"Rumpelstilzchen"

Haste Worte?
(Jahrgangsband 1924/25)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1925

Glossen 10 - 12
20. November bis 4. Dezember 1924


10

Gibt es noch Dichter in der Großstadt? - Begegnungen mit Gustav Schüler und Max Jungnickel - "Michael Spinnler" - Milch als vorbeugendes Katermittel - Im Faun des Westens - Der Prozeß gegen Regierungsrat Bartels - Wer ist Kutisker? - Flettner über sein Rotorschiff - Etwas für unsere Jungen - Schorsch Bernhards schwarzweißrote Beängstigung

Von deutschen Dichtern haben wir von Kind auf eine bestimmte Vorstellung, denn jedes Witzblatt zeichnet uns ja die verträumten Dachstubenpoeten. Gibt es so etwas noch ? Besonders in der Großstadt ? Der Maler Klecksel aus den Fliegenden Blättern, der mit langer Mähne und Flatterschlips, ist doch auch schon ausgestorben; heute kommt er unauffällig im Smoking auf Abendgesellschaften und macht den Eindruck eines Oberleutnants der Reserve außer Diensten. Ja sogar die "typische" Schwiegermutter existiert nur noch in vereinzelten Exemplaren. Sonst tanzt sie vorzüglich Onestep und trägt fast kniefreie Kleider. Wo finde ich nun meinen deutschen Dichter in der Autohölle Berlin ? Als ich vor langen Jahren den ersten leibhaftigen Poeten kennenlernte, ein liebenswürdiges Reimtalent, da war es ein Mann mit Doktortitel aus wohlhabender Familie; und er besaß eine Villa im Grunewald und eine am Gardasee.

Mir fehlte noch immer jener Dichter, dessen Vom-Himmel-gefallen-sein man ihm auf 10 Meter Entfernung schon ansieht. Der Mensch mit den großen verwunderten Augen der Gotteskindschaft. Da lief mir Gustav Schüler über den Lebensweg, der Bauernjunge aus dem Oderbruch. Er war zwar nicht ganz so weltfremd, wie ich es mir vorgestellt hatte, sondern ein vollsaftiger Mensch. Er träumte nicht von Märchenprinzessinnen. Ihm geriet das Blut noch in Wallung, wenn er auf dem Nacken einer drallen Kuhmagd, während sie melkte, hundert in der Sonne glitzernde Schweißtröpchen sah. Aber wenn das Dichten aus ihm herausbrach, wie ein kristallener Quell aus dem Berge, dann war er ein anderer Mensch. Etwas Ergreifenderes, als seine wenigen Strophen vom "Verlassenen Mädchen", weiß ich in der ganzen Weltliteratur nicht; und seine geistlichen Lieder sind so stark, daß man um ihretwillen die ganze Zinzendorferei aus unseren Gesangbüchern ausräumen sollte. Dieser Gustav Schüler, der - das ist bei begabten Bauernsöhnen häufig so - natürlich Volksschullehrer geworden war, war nach bestandenem Examen zu ersten Male in seinem Leben in den Besitz - eines Paletots gelangt. Er war außer sich vor Stolz und Glück. Nun stand die Welt ihm offen. Also fuhr er schnurstracks nach Bukarest in Rumänien, ging dort zum deutschen Gesandten und sagte ihm, er möchte eine Lehrerstelle in schöner Gegend haben. Geld habe er nicht mehr. Der Gesandte sorgte dafür, daß dieser vom Himmel gefallene Poet "per Schub" wieder in die Heimat kam, wo Gustav Schüler sich dann weiter durch das Leben dichtete und schriftstellerte. Inzwischen soll er geheiratet haben. Erreichen ihn diese Zeilen, so sei er mit den Seinigen herzlich gegrüßt, - er, mein erster deutscher "wirklicher" Dichter.

