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Moderne Bacchanalien - Beim Obstwein in Werder - Ausflüge im Scherl-Autobus - Maifeier - Der alte Zeitungshändler - Angeradelt.
Vor 2024 Jahren verbot der römische Senat die Bacchanalien, die dem Gotte Bacchus geweihten ausschweifenden Geheimfeste. Was unsere Maler auf ihren farbenprächtigen "Bacchantenzügen" wiedergeben, wo man einen trunkenen Silen, halbnackte Weiber mit Thyrsosstäben, auch wohl einen zahmen Panther sieht, das ist noch sehr milde. Die Berliner Bacchanalien, die am ersten Blütensonntag im Frühling beginnen, haben ihre Hauptkultstätte in Werder an der Havel, sind aber im Gegensatz zu den altrömischen öffentlich; und daher auch, trotz aller Ausschweifung, doch ein wenig harmloser. Alle verstaubten Großstädter - zur Zeit der Baumblüte ist es in Dresden und Leipig doch nicht viel anders, zumal auch dort in der Umgegend viel Obstwein gekeltert wird - kriegen einmal einen Frühlingsrausch, auch wenn sie keinen Alkohol trinken. Das ist die schöne Jahreszeit, zu deren Charakteristik es in einem bekannten Liedchen heißt:
Die Eier werden billiger, |
obwohl dieses letztere für die Berliner Bacchanalien nicht ganz zutrifft, denn da werden die Mädchen nicht williger, sondern willenlos. Wenn die, ach, so süße und, ach, so heimtückische Flasche Johannisbeer- oder Erdbeerwein getrunken ist, sind sie einfach nicht mehr Herr ihrer Sinne und lassen sich widerstandslos verschleppen. Rund um Werder hat daher in diesen Tagen die innere Mission alle Bahnhöfe und Dampferstationen mit ihren Helferinnen besetzt, um das eine oder andere junge Ding, das da am Abend hingeschleift wird, in Obhut zu nehmen. Das ist die Kehrseite der sonst so lustig aussehenden Medaille; und manchmal ist es bei Massenbetrieb in Werder "wirklich nicht mehr schön", wenn auf der Bismarckhöhe (sie hat eine eigene Polizeiwache) und in den anderen Berggasthöfen ungezählte Tausende, meist ohne Ahnung, daß der Obstwein fast doppelt so viel Alkohol enthält als der Traubenwein, sich um ihr bißchen Verstand trinken, Krach machen, und von den Portiers - auf der Bismarckhöhe stehen ihrer je drei an jeder Tür des Saales - und den Kellnern und Handlangern und Schutzleuten die Betrunkenen dann irgendwo "abgelegt" werden. Die meisten Werderpilger sitzen natürlich nicht in Sälen, sondern draußen im Freien, unter dem Blütenschnee, zwischen den Bäumen, mit dem herrlichen Blick über die Insel (den Werder) mit dem Städtchen, über alle die Seen mit ihren Dampfern und Seglern hinweg, und merken in der köstlichen Luft gar nicht, wie der Wein ihnen zu Kopfe steigt; sie denken, es ist der Frühling. Der Hund hat Kinderballons am Halsband, die Frau einen Fes auf dem Kopf, die Musik schmettert: "Jung muß man sein, wenn man lieben will!", Pärchen sinken einander um den Hals, kurz, es ist eine Art Karnevalsbetrieb in Freilicht und Sonne. Tanz im Saal, Tanz im Freien. Hie und da werden Mädchen zu Mänaden und rasen mit schweißverklebtem Haar querfeldein, stolpern, fallen, bleiben liegen. Eine Kleine steht mit der Stirn an einem Baum gelehnt, weil ihr so seekrank zu Mut Ist. Rundum wird ihr zugeprostet. "Unsere besten Wünsche, Fräulein, hoffentlich - läuft alles gut ab!" Wer nüchtern in diesen Trubel kommt, den schüttelt es. Schießbuden, Würstelbuden, Würfelbuden. Ist ja alles Schwindel, sagt die junge Zahnarzt-Assistentin aus Wien, die für 25 Pfennig ihr Glück versucht, aber sie wirft gleich drei Zwölfen und kriegt einen Riesen-Teddy. Nun findet auch sie, die eben erst zu Besuch nach Berlin gekommen ist, das Leben hier herrlich. Eine Berlinerin, die mit ihrem Galan, einem chinesischen Studenten, herausgekommen ist, hat plötzlich einen ungeheuren Widerwillen, krallt sich mit den Fingern in das Drahtzaunnetz und läßt sich nicht losreißen, obwohl ihr schon der Jumper hochgerutscht ist und das Hemd aus dem Kleiderrock quillt. Der kleine Mittelstand stellt das Hauptkontingent, auch der Arbeiter im Sonntagsstaat ist zahlreich vertreten, das sind zusammen die Zehntausende; aber es kommen auch viele Hunderte von "feinen" Leuten, eine riesigen Wagenburg von Privatautos fährt zusammen, und besonders vom Film kommen Prominente und Komparsen zu Hauf, um "Volksseele" zu studieren. Mit Blütenzweigen beladen - ein Riesenstrauß davon kostet nur 1 Mark - geht man abends heim. Wenn man noch gehen kann. Hunderte bleiben liegen, ohne daß es im weiten Gelände auffällt, hier einer im Gras, da einer im Graben, dort einer im Stall, und werden am nächsten Morgen aufgewischt. "Das Trinken ist des Wandrers Lust, das Tri-hin-ken!", gröhlt eine Gruppe aus Berlin N auf dem Wege zum Bahnhof; Männlein und Weiblein haben an einem Bändchen im Netz eine Flasche um den Hals und trinken immer noch eins. Das wird nachher, zu 20 bis 24 Personen in einem Abteil des Vorortzuges, eine sehr wenig angenehme Sache. Nur geht sie zum Glück friedlich aus. Die Berliner sind im Rausch durchweg verträgliche Leute.
