmanns Pfeilerspiegel mit den zwei riesigen Elefantenzähnen in der Wilhelmstraße 62, aber nirgendwo gibt es eine gedrängte Gesamtschau aus Deutsch-Afrika und Deutsch-Ozeanien und Kiautschou, zu der unsere Überseer pilgern und in der das heranwachsende Geschlecht den Blick über den heimischen Kirchturm hinaus lernen könnte. Da sind diese Exoten-Vorführungen im Zoo wenigstens ein kleiner Anreiz, nicht ganz zu vergessen. Die beiden Direktoren, Professor Heck und Dr.jur. Freyer, denken in erster Linie natürlich daran, Besucher zu locken, zahlende Besucher, denn dazu sind sie im Amt, aber vielleicht ahnen sie doch, wie verdient sie sich dabei auch um die Auffrischung des Gedankens an deutsche Überseegeltung für unser Volk machen.
Natürlich hat bei so etwas die Presse sozusagen das jus primae noctis, das Anrecht auf die erste Generalprobe, um dem Publikum dann sofort berichten zu können. Eine Einladung in den Zoo lehne ich auch nie ab, zu Messen gehe ich seltener, zu Eröffnungen neuer Gaststätten schon gar nicht Für diese Vorbesichtigungen hat der Franzose den Ausdruck "vernissage"; er nennt es den Firnistag, wenn er die alljährliche Pariser Kunstausstellung mit eröffnet. In Deutschland sagt man meist "Beleuchtungsprobe", und meint Befeuchtungsprobe. Behörden und Presse und Freunde des Hauses - diese heißen dann Ehrengäste - werden kaum von einer Eröffnung unbefrühstückt entlassen. In Berlin gehören gewöhnlich auch die Reichstagsabgeordneten, Landtagsabgeordneten, Stadtverordneten dazu. Die Einladungskarte gilt in der Regel für zwei Personen, denn man ist doch verheiratet, nicht wahr, oder man hat eine junge Freundin, die etwas davon haben will, daß man M.d.R. oder Chefredakteur oder Stadtrat ist. Da sitzen wir denn auch nach der Somalischau einträchtig bei Kaffee, Kuchen, Sandwiches, Zigarren, Likör beisammen. Irgendwer hat zufällig - vielleicht ist er gleichzeitig Abgeordneter und Publizist - zwei Karten bekommen, rückt also vier Kopf hoch an. Vater, Mutter und zwei frische Buben haben an unserem Tisch Platz genommen. Der eine, vielleicht Obersekundaner, füllt sich zweimal eine Riesenportion Schlagsahne auf den Teller; uns lacht das Herz im Leibe. Die Mutter, die es sonst wohl nicht zu tun pflegt, raucht eine Zigarette, "denn es kostet ja nichts"; so sind Hausfrauen immer. Als schließlich noch ein Stück Torte nachbleibt, meint sie: "Das möchte ich am liebsten Friedel mitbringen!", aber der größere Junge, vielleicht Unterprimaner, geniert sich doch und ißt es lieber selber auf. Was sagt Ihr ? Ich solle nicht so aus der Schule plaudern ? Solle nicht die ständigen Ehrengäste der Eröffnungen, vom Minister und Oberbürgermeister bis zum Presseberichterstatter und Dekorateur, so blamieren ? Kinder, seid friedlich. Wir wollen doch Menschlich-Allzumenschliches nicht ableugnen.
Die Einladung zur Pressa nach Köln, der Riesenschau der öffentlichen Meinung aus allen Ländern und aus drei Jahrhunderten, ist diesmal von vielen Abgeordneten allerdings nicht angenommen worden. Sie sind durch die würdelose Abfertigung der deutschen Ozeanflieger in Köln verschnupft. Aber auch die Ausstellung selbst ist ja trotz hervorragender Beschickung vielfach ein Tendenzwerk. In dem Raum für "Zeitungsenten" hat man nur Enten untergebracht, die in vormärzlichen Zeiten aufgeflogen sind; man hat nicht gewagt, aus den Jahren nach 1848 etwas anzuführen, etwa gar etwas von den Riesenenten, die seit 1918 die Berliner demokratische Asphaltpresse immer wieder ihren Lesern aufgebunden hat. Und in der historischen Abteilung bei Friedrich dem Großen sucht man vergeblich nach den weltbekannten Zitaten "Laßt es niedriger hängen" und "Gazetten sollen nicht genieret werden", sondern man findet dort den Alten Fritz nur bei dem Umredigieren - oder sagen wir es ruhig: beim Fälschen - von Schlachtberichten, als ob dokumentiert werden sollte, daß unter jeder Monarchie das verruchte Kriegspressequartier sich immer gleich geblieben ist. Daß Friedrich der Große seine Siege nicht erdichtet, sondern erfochten hat, aber die öffentliche Meinung Europas immer in Rechnung stellte, wird einem nicht beigebracht. Noch ein paar Jahre weiter in dieser Manier, dann wird die "breite Masse" bei uns es begriffen haben, daß auch Tannenberg und Skagerrak nichts Wirkliches waren, sondern eine Redaktionsente etwa des Obersten Nicolai in Berlin.
