"Rumpelstilzchen"

Klamauk muß sein !
(Jahrgangsband 1927/28)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1928

Glossen 31 - 33
12. bis 26. April 1928


31

Sommeranfang - Die große Schultüte - Die Ferien der Vierzehnjährigen - Brauns Speisekarte - Beim Kommiß - Der "Fememörder" Schulz - Held Gambino.

"Wach' auf, mein Herz, und suche Freund' - In dieser schönen Sommerzeit!" So fängt ein Choral, ein geistliches Volkslied an, das wir als Kinder auswendig wußten; aber dieser besonderen Aufforderung zur Freude bedurfte es wirklich nicht. In Heilbronn, in Heidelberg, auch in anderen deutschen Städten wird noch der Winter als Strohpuppe öffentlich verbrannt: schri, schra, schro, de Summerdag is do! In der Großstadt fließen die Jahreszeiten unvermerkter ineinander über; irgendwo draußen mag es schon sprießen und grünen, aber die Steinklüfte der Wohnviertel haben sich noch nicht erwärmt, die Zentralheizung muß morgens noch nachhelfen, auch wenn mittags, wenigstens sagt es die Zeitung, das Thermometer über 20 Grad hinaus emporgeklettert ist. Auf dem Wege zur Arbeitsstätte hat der Berliner nicht sonderlich auf den Wechsel geachtet; stumm und stumpf hasten die Menschenmassen, kaum jemand sieht empor und in die Weite. Nur in die Schaufenster wirft man ab und zu einen Blick. Und, wahrhaftig, da entdeckt man, daß das Sommerhalbjahr tatsächlich beginnt: an den Schultüten.

Das sind die aus Pappe geklebten, mit bunten Bildern bedeckten Riesentrichter, bis zu einem Meter Länge. die man immer noch Tüten nennt. Früher waren es wirklich welche. Da kamen ein paar Bonbons hinein, die man den Sechsjährigen auf den ersten Schulgang mitgab, damit ihr Herzklopfen etwas gemildert wurde. Denn schon das ganze Jahr vorher hatte vielleicht die Mutter gesagt: "Na warte, du Unart, wenn du erst in der Schule bist!" So erscheint denn, dank vielfach unverständiger Eltern, der kindlichen Phantasie der Lehrer als der Schwarze Mann, den man zu fürchten hat, nicht als der gütige Gärtner der kleinen Pflänzchen, was er doch fast durchweg ist. Auch vor der militärischen Dienstzeit pflegte man früher den jungen Männern zu sagen: "Na warte, beim Kommiß werden sie dir schon die Flötentöne beibringen!" Nur wirkte das auf die Halberwachsenen nicht so; denn sie wußten doch von den älteren "gedienten" Kameraden, daß trotz aller Strenge, Pünktlichkeit, Ordnung die Dienstzeit schließlich beim Rückblick von jedermann als die sorgloseste und poetischeste des Lebens anerkannt wurde. Mit der Schultüte in der Hand treten diesmal 38 000 Berliner Kinder zum A-B-C-Weg an. Sicherlich gut die Hälfte von ihnen glaubt aber nicht an bevorstehende Schrecknisse. Das sind die vielen Kleinen, die schon durch den Kindergarten hindurchgegangen sind, wo eine milde Frauenhand sie im Spielen zur Geselligkeit, zum Aufmerken, ja sogar zu gelegentlichem Stillsitzen erzog. Viel anders ist es ja auch zunächst beim Lehrer oder der Lehrerin nicht, und die Methodik regiert, nicht der Prügelstock. Immer mehr ist man bestrebt, die Kinder von innen heraus zu entwickeln, statt ihnen von außen her etwas einzubläuen. Das ist schon seit Jahrzehnten so. Erst in den letzten Jahren haben wir einen Rückfall in Roheit zu verzeichnen: da gibt es rote Lehrer und rote Schulräte, die fanatisch darauf aus sind, in den Kindern alles, was sie etwa von Hause an Ehrfurcht vor deutscher und biblischer Geschichte mitbekommen haben, wie überhaupt alles Ideale und alles märchenhafte Schöne zu zerstören. Aber zunächst merken das die Kinder noch nicht. Krampfhaft und glücklich halten sie ihre Tüte fest. Eigentlich ist sie in ihren heutigen Größenmaßen schon zur Unsitte geworden, zu einem Protzen-Wettlauf zwischen Schulzes von nebenan und Lehmanns von drüben. Man kann den Riesentrichter natürlich nicht nur mit Bonbons füllen, die Grundlage muß "sperrig" sein, also stopft man zunächst ein halbes Dutzend Apfelsinen hinein und die Süßigkeiten nur als Auflage. Aber mit dieser Auflage wird renommiert. "Was, du hast nur Lutschbonbons ? Ich hab' lauter Pralinen!" So beginnt die soziale Zerklüftung schon bei den Sechsjährigen.

Kurz davor sind die Vierzehnjährigen "ins Leben" eingetreten. Auch da, bei der Konfirmation oder bei der Jugendweihe, das ungesunde Übertrumpfen, gerade in ärmeren Schichten. In einer Berliner Mädchenschule fragt dieser Tage der Rektor die Kinder, wie bei ihnen zu Hause gefeiert worden sei. O, bis 3 Uhr morgens; bis 5 Uhr; bis 6 Uhr. "Und die Gäste waren wohl schon nachmittags zum Kaffee da ?" Da prusten und lachen die Kinder. Was der Rektor sich wohl denkt! Nein, sagen sie, selbstverständlich seien die Gäste schon mittags aus der Kirche oder vom Gewerkschaftshaus mitgekommen. "Und wieviel waren bie Euch ?" Da überschreien sich die Mädchen: hier waren es 21, da 18, dort 27. Und das alles in Wohnungen, die meist nur aus Stube, Küche, Kammer bestehen. Auch was sie geschenkt bekommen haben, erzählen diese kleinen, oft noch ganz dürftigen Großstadtpflanzen. Vor allem: feine Wäsche. Darunter durchsichtige Spitzen-Kombinations, wie man sie - so hätte man früher gesagt - nur bei Kokotten findet , wie sie aber heute - in jedem Film sieht man dazu die Vorbilder - jedes Proletarierkind haben will.