Dennoch graut mir vor solcher Bahnfahrt, schon wegen der - Luft. Ich bin also diesmal in einem großen Ausflugsauto des Scherlverlages nach Werder gefahren. Da gibt es keine Überfüllung, da hat jeder seinen nummerierten Sitzplatz. Alle Tage veranstaltet das Reisebureau Scherl solche Ausflüge in die Mark Brandenburg, man kommt bequem zum Kloster Chorin oder in eine andere schöne Gegend, braucht keinen langen Anmarsch mehr von der Bahnstation her, und ist abends zu guter Zeit wieder zu Hause. Diesmal waren in unserem Wagen nur die Hälfte der Plätze besetzt, 15 von 30 Sitzen. Drei befreundete Ehefrauen mittleren Alters. Etliche Paare. Eine Familie, Eltern mit Tochter. Einige einzelne Herren. Und eine junge Dame, die mittags 1 Uhr von einem älteren Gent an den Wagen in Berlin gebracht worden war. "Amüsier' dich gut, Schatzi!", rief er zum Abschied. Bei der Abfahrt von Werder waren wir aber nicht mehr 15, sondern 16 Personen. Schatzi hatte einen neuen Freund.
Mit der Bahn kommt man am schnellsten, aber am poesielosesten nach Werder. Am langsamsten, aber am aussichtsreichsten mit dem Dampfer. Die Wasserfahrt braucht man heute nicht erst in Wannsee oder in Spandau zu beginnen; die koketten kleinen Schiffe (mit Tanzdiele und Bar an Bord natürlich) nehmen einen schon am Bahnhof Friedrichstraße auf der Spree an. Reizvoll ist auch die Fahrt mit dem Autobus, weil sie durch herrlichen Laubwald, den Wildpark hinter Potsdam, führt und weil der Scherlsche Wagenlenker alles Bemerkenswerte immer ausruft: "Links das Staatliche Materialprüfungsamt!" "Kurhaus Schlachtensee!" "Rechts der große, links der kleinen Wannsee!" "Der Golfklub!" "Babelsberg, das Sommerschloß des alten Kaisers!" "Hier wohnt die Witwe des Prinzen Sigismund!" "Links der Luftschiffhafen Potsdam!". Nach einstündiger Fahrt ist man in Geltow und hat in halbstündiger Mittagspause, von der Bergmeierei aus, eine prachtvolle Fernsicht über dieses märkische Thüringen in seinem weißen Blütenzauber. Es ist wirklich ein Zauber. Denn alles ist aus dürrem Schwemmsand erarbeitet, den in der Eiszeit der Urstrom, die damals ostwestlich fließende und in die Nordsee mündende - Weichsel, hier abgelagert hat. Einst des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation Streusandbüchse. Heute ein Obst- und Gemüseparadies wie die Vierlande bei Hamburg. Von Geltow bis Werder ist es dann nur noch wenige Minuten. Da ist erst recht alles nur Sand; man kriegt richtig Hochachtung vor dem zähen Bauern- und Gärtnerfleiß. Bei sinkender Sonne, die alles Wasser zu flüssigem Golde macht, den Schwielowsee in feuriger Lohe erstrahlen läßt, geht es dann heim, und von weither, schon von Wannsee ab, sieht man den Scheinwerfer des Berliner Funkturms über den Himmel wedeln. Nur äußerst selten können wir Schreibtischmenschen, und auch dann nur beruflich, uns einen solchen Ausflug gönnen - und man atmet tief und beseligt auf, ehe man wieder in den Dunst der Großstadt untertaucht.
Die hat gerade - es ist der Dienstag dieser Woche - ihre Maifeier hinter sich. Keine Naturfeier, sondern eine politische. Hie und da hängen rote Fahnen vor den Lokalen, in denen man sich stramm und gesinnungstüchtig versammelt hat. Ob jemals in diese "geschlossene" rote Gesellschaft die Wahrheit dringt ? Ohne jeden Kommentar will ich die Szene vom Dienstag, die ich erlebt habe, hier wiedergeben, für die phonographisch getreue Aufnahme verbürge ich mich. Ort der Handlung: Straßenbahn 87 E. Personen: Ein Genosse, 50 Jahre alt, seit 30 Jahren organisiert, Kriegsteilnehmer, Schwerverletzter, jetzt Zeitungshändler; und ich. In den Zeitungen stehen mit großen Lettern die Ergebnisse der Poincaré-Wahlen in Frankreich.