Es ist erschütternd, daß nur noch Fremde uns versunkene Herrlichkeit künden. Ausländische Kapellen spielen uns die Wacht am Rhein. Der Newyorker Gesangverein "Arion" trug uns dieser Tage, in der Art stark beeinflußt durch die Tonmalerei der Donkosaken, im Ufapalast das Grenadierlied vor. Die Hälfte der Zuhörer applaudiert hingerissen, die andere nur achtungsvoll; weil es eben, je nun, "Amerikaner" sind. Wie man ja auch zu Ehren des Majors Fitzmaurice achtungsvoll "Heil dir im Siegerkranz" angehört hat; die englische und die deutsche Hymne haben die gleiche Melodie. Die Mitglieder des "Arion" danken für den Beifall, indem sie Fähnchen schwingen. Schwarzweißrote ? Schwarzrotgelbe ? So oder so, es hätte Tumult gegeben. So schwingen sie denn amerikanische Fähnchen, die Streifen und Sterne. Jetzt applaudiert das Publikum erst recht. Es gibt kein Volk, das so bemitleidenswert wäre. Nur merkt es das selber noch nicht.
12. Juli 1928 (Donnerstag)
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Sommerliche Kleidung - Hitzetage und Wasserverbrauch - Der Pyjama - Sonntagsfriede - Abends bei Kroll - An der Zentralmarkthalle - Erlebnis bei der Fischfrau - Neue Warenhäuser - Amerika überschwemmt Berlin.
Selbst wenn kein fröhliches Lüftchen das bißchen Zeug so anweht, daß unsere sommerlich gekleideten Damen von Berlin als Aktmodell einherwandeln, weiß man doch, daß sie nur Schlüpfer, Strumpfgürtel und Büstenhalter unter dem dünnen Hängerkleid anhaben. Habt Sonne im Herzen und Luft überm Bauch, predigen alle jungen Ärzte. Eine Ausdrucksweise haben die, eine Ausdrucksweise! Aber solche Sachlichkeit nimmt man heute nicht übel; und jede großstädtische Portiersgöhre weiß doch schon, daß im Winter im Ballsaal und im Sommer auf der Straße das Hemd zu den entbehrlichen Dingen gehört und der Unterrock allenfalls in die Schreckenskammer des Museums. Rückständig ist nur noch die Herrenwelt. Aber auch sie wird - was gilt die Wette - im nächsten Menschenalter an heißen Tagen sich mit Badehose und Jiu-Jitsu-Kittel begnügen. Ein sehr modernes Kleidungsstück freilich hat sich für gewisse Gelegenheiten schon bei beiden Geschlechtern sein Recht erkämpft, der Pyjama, den einige Leute noch Schlafanzug nennen. In einer Etagenwohnung in der Großstadt ist er meist nur Fatzkerei derer, die vortäuschen sollen, daß sie zu den Leuten von Welt gehören; da ist das biedere alte Nachthemd, das meinetwegen aus Seidenbatist sein kann, viel hygienischer. Aber in der Schiffskabine und im Schlafwagen ist er am Platze. Da ist man, auch wenn man so gut wie nichts anhat, dann doch immer angezogen. Den Pyjama als Tagesanzug, der erst zum Mittagessen mit leichter bürgerlicher Kleidung vertauscht wird, habe ich zum ersten Mal 1921 im Hotel Exzelsior auf dem Lido erlebt. Seither hat er sich reißend über alle Seebäder der Welt ausgebreitet und ist sehr raffiniert geworden. Morgens beim Frühstück im Hotel sitzt schon männiglich im Pyjama und genießt wohlig die über den Körper streichende Brise; und den ganzen Vormittag verbummelt man ebenso am Strand mit Flirten oder Faulenzen.