Wenn ein Volk sich, nur nicht auf Kosten der Solidität und der Gesundheit, Luxus angewöhnt, so ist nichts dagegen zu sagen. Gesteigerte Bedürfnisse geben gesteigerte Arbeitsgelegenheiten. Wir gönnen auch unserem Dienstmädchen von Herzen ihre seidenen Strümpfe. Nur soll dann endlich das blöde Gerede aufhören, daß nur "die oben" ihr Dasein schmückten. Der neue sozialdemokratische Wahlfilm bringt wieder den alten Gegensatz von hungernden Arbeitern und prassenden Bourgeois zum Aufreizen der Massen. Aber wenn nun einer aus der Masse "nach oben" kommt, setzt er dann etwa seine proletarische Ehre darein, schlicht zu bleiben ? Wir sind allzumal Menschen und sollten einander siebenmal siebenzigmal vergeben. Ein Verhetzter kommt in tiefem Groll aus dem Film, sein Groll wird an der Ecke Friedrich- und Behrenstraße noch vertieft, weil dort am Passagefirst unermüdlich eilende Wanderschrift dem Proletarier die für ihn kämpfende Sozialdemokratie empfiehlt, aber schon da gibt es Zweifelnde im Publikum, denen die ungeheuren Kosten dieser elektrischen Wahlmache auffallen. Etliche hundert Schritte weiter in einem Luxusgeschäft Unter den Linden können sie dann eine gedruckte Speisekarte bewundern, auf der - das Wasser läuft einem im Munde zusammen - folgendes verzeichnet steht:

Klare echte Schildkrötensuppe
Vol au Vent mit Hummer und Seezunge
Brüsseler Poularde garniert nach Derby
Saratoga-Salat
Gekühlter Weinschaum mit Ananas
Käseplatte, Radieschen.

Schon will man aufbegehren, weil so etwas doch reizt, aber dann wird man still: denn dieses Essen hat es am 23. März 1928 beim Genossen Braun, dem sozialdemokratischen preußischen Ministerpräsidenten gegeben. Hoffentlich ist es ihm bekommen. Es reimt sich nur nicht, daß man gegen die Rechte, gegen den Bürgerblock, gegen die "Kapitalisten" eifert, weil sie in den heutigen Notzeiten angeblich prassen (dabei sind sie bescheidener als alle Emporkömmlinge), aber selber keineswegs als Puritaner lebt, wenn man das Nötige dazu hat. Sogar der an sich so zurückhaltende Severing wird zuweilen an Stätten gesehen, wo es Sekt und schöne Frauen gibt; deshalb wirft unsereins keinen Stein auf ihn, aber innerhalb der Arbeiterschaft gärt es bereits: das bisher nur unterirdische Gemurmel gegen die "Bonzen" wird immer vernehmbarer. Außer dem großen Gehalt und den Diäten bekommen die preußischen Minister noch 12 000 Mark jährlich Aufwandsentschädigung, um sich derlei Essen gönnen zu können, wie es da auf der Speisekarte steht; und nun wünschen sie Erhöhung auf 16 000 Mark, das Vierfache von dem, was die nichtsozialistischen Rechtsblockminister im Reiche beziehen. Vor dem Schaufenster des Luxusgeschäftes komme ich darüber mit einem überzeugten Roten ins Gespräch. Es stehen einfache Leute, Sonntagspublikum, um uns herum, die mir Recht geben. Sie Speisekarte ist nun mal eine historische Urkunde, Name des Gastgebers und Datum stehen gedruckt darauf. Der Rote droht mir mit der Faust: "Uff Ihnen komm' ick noch retour!", und verschwindet.

Früher war die allgemeine Wehrpflicht der große Gleichmacher. Beim Gewehrputzen, beim Ausmisten im Stall, bei Rein Schiff mußte der Grafensohn genau so zupacken wie das Proletarierkind; und auch heute hat es der Fahnenjunker während der ersten anderthalb Kasernenjahre nicht besser als der "gewöhnliche" Musketier. Der Arbeitsdienst einschließlich des Dielenscheuerns ist für alle gleich. So sind unser Heer und unsere Flotte die demokratischeste Einrichtung der Welt. Nur sind die jetzt leider auf die durch Versailles gestatteten Freiwilligen beschränkt, nicht mehr eine Schule für das ganze Volk. Unser Jüngster ist nun auch glücklich beim Kommiß untergebracht. Unserer Donna in der Küche, der Lucie, wird erzählt, daß er in der Kaserne täglich frühmorgens um ½5 aus der Klappe müsse. "O Gott, o Gott, wie kriegen sie ihn bloß raus ?", sagt sie. Dieses herrliche, eiserne Muß, gegen das es kein Verstecken gibt, versteht das junge Geschlecht von heute kaum mehr. Es versteht auch nicht die innerliche Hingabe an das Muß, den Drang zum Dienst für das Reich.

Es versteht auch durchaus nicht, daß noch 1921, daß noch 1923, als unmittelbar nach der Ruhrbesetzung ein Poleneinbruch in Deutschland drohte, auf den Geheimruf der Regierung hin - der frühere Reichskanzler Wirth hat sich offen zu diesem Ruf bekannt - Männer in der nötigen Anzahl sich fanden, um freiwillig mit ihren Leibern in einer Zeit, ín der wir als offizielle Reichswehr nur 2 Kompagnien in Küstrin gegen die Polen hatten, einen Grenzschutz zu bilden. Darunter der Oberleutnant a.D. Schulz mit seinem narbenzerfetzten Körper, der im Weltkrieg um seiner Tapferkeit willen es zum Offizier gebracht hatte, schon als einfacher Soldat mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet und später zweimal zum Hohenzollern mit Schwertern eingegeben war. In seiner Truppe, die ihre Befehle, wovon Geßler freilich nichts mehr wissen will, vom Reichswehrministerium bekam, sind Leute, von denen man Verrat befürchtete, der Feme zum Opfer gefallen. "Was im gewöhnlichen Ablauf des Geschehens Wahnwitz und Verbrechen wäre, wird es nicht zur Pflicht in außergewöhnlicher Zeit, die nach außergewöhnlicher Tat schreit ?", fragt der Sozialdemokrat Otto Bauer in seiner parlamentarischen Verherrlichung des Genossen Adler, der den österreichischen Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh meuchlerisch erschoß. Aber in diesem Frühling, als dem Reichstage eine allgemeine Amnestievorlage zuging, durch die rund 400 politische Gefangene der kommunistischen Linken und etwa ein Dutzend der nationalen Rechten begnadigt worden wären, hat die Sozialdemokratie Mann für Mann dagegen gestimmt. Nun soll auch Schulz auf Lebenszeit ins Zuchthaus, auf Grund eines löcherigen Indizienbeweises, als angeblicher Fememörder. Dieser Mann brach während des Weltkrieges aus dem Lazarett aus, noch ungeheilt, und war am nächsten Abend als Patrouille im feindlichen Stacheldraht, aus dem er sich persönlich einige Gefangene griff; der hat vor dem Tode, zu dem er jetzt zunächst verurteilt worden war, keine Angst. Er hat immer nur für die deutschen Brüder seine Haut zu Markte getragen; auch zuletzt an der polnischen Grenze. Aber er kämpft um seinen reinen Namen und um neue vaterländische Arbeitsmöglichkeit. Er ist kein Fememörder. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Er will ein Wiederaufnahmeverfahren, um sich ganz zu rechtfertigen, aber das kostet Geld, und dieser einfache ehemalige Soldat hat keine Mittel, bekommt nicht einmal eine Pension. Wer springt jetzt für ihn ein ? Wer will ihn retten ? Wer will ihm danken ? Wer schickt an die Vaterländische Gefangenenhilfe, (eingetragener Verein!) regelmäßig einen leidlich anständigen Mitgliedsbeitrag für solche Zwecke ? Ich habe schon lange nicht mehr für irgend jemanden gebeten, nun tue ich es mit heißem Herzen. Barmat fetiert heute seine politischen Schildhalter am Kurfürstendamm. Sklarz trifft sich mit Scheidemann in Thüringen. Aber Oberleutnant Schulz, dessen Leben nur Opfer für Deutschland war, ist auf dem Wege in lebenslänglichen Kerker. Er verlangt seine völlige Freisprechung. Dazu müssen wir die Mittel aufbringen oder wir verdienen es wahrhaftig nicht, Deutsche zu sein.