Und nun habe ich im vorigen Jahre den zweiten in dieser verwunderlichen Großstadt kennengelernt. Kommt eines Tages zu mir, mit weiten frohen Augen, auch wie vom Himmel gefallen, Max Jungnickel, auch so einer aus deutscher Dorfau, und sagt: "Lieber Herr, Sie verteilen doch, wie ich höre, amerikanische Dollars an deutsche Dichter und Schriftsteller, - ich möchte auch welche haben, ich kann sie gut gebrauchen!" Mit einiger Mühe klärte ich den Irrtum auf. Aber, halt, ich wüßte was. Ich wüßte eine Stellung für ihn. So könnte ihm vielleicht geholfen werden. Aber da wurde Max Jungnickels Gesicht, das alle Wandervögel so lieb haben und alle Leute mit unverdorbenem Gemüt, lang und länger, und da schüttelte er langsam sein Haupt und sagte: "Ich kann mich nicht festsetzen, ich muß mit dem Wanderstab ins deutsche Land und ins deutsche Volk, na, und ich verdiene ja auch an meinen Büchern!" Gott sei Dank, daß er sich nicht festgesetzt hat. Nun fliegt mir sein neuestes Büchlein ins Haus, "Michael Spinnler", ein Buch voll märchenhafter Realistik und voll irrealer Güte, das man in unserer Zeit der Geschäftemacher kaum für möglich halten sollte. Ich habe die 112 Seiten dieses 3-Mark-Romans auf einem Sitz durchgelesen. Manch Ausgekochter von heute wird vielleicht sagen: es seien ja lauter närrisch-wunderliche Leute darin. Schadet nichts. Es sind rührend-liebe Leute. Man kann sie an jedem Familientisch von alt und jung genießen lassen. Max Jungnickel ist kein Mensch aus der Willensspäre, er spricht nur zu dem Gemüt, aber seine Sprache ist heilender als die hysterische Gesundbeterei vieler sonstigen modernen Literatur.

So habe ich die liebe Arzenei auch genommen. Ich weiß eine, bei der sich die meisten Menschen schütteln. Wenn man früher einmal, sozusagen zwangsweise, an einem Diner mit schweren Gängen, schweren Weinen, schweren Zigarren teilgenommen hatte und spät abends mit schwerem Kopfe heimkam, da trank ich einen halben Liter Vollmilch herunter. Das war das beste Antitoxin. Fern blieben da am nächsten Morgen Brand und Kater. Und so habe ich jetzt spät abends Max Jungnickels "Michael Spinnler" verschlungen, nachdem ich zum ersten Male im neuen "Faun des Westens" in der Tauentzienstraße gewesen war und nachher an dem Ekel über Berlin W noch zu würgen hatte. Der alte Faun im Zentrum, Ecke Friedrich- und Taubenstraße, hatte einst durch die beste Musik, die es in Berlin gab, die der Steiner-Kapelle, gutes Publikum angezogen. Die vier Brüder, alle vier noch Studenten, waren ein Phänomen. Übrigens war auch der Mokka vortrefflich. Später wurde - in der Inflationszeit - aus dem Faun ein mäßiges Kabarett. Der "Faun des Westens" ist sogar eine Art kleinen Revuetheaters mit Tiller-Girls und (auch sehr mäßiger) Modenschau, aber ganz und durchweg, äußerlich und innerlich, auf das goldene Kalb zugeschnitten, auf den Götzen unserer Zeit. Parkett und Logen dieses "mondänen" Restaurants gleißen von überladenem Prunk. Er kreischt einem ins Gesicht. Jede wirklich modern künstlerische Linie fehlt. Es ist etwa so wie 1873 mitten in der tollsten Gründerzeit. Und da sitzt denn das ganze, gänzlich undeutsche Berlin W und meckert; und die Damen holen bei Tisch ungeniert Spiegelchen und Puderquaste und Lippenstift hervor und machen öffentlich Toilette. Der Eintritt ist frei, es wird auch verheißen, daß es keinen Weinzwang gebe, aber man weiß ja Bescheid; es wird wohl kaum jemand den ganzen Abend hindurch bei einer Tasse Kaffee oder einer Brause sich als Niedergebrochener von Kellnern und Gästen anstarren lassen. Man kann es ja tun. Aber dann bekommt man totsicher ein Stühlchen irgendwo hinten angewiesen, von dem aus man nur die feisten Nacken derer an der Brüstung sieht. Der Kellner bedauert, "Bargetränke und dergleichen" vorn nicht servieren zu können. Vorn und unten im Saal gebe es nur Wein. Natürlich gibt es hier Stammgäste. Eben Tauentzien. Aber auch viel fluktuierendes Volk von der Sorte, die Betäubung sucht, ehe sie irgendwann einmal vor Gericht gezogen wird. Also man sieht Typen von Schnellverdienern da, Leute, die nicht ganz einwandfrei gewaschen zu sein scheinen, aber hier im "Faun des Westens" begeistert die Strophe mitsingen, die so ganz dem genius loci entspricht:

Du mußt ein Auto haben,
Sonst laß dich gleich begraben.
Ein Auto schaft Autorität,
Sonst bleibst du immer ein Prolet.

