"Rumpelstilzchen"

Klamauk muß sein !
(Jahrgangsband 1927/28)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1928

Glossen 28 - 30
22. März bis 4. April 1928


28

My house is my castle - Das unentrinnbare Telephon - Schwimmclub geistig hochstehender Männer - "No witches" - Hallenser Kunst in Berlin - "Aus dem Leben meiner Tiere" - Nicht auf Reichsliste.

Mein Haus ist meine Burg, sagt der Engländer. Das ist nicht etwa eine Redensart aus dem Mittelalter, die heute nicht mehr berechtigt wäre; nein, die Burg ist sicherer denn je. Im 18. Jahrhundert konnte ein säumiger Zahler noch fortgeschleppt und in den Schuldturm geworfen werden. Heute wird es als Hausfriedensbruch betrachtet, wenn ein Gerichtsvollzieher mit Gewalt eindringt. Das Heim ist heilig. Wenn der Beamte nicht gerade, während der Wohnungsinhaber die Tür öffnet, schnell einen Fuß hineinstellt, kann er nichts machen. Es gibt Leute, die lassen ihn tagelang lauern; sie machen die Tür überhaupt nicht auf, nehmen ihren Proviant durchs Fenster. Seine Burg verläßt man selten. Das Ausgehen, im Café sitzen, im Wirtshaus gesellig sein, die Tanzdiele besuchen, am Stammtisch plaudern, kennt der Engländer so gut wie gar nicht. Haus, Familie, Garten: punktum. Und niemand bricht unberufen in den Frieden ein. Den Nachbarn oder den Schwellenputzer oder den Briefträger erkennt man am verschiedenen Anschlag des Türklopfers.

Bei uns in Deutschland ist das häusliche Herrentum durch die Verfassung verbrieft. Wie auch das Postgeheimnis und andere schöne Dinge, um die man sich nachher doch nicht gekümmert hat. Aber selbst wenn man immer nach der Verfassung verführe: un der Mauer um unsere Burg klafft doch eine Bresche; sie heißt Fernsprecher und ermöglichst jeden feindlichen Einbruch.

Wenn ein wildfremder Mensch mich auf der Straße anspricht, nicht etwa nur um Feuer für seine Zigarre, das ihm gern gewährt sei, sondern mich gleich nach Hunderterlei ausfragt, so kann ich natürlich, während ich ruhig weitergehe, durch mein Verhalten unnahbar werden. Wer mich aber am Telephon anruft, den sehe ich nicht, von dem weiß ich nicht, ob er wildfremd ist. Die Tür könnte das Dienstmädchen mit der konventionellen Ausrede zuklappen, der Herr sei nicht zu Hause, und der Einbruch würde also nur einer Visitenkarte glücken. Aber wenn der Fernsprecher, der mich aus Berufsgründen in alle Zimmer begleitet, auch nachts neben dem Bett angesteckt wird, einmal losschrillt, dann bin ich geliefert. Da ruft mich am Mittwoch Vormittag ein Herr an, der gerade in Berlin angekommen ist. Ob ich der und der sei, fragt er. Ich frage zurück, wer er denn sei. Er möchte mich sprechen. In welcher Angelegenheit ? Das lasse sich telephonisch nicht sagen. Vielleicht doch, erkläre ich. Zu einer längeren Zwiesprache hätte ich vor 11 Uhr abends keine Zeit, bis dahin arbeitete ich durch. Am Donnerstag sei es erst recht unmöglich, da müsse ich neben der übrigen Arbeit noch rumpeln. Vielleicht Freitag Vormittag ? Nein, sagt er, da sei er nicht mehr in Berlin. Schön, dann bitte wenigstens telephonisch das Notwendigste, ich habe gerade noch 7 Minuten Zeit, dann kommt ein Herr zu einer Besprechung her. Keine Antwort. Der Fremdling hat wütend den Hörer auf die Gabel geworfen. Es vergeht kaum ein Tag, wo nicht irgend ein aus dem Reiche Hergereister anruft, der das, was er auf dem Herzen hat, aber doch nicht der Drahtstrippe anvertrauen will. Wozu wohne ich eigentlich in Berlin ? Doch nur zum Angerufenwerden; es ist eine Frechheit, wenn ich sauer reagiere. Mitunter bis zu 10 Leute täglich erwarten von mir, daß ich ("bei Ihren Beziehungen müßte es doch ein Leichtes sein") ihnen eine Anstellung irgend welcher Art, als Dramaturg, als kaufmännischer Direktor, als Schriftleiter besorge. Ich bin selbst Angestellter und freier Schriftsteller, ich habe nichts zu vergeben. Aber ich muß mich sprechen lassen. Dafür bin ich doch Berliner. Viele Leser halten mich für ihren Kommissionär. Ich soll (das wiederholt sich täglich) den Zutritt in ein Filmatelier während einer Aufnahme vermitteln. Ich soll Altertümer verkaufen, Theaterstücke für Liebhaber aussuchen, Reichstagskarten zuschicken, leichtsinnige Studenten in meinen festigenden Bereich ziehen, Audienzen beim Finanzminister erwirken, Konkurrenten eines Unternehmens angreifen, junge Mütter mit Säugling ungefährdet durch Berlin geleiten. Es gibt an die zweitausend solcher Zumutungen im Jahre, von über hundert Arten. Briefe kann man beiseite legen oder in den Papierkorb werfen. Dem Fernsprecher aber ist man rettungslos ausgeliefert, wenn man als Berliner nicht so viel Geld übrig hat, um sich eine Sekretärin eigens zum Abwimmeln der Anklingler zu halten. Ich lasse mir demnächst vom Amt einen Anschluß mit neuer Nummer geben und den nicht mehr ins Telephonbuch aufnehmen. Dann bin ich für die meisten Berlinpilger unauffindbar.