Genosse (verhalten): "In Frankreich haben wir eine mächtige Ohrfeige bekommen." |
Das alles wurde besinnlich, wurde halblaut zu mir gesagt, war fast nur Selbstgespräch. Wir kannten uns bis dahin nicht. Wir waren nur zufällig auf die Sitze nebeneinander in der Linie 87 geweht, beide verstaubt, beide nachdenklich. Ich hatte dem Mann nicht etwa eine Zeitung abgekauft, war nicht sein Kunde. Er hatte nichts von mir. Ich provozierte auch nicht etwa seine Meinungsäußerung, ich verhielt mich ganz passiv. Ich nehme auch als selbstverständlich an, daß dieser Straßenhändler, der zweimal verwundet worden ist und infolge einer Gasvergiftung bei dem Kampfe um den Kemmel die Sehkraft auf einem Auge verloren hat, diesmal rot wählen wird. Er hat sich ja mir gegenüber, schon vor dem skizzierten Gespräch, als von der Maifeier kommender überzeugter Sozialdemokrat bekannt. Aber die ersten Zweifel an der Vorwärts-Weisheit erwachen doch. Was heißt denn da Kampf gegen die Bourgeoisie, wo doch alle führenden Genossen nur möglichst schnell Großbourgeois werden wollen ? Was heißt denn da Internationale, wo kein Volk außer unseren von der Vorwärts-Presse Dummgemachten an die Internationale glaubt ? An der Haltestelle der Straßenbahn, wo ich aussteige, schreitet still und ernst ein älterer Mann, das Stahlhelmabzeichen auf der Rockklappe, durch die Menge. Im Strahl der Laterne leuchtet es metallisch auf. "Verdammter Faschist!", gröhlen ein paar Halbstarke. Der Mann sieht sich nicht um, geht ruhig und schweigend weiter. Auf unserer Seite ist das Schweigen, auf der anderen noch der ungeheure Lärm, der die Massen genau so betrunken macht wie der Obstwein in Werder, dieser reklamehafte Lärm, den der Berliner "Klamauk" nennt; ganz Deutschland scheint nur noch von dem Geschrei erfüllt zu sein, daß "Willem" und die "Nationalisten" die einzigen Feinde des werktätigen Volkes seien, aber den einen oder anderen stößt das ungeheure Getöse doch schon ab und ernüchtert ihn. Mein Nachbar in der Straßenbahn ist schon fast ganz nüchtern gewesen. Vielleicht reißt eines Tages auf einmal der ganze rote Nebel. Manchmal bewundere ich den Mut ganz armer und schlichter Leute, die sich nicht scheuen, etwa als Augenzeugen irgend eines Roheitsdeliktes auf der Straße offen und laut zu erklären, daran sei nur der heutige Mangel an Erziehung der jungen Leute schuld; es sei viel besser gewesen, als sie noch beim Militär hätten dienen müssen. Neulich wird meine Frau von einem Radler, der unbekümmert "links" dahersaust, angefahren und obendrein beschimpft. Es gibt einen kleinen Volksauflauf. Es bilden sich erregte Gruppen. Meine Frau humpelt davon. Das Volk schiebt sich mit der Schweigenden mit und debattiert. Eine einfache Alte sagt den Drängenden erbittert die Wahrheit. Schilt auf den ganzen Schwindel von Marxismus und Proletariat, der nur die Schieber fördere, und ruft laut:
"Ich wähle diesmal die, wo die meisten auf loshacken!"
3. Mai 1928 (Donnerstag)
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Kaum Wahlbewegung zu sehen - Politische Reimerei - Ausländisch muß es sein - Im Kellnerheim - Eröffnung der großen Kunstausstellung - Eßt nach Kalorien.
Wer nicht gerade vor den Anschlagsäulen die Parteiplakate studiert, der merkt in dem größten Teile Berlins noch kaum, daß wir schon nach zwei Wochen Wahltag haben. Es ist doch eine ungeheure Metropole der Arbeit. Geschäft geht vor Vergnügen. Am Wedding brüllt ein Lautsprecherauto die Vorübergehenden an. Am Viktoria-Luisen-Platz kriegen die heimgehenden Schülerinnen des Lettehauses einen sozialdemokratischen Aufruf in die Hand gedrückt. In der Hasenheide hat es eine Keilerei zwischen Kommunisten und weniger roten Roten gegeben. Das sind Einzelerscheinungen, die auf dem Riesenareal mit den Tausenden von Straßen und Plätzen schon in der nächsten Nachbarschaft kaum mehr bekannt werden. Und die politischen Versammlungen sämtlicher Parteien ohne Ausnahme sind, wenn nicht vorsichtshalber kleine Lokale genommen werden, gähnend leer. Das bedeutet aber nicht etwa Wahlmüdigkeit, sondern nur, daß man Bescheid weiß. Man macht allenfalls pflichtgemäß Demonstrationen mit, aber man hat es nicht mehr nötig, sich für seine Person über die "richtige" Partei aufklären zu lassen. Die ganze agitatorische Arbeit gilt also im Wesentlichen dem wenigen sogenannten Treibholz und den Jugendlichen. Denen kommt man poetisch, mit einem gereimten Imperativ.
Die Sozialdemokraten, die noch mehr Geld haben als die Kommunisten, denen Sowjetrußland 4 Millionen Mark zur Verfügung gestellt hat, haben in Berlin 50 000 Stück Seife mit Wahlverschen gratis verteilt. In einzelnen Teilen Sachsens soll übrigens die Deutsche Volkspartei zu dem gleichen Zweck Streichholzbüchschen umsonst ausgestreut haben. Jetzt warte ich nur noch auf die Partei, die gute Zigarren dazu ausgibt, wenn auch mit schlechten Versen. Alle die parteipolitischen Reimer machen nicht gerade Goethe oder Stefan George Konkurrenz, sondern begnügen sich mit Namens-Verschen, wie man sie in Berlin seit alters her von den Schlagern gewöhnt ist, die jedermann ein paar Wochen lang trällert: "Ist denn kein Stuhl da - für meine Hulda ?" "O du mein Max, mein Max, Beene wie'n Dachs, wie'n Dachs", "Das ist die Irma, die liebt die ganze Firma", "Ach Ernst, ach Ernst, was du mir alles lernst!" bis zu dem Meia vom Himalaya. Die Deutsche Volkspartei kam als erste an den Berliner Anschlagsäulen mit solch einem Namens-Verschen heraus: "Was gehn dich denn die