Man hat ja im politischen Teil der Zeitungen von diesen Dingen gelesen, aber man denkt nicht mehr daran. Jeder Tag bringt neue Sensationen, neue Ablenkung. Und neue Unterhaltung. Überall flammt es von feurigen Reklamen für Uraufführungen in Kinos. Jetzt ist auch "Die letzte Galavorstellung des Zirkus Wolfson", der Film, bei dessen Entstehen ich dabei war, heraus. Ein Allerweltsfilm, sofort ausfuhrreif, nach dem Geschmack des Publikums aller Erdteile. Der Schuft des Stückes verbrennt zuletzt bei lebendigem Leibe, die Liebenden werden nach unerhörten Schicksalen vereint, der Held ist ein geradezu fabelhafter Held. Er (Gambino) arbeitet als Lebensretter sozusagen in Akkord. Ob er ins Wasser oder ins Feuer oder von einem rasenden Auto auf ein durchgehendes Pferd springt oder mit dem Kopf durch eine Fensterscheibe oder ob er einen himmelhohen Schornstein erklettert, auf den ein Affe ein kleines Kind entführt hat, es ist immer atemraubend. Im Vertrauen gesagt: auch die Heldin, die junge Mutter, macht diese Kletterpartie, aber das ist - wiederum Gambino, nur in Frauenkleidern, täuschend umfrisiert. Das ist doch noch ein Held, für den das Volk sich begeistern kann. Besonders, wenn er den Schuft niederboxt. Boxen kann er nämlich auch; er kann einfach alles. Eine junge Dame neben mir in der Loge gerät in rasende Begeisterung, schilt mich wegen meiner Skepsis. "Schön", erwidere ich, "also ich sage pater peccavi!"   "Ich bin nicht Ihr Pater!", faucht sie. "Nun gut, also mater peccavi!", ergänze ich. Einen so vernichtenden Blick wie nun habe ich noch nie in meinem Leben von einem jungen Mädchen erhalten.
12. April 1928 (Donnerstag)


32

In der Nacht am Rundfunk - Die Flagge der "Bremen" - Köhl im Felde - Aus Hünefelds Leben - Die Zeit auf Wieringen - Muß es denn sein ? - Mutter und Frau - Im Glauben an Deutschland.

Die Flugnacht der Drei über dem Ozean ist lang. Während sie kämpfen, können wir nur beten. Ja, so altmodisch sind wir; mit krampfhaft gefalteten Händen sitzt meine Frau neben mir. Der eine nennt das Fürbitte, der andere Dauemndrücken, der dritte Telepathie: wie man es nennt, ist gleichgültig, aber daß es eine Kraft ist, die in Gedankenschnelle um den Erdball geht, können nur Halbgebildete leugnen. Liebe und Haß, wenn sie nur stark sind, überholen den elektrischen Funken. Sie räumen Steine aus dem Wege oder sie werfen Knüttel zwischen die Beine. Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder, sagt schon die Bibel in ihrer Einfalt. In dem deutschen Flugzeug da draußen aber sitzt einer, "den muß man lieb haben", haben wir schon von Jahr und Tag gesagt. Wir kennen den Freiherrn v.Hünefeld schon lange. Nur von seinem Plan, daß zum ersten Male Deutsche den Ozean von Osten nach Westen bezwingen müßten, hörten wir nicht eher als alle übrigen Menschen.

In der zweiten Nacht sitzen wir wie Hunderttausende, vielleicht wie Millionen Deutscher vor dem Rundfunk. Newyork wird auf sämtliche deutschen Stationen übertragen. Ein Charleston, ein Tango. Die Welt ist überall gleich. Dann wird man durch die Kurse von Wallstreet gemartert. Was kümmern uns die amerikanischen Börsenpapiere ? Nur bei einem bringt man ein müdes Lächeln auf: der Schwager aus Newyork hat es einmal für 18 gekauft, jetzt steht es auf 97. So steht auch wohl die Wahrscheinlichkeit für das Gelingen des Ozeanfluges der "Bremen" im Vergleich zu den früheren Versuchen. Da, da, eine Nachricht! Aber man läßt die Flügel hängen. "No official report of the German flyers", keine amtliche Meldung über die deutschen Flieger, läßt sich der Ansager in Newyork vernehmen. Und doch, und doch: wir glauben an das Wunder. Ist es nicht schon ein Wunder, daß uns von jenseits des Weltmeeres durch die Luft alles zugesprochen wird ? Und haben wir nicht eben von dem ersten deutschen Raketenwagen gelesen, dem Vorläufer des Luftschiffes, das man einst in den Weltraum schicken will ? In Amerika, wo man noch rückhaltlose Begeisterung für männlichen Wagemut kennt und nicht erst fragt, zu welcher Partei der Mann gehört, ist man fieberhaft gespannt. Bei uns in Deutschland aber gibt es Zeitungen, die die Großtat Hünefelds, des Organisators des Fluges, mit ein paar Zeilen über das "Abenteuer" abtun, dagegen auf derselben Seite einen mächtigen Reklameartikel über die "Leistung" französischer Aviateure bringen, die gemächlich in Monaten, unter wiederholter Auswechselung des Motors, einen Teil des Erdballs umflogen haben. Dieser Hünefeld steht nämlich leidenschaftlich rechts und hat, weil er dem Kaiserhause - davon will ich noch erzählen - persönlich besonders nahesteht, auf dem Wege nach Irland beim Überfliegen von Haus Doorn angeblich einen Gruß abgeworfen, einen Lorbeerzweig mit einer Schleife daran. In Wahrheit lag Holland im Nebel da, ist Doorn gar nicht gesichtet worden. Außerdem soll Hünefeld beim Abflug in Irland mit einer schwarzweißroten Flagge gewinkt haben. Grund genug, ihn zu verdammen. Und wenn er es getan hätte! Aber in Wahrheit hat Freiherr v.Hünefeld, der als Abteilungsdirektor beim Norddeutschen Lloyd in Bremen wohl besser als die Ullsteiner weiß, was Rechtens ist, nur die einzig korrekte deutsche Flagge nach Amerika mitgenommen, die einzig verfassungsmäßige, nämlich die Handelsflagge, die zur See und über See alle Fahrzeuge zeigen müssen, die schwarzweißrote mit dem kleinen schwarzrotgelben Obereck.