Eigentlich wollte ich heute in den "Schwimmklub geistig hochstehender Männer" gehen, um meinen Lesern etwas davon zu erzählen. Nur keine Bange: es wird da nicht geschwommen; man sitzt mit Freksa und Bulcke und Ewers und allerlei Künstlern mittags bei Kempinski und befeuchtet sich nur innerlich. Aber ich habe absagen müssen, denn eine geschlagene Stunde lang bin ich einen Herrn nicht losgeworden, der mich durchaus - ausgerechnet mich - als literarischen Wegbereiter einer neuen "national-republikanischen" Partei gewinnen wollte. Auch würde ich ("bei Ihren Beziehungen müßte es doch ein Leichtes sein") die Geschichte doch wohl mit einigen 100 000 Mark finanzieren. Außerdem ist der Jüngste plötzlich ins Haus geschneit, auf ein paar Tage, bevor er für Jahre in die Ferne zieht. Da soll das Mädchen flink noch was einholen, ein Kotelett vielleicht, denn der Junge ist ganz unvermutet gekommen. Das Mädchen kann aber nicht weg; es muß immer wieder zur Tür laufen, denn es kommen ausgerechnet heute immer wieder Leute mit "wichtigen" Anliegen; es geht wie aus dem Maschinengewehr. Am kommenden Sonntag soll es ein kleines Abschiedsfest für den Herrn Sohn geben, der das letzte halbe Jahr in Warnemünde sich des Sportfliegens befleißigt hat. Also ein paar junge Mädchen müssen wir, neben Schulkameraden, wohl einladen. Wir fragen - denn Briefe schreibt der Bengel doch nicht - vor einigen Tagen telegraphisch bei ihm in Warnemünde an: "Which girls ?" Die Antwort lautet: "No witches!" Über das nette Wortspiel, das ins Deutsche ("Welche Mädels ?"   "Keine Hexen!") nicht übertragbar ist, will ich mich gerade zu freuen beginnen, aber da rasselt wieder natürlich der verdammte Fernsprecher.

Es ist manchmal zum Haarausraufen in dieser Asphaltwüste mit ihrem unholden Gelärm. Aber gelegentlich kommt dafür eine Botschaft des Friedens und der Freude irgend woher aus dem Reiche, aus nicht ganz so großen Städten. Mit Strawinkij und allerlei Neuntönern werden wir in der Reichshauptstadt gequält, alles Übermoderne will hier sein Visum erhalten. Aber da kommt eines Tages die Robert-Franz-Singakademie aus Halle a.S. her, Solisten, Männerchor, Frauenchor, Knabenchor, Orchester, und entführt uns einfach in die Gefilde der Seligen durch eine wundervolle Erstaufführung des von Hermann Sulir komponierten "Cantico delle Creature", der Loblieder des Franciscus von Assisi. So etwas hat Berlin nicht fertiggekriegt. Die verdorbene zünftige Kritik aber hat kein Organ mehr dafür in der immer mehr aufs Atonale eingeschworenen Hauptstadt; nur zwei unter zwanzig Blättern überhaupt besprechen die Großtat der Hallenser, die, hätten wir andere Zeiten, mit diesem Cantico wie ehedem die Meininger mit ihren klassischen Schauspielen eine Triumphreise durch Deutschland machen könnten.

Und nun haben wir wieder etwas ganz ausgefallen Liebes erleben dürfen, das auch von außerhalb zu uns gekommen ist. Ein Vortrag mit 100 Lichtbildern "Aus dem Leben meiner Tiere" von Fräulein Käthe Hecht aus Stralsund vereint im Hörsaal des Völkerkunde-Museums die Koryphäen der Photographie und die Koryphäen der Zoologie und mit ihnen Hunderte von Laien, die von der Poesie des Ganzen angezogen sind. Eine gütige Dame in schon gereiften Jahren führt uns in ihre Wunderwelt ein. Sie hat von Kind auf die Tiere lieb gehabt, als sie noch auf dem früheren Gute der Eltern in Vorpommern herumsprang. Sie hat als fühlende Frau sich tiefer und inniger in die Seele der Kreaturen versenkt als etwa der Wissenschaftler Brehm. Nun lebt sie seit zwanzig Jahren schon in der Stadt, in der Villa am Knipperdamm Nr. 6 in Stralsund, nicht mehr vermögend, als Berufsphotographin und als Vortragsreisende; und lebt dort - in häuslicher Gemeinschaft mit ihren Tieren. Mit Rehen, Hunden, Katzen, Eulen, Falken, Störchen, Eichhörnchen, Wieseln und allerlei sonstigen Geschöpfen. Die Rehe (ein Bock, eine Ricke, ein Kitzchen, letzteres im Hause geboren) haben über die Veranda weg freien Auslauf in 500 Quadratmetern eingefriedetes Gartenland, haben sich aber wie die Barsois an die warme Stube gewöhnt und liegen, auch wenn Hechts Besuch haben, friedlich auf dem Teppich, schauen mit ihren guten Augen auf die gütigen Menschen, nehmen auch wohl mal ein Stückchen Schokolade aus der Hand und fühlen sich ganz als gleichberechtigte Hausgenossen. Die Jäger irren sich also wie die Zoologen, wenn sie sagen, dieses Tier könne nur in freier Wildbahn oder in Hegeland draußen gedeihen. Auch Grimbart, der Dachs, zeigt sich nicht als der mürrische Gesell, als der selbstsüchtige Einsiedler, sondern schlägt vergnügt seine Purzelbäume, schmiegt sich an, ist zärtlich. Die Eulen haben sich daran gewöhnt, nur bei Nacht zu schlafen und sehen tagsüber mit offenen Augen in der Küche zu. Die Störche spielen, als seien sie aus dem Märchen herausgeschnitten, mit kleinen Menschenbabies. Eine Dohle ist mit Geduld, mit Liebe, mit Erkenntnis ihrer geistigen Fähigkeiten dazu gebracht worden, Buschs Hans Huckebein zu spielen, nicht als gedrilltes Werkzeug, sondern als bewußter, durch den eigenen Humor erfreuter Darsteller. Fräulein Käthe Hecht hat nicht nur zu Hause, sondern in aller Welt die Tiere studiert, auch auf der Farm ihres Bruders in Pangani in Deutschostafrika. Sie bringt auch Bilder aus der freien Natur, von Hornissen, wie sie allmählich ihren Bau errichten, aus dem Liebesleben der Weinbergschnecken, die buchstäblich kleine Cupido-Pfeile aufeinander schießen, von der Ringelnatter mit goldenem Krönlein, von der roten Waldmaus in einem Bienenkorb, wie sie dort ihre Kleinen säugt. Sie wird allen Tieren vertraut. Keines fürchtet sich vor ihr. Jedes eröffnet ihr das ganze Herz. Schon der einleitende kulturhistorische Vortrag der Dame ist hochinteressant, die Plauderei über ihre lebendigen Gespielen dann aus dem Tierreich aber ist lautere Poesie, ein Entzücken nicht nur für die Kinderwelt, sondern ein ganzes Buch der Besinnlichkeit auch für den reifen Menschen. Uns fehlt die Naturnähe unserer Altvorderen, besonders uns in der Stadt. Hier werden wir von einer behutsamen Frauenhand wieder mitten in die Gottesschöpfung hineingeführt; vieles ist drollig, manches ergreifend, alles aber so ganz anders, als wir es aus dem trockenen Unterricht unserer Kinderjahre kennen: eine Fee zeigt uns Märchenland, wir vergessen alles um uns her. Außer jetzt in Berlin hat Fräulein Käthe Hecht vor Jahren auch in Wiesbaden, in verschiedenen sächsischen Städten und anderswo auf Einladung hin ihre Vorträge gehalten. Wenn ich Kultusminister wäre, wüßte ich schon, was ich täte; ich könnte mit ihr im Auslande, in allen Erdteilen, stärker für bei aller Wissenschaftlichkeit deutsches Gemüt werben, als es sonstige Propaganda vermag.