Nun ist am vorigen Sonnabend und Sonntag plötzlich die große Glut auch über Berlin gekommen. Temperaturen wie am Mittelmeer: 35,2 Grad im Schatten. Das ist ungefähr das Höchste, was Berlin sich alle Jahrzehnte einmal leistet. Noch erheblich wärmer war es 1911 in Chemnitz, da kletterte das Thermometer auf 39,8 Grad, und an der Mosel kochte der Wein zu seltener Eigensüße, wie er es sonst nur noch 1893 und 1921 erreicht hat. In Spanien habe ich einmal 44, in Mesopotamien 49,7 Grad im Schatten erlebt und mich dabei wohl gefühlt. Es kommt wirklich nur darauf an, wie man sich in Kleidung und Essen und Trinken darauf einrichtet. Natürlich ist die Bureauarbeit dann auch in leichtester Gewandung kein reines Vergnügen; wenn der Schweiß von der Nase und vom Füllfederhalter rinnt, sehnt man sich nach dem Paradiese zurück, das die Arbeit noch nicht kannte. Was die Stadtverwaltung tun kann, um zu mildern, das tut sie: alle Springbrunnen sind im Betrieb, die Sprengwagen machen Überstunden, die Hydranten an den Straßen speien Wasser für die Jugend, die barfuß in den Pfützen planscht. Stolz verkündet Berlin, daß es an dem heißesten Tage dieses Jahres 269 Liter Wasser auf den Kopf der Bevölkerung verausgabt habe, die größte bei uns je vorgekommene Menge. Ist das wirklich so sehr viel ? In Rom kommen - im Jahresdurchschnitt, bitte, im Jahresdurchschnitt - täglich 490 Liter auf jeden Römer. Daß wir in Berlin trotz der "unerhörten" städtischen Freigiebigkeit noch zu wenig Wasser an Hitzetagen haben, zeigte der erste frische Wind am Montagabend; da rieselten in Massen, schon ganz herbstlich, die gelben Blätter von den Bäumen, die in der Asphaltwüste verschmachten. Das schlimmste ist für die Menschen das Eingepferchtsein in enge Räume mit unbewegt lastender Luft; gräßlich der Aufenthalt in großstädtischen Kellerwohnungen mit ihrer angesäuerten Atmosphäre. Man kann nur zornig lachen, wenn die neue rote Reichsregierung ihre "soziale" Einstellung dadurch zu beweisen sucht, daß sie die Lohnsteuer senkt, - im besten Falle um 3 Mark, im Durchschnitt um 60 Pfennige monatlich. Baut lieber gesunde Wohnungen! Das faschistische Italien ist binnen vier Jahren seiner Wohnungsnot völlig Herr geworden, während wir in sozialistischer Zwangswirtschaft nichts erreichten. Nun schaut der kleine Mann in Berlin an heißen Tagen mit glanzlosen Augen in das Leben und hat nur noch den einen Gedanken: Flucht! Flucht aus dem erstickenden steinernen Babel hinaus ins Freie und ans Wasser. Allein an den Müggelsee hat allein die Vorortbahn am Sonntag 85 000 Personen befördert; und ähnliche Ziffern gab es noch für ein Dutzend anderer Ausflugsziele. Tolles Gedränge. Nennt sich Erholung. Die armen Leute; es jammert einen des Volkes. Aber Berlin war nun auch wirklich fast leer; und das war eine Erholung für die Zurückbleibenden.
In unserer großen Straße, die sonst vom Autohupen widerhallt, eine fast dörfliche Stille. Am Morgen hört man irgendwoher Kirchenglocken, als sei man im Gebirge. An den Häuserwänden drüben sieht man fast nur zugezogene Fenstervorhänge. Ein Schmetterling schaukelt träge daher. Kein Lautsprecher quäkt. Bei uns in den Etagen ist scheinbar auch jedes Leben erstorben. Das Mädchen hat Ausgang. Besucht kommt nicht: enfin seuls! Nun also her mit dem Pyjama, nachdem man sich unter der Brause im Badezimmer abgekühlt hat. Dann die kümmerlichen Bohnen auf der Loggia besprengt, das gibt ein bißchen Verdunstungsfrische. Und nun ein gutes Buch und eine gute Zigarre, nicht zuviel Flüssigkeit eingepumpt, sondern nur gelegentlich einen Schluck Selters mit Milch: ein herrlicher Sonntag! Auch die Partie Billard noch im Pyjama. Spät abends die weißen Flanellhosen an, die leichte Jacke. Jetzt kann man ausgehen, jetzt schreitet man elastisch einher, das weiß jeder Südländer, der auch immer erst abends zum Leben erwacht.