Von seinen Begleitern, den beiden Fliegern Köhl und Fitzmaurice, bin ich nur dem ersten, dem Hauptmann Köhl, einmal im Kriege begegnet. Er hatte gerade die fabelhafte Sprengung des riesigen Munitionslagers der Alliierten hinter sich. Millionen von Geschossen waren in die Luft gegangen; seine nächtliche Bombe hatte gut getroffen. Tags darauf wurde der Ort des Grauens von oben photographiert, da sah man beim Vergleich mit den früheren Bildern, welch ungeheure Zerstörung angerichtet war; als ob eine Großstadt durch ein gewaltiges Erdbeben zusammengeworfen sei. Nach Köhl haben wir anderen Bombenflieger, namentlich in der großen Flandernschlacht, immer wieder versucht, ähnliche Erfolge zu erzielen. Mit langem Halse habe ich jede Bombe verfolgt, die ich nachts hinuntersausen ließ, aber jede explodierte nur mit dem eigenen Blitz beim Aufschlagen, rasierte natürlich in ihrer nächsten Umgebung alles Lebendige und Tote vom Boden, aber niemals mehr gab es unten so ein brüllendes Feuermeer. Keiner von uns hat die Leistung des braven jungen Bayern erreicht. Köhl stammt aus einer Soldatenfamilie, sein Vater, die alte Exzellenz, lebt noch heute in Pfaffenhofen. Schon als kleiner Junge pflegte er zu sagen: "Ich gehe zur Marine, da braucht man Mut, den habe ich!" Er ist zwar nicht zur Marine gegangen, konnte aber auch als Jagdflieger und Bombenflieger Mut beweisen. Einmal wurde er abgeschossen, geriet in französische Gefangenschaft, brach aus, wanderte durch ganz Frankreich bis Lyon, indem er den "Depp" spielte, den harmlosen geistesschwachen Landstreicher, und durchschwamm dann in einer dunklen Nacht die breite Rhone und kam glücklich auf Schweizer Boden an. Bei der Lufthansa hat er in den letzten Jahren die Nachtflüge eingerichtet. Oft genug haben wir sein Postflugzeug Berlin-Stockholm in der Dunkelheit auf die Minute pünktlich über unser Dach knattern hören.

Hünefeld ist nicht Soldat in diesem Sinne gewesen. Als winziges Bübchen sagte er zwar immer, er wolle "Kiegsmuniste" werden, Kriegsminister. Das ist er nun freilich nicht geworden. Dem Achtjährigen, der vom Schemel herunter predigte, dem Zwölfjährigen, der schon da nicht üble lyrische und - politische Gedichte machte, mochte man eher den künftigen Pastor oder Abgeordneten zutrauen. Nach erster Kinderzeit auf dem väterlichen Gut in Ostpreußen, dicht bei Tharau (o Ännchen von Tharau!), kam er in die Stadt, auf die Quarta des Gymnasiums, und war dort trotz vieler Krankheit und wiederholten monatelangen Fehlens einer der besten Schüler, denn Wille und Ehrgeiz waren stark. Kurz vor dem Kriege - er ist am 1. Mai 1892 geboren - hatte er, nachdem er etliche Semester an der Berliner Universität philosophische Vorlesungen gehört hatte, eine literarisch-dramaturgische Tätigkeit übernommen, die ihn tagsüber beschäftigte; aber schon bei Sonnenaufgang war er stets draußen in Johannisthal und - flog. Der junge Mensch, der Magen- und Nierenleiden hinter sich hatte, von einer schweren Rippenfellentzündung noch nicht genesen war, auf dem linken Auge so gut wie gar nicht und auf dem kurzsichtigen rechten nur mit Hülfe eines scharfen Monokels sehen konnte, ist mir schon damals in Johannisthal flüchtig aufgefallen, weil er so durchglüht von Eifer war; richtig kennen gelernt habe ich ihn erst vor drei Jahren, auf einer kleinen Gesellschaft beim Kronprinzen, und seither gehört ihm mein ganzes Herz. Natürlich wurde er am 1. August 1914 nicht "genommen". Wie so mancher andere raste er vergeblich die Truppenteile ab. Schließlich kam er beim Freiwilligen Motorradkorps unter; daß er überhaupt noch nie auf einem Mororrad gesessen, verschwieg er, aber nach fünf Tagen fuhr er wie ein Professional. Und nun hinein nach Belgien! Am 30. September hatte er schon mehrere Befehle eines Brigadestabes, dem er zugeteilt war, unter heftigem Feuer nach vorn in die Schützenlinie gebracht. Es war vor Mecheln. Unsere schwere Artillerie wußte nicht, ob es noch beschossen werden solle oder ob die deutsche Infanterie schon darin sei. Da erbot sich Hünefeld zu einer neuen freiwilligen Erkundung, brauste nach Mecheln hinein, kam auch mit wichtiger Meldung zurück, wurde aber, schon innerhalb der eigenen Linie, zweimal von Schrapnells getroffen, die ihm ein Bein zerschmetterten, das andere verwundeten. Mit dem Eisernen Kreuz auf der Brust wurde er heimtransportiert. Monatelanges Krankenlager. Das rechte Bein sollte ihm abgenommen werden, blieb aber dank der Kunst des Professors Lexer, jetzt in München, erhalten, war nur um 4 Zentimeter verkürzt. Da entschloß sich Hünefeld, auch das linke so verkürzen zu lassen, und hielt heldenhaft stand, wurde der Liebling der Ärzte, die diese überaus seltene Operation vornahmen. Seither steht er wieder auf zwei gleichen Beinen fest im Leben, steht auch im Ballsaal seinen Mann, und der 4 Zentimeter lange aus dem linken Bein herausgemeißelte Knochen ziert heute seinen Spazierstock. Der so arg zusammengeschossene Freiherr v.Hünefeld blieb nun aber nicht etwa untätig. Er meldete sich beim Auswärtigen Amt, wurde zu verschiedenen Missionen nach Sofia, nach Konstantinopel usw. benutzt und zuletzt als Vizekonsul in Maastricht, im holländischen Südzipfel, im Alter von erst 25 Jahren angestellt. Hier erlebte er die furchtbare Schicksalswende Deutschlands, hier in der Nähe, auf der kleinen Grenzstation Eysden, empfing er am 10. November 1918 den Kaiser bei dessen Übertritt auf holländisches Gebiet. Der deutsche Generalkonsul war gerade verreist, Hünefeld also Vertreter des Reiches. Der in seinen tiefsten Tiefen erschütterte junge Mann stand vor seinem kaiserlichen Herrn und erfuhr aus dessen Munde als Erster die Gründe: "Ich will nicht, daß meinetwegen und um meiner Person willen ein Tropfen Bürgerblut fließe". Im Dezember desselben Jahres geht Hünefeld, der sein Amt quittiert hat, freiwillig nach Wieringen und hilft als Lehnsmann und Kamerad dem deutschen Kronprinzen über die ersten Jahre der furchtbaren Öde hinweg. Der Kronprinz, der klaglos das Opfer der Verbannung auf sich nahm, aus den gleichen Gründen wie der Kaiser, nachdem die republikanische Regierung auf seine Dienste verzichtet und der Kriegsminister ihm Abschied und Auslandsurlaub erteilt hatte, war in dieser Gemeinschaft vielleicht noch mehr der Gebende; sein Geigenspiel und sein Zeichentalent - nur fehlte es im ersten Winter manchmal sogar an Petroleum für die Lampe - halfen über vieles hinweg. Noch heute hängt in einem Stübchen der Frau v.Hünefeld in Berlin-Südende in der Hermannstraße 9 ein Kreideporträt ihres Sohnes, das der Kronprinz gezeichnet hat. Aber Gebender war auch Hünefeld selbst, denn er hat zwei Dinge, die immer wieder auch Verzagende aufrichten: Treue und Glauben.