Da schrillt das Telephon schon wieder. Zwei Damen aus einer preußischen Provinz möchten das unerhörte Ereignis mit mir besprechen, daß man sie nicht auf Reichsliste für die bevorstehenden Parlamentswahlen genommen habe. Alle Welt schimpoft auf den Parlamentarismus, aber alle Welt möchte hinein. Gott sei Dank, ich nicht. Ich erstrebe kein Mandat, kein Amt, kein Vermögen, ich bin mit meinem Handwerk und mit meinem Einkommen zufrieden. Und mit dem gelegentlichen Schmunzeln, das die närrische Welt da draußen mir ablockt.
22. März 1928 (Donnerstag)


29

Sehnsucht nach Orden - Schlank oder mollig - Zigarren-Bons - Devoli - Wie Wahlfilme entstehen - Langs "Spione" - Speise umsonst.

Was ist stärker als die Weimarer Verfassung des neudeutschen Reiches ? Die Eitelkeit! In der Verfassung sind die deutschen Orden und Ehrenzeichen abgeschafft, wird das Annehmen oder gar Tragen ausländischer verboten. Unmöglich! Um wenigstens an einer Stelle die Inschrift "Republik Preußen" anbringen zu können, schuf man eine neue Rettungsmedaille, die verliehen und genommen wird. Und das Reich gibt in mehreren Klassen das Rote Kreuz heraus, das Staatssekretär Meißner und andere Würdenträger um den Hals tragen. Schon in Wemar selbst, wo man zielbewußt sich äußerster republikanischer Schlichtheit befleißigte, erschien als einziger Dekorierter der während des Krieges reklamierte Herr Erzberger mit dem Eisernen Kreuz am weißschwarzen Bande. Jetzt regt sich die rote und rötliche Presse darüber auf, daß der Reichspräsident und die Minister den ihnen nachträglich zugegangenen afghanischen Orden nicht brüsk zurückgesandt haben. Aber, siehe da, auch Demokraten und Sozialdmokraten haben ihn angenommen! Derc Staatssekretär Weißmann besitzt, in der Hoffnung auf bessere Zeiten, wo das Anlegen dieses Schmuckes wieder offiziell erlaubt ist, sogar fünf ausländische Orden, Ebert ließ sich die erste Klasse der Sonne von Peru gefallen und Stresemann trug schon vor drei Jahren öffentlich den Stern von Abessinien. Wo bleibt nun die starre Verbindlichkeit der Weimarer Verfassung für republikanische Gemüter ? Durchlöchert ist sie! Geschändet ist sie durch die nicht auszurottende Eitelkeit der Aufstrebenden männlichen Geschlechts. "Du konntest einst so tapfer schmälen und bist nun selbst der Sünde bloß", so ungefähr muß Gretchen in Goethes Faust es sich sagen lassen. Gretchens Augenlust haftete zuerst an dem kostbaren Geschmeide. Unsere heutigen Republikaner aber, die so oft das "Heldenblech" verspottet haben, vergaffen sich in die exotischesten Orden.