Natürlich haben sie ein Auto, alle diese Leute, die darin vor den Ämtern vorfahren, in denen sie "gute Freunde" aufsuchen und abends gleich mitnehmen, in den Faun oder in irgendein Tanzkabarett, irgendwohin, wo der Sekt für Schieber und ihre Helfer perlt. Kaum hat man sich von den Prozessen erholt, in denen die Korruption in einzelnen Wohnungsämtern an den Pranger gestellt wurde, so ist jetzt schon wieder das Fremdenamt an der Reihe, dessen Leiter, ein dort 1920 zum Regierungsrat ernannter Konsul, dieser Tage verhaftet worden ist, weil er angeblich mit Schiebern nicht nur sehr vergnügt gelebt, sondern von ihnen sich auch hat bestechen lassen. Den schwersten Stein mag man aber nicht einmal auf solche Beamte werfen. Der schwerste gehört den seit 1918 von so fabelhaftem Glück begünstigten Schiebern an den Hals. Unter ihnen ist der stark östliche Herr Kutisker wohl der fixeste Schnellverdiener. Im Prozesse wird er ja - zunächst als Zeuge - auftreten und sich dabei ein bißchen ableuchten lassen müssen. Vor der deutschen Revolution war er kleiner Zigarettenhausierer in Litauen. Jetzt wird sein Vermögen auf 40 Millionen Goldmark geschätzt. Jedenfalls konnte er eines Tages, um der Untersuchungshaft zu entgehen, als Kaution, ohne mit der Wimper zu zucken, 7 Millionen Goldmark auf den Tisch hinlegen.

Abseits von dieser schlemmenden und schiebenden Internationale mit ihrem Schwanz nachnovemberlicher Parasiten steht das arbeitende Berlin mit seinen hellen Köpfen. Einer von ihnen, Flettner, der der Welt das segellose Segelschiff geschenkt hat, ist jetzt vor die breite Öffentlichkeit mit einem Lichtbildervortrag in der Aula der Charlottenburger technischen Hochschule getreten. Ein prachtvoll gemeißelter Kopf. Ein Schädeldach, das an Bismarck gemahnt, wölbt sich, unten von buschigen Augenbrauen abgeschlossen, über dem Hirn des zähen Erfinders. Fahlblonde glänzende Haare. Ein paar Steilfalten zwischen den Stirnwülsten. Ein schöner Mann, um den die Filmgesellschaften sich reißen würden, wenn er nicht just das Rotorschiff erfunden hätte; ein so bedeutender Kopf, daß ich über seinem Anschauen fast das Zuhören vergessen hätte. Das alte Wort des griechischen Weisen, daß der Krieg der Vater aller Dinge sei, fällt einem wieder ein, denn bei den ersten gezogenen Geschützen schon im Jahre 1853 ist der sogenannte Magnus-Effekt festgestellt worden, die seitliche Abdrängung eines rotierenden Geschosses. Flettner hat zuerst allerlei andere Versuche gemacht, auf die ihn sein sogenanntes Flettner-Ruder verwies, hat noch vor wenigen Jahren an Stelle der Segel an den Schiffsmasten eine Art Metallflugzeug liegend seitwärts anbringen wollen, dessen Bedienung durch das Flettner-Ruder sehr erleichtert war. Dann ging ihm plötzlich der Magnus-Effekt auf, der seit 1853 des genialen Nutznießers harrte. In einem kleinen Boot auf dem Wannsee bei Berlin stellte Flettner einen rotierenden Zylinder von nur 40 Zentimeter Höhe (auf seinem jetzigen Versuchsschiff sind die Zylinder 20 Meter hoch) auf und stellte daran die Segelwirkung fest: das Fahrzeug wird verhältnismäßig schnell in der Richtung fortgetrieben, in der der Wind an dem Rotor abgleitet, während der Wind an der anderen ihm entgegen sich drehenden Seite des Rotors gestaut wird. Langwierige praktische und theoretische Versuche an der aerodynamischen Anstalt in Göttingen förderten die Erkenntnis - und nun steht das Werk fertig vor uns. Es bedeutet vielleicht dieselbe Umwälzung des ozeanischen Frachtenverkehrs wie einst die Einführung der Dampfschiffe, beschleunigt das Segeln um rund 90 v.H. und erlaubt die Verringerung der Mannschaften um mindestens ebensoviel. Natürlich kann man klagen, daß wieder ein Stück Schönheit, wieder ein Stück Poesie dahin ist. Ein Schiff mit Rotoren, die wie dicke Fabrikschornsteine aussehen, macht sich nicht so gut wie etwa eine Segelfregatte, die schmuck wie ein Landmädchen im Sonntagsstaat daherrauscht. Auch wird man nicht mehr junge Kadetten, damit sie die Seekrankheit verlernen, täglich fünfmal über die Toppen entern lassen können. Aber wir haben uns ja auch an Fahrrad und Auto gewöhnt; und, schließlich, rauchlos und fast geräuschlos gleiten ja auch die neuen Rotorschiffe dahin. Und künden den Ruhm und die Unentbehrlichkeit des deutschen Kopfes. Daß die studierenden Schiffsbautechniker beim Vortrag begeistert waren, versteht sich am Rande, aber auch die Wissenschaft und - die Geschäftswelt ist glücklich über Flettners Leistung. Es sind, wie es heißt, bereits mehrere Schiffe nach dem neuen System bestellt.