Im Krollgarten jenseits der Siegessäule ein bescheidenes Abendbrot und ein Glas Bowle, das tut nun besser, als durchglüht im gepfropften Heimkehrerzug zu sitzen. Eine Militärkapelle spielt die Kreuzritterfanfaren. Wie die Leute - ruck, zuck - die Fanfaren ansetzen und absetzen und überhaupt der ganze exakte Drill bei feinster künstlerischer Darbietung begeistert eine fünfköpfige Gesellschaft von Amerikanern am Nebentisch bis zur Ekstase. Sie haben früher über den deutschen Militarismus geschimpft, haben ihn jetzt selber adoptiert im eigenen Lande, finden Geschmack daran und sind selig, ihn nun im Ursprungslande original echt wiederzufinden. So geht es allen Ausländern, die uns heute besuchen. In der Pause nach jedem Armeemarsch wird es in dem Musiktempel amerikanisch, da taucht eine Jazzband auf, macht mpwa, mpwa, mpwa und schlenkert die Glieder, ist das Gegenstück zu allem Militärischen. Darnach tanzen die Leute im Freien, Kopf an Kopf, Schulter an Schulter, bei immer noch 32 Grad Wärme. An dem Tische hinter uns sitzt ein Ehepaar, das sicherlich aus Darmstadt kommt; und der Mann sagt: "Wie kann mer nor danze, do bappe ja die Bäuch' anenanner!" Alle Dialekte Deutschlands, alle Sprachen Europas schwirren hier durcheinander. In allen Gasthöfen empfehlen die Portiers für den Abend den Krollgarten, und Berliner trifft man da um diese Ferienzeit nicht, denn die sind - diesmal seit Anfang Juli rund 550 000 - ganz weg oder kommen gerade im Vorortzuge vom Tegeler See oder Stölpchensee oder Templiner See oder sonstwoher heim oder sitzen bestenfalls noch in ihrer "Laube" in den Schrebergärten an der Peripherie der Stadt.
Essen und Trinken hält auch an heißen Tagen Leib und Seele zusammen. Es gehört schon eine ganze Menge dazu, um Berlin zu sättigen. Zola hat einen Roman über den "Bauch von Paris" geschrieben. Noch ganz andere Massen vertilgt der Bauch von Berlin. So morgens zwischen 3 und 4 Uhr bekommt man an der Zentralmarkthalle eine Ahnung davon, wenn die großen Nachtgüterzüge ihren Inhalt ausgespien haben, die Halle sich füllt und in den gänzlich verstopften Nebenstraßen rund 4 800 Lastautos und andere Fuhrwerke aufpacken, um die Lebensmittel weiterhin in die Läden zu bringen; und es gibt viele Markthallen in Berlin. Trotz eines wahren Montblancs von Eis, der täglich verbraucht wird, vedirbt manches in der Hitze. In feinen Läden wird einem dann wohl von dem Verkäufer gesagt: "Das kann ich Ihnen nicht mehr empfehlen!" Man hat ein Stückchen geräucherten Stör kaufen wollen, aber er ist schon leicht verfärbt, wird morgen vielleicht schon grünlich schimmern; oder man weist auf einen Pfirsich, aber er hat unten auf der Liegeseite schon eine dunkle, ganz weiche Stelle. Das geht als Abfall in den Kehricht und das macht bei dem großen Umsatz nicht viel aus. Aber in Gemüsekellern und anderen kleinen Geschäftchen, da warnt einen niemand, da wird Verdorbenes einem womöglich noch aufgehängt, wenn man nicht Stammkunde ist, der Rücksicht erfordert. "Wat sagense, der Barsch hat schon trübe Schuppen ? Wennse blanke Schuppen sehen wollen, jehnse doch in die Oper und koofen sich den echt vernickelten Lohenjrien! Wat sagense, der Fisch riecht schon ? So scheen duften Sie nich mal mit Ihr franzeesches Pafeng! Ich möchte Ihr Mann nich sind, wenn er nach Hause kommt und der jute Barsch is nich da und er muß bloß Ihnen riechen!" Die junge Frau, natürlich eine von auswärts, ist verschüchtert, ist der Berliner Schnauze nicht gewachsen. Schon gibt es anzügliche Bemerkungen. Ja, für so feine Leute sei eben nichts fein genug, aber die Proletarier müßten alles fressen. Da kauft sie den Barsch. Die Folgen bleiben nicht aus, die Magenverstimmung ist da, die ganze kleine Familie bekommt die sommerliche Diarrhöe. Das wird der Händlerin ein paar Tage später mitgeteilt. "Wat sagense, von meinen Barsch hamse Durchfall jekricht ? Sie woll'n woll ehrliche Leute vakohlen! Da wiehert ja meine Hauskatze! Sie wern woll unreifet Obst jefressen ham! Denn sitzen Sie natürlich den janzen Dag uffn Porzellanschornstein! Nee, ick vakoofe nur prima Ware!" Dagegen ist nicht anzukommen. Aber dann wundern sich die Leute, wenn alles zu den großen Läden abwandert.