Schwachheit, dein Name ist Mann. Und da wagen es diese Männer noch, den Frauen Eitelkeit vorzuwerfen ? Über seidene Strümpfe zu spotten, über den Punktroller, über das Tanztraining, über die Puderquaste, über die Parafinkur, über das Haarfärben ? Jetzt höhnen sie wieder über die "Linie" der Frauen, nachdem sie sie jahrelang gepriesen haben. Nun soll die glücklich zaundürre Gemahlin wieder mollig werden. Auf eine Rundfrage hin hat Max Pallenberg sich am besten aus der Affäre gezogen, indem er erklärte: "Ich habe gern - eine schöne Linie mit etwas Rundung!" Und der Revuedirektor Haller, der Fachmann für weibliche Reize, fügt hinzu: "Schlank, natürlich schlank, aber daß man doch recht deutlich erkennen soll, bitte, ob es eine Frau ist oder ein Mann!" Da kann man als liebende Frau wirklich sich an den Kopf fassen. Was soll nun sein ? Sind Mehlspeisen und Schlagsahne wieder erlaubt ? Vier Jahre lang war das angebliche Ideal eines weiblichen Körpers der Haubenstock, von dem vorn und hinten das Kleid schnurgerade ohne jede auch nur angedeutete Schwellung herunterhängt. Auf einmal aber machen die Männer wieder Stielaugen, wenn sie auch nur im Film etwas Knospendes sehen.

Die frühere Abgeordnete Schirmacher, von der alles Menschlich-Allzumenschliche abgefallen war, weil sie nur noch die eifervolle Arbeit für das geknechtete Vaterland kannte, hatte den schärfsten Blick für Männerschwächen. Mich faßte sie an meinem empfindlichsten Punkte. "Daß doch unsere angeblich männlichsten Männer immer einen Lutsch im Munde haben müssen!", sagte sie eisig und deutete auf die von mir unzertrennliche Zigarre. In ihrer Gegenwart habe ich mir dann das Rauchen verkniffen; man soll den Kleinen kein Ärgernis geben, steht schon in der Bibel. Aber wenn es schon Kriegerdenkmäler für das Pferd gibt, das Pferd schlechthin, nicht etwa den Schecken des Stallmeisters v.Froben von Fehrbellin oder den Trompeterschimmel von Vionville-Mars-la-Tour, so könnte man auch der Zigarre und der Pfeife ein Denkmal errichten, denn sie hat Totmatte wach erhalten und Halbverschmachtete wieder marschfähig gemacht und Verwundeten erneut Lebenshoffnung gegeben. Fürst Bismarck erzählte darüber eine bezeichnende Geschichte, wie er bei Königgrätz durch seine letzte Zigarre einen armen Musketier wieder aufgerichtet hatte. Meine eigene"letzte" hatte ich nur einmal im Kriege; und dann einen Tag lang, einen einzigen Tag, keine. Sonst war ich dank einer exemplarisch vernünftigen Frau daheim und dank verständigen Intendanten im Felde nie ohne. Während eines achttägigen Trommelfeuers kroch einmal mein Bursche unter tausendfacher Lebensgefahr durch das zerhackte und unaufhörlich von Stahlsplittern zersiebte Gelände nach vorn zu mir und brachte mir und den Kameraden ein Kistchen mit hundert Stück Großformat. Wenn es im Gebrüll der berstenden Granaten möglich gewesen wäre, hätte ich eine Ode auf ihn gesungen; so konnte ich ihn nur wortlos umarmen. In den jetzigen unkriegerischen Zeitläuften aber, wo man nicht mehr den ganzen Körperm hergibt, nur täglich ein paar Gramm Gehirnschmalz, ist einem die Zigarre erst recht wertvoll, denn sie erhält die ganze Gedankenwerkstatt in Ordnung. Seit die jungen Mädchen von heute auch so viel rauchen, nicht weil es ihnen schmeckt, oder weil sie Beflügelung der Gedanken brauchen, sondern weil sie es für schick halten und gegen die "zweierlei Moral" aufbegehren, ist man ja uns männlichen Rauchern gegenüber etwas milder geworden. Die letzte Versöhnung haben, inn ihrem Lande, die Amerikaner feriggebracht, und das sollten wir nachmachen. In Newyork gibt es zwei riesige Tabaktrusts mit vielen Tausenden von Läden, die jedem Zigarrenkäufer Bons für die Frau Gemahlin einhändigen. In speziell für die Einlösung bestimmten Warenhäusern können die Damen sich dann Reisenecessaires, silberne Löffel, seidene Strümpfe, Ledertaschen und andere Geschenke gratis aussuchen, werden also an dem starken Zigarrenverbrauch des Mannes - und an guten, teuren Sorten - direkt interessiert.

Wir sind immer noch nicht amerikanisch genug, sagen viele Leute. Vor allem, weil wir im Wirtschaftsleben jede Initiative ersticken, den Sparsinn und die Kapitalbildung verhindern, ein Unternehmen und einen Stand nach dem anderen sozialisieren. Nur jetzt vor den Wahlen tun wir wieder einmal so, als wenn wir amerikanisch würden und als sei dabei - ich lächele wehmütig - die Rechte kapitalistisch führend. Seit Monaten wird die Schwindelnachricht verbreitet, Hugenberg - selbst wenn er es wollte, er hätte nicht das Geld dazu - werde 400 Wahlautos mit Lautsprecher und Film durch die Lande rasen lassen. Noch dazu Ford-Autos, also ausländische, wo doch die ganze Lebensarbeit dieses Mannes dem Starkmachen der heimischen Produktion gilt. Das Tröpfchen Wahrheit in diesem Faß voll Schwindel war die Devoli (Deutsch Volks-Lichtspielgesellschaft) in Mitteldeutschland, die keinerlei politische Ziele verfolgte, sondern Kulturfilme in die Dörfer bringen wollte. Sie ist jetzt bankerott, und Hugenberg hatte mit ihr nie das Geringste zu schaffen. Draußen im Reich und auch im gefälligen Auslande, in Wien, wird die Tatarennachricht immer wieder aufgewärmt, während in Berlin nur noch die sozialistische Presse "Haltet den Dieb!" ruft. Die Roten selber haben inzwischen in aller Stille einen ganz tollen Wahlfilm gedreht und lassen ihn schon in ihren Versammlungen laufen; sie haben ja das Geld dazu dank der Opferwilligkeit der Arbeiter und dank den Zuwendungen der durch sie begönnerten und geschützten Kapital-Internationale.