Über die Wieringer Zeit hat er ein kleines Büchlein geschrieben, "Der Kronprinz im Exil", das im Verlage von Karl Curtius in Berlin erschienen ist. Sein neuestes, poetisches Werk heißt "Biblische Gestalten und Gesänge" und ist bei Halem-Bremen herausgekommen. Dazwischen dramatische Werke, auch ein sehr feines Schauspiel "Die Furcht vor dem Glück" (Hauschild-Bremen), das in den Jahren 1831 und 1834 das royalistische etwas komisch-überspannte Frankreich als Tatort hat und mit dem die Theaterdirektoren jetzt, wo Hünefelds Name in aller Munde ist, ein glänzendes Geschäft machen könnten. Mir persönlich ist ein kleines Bändchen am liebsten, das Hünefeld mir einst geschenkt hat, "Ich schwur einen Eid", Gedichte aus Deutschlands Not, auch bei Hauschild erschienen; daraus loht am ursprünglichsten der Idealismus des Mannes, da verspürt man am besten seine eigentliche Triebfeder, die herzhafte Königstreue der alten Art, wie sie uns sonst nur noch aus den Sagen von Wolfdieterich und Berchtung entgegentritt. Der Königsgedanke und der Deutschlandgedanke sind in Hünefeld vermählt, dafür lebt er, dafür kämpft er, dafür stirbt er, wenn es sein soll. Über seine Flugpläne hat er mit seiner Mutter, die sie natürlich kannte, nur wenig gesprochen. Man sah sich an, man schwieg, man verstand sich. In den letzten Monaten nur einmal zwei Sätze:

"Muß es denn wirklich sein, Günther ?"
"Es muß sein, Mutter; für Deutschland."

Deutschland, Deutschland. Nur in dem Gedanken an Deutschland hat Freiherr v.Hünefeld, der selber mit gar keinen Glücksgütern gesegnet ist, es fertig gebracht, hundert vergebliche und zehn erfolgreiche Bittgänge zu machen, bis er endlich das Geld zum Ankauf des Flugzeuges beisammen hatte. Wie schwer das in unserem verarmten Lande ist, können sich Amerikaner kaum vorstellen. Nur der sieghafte Glaube dieses Mannes konnte sich da durchsetzen: Deutschland voran! Unter dem Beistand Gottes, wie er auch jetzt in seinen Telegrammen hinzuzufügen nicht vergißt. Aus diesen Dankesgrüßen, von denen einer auch der Hamburg-Amerika-Linie gilt, wird man freilich nie eine vollständige Liste seiner Geldgeber konstruieren können. Einen weiß ich, der auf jeden Fall ungenannt bleiben will; einen, der auch nur an Deutschland denkt, dem aber alles mißdeutet wird, was er auch nur tut. In jenen furchtbaren Stunden, wo Köhl und Fitzmaurice die Benzinzuführung flickten, während Hünefeld derweil das Steuer übernahm, in jenen Stunden, wo die elektrische Lichtleitung ausging, so daß man den Kompaß und die übrigen Instrumente nicht mehr sehen konnte und blindlings im schwarzen Nebel über den Wassern kreiste, hat Hünefeld auch nur den Gedanken an Gott und König und Vaterland gehabt, der ihn, den Verantwortlichen für die drei Menschenleben, aufrecht erhielt. Der Erfolg ist seinem Glauben, der guten deutschen Maschine, den überragenden Fliegereigenschaften Köhls und dem tüchtigen Zugreifen Fitzmaurices zu verdanken. Aber auch der tragenden, hoffenden Liebe des Volkes daheim und der Tapferkeit der Mutter Hünefelds und der Frau Köhls, dieser prächtigen Schwäbin, die ihrem Gatten das Schönste depeschiert hat, was ein Lebenskamerad dem anderen sagen kann: "Ich habs gewußt. Dein Peterle."