andern an ? Du wählst wie Gustav Stresemann!", worauf die Deutschnationalen mit dem Zweizeiler quittieren: "Wer nicht selber denken kann, muß wählen wie Herr Stresemann!" Sowas kann man natürlich aus dem Ärmel schütteln. Ich stelle mich gern sämtlichen Parteien als Gratisreimer zur Verfügung. Bitte sehr. Zunächst den Damen. "Kauf' nie im Sack die Katz, wähl' lieber Fräulein Matz!" "Ist deine Weisheit schon am Ende, so frage Klara Mende!" "Mit wem ich gut dich fahren seh' ? Allein mit der Frau Arendsee!" "Bebt, Völker! Kniet, Länder! Jetzt kommt Ruth Fischer-Friedländer!" "Erwache, sanfter Träumer, den Speer schwingt Gertrud Bäumer!" Aber auch für die Herren hätte ich bemusterte Offerten. Etwa folgende. "Als Weltumstürzer wähl' man den einzig echten Thälmann!" "Wer verullsteint gern ward, der stimmt für Schorse Bernhard!" "Verdorrte Hände meide man und folge Philipp Scheidemann!" "Niemals ward der Roten Diener unser Bäckermeister Biener!" "Bist du satt des ganzen Quarks, versuch's doch mal mit Liste Marx!" Wenn die 32 deutschen Parteien mich so in Lohn und Brot setzen, kann ich auf sonstige Arbeit vielleicht verzichten. Ich mache mich sogar anheischig, einen Reim auf Wulfmeyer zu finden; amtlich zugelassen ist nämlich, nachdem die nötigen 20 Unterschriften beigebracht waren, auch die sogenannte Rechts- und Mieterschutzpartei, die das Ehepaar Wulfmeyer nebst Sohn und Tochter als Wahlkandidaten hat. Nicht zugelassen wurde dagegen die Kulturfortschrittspartei, deren Gründer die Vielehe für besonders hochgezüchtete Zeitgenossen verlangt. Wieviel Parteien müssen wir noch bekommen, bis man den ganzen Unsinn bei uns erkennt ? In England wird in jedem Einzelwahlkreise der Kandidat gewählt, der die relativ meisten Stimmen hat, also braucht er dort nicht einmal die Hälfte der Stimmen zu bekommen, muß nur der stärksten Partei angehören. Daher sind Splitterparteien dort sinnlos. Nähmen wir dasselbe System an, so hätten auch wir über kurz oder lang nur drei Parteien, nämlich Rechte und Zentrum und Linke, die innerlich unwahre Koalitionsregiererei hätte ein Ende, das Begeifern zwischen nahestehenden Gruppen hörte auf, und die Bahn wäre endlich frei für einige führende große Männer und für wirkliche Politik statt kleinen Zanks und Stunks. So bin ih der festen Überzeugung, daß es das ganze Unglück Stresemanns ist, eigentlich zwischen den Parteien zu sitzen. Er hat zu wenig hinter sich. Die Deutsche Volkspartei hat ja nicht einmal ein Zehntel der Sitze im Reichstag! Infolgedessen muß er sich in Wahltaktik und Parteiintrigue erschöpfen, infolgedessen muß er mit der Großen Koalition liebäugeln, statt sich der Aufgabe widmen zu können, für die seine große Rednergabe ihn eigentlich vorherbestimmt hatte: der Tyrtäus des deutschen Volkes zu sein, der Zusammenballer nationaler Energien im Kampfe um unsere Befreiung. Unter einem anderen Wahlrecht wäre er vielleicht der Lloyd George unserer Linken oder der Raymond Poincaré unserer Rechten geworden.
Ein Dreiparteiensystem, das die automatische Folge eines vernünftigen Wahlrechts wäre, würde sehr viel Kraft freimachen, die jetzt in innerpolitischen Kämpfen verpulvert wird. Wir hätten klare Linien. Die Nationalen rechts. Die Internationalen links. In der Mitte ausgeglichen und ausgleichend diejenigen, denen das Soziale am höchsten steht; das Ultramontane würde verblassen. Hätten wir statt der kleinen Zänkergruppen beispielsweise auf der Rechten einen einzigen bloc national, so würde unsere Erziehung zu deutschem Selbstbewußtsein schnelle Fortschritte machen. Auch die Linke würde aus Konkurrenzgründen auf ein nationales Programm nicht mehr ganz verzichten können; statt des Typs Scheidemann wäre der Typ Paul Boncour endlich bei uns möglich. Am Ende der Entwicklung stünde eine Nation von einem solchen Selbstbewußtsein, wie es heute etwa die Engländer haben. Heute stößt man bei uns auf Schritt und Tritt noch immer auf törichte Ausländerei und Nachäfferei, bis weit nach rechts hin, bis zu Braunhemd und Faschistengruß. In einer Berliner Generalvertretung einer amerikanischen Automobilfirma, die von Deutschen geleitet wird, haben diese Deutschen, obwohl es gar nicht verlangt wurde, im inneren Betrieb die englische Geschäftssprache eingeführt; jedes Tippfräulein muß das Notwendigste davon beherrschen. In der Potsdamer Straße lockt eine Kneipe mit dem Bild von Notre Dame und Eiffelturm, die topographisch ganz unecht nebeneinander gesetzt sind, und darunter steht: City-Frühstück! Da hätten sie wenigstens Westminster und die Nelsonsäule darüber haben sollen. Einerlei: wenn's nur fremd ist! In der Leipziger Straße stellt ein Laden ein Kleid aus, darunter ein Pappkärtchen mit der Inschrift: "Original englisch. Preis 189.50 Mark. Eigene Verarbeitung." Also entweder das erste oder das dritte ist falsch, wahrscheinlich das erste, aber das muß da sein, das zieht, und den Widersinn merken die Damen ja nicht. Unsere schönen deutschen Äpfel verfaulen, aber die dickschaligen amerikanischen locken in jedem Obstladen. Dänische Butter ist nicht besser als deutsche, nur 10 Pfennige teurer, aber jedermann verlangt sie gedankenlos. Wenn nun aber Schiele einen stärkeren Zoll auf Auslandsbutter forderte, so würden unsere Demokraten und Sozialisten, die immer die Geschäfte des Auslandes besorgen, natürlich sofort zetern, daß die Rechte dem Volke die Lebensmittel verteuern wollte. Und da geben wir denn 3 Milliarden jährlich für die fremde Einfuhr her und sind beglückt.