Das ist auch mal wieder was für die Welt der deutschen Jungen. Die Tanten, die noch einen Rundfunk gebaut haben wollen, werden allmählich rar. Vielleicht findet sich noch ein Onkel, der den Einbau eines Rotors in sein Boot genehmigt. Bitte, ganz ohne elektrischen Betrieb! Ganz ohne Maschine! Man könnte ja den Rotor wie einen Brummkreisel "per Schnur" betreiben; oder mit Fahrradpedalen; oder sonstwie. Bei uns zu Hause wird jedenfalls demnächst schon die Badewanne vollgeplätschert und die Wasseroberfläche dann mit Kleie bestreut, damit man in deren Bewegung, sobald ein Brummkreisel als Rotor hineingesteckt wird, zuerst in stillem Wasser die Strömungserscheinungen studieren kann. Jetzt soll ich einen langen Blechkanal für fließendes Wasser als Weihnachtsgeschenk bauen lassen; ich sehe es schon kommen, daß der hintere Korridor zur Schleppversuchsanstalt wird, wie Professor Schütte, der von Wilhelm II. entdeckte und geförderte Luftschiffbauer, sie einst für den Norddeutschen Lloyd geleitet hat. Wenn das so weitergeht, verlangt Minna, der Küche neue Walterin, ein Schwimmtrikot als Dienstanzug. Die Konsequenzen sind gar nicht auszudenken.

Aber nun ist mir schon viel wohler, nun sind die Schiebrlokale des Westens schon fast vergessen. Und obendrein bin ich in dieser zweiten und letzten Woche wieder ein paarmal im Sportpalast bei den Gebrauchsprüfungen und Jgdspringen unserer prachtvollen Halbblüter gewesen. Oft wird haarscharf um den Sieg gekämpft. Vor mir sitzen die Damen eines jungen Rittmeisters, der soeben mit 0 Fehlern und in der guten Zeit von 44½ Sekunden seinen Gaul über die Hindernisse gebracht hat. Sie klatschen begeistert Beifall. Nun kommt er, noch naß vom Ritt, über die Bankreihen geturnt, hebt aber schon von weitem beschwörend die Hände:

"Gratuliert mir nicht! Bloß nicht verkolken!"

Und in der Tat: der übernächste Reiter, ein Zivilist, ein junger Gutsbesitzer aus Ostpreußen, schafft es in nur 44⅕ Sekunde bei ebenfalls 0 Fehlern.

In diesem närrishen Berlin gibt es aber wahrhaftig Leute, die scheel zu der ganzen Veranstaltung sehen, weil sie gutes altes System, gute alte Gesellschaft sei. Die - Demokraten regen sich auf. Sie wollen jetzt ein für allemal alles Schwarzweißrote rasieren, denn binnen wenigen Wochen hätten sie sowieso die Macht: die Reichstagswahlen würden bei der notorischen Müdigkeit der Rechten eine glatte Mehrheit der Novemberkoalition ergeben, eine schwarzrotgoldene Regierung von Zentrum, Sozialisten und Demokraten. Und da wage man es - schreibt Schorsch Bernhard in der Voß - im Sportpalast in der Quadrille der ostpreußischen 16 Hengste ausgerechnet Rappen, Schimmel und Füchse reiten zu lassen, also - schwarzweißrot zu demonstrieren ? Wie komme das republikanische Gestüt Trakehnen dazu ? Was sage dazu der preußische Innenminister ? Ach Herrjeh. Er wird wohl bedauern, daß Schorsch Bernhard nichts von den Künsten des Erzvaters Jakob ererbt hat, der lauter gesprenkelte Lämmer zur Welt kommen ließ; dann wäre es auch bald mit den Schimmeln zu Ende.

Aber die Geschichte ist noch viel schrecklicher. Schorsch Bernhard soll sich nur mal im Spiegel sehen. Sich selber; mit dem schwarzen Kraushaar, dem angstweißen Gesicht, den aufgestülpten roten Lippen. Das ist ja wahrhaftig eine antirepublikanische Demonstration!