Die schießen jetzt in allen Stadtteilen empor. Am Hermannplatz in Neukölln ist ein neues Riesenwarenhaus schon im Rohbau fertig. Am Potsdamer Platz in Berlin wird an die Bellevue-Ecke die Spitzhacke gelegt; hier wird die Galerie Lafayette, das Pariser Warenhaus, nun also wirklich seine Stätte finden. Über die Pracht der Auslagen in den Schaufenstern Berlins ist alle Welt erstaunt und meint, es müsse uns doch fabelhaft gut gehen. Jawohl, diesen Anschein hat es, aber wir leben doch auf Pump. Die deutsche Wirtschaft muß Anleihen über Anleihen aufnehmen, der Staat entzieht ihr das Geld wieder durch Steuern, die er für die Tribute an die Entente braucht, die Preise werden infolgedessen gesteigert und dann muß der Angestellte und der Arbeiter wieder um höhere Entlohnung kämpfen. Der Deutsche bezahlt zur Zeit die höchsten Steuern der Welt, zum Teil in Bargeld, zum Teil durch die Teuerung. Anderswo ist es "abolut" vielleicht noch teurer, aber nicht "relativ", nämlich im Vergleich zum Einkommen, beispielsweise in den Vereinigten Staaten, wo der Reallohn den bei uns üblichen fast um das Doppelte übertrifft. Und in Amerika sind für Unverheiratete Einkommen unter 4500 Mark jährlich, für Verheiratete über 14 000 Mark - überhaupt einkommensteuerfrei! Dort "sozialisiert" man das Kapital nicht weg, sondern begünstigt seine Neubildung. Freie Bahn dem Tüchtigen! Der deutsche Arbeiter hat das Vergnügen, daß die Kapitalisten ruiniert werden, der amerikanische aber die Genugtuung, selber Kapitalist werden zu können. Allerdings muß er dafür schuften; und soziale Einrichtungen und Versicherungen wie bei uns gibt es nicht. Augenblicklich rüstet sich Amerika dank seinem Kapitalüberfluß, den es nicht etwa nur als Kriegsgewinnler, sondern schon vorher als Hochschutzzöllner erworben hat, zur Eroberung des europäischen, auch des deutschen Marktes. In den neuen Berliner Warenhäusern am Potsdamer und am Hermannplatz steckt auch amerikanisches Geld. Jedes kleine Stahlwarengeschäft in Deutschland ist schon mit amerikanischen Waren aller Art überschwemmt, nicht etwa nur mit Gilette-Rasierklingen. Unser nageblich demokratisch-sozialistischer Staat führt uns immer mehr in den Kapitalismus hinein, nur - in den fremden, unter Ausrottung des eigenen Kapitals. Wenn das unsere Arbeiter nur begreifen wollten, dann hätten sie schon längst der heutigen Politik ein Ende gemacht.
In einer Gesellschaft in dem Palazzo eines reichen und gütigen Auslandsdeutschen, der mehrere Monate des Jahres in Berlin verbringt, in der alten Heimat, redete gestern ein deutscher Industrieller der Kleineisenbranche auf uns ein, sprach anderthalb Stunden lang über diese Dinge. Mit außerordentlicher Klarheit. Mit lohendem Idealismus. Zum großen Teil waren es die Gedanken des Oberfinanzrats Bang über die Werkgemeinschaft zwischen Unternehmer und Arbeiter, die er da entwickelte, ohne Bang selbst zu nennen; und der eifrige Vortragende, der offenbar den auslandsdeutschen Mäcen für diese Pläne gewinnen wollte, wandte sich scharf gegen die angeblich "materialistische" deutsche Schwerindustrie.
Er selbst aber hat sein rheinisches Werk - an die Amerikaner verkauft.
19. Juli 1928 (Donnerstag)
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English girl and German frau - Im Zoo - Provinzstille, Provinzsensation - Beim Einzug von Max Hölz - "Politisches, Militärisches, Weltanschauung" - Ein Ausblick.
Die Geschichtchen von dem Engländer, der zum ersten Mal in seinem Leben nach Boulogne hinüberfuhr, wo ihn im Restaurant am Strande ein stotternder rothaariger Kellner bediente, ist bekannt. Der Engländer schrieb in sein Tagebuch: "Die Bewohner Frankreichs sind rothaarig, stottern und tragen einen Frack." Derartiger Verallgemeinerung machen wir uns alle mehr oder weniger schuldig, wenn auch nicht gar so grotesk. Eine Tochter von mir macht augenblicklich den Ferienkursus für Ausländer an der Londoner Universität mit und schreibt gleich nach den ersten Tagen ihres dortigen Aufenthaltes, die Engländerinnen hätten alle geradezu unmögliche Beine und so schmale, wirklich gar keine Lippen, daß man nicht wüßte, womit sie eigentlich küßten. Umgekehrt erzählte unser Jüngster, als er im vorigen Jahre einige Monate drüben war, unter den Damen im Hydepark sehe man geradezu königliche Erscheinungen; besonders die englische Aristokratie habe wundervoll hochgezüchtete Menschen von vollendetem Ebenmaß. Die Verschiedenheit dieser Eindrücke erklärt sich schon aus der Verschiedenheit der Zeit: unser Junge war während der "Season" April-Juni in London, unser Mädel aber ist jetzt in der Periode der Ausgestorbenheit dort. Beide treffen auf verschiedene Gesellschaftsschichten. Genau so geht es ja den Fremden in Berlin. Das ganze Jahr über sind sie überrascht von der Eleganz und dem schönen Wuchs der Berlinerin, von deren Plumpheit sie vorher überzeugt waren. Aber wenn sie jetzt im Juli herkommen, rümpfen sie die Nase über die "German frau", die entsetzlich dick sei, sich ganz unmodern trage und kein Benehmen habe.