Es gibt eine gewisse Internationalität, die ich durchaus schätze: die der Gelehrten, der Techniker, der Sportler, der - Kellner. Diese Internationalität, dieser Austausch und Wettbewerb macht national, das ist es. Am Schiffbauerdamm befindet sich eine unscheinbare Wirtschaft, in der ich gelegentlich gern ein Viertelstündchen sitze, etwa wenn ich mich von unserem in der Nähe wohnenden Zahnarzt erholen will, den ich alle Jahre einmal aufsuche, oder wenn ich aus dem Großen Schauspielhaus komme, das dicht dabei liegt. Über dem Lokal steht: "Genfer-Verband". Es ist der internationale Verband der Hotel-, Restaurant- und Café-Angestellten. Von seiner Berliner Sektion sind im Weltkriege 102 Mitglieder gefallen, die eine große Ehrentafel in einer Nische aufzählt. Ja, hier schämt man sich dessen nicht. Hier ist man trotz aller Internationalität gut deutsch allewege. Dieses Lokal ist vielleicht ein Unikum in Berlin. Es ist nämlich kein einziges weibliches Wesen darin an den Gasttischen. Kein Seidenstrumpf lenkt ab. Man ist unter sich. Mehr noch unter sich als in der großen Gaststube in den beiden Klubzimmern, an deren Türen ein Anschlag etwas kleinmütig und halbverlegen das Jeuen verbietet. Das ist ja das alte Kellnerlaster. Ich sitze mit Ferdl zusammen, dem vielsprachigen, der mich einst am Strande des Mittelmeeres betreut hat. Als der Krieg ausbrach, war er Schlafwagenschaffner im Orientexpress. Der Verkehr hörte auf. In Bukarest wurden die Angestellten, vieler Nationen Angehörige, zusammengezogen. Sie alle, besonders die Deutschen, hatten nur noch eine Parole: nach Hause! Aber wie ? Über Lemberg ? Geht nicht mehr! Über Athen ? Gesagt, getan! Von dort kann man vielleicht nach Italien, dann nach Deutschland. Aber das italienische Schiff geht "wegen Breslau-Gefahr" plötzlich nach Süden, nach Alexandrien. Dort wird unser Ferdl neben anderen Deutschen von den Engländern interniert, dann nach Malta überführt, wird krank, darf in die Schweiz, - und schon ist er daheim und an der Front. Auch andere Weitgereiste trifft man hier im Genfer Verband, deren Blick frei geworden ist und die doch erkannt haben, daß das Vaterland das Höchste ist. Für das Vaterland "ertüchtigt" man sich auch. Man hat in Berlin den eigenen Sportklub Hota mit einer trefflichen Boxmannschaft. Man macht das Marathonlaufen mit. Man hat den großen Nestorpokal und andere Preise hier im Kellnerheim stehen. Manche glauben, daß der Kellner das Katzbuckeln lerne. Das ist nicht wahr. Er hat oft mehr Würde als der Gast; und manchmal mehr Bildung. Er weiß, daß wir anderen Deutschen zu viel katzbuckeln, sonst wären wir schon weiter in der Welt, denn Selbstbewußtsein ist der beste Unterhändler. Die Angestellten im Gastwirtsgewerbe wissen auch, daß nicht alles Gold ist, was glänzt, nicht alles Freiheit, was sie als Aushängeschild benutzt. Das bitterste Brot hat man bei "genössischen" Organisationen. Aber in Berlin, erzählt mir einer, der nach Ferdl an meinem Tisch sitzt, ist, abgesehen von einigen wenigen gut eingeführten Lokalen, überhaupt kaum mehr etwas los. Großer Besuch. Aber kleine Zechen. "Elf Tische habe ich gestern gehabt, totgelaufen habe ich mich, aber nur 30 Mark Kasse!" Er sagt selber, das sei ein Ausnahmefall, aber auch der Durchschnitt sei nicht viel höher. Wir seien arm geworden. Das könne niemand so gut beurteilen wie der Kellner. Die paar Luxuslokale seien nicht maßgebend.
Vielleicht können unsere Künstler die deutsche Not, trotz allen "Aufschwungs" unserer Pumpwirtschaft, ebensogut einschätzen. Sie sind heute zu Tausenden proletarisiert. Wer kauft noch Bilder ? Man geht in den Kientopp. Ja, wer kauft überhaupt noch ein Klavier ? Man hört den Rundfunk. Mit der alten lieben Hausmusik ist es vorbei; und an die Wände hängt man keine Originale. Nun kann doch nicht jeder bildende Künstler Reklamezeichner, Trickzeichner, Modezeichner werden. Bleibt die große Lotterie: die Kunstausstellung. Also ersten, da ankommen, zweitens, da was loswerden. Man muß auffallen. Man muß schreien. Seit ich gestern die Eröffnung der Großen Kunstausstellung mitgemacht , an der Tausende auf Gratis-Einladungskarte hin teilnahmen, während heute ein paar Dutzend sich in den weiten Sälen verlieren, seit ich dort gestern in unmöglichsten Anzügen - einer war aus braunrotem Rupfen gemacht - Aussteller an ihren Bilder gesehen habe, aus deren Blicken "ein Leidensabgrund unermessen" sprach, habe ich mehr denn je den Eindruck, daß die Expressionisten, Abstrakten, Kubisten und sonstigen Verblüffer mit ihrer Malweise vielfach nur einen Akt der Verzweiflung begehen. Am Ende kauft der Staat oder die Stadt ein Bild, "von dem man spricht". Das ist reiner Zufall. Aber vielleicht winkt das große Los. Hunger tut weh. Private kaufen überhaupt so gut wie gar nicht mehr. Unter den über 2300 ausgestellten Kunstwerken gibt es aber auch keine 20, von denen ich mir eines ins Zimmer hängen oder stellen möchte, und wenn man eines findet, dann in einer Gedächtnisausstellung für einen Künstler, dessen Höhepunkt im Schaffen mindestens ein Menschenalter zurückliegt. Billig porträtieren, das ist noch was. Ein Bekannter von mir - "verlorener Sohn", weil Maler - riskiert einmal das Anlagekapital für einen Aufenthalt in einem Seebad, "kluftet sich modern ein", tanzt und flirtet im Smoking oder hellgrauem Flanell, malt dann eine Dame und schenkt ihr das Bild. Ein Pastellbild. Binnen 24 Stunden haben es alle gesehen. Nach 48 Stunden ist der Maler überlaufen. "Soll ich mir die Ferien verderben ? Na meinetwegen! Aber wenigstens gegen eine kleine Anerkennungsgebühr. Bitte, 50 Mark für jedes Bildchen!" Gemacht. In dieser einen Badesaison hat der junge Berliner seinen Lebensunterhalt für den Winter geschafft, hat er Dutzende von Einladungen aufs Land und in andere Städte. Allerdings malt er nicht futuristisch, sondern - ähnlich.