Selbstverständlich sind auch die Demokraten nicht faul. Sie hatten schon lange vor Weihnachten, gerade damals, als zuerst die Ullsteiner den Devoli-Schwindel brachten, die richtige Witterung. Im demokratischen Klub in Berlin wurde die Sache alle Tage schwer befrühstückt, Herr Fischbeck bemühte sich - bei manchen Großbanken freilich vergeblich - um das nötige Kapital, und eines Tages erschien beim Becker-Sachs-Film ein anscheinend betrübend mangelhaft getaufter feister Herr und bot ihm das Geschäft an. "Alle Gewalt geht vom Volke aus" sollte das Ding heißen und, ohne plump agressiv zu sein, die Rechte lächerlich und verächtlich machen und dem Volke unauffällig die Lehre beibringen: wir leben nun einmal in der Republik, wir leben auch von ihr, wir müssen Geschäfte machen, also müssen wir auch für die republikanischen Parteien stimmen. Es sollte ein Reichsbannerfilm sein; die Statisterie gebe es also umsonst. Sehr gut. Was er für die Vermittelung dieses Geschäfts haben wolle, wurde der Herr nun verständnisinnig gefragt. Kein Geld, antwortete er. Nur - eine Lebensstellung für seinen Schwiegersohn. Oder vielmehr für den jungen Mann, der daraufhin sein Schwiegersohn werden wolle. Die Tochter habe sich leider mit einem Chinesen eingelassen, sie läge nach einem ärztlichen Eingriff zur Zeit in der Klinik, aber der junge Mann werde sie heiraten, wenn er in der Filmbranche untergebracht würde. Es ist nett, wenn man gelegentlich so hinter die Kulissen sehen kann und erfährt, wie republikanische Wahlfilme entstehen.

Vor den Kulissen haben wir jetzt den Großfilm "Spione" der Ufa von Fritz Lang erlebt. Weil die Ufa vor einem Jahr unter nationale Kontrolle gekommen ist, wird ihre Erzeugung - wir kennen keine Deutschen mehr, wir kennen nur noch Parteien - von den Ullsteinern natürlich nach Strich und Faden verrissen. Die Voß schreibt wörlich: "Kinder, ist das ein Mumpitz! Da steckt ja nichts, aber auch gar nichts dahinter! Die ganze Filmerei wird kompromittiert!" Es steckt aber doch etwas dahinter, nämlich vielleicht ein großes Auslandsgeschäft für den deutschen Film. In der ganzen Welt will man Spannendes, Aufregendes, Unerhörtes mit einem kleinen Schuß Poesie und Sentimentalität. Nach diesem Rezept arbeiten die Amerikaner, aber, wenn man Fritz Langs "Spione" zum Vergleich heranzieht, mit einer im Grunde armseligen Phantasie und einer eintönigen sich immer wiederholenden Technik. Trotzdem läuft alles, in fünf Erdteilen, in ihre Filme, weil sie atemlos sind. Sie verlangen kein Nachdenken, sie haben keine Kultur, aber das ist ja so gleichgültig; auch der Reichskanzler Fürst Bismarck las, um sich zu entspannen, sein Lebtag gern Detektivgeschichten. Hier aber in dem Werk der Ufa ist der Detektivroman, der Verbrecherroman, der Kolportageroman noch übergipfelt und das sensationelle wie das idyllische Erleben in dem Stück photographisch so gemeistert, wie es noch kein amerikanischer Regisseur zuwege gebracht hat. Nicht umsonst ist Fritz Lang erstens Maler von Herkunft und zweitens in Weltreisen für Lichtwirkung geschult. Der Teufel in dem Film, der Chef des Spionagebureaus, in charakteristischer Bolschewikenmaske von Klein-Rogge dargestellt, erregt Grauen, die Lichtgestalten, darunter als lichteste der neuentdeckte Filmstar Gerda Maurus, machen uns das Herz wieder froh, die sich überstürzenden Ereignisse bis zur Vergasung der Spionenzentrale, dem Harakiri des japanischen Diplomaten, dem fürchterlichen Eisenbahnattentat halten uns ständig im Bann. Thea v.Harbou, Langs Gattin, hat nach zeitgeschichtlichen Motiven die romanhafte Unterlage geschrieben. Der Einbruch der englischen Polizei in das Londoner Sowjetgebäude, die Vorkriegsaffäre des österreichischen Oberst Redl und der in Locarno gestohlene Geheimvertrag - dieses nur ein Zeitungsfeuilleton - gaben ihr die Anregung. Fritz Lang aber hat das, was in amerikanischen Händen ein Reißer für die Vorstadt geworden wäre, durch seine große Kunst geadelt. Die Spione werden vermutlich ebenso ihren Weg machen wie Mabuse, Müder Tod, Nibelungen.