Wir sind so arm an Begeisterung geworden, so zerfahren im Parteigezänk, daß der Auruf "Flaggen heraus!" nach Eintreffen der Nachricht von dem deutschen Siege über den Ozean in Berlin so gut wie gar nicht befolgt worden ist. In Amerika wird es anders sein. In Amerika wird man sich überschlagen vor Teilnahme, da wird die primitivste Mannestugend, die Tapferkeit, noch geschätzt, da spottet man auch noch nicht über einen Glaubenserfolg. Ein großer Deutscher hat einmal gesagt: "Nicht was der Mensch weiß, sondern was er glaubt, das ist er." Es mag klügere, weniger "phantastische" Männer bei uns geben, als diese Köhl und Hünefeld, aber kaum einen, der stärkeren Willen und stärkeren Glauben hat; und nur aus solchem Glauben kann Deutschland wieder auferstehen.
19. April 1928 (Donnerstag)


33

Klipp! Klapp! - Alles ist nur Tagessensation - Roberts am Kurfürstendamm - Wochenendausflüge zum Monde ? - Die kleine Umwelt - Beim Wahlfilmen.

"Da hast du einen Groschen, kannst ins Kaiserpanorama gehn!", hieß es vor vierzig Jahren. Da ging denn das Kind - wie heute zum Kino - zum Guckkasten in eine öffentliche Bude, setzte sich auf einen Stuhl und sah durch das "Berschpektif", um etwa eine Reise durch die Schweiz zu erleben. Klipp! Klapp! Alle zwei Sekunden in Vergrößerung ein neues buntes Stereoskopbild. Klipp! Klapp! Manchmal möchte man den unwahrscheinlich blauen See mit unwahrscheinlich grünen Bäumen daran vor den Schneebergen festhalten, weil auf dem See ein Boot mit Menschen ist, an denen man Interesse nimmt, aber es läßt sich nichts festhalten. Klipp! Klapp! Schon fällt das nächste Bild vor, statt der Gesichter der Ruderer sieht man Kühe vor sich, gelbweiße Simmenthaler, und dahinter eine Sennhütte. Gerade vertieft man sich in den Eingang der Hütte, da ist doch was, ist es ein Mensch, ist es eine Buttertonne, aber schon ist es wieder aus. Klipp! Klapp! Auf ein neues Bild zielen die Blicke. Wieder zwei Sekunden. Nachher wird das Kind zu Hause gefragt: "Na, wie war's ?"   "Och, sehr schön!" Aber Einzelheiten lassen sich nicht erzählen, alles ist so schnell verrauscht, jede Aufnahme, kaum in unserem Bewußtsein lebendig geworden, wurde von der nächsten zugedeckt und totgeschlagen.

Diese unanständige Eile, da kein Augenblick sich mehr sagen läßt: "Verweile doch, du bist so schön!", diese unanständige Eile, die den Menschen am Betrachten und innerlichen Verarbeiten verhindert, ist heute ganz allgemein geworden. Durch die Großstadt. Durch das Kino. Durch die Zeitung. Durch den Rundfunk. Es gibt keinen Verdauungsprozeß für geistige Nahrung mehr. Vom Schlund bis zum After fällt alles sozusagen glatt durch. Gestern hat man sich über irgend ein Massenunglück furchtbar aufgeregt, heute - hat man es vergessen. Man hat die Nachrichten und Bilder von des jungen Bismarck Hochzeit verschlungen, heute fragt jemand darnach, wie doch der Mädchenname seiner Frau war: schlagt uns tot, aber auf Ann Mari Tengbom kommen wir nicht. In Kanada stirbt der Flieger Bennett an Lungenentzündung, aber der Name sagt uns nichts mehr; erwähnten es nicht die Zeitungen, so wüßte kaum einer von uns, daß er der erste Nordpolüberflieger gewesen ist. Daher können uns ja auch in Wahlzeiten gewissenlose Politiker immer krumm und dumm reden. Kein alter Eindruck haftet mehr, jedem neuen sind wir Opfer. Ja, ist es nicht schrecklich, daß der Bürgerblock die Besitzenden ungeschoren läßt und nur auf Massensteuern, besonders indirekte, die Einnahmen des Reiches basiert ? Und nicht einer in der Versammlung findet sich, der dem roten Redner erwidern könnte: "Diese Steuern, auf Zucker, auf Tabak, auf Zündhölzer usw., habt Ihr ja selber unter dem Finanzminister Erzberger in Weimar bewilligt, Euer Sachverständiger, Genosse Keil, hat selber dafür gesprochen, ohne Euch wären sie gar nicht möglich geworden!" Vierundzwanzig Stunden lang hat der Berliner nur von dem "Eisernen Justav" gesprochen, das ist aber nun schon fast zwei Wochen her. Versuch' es, und frag' ihn heute darnach, den Mann auf der Straße, in der Kneipe. Da wird er bestenfalls antworten: "Eiserner Justav ? Seit wann ist Stresemann eisern ?" Er hat schon längst vergessen, daß es sich um den alten Droschkenkutscher aus Wannsee handelt, der mit seinem Schimmel eine Distanzfahrt nach Paris macht. Oder wer weiß noch etwas von den beiden Kellnern, die im Frack, nur mit Kamm und Zahnbürste in der Tasche, zu Fuß von Berlin nach Genf marschieren ? In meinem Zimmer sitzt, um sich Rats bei mir zu erholen, ein Oberleutnant a.D., ganz Sehne und Stahl, gehärtet in tausend Abenteuern, nach dem Kriege Baltikumer, dann Holzfäller im Harz, dann Kohlentrimmer auf einem Schiff von Hamburg bis Shanghai; von dieser Reise habe ich einen prachtvollen, 32 Schreibmaschinenseiten großen Bericht von ihm, druckreif, voll von Galgenhumor, erhalten. Ich wünschte, ein Verleger ließe sich das ganze Leben dieses Mannes so schildern und druckte es. Aber dieser Oberleutnant a.D., der im Sommer vielleicht als Gehilfe eines deutschen Baumeisters nach Charbin in der Mandschurei geht, möchte vorher noch etwas "Ausgefallenes" unternehmen; etwa nach Konstantinopel radeln und Balkanabenteuer berichten. Ich rede ab. Ist schon dagewesen. Gibt eine Notiz von wenigen Zeilen. Ist bestenfalls eine Eintagssensation. Findet sich inzwischen einer, der die Sache auf Rollschuhen oder barfuß macht, so ist mein Oberleutnant a.D. in demselben Augenblick erledigt. Der erste Graf als Eintänzer, die ersten Tischtelephone in einem Ballhaus, das erste Parkett mit Roulettenummern waren einst Tagesgespräch der Berliner. Heute sind das olle Kamellen, selbst in Mittelstädtchen schon dagewesen. Was nicht in zeitgeschichtlichen Büchern festgehalten und dann immer wieder von Besinnlichen gelesen wird, das vergilbt, wird Makulatur, geht in Rauch auf.