Diese braven Kritiker ahnen nicht, daß sie in neun von zehn Fällen gar keiner Berlinerin gegenübersitzen. Ihre Berlinerin stammt bestenfalls aus Treuenbrietzen oder ist eine Fleischermeistersfrau aus Dänemark oder eine emeritierte Lehrerin aus Holland. Im Juli ist Berlin wirklich unelegant, ist es "Provinz". Die äußerlich gepflegtesten Damen von sonstwoher aus dem Reiche sind jetzt doch auch an der See oder im Gebirge - oder bei sich zuhause, aber kaum je in Berlin. Unser sozialdemokratisches Zentralorgan bringt eine hetzerisch-sentimentale Schilderung des Zoologischen Gartens im Juli, wie da die "vornehmen" Berliner Damen auf ihre Jahreskarte hin in süßem Nichtstun träumten und auf Anbeter für ihre Töchter warteten, aber nie daran dächten, etwa irgend einem armen Jungen aus dem Volke den Eintritt zu ermöglichen. Diese armen Jungen, das müßte der Vorwärts doch wissen, sind augenblicklich zu Zehntausenden in den Ferienkolonien, für die alle Steuerzahler mitberappen, und in den übrigen Monaten des Jahres sieht man allvormittäglich ganze Volksschulklassen, Jungen wie Mädel, hier im Zoo, der durchaus keine exklusive Angelegenheit der oberen Fünfhundert ist. Jene Proletarierkinder aber, die wegen verspäteter Anmeldung oder aus einem anderen Grunde in keine Ferienkolonie gekommen sind, haben täglichen Freiluftaufenthalt mit Verpflegung, betreut von opferwilligen Lehrern und Lehrerinnen, im Grunewald und in der Jungfernheide und im Plänterwald. In keinem Staate der Welt wird so viel für die Gesundheit und für die Bildung der heranwachsenden Jugend getan; nur Amerika ist uns insofern noch über, als es die Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr ausdehnt und die letzten beiden Jahre dazu benutzt, die Kinder "nationalistisch" und "militaristisch" zu erziehen. Aber dafür sind die dortigen Städte wiederum ganz arm an Spielplätzen und Parks. Daß der Zoologische Garten in Berlin jetzt voller als je ist, ist richtig, nur nicht voll von Berlinern. Auch ist der Besuch jetzt lohnender als je, denn im Sommer leben die exotischen Tiere doch auf und sind am possierlichsten. Halbe Stunden lang kann man da zusehen, wie etwa das junge Spitz-Nashorn das Gnu jagt und mit ihm sozusagen Stierkampf spielt, wobei man über die Wendigkeit des doch plumpen Dickhäuters baß erstaunt ist. Und auch über seine - Reinlichkeit. Wie die Hauskatze in ihrem Sandkasten, so verscharrt auch das Nilpferd das Häufchen und setzt sich nachher etwas abseits auch noch rücklings hin und scheuert sich das Hinterteil. Der Berliner sieht sich sonst das gleichmütig an, er will sich nie anmerken lassen, daß ihm irgend etwas gefällt oder imponiert, aber die Fremden im Juli brechen in exaltierte Rufe des Entzückens aus.
Der daheimgebliebene Berliner spielt jetzt selber "Provinz". Der Berliner Westen ist menschenleer, besonders das sogenannte Bayrische Viertel, in dem es die vielen komfortablen Dreizimmerwohnungen gibt, in denen "Schauspielerinnen" hausen, die als solche im Telephonbuch verzeichnet sind, jung und elegant sind, aber nie ein Engagement an einem Theater gehabt oder erstrebt haben. Vor diesen Häusern sitzen jetzt auf herausgestellten Stühlen die Portiersfamilien. Sie scheinen die einzigen Bewohner zu sein; es ist ganz kleinstädtisch. "Wat die Mudicke wieda for ne Kleedaasche hat!", bemerkt die Brennecke und mustert das neue Veloutinekleid der Nachbarin, das 39,50 Mark im Ausverkauf gekostet hat. Und es gibt ja so viele interessante Dinge zu beobachten, in den stillen Gegenden wie auch an sogenannten Brennpunkten des Verkehrs, die es selbst im Juli gibt, da Berlin doch zu arbeiten nie aufhört. Da ist an der Großbeerenbrücke ein großer Auflauf, Hunderte drängen sich am Geländer des Landwehrkanals, in allen Stockwerken öffnen sich die Fenster, Postboten - es ist gegen 7 Uhr abends - vergessen die Heimkehr, Lastwagenkutscher bremsen und steigen ab, Frauen gackern aufgeregt. Was ist los ? Treibt eine Leiche im Wasser ? Wird ein Lebensmüder gerettet ? Oder wenigstens eine Katze ersäuft ? Ach nein. Nur ein richtiger Berliner Junge hat ein Schwimmbad in der braungrünen Flut genommen, entsteigt ihr jetzt, schlüpft wieder in die Hosen, besteigt sein Rad und fährt davon. Kopfschüttelnd entfernen sich die Frauen: "Wenn det die Pollezei jesehen hätte!" Das ist denn wirklich schon mehr als Provinz.