Nur mit kleinen Korrekturen. Keine Dame kriegt bei ihm ein Doppelkinn, kein Herr Hängebacken, "es kommt nur auf die Stellung an", sagt er. Man vergöttert ihn. Er ist der Schöpfer der schlanken Linie. Gattinnen beeilen sich, ihren Männern diesen dokumentarischen Nachweis zu liefern, Männer werden wieder jung und unternehmunglustig, wenn sie sich so abkonterfeit sehen. Diesen günstigen Zustand will man sich auch erhalten. Also geht man am Kurfürstendamm mit Vorliebe in ein Restaurant, das bei jeder Speise auf der Karte - die Kalorienziffer veröffentlicht. Das ist das Neueste. "Wie wär's mit einem Schweinekotelett ?" "Nee, hat 415!" "Oder ein Rumpsteak mit Kartoffelpurée ?" "Um Gotteswillen, ganze 665!" Na, dann eine Grapefruit; die hat nur 70.
10. Mai 1928 (Donnerstag)
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Schwedische Studentin sucht Pension - Die "Bude" - Freudsche Psychoanalyse - Die Javanerin - Zweierlei Moral - Das Tagesheim im Königlichen Schloß - Akademische Zersplitterung - Rote Sprechchöre.
"Schwedische Studentin sucht Berlin Nähe Universität volle Pension gebildeter Familie."
Erstaunt liest man diese kleine Anzeige. Also so etwas gibt es noch ? Die schwedischen jungen Damen waren ja schon lange vor den deutschen emanzipiert und gingen allein in die Welt, nicht nur in das Haus einer Tante oder einer Freundin der Mutter. Aber doch möglichst - in eine Familie. Sie wollte nicht zur Bohemienne werden, sie blieben immer das Mädchen aus gutem Hause. So ist es noch heute. Die kleine Anzeige gab mir Veranlassung, in schwedischen Kreisen darnach zu fragen, und es wurde mir bestätigt. Und unsere deutschen Studentinnen ? Einer habe ich einmal volle Pension in der behaglichen 7-Zimmerwohnung einer nahen Verwandten von mir, einer akademisch gebildeten Dame, empohlen; Fräulein Doktor hat sehr gern ein paar frische deutsche Mädels im Hause und ist reizend zu ihnen. Aber ich wurde schnippisch abgefertigt. Wenn man in Berlin studiere, dann wolle man seine "Bude" haben, basta. Nicht an eine Mahlzeit sich halten; auf der Bude empfangen, wen man wolle; der Vermieterin den Zins hinwerfen, im übrigen nichts mit ihr gemein haben. Gott sei Dank, daß man endlich der Familie entronnen sei, endlich frei sei, endlich "alles" kennen lernen könne! Gewiß, gewiß. Man lernt Wanzen in alten Plüschmöbeln kennen. Man lernt Wohnungen kennen, in denen es keine Badewanne gibt. Man lernt Morgenkaffee kennen, in dem sich kein Kaffee befindet. Wenn man nicht - wie eine kleine Auslandsdeutsche, die jetzt hier Nationalökonomie studiert - einen so reichlichen Monatswechsel von Hause bekommt, daß man sich in der besten Gegend zwei gut und neu möblierte Zimmer mit Bad und Telephon "und allen Schikanen" leisten kann. Das kleine Püppchen, nur so eine Viertelportion Mensch, knapp 19 Jahre alt, sitzt vor mir, zusammengesunken über ihrer Zigarette. Mit geschürzten Lippen - welche Wonne, diese Freiheit - schlägt das Ding Themen an, die zu Hause unerhört wären. Fabelhaft interessant, sagt die Kleine, seien die psychoanalytischen Sachen, die sie gerade lese; was Herr Sigismund Freud schreibe, das stimme auffallend; so habe auch sie inzestuöse sogenannte Oedipusträume gehabt. Sie wird nicht rot dabei. Mich schüttelt's bei ihren "verdrängten Komplexen". Wie gut täte es ihr, wenn sie nicht nur auf ihrer "Bude" qualmte und dieses in Wirklichkeit ganz unwissenschaftliche Zeug läse und dann am Caféhaustisch in die Nacht hinein mit ähnlich Unreifen darüber debattiere, sondern in einem gebildeten Hause erführe, daß doch nicht der Sexus allein in der Welt existiert. Aber nein. Das paßt diesen Mädchen nicht. Und Vater und Mutter daheim ahnen nichts. Und die jungen Damen selber merken es nicht, wie sie ihre ganze Blütenfrische dabei verlieren; auf der "Bude" und am Caféhaustisch gefallen sie "so" den Kommilitonen, aber wenn einem von ihnen die Frage vorgelegt würde, ob er "so eine" heiraten möchte, bekreuzigt er sich wohl.