Augenblicklich wird man noch überall in Berlin gefragt: "Waren Sie schon bei Roberts ?" Roberts ist Amerika in Berlin, das neue amerikanische Restaurant am Kurfürstendamm, kurz vor der Fasanenstraße. Russen, Italiener, Chinesen haben überall bei uns ihre Speisehäuser, mit Balalaika und Spaghetti und Eßstäbchen weiß der Berliner Bescheid, aber die Amerikaner sind uns bisher noch nicht gekommen. Wenigstens nicht die nach der Prohibition; was sie vorher für unsere Gurgel getan haben, das, die mixed drinks, die Mischgetränke, gibt es doch schon seit Jahrzehnten in jeder europäischen Bar, die Flips und Coccktails und Sours und Fizzes, und unsere Mixer - in Berlin gibt es eine besondere Fachschule für sie - sind gewiegte Meister. Bei Roberts am Kurfürstendamm ist das auch nicht die Hauptsache. Die neue Offenbarung sind da die alkoholfreien Getränke und der maschinelle Betrieb. Um diesen vorwegzunehmen: etwas von ihm sieht man schon durch Schaufenster und Glastüren, vor denen das Publikum sich drängt, denn man muß anstehen, um zu Roberts hineinzukommen. Die ganze Küche ist im Schaufenster; die Deckel von den Töpfen braucht, wenn er sie abhebt, kein Koch zu halten, denn sie hängen an Ketten über Rollen, mit Gegengewicht, von der Decke herunter, also hat der Mann die Hände immer frei. Zeitersparnis, Zeitersparnis. Auch gibt es keine lange Kellnerrechnung auf Blockzetteln in diesem Lokal. Beim Eintritt kriegst du ein Zahlenkärtchen, bei Bestellung wird die entsprechende Ziffer geknipst wie die Fahrkarte vom Schaffner, beim Austritt zahlst du, das Kassenfräulein drückt auf ein paar Tasten, das Wechselgeld fliegt dir auf einer Blechrutsche automatisch in die Hand. Überall wird auf Tasten oder Knöpfe gedrückt. Da zischt Kaffee oder Bier oder Champagner oder Milch hervor oder da wirbelt ein elektrischer Quirl. Anderswo wird dir der Pfirsich Melba fertig serviert; hier siehst du die "gespaltene Banane", ein Wunderwerk von Eisfrüchten, vor dir entstehen. Von den unzähligen alkoholfreien Getränke ist, für 1½ Mark, ein Schoppen "Strawberry-Vanille-Malted Milk and Egg Frappee" ein wahres Gedicht, aber nicht nur erfrischend, sondern auch nahrhaft. Ein ulkiges Huhn steht da als Obermixer, mixt nicht nur seine Getränke, sondern auch Englisch, Französisch, Deutsch. Sieht so verschmitzt aus wie ein richtiger Tommy Atkins. Ist auch Soldat gewesen, zuletzt Kasinoordonnanz bei der Besatzung in Koblenz. Unermüdlich preist er seine Mischungen an: "Schennheit! Kuaft! Sonnschain!" Er selbst ist zwar nicht Schönheit, aber durchaus Kraft und Sonnenschein, immer unermüdlich, immer fröhlich, gelegentlich mit den beschwörenden Handbewegungen eines Zauberers, und wenn dann die Leute das Getränk mit dem Strohhalm saugen, sagt er strahlend: "Fabelhaft, nich ?" oder: "Kolossal, nich ?" Ich frage ihn, ob er ein Englishman sei. "No, Welshman!", sagt er. Also ein Walliser. Die und die Schotten wollen beileibe nicht mit den Engländern in einen Topf geworfen werden; das wäre ebenso hanebüchen, als wenn wir einen Urbayern fragten, ob er Preuße sei. Weise Leute sagen, Roberts sei kein Geschäft, sei nur eine Eintagssensation. Der Deutsche wolle "gemütlich" essen und trinken, womöglich nur mit den Seinen an einem Tisch, die schnelle Abfertigung bei Roberts passe ihm nicht, es sei ja auch scheußlich, wenn schon immer ein neuer Gast hinter einem auf den Sitzplatz warte. Das mag sein. Aber vorläufig gibt es noch zahllose Leute, die selbst nach dem Abendbrot noch hierher kommen, um für 2 Mark einen gehäuften Suppenteller voll der leckersten Vorgerichte einschließlich Hummersalat zu bekommen. Im Grunde ist dieses Lokal ja ganz unamerikanisch, weil man "alles" da bekommt, Braten vom Grill und einfache Bockwurst, Kaffee und Wein, Bargetränke und alkoholfreie Erfrischungen, - diese gibt es ja drüben in Amerika hauptsächlich nur in Bonbonläden und in Drogerien. Gewiß, es ist eine Hatz bei Roberts. Aber in einigen Monaten solcher Hatz ist er ein gemachter Mann und kann dann seinen Laden verkaufen; frühestens der Nachfolger wird es, wenn überhaupt, merken, daß Amerika in Berlin sich nicht akklimatisieren läßt.

Einstweilen macht die Eile dem Berliner noch Spaß. Er würde noch mehr lachen, wenn im Moment, wo er sein Getränk hingesetzt bekommt, ein elektrisches Signal aufleuchtete: "Prosit ex!" oder: "Rest weg!", und in der nächsten Minute eine Maschine ihn am Kragen packte und auf die Straße würfe. Er hat als Großstädter doch ein bißchen den Geschwindigkeitsfimmel. Nichts ist so erregend als neue Rekorde im Auto oder mit dem Flugzeug. Wer spricht noch von Rabindranath Tagore ? Aber in jeder Gesellschaft wird man heute, wenn man jemals am Knüttel in einem Flugzeug gesessen hat, darnach gefragt, ob man glaube, daß wir noch ein Weltraumschiff von zehntausend Kilometern Schnelligkeit in der Stunde, mit Wochenendausflügen nach dem Monde, zu unseren Lebzeiten erhielten. Mit dieser oder einer noch größeren Schnelligkeit: bestimmt. Aber nicht mit Ausflügen für uns. Es wird ein Geschoß bleiben, weiter nichts. Eine Rakete. Damit ein Geschoß sich nicht überschlägt, immer mit der Spitze voran fliegt, haben wir "Züge" in unseren Kanonen, die ihm die Rotation aufzwingen; dann unterliegt es dem Kreiselgesetz, dem Gesetz von der Erhaltung der Drehungsebene, wird kein Querschläger. Wir Menschen können aber nicht mit tausend oder mehr Touren in der Minute rotieren; da wären wir sehr bald zerquirlt. Also denkt man an Tragflächen, an Flossen, an Flügel beim Weltraumschiff. Nur bedürfen die doch eines tragenden Mediums, eben unserer Atmosphäre.. Bis zum Monde sind es, so glaube ich, habe ich als Kind in der Schule gelernt, 56 000 deutsche Meilen (wir rechneten damals, im Auslande, noch nicht mit Kilometern), und dazwischen ist keine tragende Luft, sondern nur dünnster Äther. Also selbst wenn man beim Abgeschossenwerden etwa eingeklappte Flügel wieder herausstecken könnte, würden sie einem nichts nutzen, man könnte sich nur immer weiter vorwärtsschießen, solange Raketenmunition da ist, könnte kein Richtunghalten gewährleisten und würde schließlich, von der Erde wieder angezogen, auf sie zustürzen. Die Reibung auf der rasenden Fahrt beim Wiedereintreten in die Erdatmosphäre aber würde, gelinde gesagt, Wärme erzeugen, genau so wie an den an sich nur aus kaltem Eisen bestehenden Meteoriten, die wir in Augustnächten zu uns fliegen sehen, den Sternschnuppen. Ich lege aber gar keinen Wert darauf, weißglühend als Sternschnuppe von einem Mondausflug heimzukehren.