Aber ein ganz großstädtisches Ereignis haben wir doch noch miterlebt, nämlich die feierliche Einholung des aus dem Zuchthause entlassenen kommunistischen Bandenführers und Mordbrenners Max Hölz, des Lieblings der Tante Voß und anderer bürgerlich-demokratischer Organe, ohne deren Drängen die neue Amnestie vielleicht etwas anders ausgefallen wäre. Die Weltgeschichte hätte ihren Sinn verloren, wenn der deutsche Kaiser siegreich durch das Brandenburger Tor einzöge, hat Rathenau einmal geschrieben. Dafür zieht jetzt Max Hölz am anderen Ende der Linden ein; und vielleicht 50 000 Menschen stehen Kopf an Kopf im Lustgarten zwischen Schloß und Dom und Museum. Solche roten Massenkundgebungen pflegen Publizisten des anderen Lagers gewöhnlich von der Peripherie aus zu beobachten und nachher an der angegebenen Menschenzahl zu kritteln. Ich finde, mitten darin ist es fesselnder.Und doch nicht ganz mitten darin: ich habe als einziger Zivilist neben den vielen Polizeibeamten auf der Museumstreppe Posto gefaßt und kann von da aus das wogende Menschenmeer gut überschauen. Die "Blauen" halten mich für einen immunen Würdenträger der kommunistischen Partei, für einen Abgeordneten, dessen Namen sie auch halblaut nennen, und sehen mich etwas schlitzäugig an. In Wahrheit ist von den obersten Bonzen aber niemand erschienen. Nur bei den Blauen repräsentiert der Polizeivizepräsident Weiß höchstselbst in dem Museums-Reservat, von dem aus, wie man annimmt, nachher Max Hölz zum Volke sprechen wird. Da bahnen sich neue Züge eine Weg durch die gestaute Masse. "Die Wedding-Kolonne! Die Wedding-Kolonne!", raunt man ehrfürchtig überall. Der Wedding-Stadtteil in Berlin N hat ein ganz eigenartig politisch-soziales Parfum, ihm entstammen die berühmtesten "schweren Jungen", ihm entstammte auch ein nachnovemberlicher Minister, jedenfalls ist man am Wedding sehr aufgeklärt und immer noch etwas mehr links als andere Leute. So rücken denn auch die Weddinger nicht etwa mit roten oder, Gott behüte, gar mit schwarzrotgelben Fahnen an, sondern mit - schwarzen. Das ist die Internationalfarbe der Anarchisten. Auf einigen wenigen schwarzen Fahnen befindet sich der rote Sowjetstern. Da winkt aus der Wedding-Kolonne ein typischer Sonnenburger - es stellt sich nachher heraus, daß er bei Max Hölz im Zuchthaus zu Sonnenburg "Kalfaktor" war, ihm die Öfen geheizt und die Stuben in Ordnung gehalten hat - vertraut zu mir herauf und fächelt mich mit der Hand heran. Was will er ? Ich repetiere in Gedanken schnell alle meine Bekanntschaften; nein, den Mann bringe ich nicht unter. Er selbst steigt jetzt gelassen die Stufen zu mir empor, weil er mich für einen kommunistischen Lokalberichterstatter hält. "Haste ne Zijarette for mir ?", fragt er "Nee, aber ne March kannste ham!", sage ich. Er steckt das Markstück gleichmütig ein und betrachtet es sehr richtig als Honorar für Informationen, die ich von ihm erwarte. Zunächst erzählt er, es sei doch eine Schweinerei, daß er schon am 4. Juli aus Sonnenburg entlassen sei, also seine sechs Jahre abgebrummt habe, während jetzt die anderen amnestiert würden. Dann erzählt er von seiner Arbeit in Max Hölzens drei Zellen. Jawohl, einen Wohnraum, einen Arbeitsraum, einen Schlafraum habe er gehabt, und an den Wänden Bilder, und auf dem Tisch Bücher und Zeitungen, und immer Besuch. "Man nennt Maxe bei uns Karl Liebknecht, Mensch, wat meenste, wenn der dabei sein könnte! Maxe hat den Orden der Roten Fahne gekricht und is Jeneral von die rußsche Kavallerie jeworn. Mensch, ick sage dir, aus den machense noch wat! Aber Maxe is moralisch kaputt, moralisch janz kaputt."