Das Heldische des Mannes und die Liebe der Frau sind natürlich Angelpunkte auch dieses neuen Films. Sonst würden ja die Frauen nicht hingehen; und sie stellen doch neun Zehntel aller Kinobesucher. Überhaupt neun Zehntel der bummelnden Menschheit. Das braucht ihr nicht einmal immer viel Geld zu kosten. Die gut angezogene Dame von Berlin W trinkt morgens im Seidenhaus von Michels oder im Schuhhaus von Leiser ihren Kaffee mit Gebäck umsonst, bekommt bei einem Besuch des Modehauses Gerstel gegen Mittag ebenso unberechnet etliche Sandwiches, darf nachmittags in der Konfiserie Hamann vom sogenannten Besuchsteller ebenso Konfekt und Ananassaft entnehmen und gegen Abend gratis im Weinhaus Kempinski ein Glas Sherry zur Probe. Überall, ohne etwas zu kaufen. Einige Jahre vor dem Kriege hatte Rudolf Hertzog zuerst die Sitte eingeführt, daß den Damen, auch wenn sie nicht Käuferinnen waren, Kaffee und Kuchen geboten wurde, was er später wegen ständiger Überfüllung des Lokals aufgeben mußte. Jetzt kann man sich schon an vielen Stellen kostenlos durchs Leben schleckern. Mitunter sogar durch ein gutes Diner. Schreibt da eine Dame an Kempinski: "Gestern Abend aß ich bei Ihnen gebackene Austern mit Weinkraut, Mignon-Filets mit grünen Bohnen, einen Pfirsich Melba und trank dazu eine halbe Johannisberger, Kostenpunkt 17.20 Mark; aber zuhause wurde mir ganz schlecht, und ich möchte gern wissen, was von dem Genossenen verdorben war." Und bekommt postwendend die Antwort: "In unserem Hause werden nur die besten Qualitäten verarbeitet, es sind noch nie Klagen über Verdorbenes gekommen, wir können uns den Vorfall auch gar nicht erklären, bedauern ihn jedenfalls sehr und gestatten uns, Ihnen wenigstens Ihre Auslagen mit 17.20 Mark einliegend zu ersetzen."
29. März 1928 (Donnerstag)


30

Sommereisbahn - Eine deutsche Erfindung - Nach dem Barmatprozeß - Beamtenschub - Forstwissenschaft und Verfassungsfeier - Schwüle Vorträge - Nacktkultur im Wellenbad - Knif.

Eine Dame steigt am vorigen Sonntag an der Haltestelle Hasenheide der Untergrundbahn aus, weil sie nicht weiß, daß die "Neue Welt, noch eine Strecke weiter liegt, an der Haltestelle Hermannplatz. Sie sieht sich unschlüssig um, geht aufs Geratewohl einige hundert Schritte die Hasenheide, diese breiteste Straße des Berliner Südostens, entlang und fragt schließlich einen Schutzmann, wo die neueröffnete und in den Zeitungen angezeigte Sommereisbahn sei. Der Schutzmann lacht und sagt: "Sie wollen mich wohl verkohlen, junge Frau ? Sommereisbahn, Sommereisbahn! Natürlich, heute ist ja der erste April." Darauf zieht die Dame eine kleine Zeitungsanzeige aus ihrem Täschchen. Wirklich, da steht es ganz ernsthaft, daß in der "Neuen Welt", dem bekannten Riesen-Duliöh-Lokal, die Eisbahn eröffnet sei.

Die Eisbahn im Sportpalast ist seit einigen Wochen schon geschlossen, weil die Gefrierkosten in der warmen Jahreszeit, wenn man den dann schwächeren Besuch dagegenhält, zu hoch sind. Sechstagerennen, Preisreiten, Boxmeisterkampf, das hat inzwischen das Publikum dort angezogen. In der "Neuen Welt", in dem größten der kolossalen vier Säle, liegt aber auch kein gefrorenes Wasser, das wir Eis nennen, sondern, etwa 6 Millimeter dick, eine eisartig aussehende Schicht. Es ist irgend eine chemische Sache, Geheimnis des Erfinders, des deutschen Ingenieurs Gurth. Ich möchte gern eine qualitative Analyse vornehmen, ich nehme ein "Eissplitterchen" auf und lecke daran: es schmeckt nach Natron. Es ist gar nicht kalt. Angeblich schmilzt diese Masse erst bei 70 Grad Wärme, man könnte also auch in den Tropen solche deutschen Sommereisbahnen errichten. Als ich das erste Mal morgens hier bin, laufen wahrhaftig einige Sportgrößen da herum, machen Achten, machen Doppeldreier auf diesem Milchglassee, auf dieser Salzpfanne. Da erwacht die große Lust; im Nu habe ich die Promenadenschuhe abgestreift und die Schlittschustiefel an. Auch im Sportpalast war es morgens immer am schönsten gewesen, da brauchte man nur eine halbe Stunde kräftig auszugreifen, und der stärkste Kater war verdampft, die beginnende Grippe in die Flucht geschlagen, das keimende Fettpolster hintangehalten. Hier in der "Neuen Welt" aber bezahle ich schon das erste Ausgreifen fast mit einem Sturz. Pfui Teufel, was ist denn das ? Es ist so, als sei wirkliches Eis leicht mit Asche überstäubt. Man gleitet ja gar nicht! Aber die anderen gleiten doch ? Sie machen sogar fabelhafte Pirouetten und jegliche Kunstfigur. Ja, man muß sich erst daran gewöhnen, so wie an das Schlittenfahren ohne Schnee auf Madeira, dann aber, wenn man weiß, daß man etwas lose in den Kniegelenken sein und erheblich mehr Muskelenergie als auf wirklichem Eise anwenden muß, geht es vortrefllich. Die professionellen Eisläufer sagen, das sei das beste Training, das man sich denken könne. So etwas ähnliches kenne ich ja schon von meinem Zimmerruderapparat her, da schraube ich den Widerstand ja auch immer viel fester, als es der Wasserwiderstand draußen ist. Am Abend von ½9 bis ½11 gibt es in der "Neuen Welt" ein Eisballett, noch schöner als sonst im Sportpalast; wieder mit der Weltmeisterin Charlotte, ihrem Gatten Kurt Neumann und 19 anderen Mitwirkenden, von denen, wenn ich richtig gezählt habe, 16 junge hübsche Damen sind, zum Teil aus recht guten Berliner Familien. Während der Zeit sitzt das Publikum rundum im Saal an Tischen oder oben rundum auf hohem Balkone und ißt und trinkt vortrefflich zu billigen, Rixdorf-Neukölln angemessenen Preisen, wie man sie im vornehmen Sportpalast nicht kennt. Das wird nun wohl bald der Wallfahrtsort aller derer werden, die schlank sein, aber doch kräftige Oberschenkel haben möchten. Der Besitzer der "Neuen Welt", bei dem jetzt Ingenieur Gurth den großen Saal gepachtet hat, will nach Ablauf dieser Zeit, Mitte Mai, eine eigene große Halle mit Sommereisbahn eröffnen, deren Fläche 2600 Quadratmeter umfassen, also noch größer sein soll als die des Sportpalastes. Eine solchen Belag hat Gurth schon nach London verkauft, wo die kleine Charlotte im Frühsommer auftreten wird, einen nach Amsterdam, der im August zur Olympiade fertig sein soll, einen nach Tokio, und mit einer Großstadt in Indien und mit verschiedenen deutschen Hallenbesitzern wird zur Zeit verhandelt. Man freut sich, daß wieder eine deutsche Erfindung die Welt erobert. Und dieses Gurthsche "Kusteis" hält monatelang, bedarf keiner Kältemaschinen, nur gelegentlichen Ausgießens der Ritzen mit der chemischen Mischung, verursacht also im wesentlichen nur Anschaffungskosten, sehr wenig Betriebskosten.