Von einem Ritt durch die Felder und Wälder, einem Flug in höchstens Alpenhöhe, einer besinnlichen Meerfahrt auf einem Frachtdampfer, einem Spaziergang am See entlang, einer halben Stunde ruhigen Schwimmens haben wir jedenfalls mehr. Auch der Mikrokosmos ist der Wunder voll. Ein kleines Marienkäferchen kann mich mehr interessieren als der große Mond. Daß wir, aber immer hübsch in der Erdenluft, nicht im Weltraum, noch einmal Post, víelleicht durch Rakete befördern werden, glaube ich gern. In zwei Stunden von Irland nach Labrador, bitte sehr. Aber ich sehen mich gar nicht so sehr darnach. Wenn ich - schon dazu habe ich selten genug Zeit - eine halbe Stunde auf einer Bank im Tiergarten sitze und den Spatzen und den Kohlweißlingen zusehe, erlebe ich unter Umständen mehr. Genau so wie der Wanderer auf der Landstraße mehr erlebt als der Passagier im Schnellzug, an dem die Telegraphenpfosten im Veitstanz wie irrsinnig vorüberflirren.

Auch die technischen Wunder haben freilich ihr Gutes. Ich dachte, schon jetzt während dieser Reichstagswahl würden wir da allerhand Neues erleben, vor allem den Hörfilm, aber man ist damit nicht fertig geworden, bei keiner Partei. Der Hörfilm ist eine gleichzeitige, zwangsläufig miteinander verbundene Aufnahme von Bild und Wort. Da erscheint der Redner auf der Leinwand und spricht, wir können jeden Satz, den wir deutlich und in der persönlichen Klangfarbe hören, gleichzeitig von den Lippen ablesen, wir sehen jede Geste, wir erleben es, wie der Redner sich steigert, von dem eigenen Vortrag fortgerissen und emporgetragen wird, wir sind so "drin", daß wir es völlig vergessen, nicht einem Menschen von Fleisch und Blut gegenüber zu stehen. Welche Aussichten für kommende Wahlen! Welche Aussichten für die Kämpfe - der größten Wahlgelder gegeneinander! Jede Kneipe wird sich halbstundenweise an die Hörfilme der Parteien vermieten. Vorerst gibt es also nur getrennt Grammophonaufnahmen und Filmaufnahmen, um auch allen den Wählern auf den Leib zu rücken, die nicht in die Volksversammlungen gehen. Jede Partei, am meisten die sozialdemokratische, hat diesmal ihre Führer und Hauptagitatoren so agieren lassen. Die deutschnationale bringt auf doppelseitigen Platten immer eine Ansprache eines Politikers und einen alten Militärmarsch. Am schwersten war es. Hugenberg dazu heranzukriegen; der ist nie für das Theatralische gewesen. Aber seine Platte ist fast die beste geworden. Auch mit ihren Spielfilmen sind fast alle Parteien jetzt herausgekommen und bieten sie ihren Landesvereinen und Ortsgruppen an. Der sozialdemokratische hat so ruppig-hetzerische Bilder, auch beleidigend für Hindenburg, daß die Filmzensur eingriff. Da bringt er die beanstandeten Photographien jetzt feststehend, unbewegt; für solche projizierten Diapositive gibt es keine Zensur. Ich habe mir in den letzten Wochen manches Gekurbel dieser Art in den großen Filmquartieren angesehen, in kalter Nacht bei Schneegeriesel neulich noch einen Barrikadenkampf der Spartakisten. Unter den Matrosen, Zivilisten, Rotfrontlern stand da auch, mitschießend, ein junges Weib, eine sehr echte wirkliche Russin. Sie rief nachher nicht: "Es lebe die Weltrevolution!", sondern: "Wo ist die Kasse, bitte ?", denn sie wollte ihr Spielhonorar und nachher nach Hause. Oben, mit wollenem Halstuch und so, war sie ganz Proletarierin, aber unten, mit seidenen Strümpfen und blonden Halbschuhen, zum mindesten Edelkommunistin. Großaufnahme: sie rollt die Augen, sie zielt und schießt, aber sie bibbert dabei am ganzen Leibe. Das arme Ding friert. Ich pumpe ihr während der Pause meine warmen Handschuhe. "Merci bien, monsieur!" Inzwischen kommt ein Lastauto voll staatstreuer Soldaten im Stahlhelm angebraust, inzwischen stürmen Kommunisten an einer anderen Stelle die Straße entlang. "Was kosten die beiden Laternen da ?", fragt der Regisseur den Beleuchtungsmeister. "Das Stück 15 Mark!" Gut, das geht noch; also soll der eine lange Matrose beim Vorstürmen sie mit dem Gewehr zerhauen. Klirr! Die Splitter fliegen. Man duckt sich realistisch. Ein Stück Scheibe hat dem Mann den Handrücken aufgerissen; der diensthabende Sanitätsgehilfe der Filmgesellschaft verbindet ihn. Das macht nichts. Alles ist mit Leib und Seele dabei. Sozialisten spielen Soldaten. Deutschnationale spielen Kommunisten. Einerlei. Man ist das, was man auf der Leinwand sein soll. Nachher wird das Theater Hunderttausende begeistern oder erschüttern. Die grellen Scheinwerfer arbeiten die ganze Nacht. Nur grobe Effekte wirken heute auf das mündige Volk der Wähler.
26. April 1928 (Donnerstag)



Glossen 28 - 30

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© Karlheinz Everts