"Moralisch, sagste ? Du meenst woll seelisch oder so ?", erwidere ich.
"Det kann meinswejen so sind", meint geringschätzig mein Sonnenburger.
Endlich kommen die beiden offenen Autos mit Sonnenburger und Gollnower Amnestierten, unter ihnen stehend und der Menge zuwinkend Max Hölz, schwarze Tolle über der niedrigen Stirn, keineswegs der Intellektuellen-Typ der Tante Voß, dick und wohlgenährt; das einzige Auffallende an ihm ein brutales Kinn.
Mein Mentor wird ganz zapplig und läuft zu ihm hin. "Maxe, du Maxe, du mußt reden, wat sollen denn sonst die Leite denken! Hier is eener von die Presse, nu man los! Mensch, Maxe, rede doch, du weeßt doch, Klamauk muß sind!"
Aber Hölz winkt lässig ab, macht nur den moskowitischen Rote-Faust-Gruß. Ganz bekümmert kehrt mein Mann wieder zurück und sagt: "Maxe will nich, er is moralisch janz kaputt. Jetzt jeht er uff Sticker sechs Wochen in een feinet Privatsanatorium zum Doktor Levysohn. Schade, daß er nich redt, det kann er doll." Langsam fahren die Autos der Triumphatoren durch die Menge, die ihren Gott - oder ihren Barrabas - bejubelt. Das Komitee der Schriftgelehrten in seiner nächsten Umgebung ist ganz kurfürstendammerisch, die exerzierte Masse jedoch besteht aus deutschen Arbeitern.
Die Weltgeschichte verläuft wirklich immer wieder ähnlich. Man könnte den Mut verlieren, daß unser Volk je wieder emporkommt, wenn man nicht wüßte, daß es in der Weltgeschichte auch immer wieder Erhebungen aus der Tiefe gibt. Das letzte Jahr ist sehr entmutigend gewesen. Wenn ich jetzt die Reihe meiner Berliner Wochenplaudereien in diesem Jahr überschaue, so sehe ich da manches Lustige und Vergnügte, das einen froh macht, aber auch mehr bitteren Ernst als in vorhergegangenen Zeiten. Über die letzten 20 Jahre deutschen Geschehens habe ich mir Rechenschaft gegeben, in einer Sammlung von diesmal nicht "satirischen" Aufsätzen. Es ist ein dickes Buch geworden, auch in dem Berliner Brunnenverlag erschienen, und heißt: "Politisches, Militärisches, Weltanschauung." Für dieses eine Buch, das für mich den Wert eines Lebenstestamentes hat, gäbe ich alle 8 Bände Plauderbriefe gern her. Und wünschte ihm von Herzen, daß es eine noch größere Lesergemeinde fände: weil es nicht nur die Wege der deutschen Geschichte in den letzten zwei Jahrzehnten in lebendiger Filmaufnahem zeigt, sondern - auch den Weg, der in Zukunft hinausführt. Von den Parteien kommt uns die Rettung nicht, von dem Parlamentarismus nicht, von der Republik nicht: "Irgendwo unter uns wächst, noch unerkannt, ein junger Großer Kurfürst uns heran." Mit dieser Hoffnung und in dieser gläubigen Zuversicht gehe auch ich in meine Ferien, aus denen ich nicht "moralisch janz kaputt" heimkehren will. Der erste Schub Strandindianer und Gletschermulatten trifft in Berlin schon ein, auch aus den kleinen Sommerfrischen und Forsthäusern flutet ein Strom von Gesundheit zurück, man sieht freudig den Gebräunten ins Antlitz, die nun mit neuer Kraft nicht nur den Kampf um das tägliche Brot, sondern auch um die Befreiung Deutschlands aus seelischer Verstrickung aufnehmen können. Auch ich muß nun erst wieder die Schreibtischlunge draußen ausweiten, auf der See, die deutsche Größe und deutschen Verfall schon mehrmals sah, aber uns wieder den salzigen Freiheitshauch bringen wird. Er weht über See her. Im Auslandsdeutschtum lebt er noch, während er im binnendeutschen Pferch am Ersticken ist. Berlin ist mit "Klamauk" zufrieden. Schon in der sogenannten Provinz ist es besser. Jenseits der Zwangsgrenzen, in Wien, singt man schon wieder die Wacht am Rhein. Und ganz draußen, da ist und bleibt man schwarzweißrot und da weiß man: auch das rote Berlin wird einst vom vaterländischen Geiste wiedererobert werden!
26. Juli 1928 (Donnerstag)
Glossen 40 - 42 |
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