Wir haben in Berlin in diesem Semester über 2400 Studentinnen aller Fakultäten, aller Jahrgänge, aller Rassen. Manchmal gehe ich durch die heiligen Hallen der Alma Mater und freue mich doch, daß die große Mehrheit junge frische Dinger mit blondem Knoten im Nacken sind, aufgeweckte Töchter aus anständigen Bürgerhäusern, gut und nicht auffallend gekleidet, voll Wissensdrang und Eifer, einmal in einen geachteten Beruf zu kommen und den Eltern und Brüdern nicht mehr "auf dem Halse zu liegen". Das ist heute, wo fast jede Familie ihre großen Nöte hat und nicht mehr grenzenlos Versorgungsheim sein kann, aller Ehren wert. Man sieht nur wenige Hypermoderne, nur wenige Lodderige, auch nur wenige betont Emanzipierte. Es steckt eine ungeheure Sachlichkeit in ihrer Arbeit, die einen manchmal fast heiter stimmen kann, wenn da, wo irgend ein Tantengemüt Liebesgeflüster vermutet, in Wahrheit irgend eine Kleine dem Kommilitonen nur sagt, mit dem BGB. sei sie durch, sie höre jetzt Zivilrecht 2 bei Goldschmidt. Oder ich sitze im Restaurant Tientsin in der Kantstraße, wo - auch anderswo, nicht nur in Deutschland, gibt es Zerklüftung - die Nordchinesen zu essen pflegen, während die Südchinesen - hie Tschangtsolin, hie Tschiangkaischek - sich im Restaurant Kanton ein paar Häuser weiter separieren, versuche gerade meinem ebenfalls europäischen Tischgenossen ein paar schwarzgrüne jahrealte chinesische Eier aufzureden, und da trifft mich der mutwillig-spitzbübische Blick einer kaffeebraunen Schönen, einer blühenden jungen Javanerin. Wirklich, ein schöner Menschenschlag. Ob das eine Tempeltänzerin ist ? Bewahre. Studentin. Berliner Studentin, die Geschichte und Philosophie hört! Herrschaften, da bin ich aber platt; die Welt hat sich in den letzten 30 Jahren tatsächlich einigermaßen geändert. Es ist auch gar nichts Revolutionäres mehr dabei wie ehedem, wo den studierenden Reformkleidbestien noch der Männerhaß aus den Augen sprühte.
Nur hie und da wird einem die Umwälzung klar. Nämlich auf moralischem Gebiet; aber auch da, hoffe ich, nur bei einer Minderheit unserer Studentinnen. Über die sogenannte zweierlei Moral hat man sich früher aufgeregt, über die Junggesellenfreiheit des Mannes im Vergleich zur Gebundenheit des Weibes. Heute ist seine Zucht nicht viel größer, dafür aber ihre Losgelassenheit. Wir haben vielfach keine zweierlei Moral mehr, sondern - einerlei Unmoral. Die Junggesellin ist der neue, früher kaum vorhandene Typ. Das ist für die physische und seelische Gesundheit eines Volkes natürlich keine Bereicherung. Früher konnten wir doch immer an unseren Frauen genesen. Nicht auszudenken, wenn die so gebummelt oder auch nur so gesoffen hätten wie der durchschnittliche männliche Deutsche! Aber es verschiebt sich; es ist erstaunlich, wie unsere jungen Damen heute die Cocktails kippen.
Es ist dem Manne nicht gut, daß er allein sei, wissen wir schon aus der Bibel. Bei der heutigen vielfach gemeinsamen Erziehung in Schule, Tanzstunde, Sport, Werkstatt, Bureau, Universität ist er es schon von Jugend an nicht mehr. Aber unsere jungen Mädchen müssen wenigstens gelegentlich allein sein können, und das wünschen sie selber. Seit einigen Tagen haben nun die Berliner Studentinnen ihr eigenes Tagesheim, im ältesten Teil des Königlichen Schlosses, der sogenannten Schloßapotheke an der Spree, in der ehemaligen "v.Alvenslebenschen Wohnung", die früher mit ihren 13 Zimmern einem Hofbeamten angewiesen war. Man kommt durch einen Vorraum, ein fast kirchenartig hohes Gewölbe mit großem Kamin und getäfelten Wänden und alter Standuhr, man geht durch die "bunte Galerie", eine lange Glasveranda mit bequemen Korbmöbeln im Sonnenlicht, und man befindet sich in ein paar behaglich eingerichteten Sälen, in denen die jungen Mädchen sitzen, lesen, plaudern können, ganz unter sich. Staat und Stadt und Industriefirmen und Warenhäuser und vor allem das "Studentenwerk" des Reichskanzlers a.D. Michaelis, sein Lebenswerk, haben das ermöglicht. Die Aufenthaltserlaubnis kostet halbjährlich bloß 2 Mark. Wer dort Kaffee oder Tee trinken will, kriegt das für 15 Pfennige, ein Glas Milch schon für 10 Pfennige. Eine Treppe höher aber gibt es Badewannen (für 40 Pfennige ein Vollbad) und Haarwaschkabinen mit Fön und Ruhezimmer mit etlichen Dutzend Chaiselongues, dazu Kissen und Wolldecke. Die freundliche, stattliche Leiterin des Tagesheims bringt mich auch dorthin, zeigt mir alles. O, o! Da liegen ja schon ein paar Dornröschen im Mittagsschlaf! Auf den Zehenspitzen schleiche ich vorüber und wage kaum zu atmen. Ja, wer da ein Prinz wäre! Ein entzückendes kleines Näschen lugt gerade aus einer Wolldecke hervor, lange Wimpern heben sich über verträumten Augen, - husch-husch, hinaus, nur nicht stören, ich bin ja nur beruflich hier, um davon zu erzählen, sonst ginge es gar nicht, daß ein Mann hier hereinschaute. Nach wenigen Wochen, wenn es erst bekannter ist, wird dieses Tagesheim, das nur einige Minuten von der Universität entfernt ist, vielleicht schon zu klein sein. Es ist aber auch zu bequem. Man hat doch oft "Springstunden", unbesetzte Stunden, man hat beispielsweise von 8 bis 11, von 12 bis 2, von 4 bis 6, von 7 bis 8 Uhr Vorlesungen zu hören. Was