Es vergeht kaum ein Monat, wo nicht der deutsche Kopf, die deutsche Technik irgend etwas so erfreuliches fertig bringen, als Trost in einer Zeit, in der die deutsche Seele und die deutsche Politik noch so viel Abstoßendes zeigen. Der Reichstag, die Versammlung unserer 500 verfassungsmäßigen Souveräne, hat mit einer Schlägerei geendet. Der Prozeß Barmat mit der ängstlichen Feststellung des Gerichts, daß dieser Großschieber zwar wegen Bestechung zu bestrafen und offenbar ein Schwindler sei, als Betrüger im Sinne des Strafgesetzes aber nicht bezeichnet werden dürfe, da sich das jetzt "nach so langer Zeit" einwandfrei nicht erweisen lasse. Kutisker, Barmat gegenüber ein Waisenknabe, wurde noch mit 5 Jahren Zuchthaus bestraft; Barmat kommt mit 11 Monaten Gefängnis davon und hofft in der nächsten Instanz, wenn noch mehr Zeit verflossen ist, ganz freigesprochen zu werden. Unser moralischer Wertmesser wird immer labiler, weil, wie in allen modernen Republiken, die sittlichen Begriffe gut und böse abgelöst werden. Statt dessen heißt es einfach: für die Partei, gegen die Partei. Barmat arbeitete für die Sozialdemokratie, sie für ihn; das ist sein "moralisches" Aktivum. Auch die parlamentarische Untersuchungskommission hat, was bei ihrer Zusammensetzung sehr verständlich ist, nicht mehr gewagt, das alte deutsche Gewissen sprechen zu lassen. Sie hat u.a. erklärt, Ebert treffe keine Schuld an dem Emporkommen des fremden Großschiebers, der Millionen deutschen Volksvermögens verwirtschaftet und Tausende guter hart arbeitender Deutscher um den Kredit gebracht hat, der sie vor dem Untergange hätte retten können. Zwar konnte Barmat amtlich unterstempelte und vom Kabinettssekretär, dem Sozialdemokraten Krüger, unterzeichnete Empfehlungen Eberts vorweisen, aber Krüger ist tot, er kann ja, sagt man, gemogelt haben. Zwar hat Ebert Herrn Barmat empfangen, ihm seine Photographie mit Widmung geschenkt, hat auch seinen Sohn in Barmats bezahlte Dienste treten lassen, aber je nun, er kann ja eben getäuscht worden sein. In derselben Zeit aber, in der man Herrn v.Keudell der Korruption bezichtigt, weil er zwei sozialdemokratische Ministerialbeamte, mit denen sich wirklich kein christliches Volksschulgesetz machen ließ, durch Deutschnationale ersetzt hat, bringt in einem gewaltigen Schub die regierende preußische Sozialdemokratie rund 300 Novemberparteiler am 1. April in hohe Verwaltungsämter und schiebt rechtsstehende Beamte überall ab.

Wenn das nur in der Verwaltung geschähe, könnte man noch sagen: nun gut, das ist eben die moderne Politik, ist die moderne Ausbeutung des Staates für Parteizwecke. Und das Aufbegehren dagegen lohne nicht mehr; man müsse sich so etwas nur für die Zeit merken, wenn das Rad sich wieder einmal drehe, und müsse dafür sorgen, daß die eigene Partei stark werde. Aber es geht schon über die Verwaltung hinaus, sogar bis in die bisher rein deutsche Wissenschaft hinein. An der Forstakademie in Münden wird vor längerer Zeit eine Professur für Forstpolitik frei, ein Fach, das nur so heißt, aber mit "Politik" nichts zu tun hat, rein nationalökonomisch ist. Die Vertreter dieses Faches sind selten. Das Professorenkollegium wählt einstimmig den Kasseler Oberforstmeister v.Spiegel. Die Berliner Regierung aber lehnt ihn, den einzigen in Betracht kommenden Fachmann ab und läßt den Lehrstuhl unbesetzt, weil der Kasseler Regierungspräsident Genosse Friedensburg berichtet hat, Herr v.Spiegel habe zwar ausgezeichnete Konduite, sei aber - kein überzeugter Republikaner. Vor der Verfassungsfeier im vorigen Jahre war nämlich Spiegel bei ihm und bat, an der Feier nicht teilnehmen zu müssen; er sei ein loyaler Beamter, tue dienstlich seine Pflicht, aber seiner Herzensgesinnung entspreche diese Verfassung nicht. Gesinnungen sind verfassungsgemäß frei. Friedensburg verbeugte sich also höflich, aber ein paar Monate später dreht er nun Herrn v.Spiegel einen Strick aus dem ehrlichen Bekenntnis.