soll man in der Zwischenzeit machen ? Herumstehen ? In einem Café sitzen ? Da ist es hier doch schöner. Und wer nicht zu Hause Mittag ißt, kann es auch im alten Schloß. Das Studentenwerk hat im Erdgeschoß, im sogenannten Eishof links, große Hallen, die schon die "östereichische Freundeshilfe" zu einer Mittelstandsküche ausgebaut hatte, zur Verfügung. Da kann man für 80 (im Abonnement 70) Pfennige sich sattessen. Da sitzen Männlein und Weiblein bunt durcheinander, an Tischen, auf deren jedem ein Blumenstrauß prangt, und bei freundlicher Bedienung durch einige Helferinnen, so daß man auch hier den Eindruck eines Heims hat, während es drüben in der Mensa Academica an der Universität mehr kasernenmäßig zugeht, jedermann mit seinem Teller in der langen Reihe antreten und ihn, wenn er so weit ist, am Kessel füllen muß. Beim Mittagessen im Schloß geht es nicht unfröhlich, aber still zu. Nicht Flirten, sondern Fachsimpeln ist an der Tagesordnung. Auch das Trennende in Politik und Weltanschauung spielt an der gemeinsamen Futterkrippe keine Rolle, während es einem vom Schwarzen Brett in der Universität überall entgegenschreit. In unsrer Jugendzeit kannte man die Korps, die Burschenschaften, die Landsmannschaften, die Turner und noch etliche studentische Organisationen, aber noch nicht den V.K.C. ("Verband kneipkouleurtragender Corporationen"), nicht die "Gilden" Teja, Dietrich von Bern, Werdandi, Florian Geyer, Werwolf, nicht die Paneuropäische Studentengruppe, den deutschen pazifistischen Studentenbund, die Vereinigung sozialdemokratischer Studierender sowie die der Deutschnationalen, der Deutschen Volkspartei, des Zentrums, der Demokraten, die Stahlhelmgemeinschaft, die Jungdeutsche Ordensgemeinschaft, den Nationalsozialistischen deutschen Studentenbund, die Rote Studentengruppe. Alles das ist erst seit 1918 entstanden. Alles das greift mit langen Werbefingern auch nach den Studentinnen. Da ist es fast kein Wunder, wenn unsere Studentinnen sagen: "Politik finde ich scheußlich!" Also das gebe ich den jungen Damen gern zu. Sie sollten lieber sich an den studentischen Ausschuß für Leibesübungen halten. Da gibt es Tennis, Ping-Pong, Hockey, Faustball, Schlagball, Leichtathletik, Rudern, Schwimmen, Reiten, Fechten für bescheidene Beiträge. Im Poststadion, nicht allzuweit im Westen. Das ist ein gesundes Gegengewicht gegen das Entnervende in Wissenschaft, Politik, Großstadtluft, Budenleben, Kabarett. Wer vom Pessimismus gesunden will, der muß sich das mal ansehen. Noch besser: bei der Hochschule für Leibesübungen. Da gibt es angehende junge Sportlehrerinnen; da lacht einem das Herz im Leibe.
Ansonsten haben wir in dieser Wahlzeit nicht viel zu lachen. Für deutsche Begriffe ist die Sache sehr kapitalistisch-unternehmerhaft besonders von der Sozialdemokratie aufgezogen, die sogar den Funkturm für ihre ständige Wahlreklame gemietet hat und sie dort in jeder Sekunde aufstrahlen läßt. Ein riesiger Wagenpark von Lastautos besorgt die Propaganda auf den Straßen. Besonderen Wert legt man auf die Sprechchöre, die man zuerst vor dem Volksentscheid über die Fürstenenteignung in Szene gesetzt hatte. Nach Geschäftsschluß ziehen die Trupps junger Leute, ein halbes Dutzend Buben und Mädel jedesmal, auf die Höfe. Schmetternde Trompetensignale, bis sich die Fenster öffnen. Dann folgt die Ansprache. Es ist also im Grunde eine politische Versammlung unter freiem Himmel, nur ohne die sonst notwendige polizeiliche Genehmigung. Einer aus dem Trupp verteilt Flugblätter, sammelt treppauf treppab Gelder ein, die vielfach von Ängstlichen und Bestürzten gegeben werden. Zum Schluß der Sprechchor:
Nieder mit dem Bürgerblock, |
In einem Hof in der Zimmerstraße kam einer der jugendlichen Sprecher so ins Lachen, daß er nicht mehr weiter konnte; ein anderer Genosse mußte ihn ablösen und die Flugblattrede fortsetzen. Diese jungen Menschen glauben an nichts mehr, nicht einmal an den Ernst ihrer eigenen Sache. Sie wissen nachgerade doch schon alle, daß das "Volk" nichts davon hat, nur die Bonzen der Partei gut leben. Vorsichtshalber wird daher auch nie mehr, wie früher, der Satz "Friede den Hütten, Krieg den Palästen!" geleiert, denn die Bonzen sitzen doch in den Palästen, sondern man ruft statt dessen: "Nicht predigen wir Haß den Reichen, nur gleiches Recht für jedermann!" Wer's glaubt, zahlt einen Taler. Die Sprechchöre glauben es ebensowenig wie die Horden der bezahlten Agitatoren. Es ist Geschäft. Gelingt eine Verschiebung um 30 Mandate nach links, so hofft man, über das Reich die gleiche Verfügungsgewalt wie über Preußen zu erhalten. Dann fliegen die alten Beamten hinaus und die mit Parteibuch ziehen ein. Wer dieses "Wesen des Parlamentarismus" kennt, der kann die abgründige Verachtung verstehen, die ein Mussolini für den Parlamentarismus hat. Die roten Sprechchöre auf den Berliner Höfen sind auch nicht von Verehrung für ihren Parlamentarismus erfüllt. Einer von diesen jungen Leuten hat mir das offen und ehrlich zugegeben. Gleich darauf plärrte er aber wieder seine Litanei und meinte mit einem sehr alten, sehr zynischen Lächeln: "Klamauk muß sein!"
16. Mai 1928 (Mittwoch)
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