Je straffer die Parteien für sich arbeiten, desto gleichgültiger ist ihnen, was derweil aus der deutschen Seele wird, vor allem der deutschen Kindesseele. Ich bin niemals prüde gewesen, niemals für polizeiliche Bevormundung von Erwachsenen, aber wenn man sieht, wie Schulkinder vor den Anschlagsäulen sich drängen, an denen ständig die Photographie eines lockenden weiblichen Aktes nebst Einladung zu täglichen Vorträgen über "Liebestechnik", "Einbruch der Freundschaft in die Ehe", "Liebesvariationen" usw. klebt, so wird einem doch weh ums Herz. Der Eintritt kostet 50 Pfennig. Es beginnt mit einem pseudo-wissenschaftlichen Vortrag, es folgen laszive Literaturproben, kleine Theaterstückchen aus der Ehebruchsphäre, Akt-Lichtbilder und schließlich lebende Nacktskulpturen. Das Ganze ist schwül. Und das Puiblikum ? Neben einigen älteren Herren mit brüchigem Adergewimmel an den Schläfen lauter junges Lehrlingsvolk beider Geschlechter, das mit roten Köpfen hört und sieht.

Da ist mir die wirkliche "Nacktkultur" denn doch schon lieber, denn die ist keine Spekulation, sondern, wie es scheint, ehrliche Überzeugung, daß das Paradiesische heute möglich und gut sei. Jahrelang hatte ich kaum eine Ahnung davon. Die an jedem Kiosk aufdringlich ausgestellten Zeitschriften mit Aktbildern lese ich nicht. Als vor Monaten ein süddeutscher Leser mich aufsuchte und mich, der ich das doch wissen müsse, um die Angabe eines Nacktsonnenbades bat, verwies ich ihn auf solche Zeitschriften; ich selber sei nie bei so etwas gewesen. Nun habe ich es mir zum ersten Male angesehen. Diese "Vereine der Lichtfreunde", "Vereine für Körperkultur", und wie sie sich sonst noch nennen mögen, gibt es nicht nur in Berlin, sondern auch in Dessau, Stettin, Wiesbaden, München, Innsbruck und vielen anderen deutschen Städten. Die Berliner haben im Winter im Wellenbad ihre Tage, an denen das große Publikum nicht hereingelassen wird, im Sommer am See in Kallinchen. Es sind fast durchweg sogenannte Lebensreformer, die der Berliner "überkandidelt" nennt, Rohkostler und dergleichen, fast durchweg fanatisch ehrlich. Ganze Familien - Vater, Mutter, kleine und halbwüchsige Kinder - baden und sporten nackend; als einziges "Kleidungsstück" ist die Badehaube für weibliche Wesen gestattet. Zahlreiche Ordner sorgen für Bewegung. In Kallinchen ist beispielsweise das Herumliegen nicht gestattet, denn Müßiggang ist aller Laster Anfang. Bitte: Laufen, Turnen, Ballspielen, Schwimmen! Nun gibt es natürlich Gäste, die noch nicht "geläutert" sind, alte Junggesellen (man nimmt sie ungern), die einer Madame von 2½ Zentnern Lebendgewicht nicht Wasserballpartner sein wollen, aber angewurzelt mit Stielaugen dastehen, wenn ein hübsches junges Mädchen in Evakostüm daherkommt. Die werden scharf überwacht. Nichts Peinliches darf der "Bewegung" schaden. Es kommt vor, daß um irgend einen Mann, der seine Erregung nicht verbergen kann, sich plötzlich, aber möglichst unauffällig ein dichter Kreis von Ordnern bildet, die ihn ersuchen, sich sofort anzuziehen und die Gemeinschaft für immer zu verlassen. Ich persönlich, der ich in Finnland beide Geschlechter, wie dort landesüblich, völlig harmlos habe ohne Anzug baden sehen, ringe darüber nicht die Hände, sehe aber in dieser Reform auch nicht etwa die Rettung der Menschheit. Bismarck mochte die Badetrikots nicht. Sehr begreiflich. In Ostende mied er also das Familienbad und ging an eine einsame Stelle am Strande (das gab es damals noch), wo die Männer, aber allein, unbekleidet schwammen. Das waren keine Exhibitionisten. Hier die Körperkulturler im Wellenbad scheinen es zum Teil zu sein. Da ist ein Buckliger, der zeigen will, daß er "sonst" ein ganzer Mann ist, da ist ein Mädchen mit fahlem, finnigem, grauem Gesicht, das bekleidet von niemand angesehen würde, so aber durch seine gute Gestalt auffällt. Dieses Sichausstellen, wenn es das ist, ist doch ein seelischer Defekt. Ich halte es nicht für einen Vorteil, wenn die Schamhaftigkeit verschwindet; wenn eine Zeit kommt, in der junge Mädchen überhaupt nicht mehr erröten. An den Nacktbadetage im Wellenbad, am Sonnabend früh, am Montag Abend, nehmen, wie gesagt, viele Hunderte von reinen Fanatikern teil, immer aber auch Leute, die "Anschluß" suchen und "die Katze nicht im Sack kaufen" wollen.

Bei dieser Beobachtung habe ich auch zum ersten Male den neuen, jetzt reißend aufkommenden Berliner Ausdruck gehört, ein Buchstabenwort nach Art von Hapag, Devoli, Avuag. Ein junger Mann pürscht sich im Wasser an ein Mädel heran und will eine Zusammenkunft verabreden. Er erhält die schnippische Antwort: "Knif!" Er versteht und verschwindet, macht einem anderen Platz, der offenbar familiäre Anrechte hat. Knif heißt: "kommt nicht in Frage".
4. April 1928 (Mittwoch)



Glossen 25 - 27

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Glossen 31 - 33

© Karlheinz Everts