Hoffentlich kriegt er bald die Gelbsucht. Dann hat er die richtige Trikolore.
20. November 1924 (Donnerstag)


11

Der Weihnachtskrach in der Mietskaserne - Unter Abgebauten - "In Berlin, sagt er" - Die Biene Maja im Schaufenster - Spielsachen und Pazifisten - Bei Chempakaraman Pillai - Eine Noske-Erinnerung

Ohne Krach kein Vergnügen. So gegen den ersten Adventssonntag hin ist auch der erste Weihnachtskrach in Berliner Mietshäusern fällig. Die Portiersgöhre, die ihre Laufbahn als Dienstmädchen wieder aufgegeben hat, weil ihr die Herrschaften "zu ungebildet" sind, schiebt ihre 15 Lenze auf Seidenstrümpfen in die Tür. "Ich komme von wejen die Waschliste rum!" Aha, denkt sich die Hausfrau, nun mal fix, damit sie gerade die Woche vor dem Fest erwischt. Aber was müssen ihre entrüsteten Augen sehen ? Da hat die Müllersch sich schon eingetragen! Solch eine, na, solch eine Person; hat wohl schon im Juli ausgerechnet, wie das kommen muß, und sich da so in den Waschküchen-Kalender eingefügt, daß sie gerade vier Tage vor Heilig Abend an der Reihe ist. Und noch drei weitere Tage zuvor, natürlich, da ist die Doktersch aus der Belletasche dran. Und noch vorher die olle Zicke, die Lehrerin von oben, die ihr bißchen Gelump auch lieber der Dampfwäscherei Edelweiß geben sollte; aber wahrscheinlich geniert sich das Luder. Wahrhaftig, alle 14 Tage vorher besetzt, denn auch die anderen Mietsparteien sind richtig gelandet. Soll man's für möglich halten ? Zwischen Weihnachten und Neujahr könne man doch waschen, sagt die Portiersgöhre ? So eine Unverschämtheit! Zwischen den Jahren waschen bringt doch Unglück. Die will gebildet sein und weiß das nicht ? Schon ist der Krach in Folio im besten Gange. So was würzt das Weihnachtsgebäck. Der Teufel hole den Frieden auf EUnd was man doch für eine unglücvkliche rden und das ganze Glockengebimmel im Jrammophong, wenn die Müllersch einem so perfide zuvorkommt.

Und was man doch für eine unglückliche Frau ist. Der Mann, dem man abends die Geschichte klagt, grunzt nur. Keine Ahnung hat der Olle, was das bedeutet; und gar kein Verständnis für sein schnöde verratenes Eheweib. Schon sitzt der Kerl über seiner Zeitung.

Ja, man hat es nicht leicht; erstens immer zu wenig Geld und zweitens noch den Ärger. Daß andere anderen haben, läßt man nicht gelten. Dabei hat die Müllersch, wenn man es so recht ansieht, doch mit bitterer Not zu kämpfen, denn das junge Ding, das erst vor einem Jahr ihren Fritz, den Bankbeamten, geheiratet hat, sucht sich jetzt selber, obwohl sie doch "höhere Tochter" war, eine Aushilfsstelle; denn ihr Mann gehört zu den 41 Prozent der in wenigen Monaten abgebauten Beamtenschaft der Großbanken. Er versteht die Welt nicht mehr. Dabei fliegen ihm täglich die Wahlblätter der bisher regierenden Parteien der Linken und der Mitte ins Haus, worin gesagt wird, daß wir nur ihnen unsere "Rettung" zu verdanken hätten. Merkwürdig, was für ein Deutsch sie sprechen, - sie nennen Rettung, was in unserer Wirtschaftsgeschichte als die große Pleite bezeichnet wird. Schärfer als anderswo merkt man das in Berlin, denn hier drängt sich die Masse der Stellenlosen zusammen, und hier ist das gegenseitige Aushelfen auch eine viel größere Seltenheit als in der Kleinstadt oder im Dorfe. Man muß schon zum Stamme der Gerissenen gehören, um hier vorwärts zu kommen.

"In Berlin, sagt er,
Mußt du sein, sagt er,
Und gescheit, sagt er,
Immer sein, sagt er.
Denn dort haben's, sagt er,
Viel Verstand, sagt er,
Und dort bin ich, sagt er,
Schon bekannt, sagt er",

heißt es doch in dem bekannten Couplet, das einem schon vor dreißig Jahren hier entgegenschallte. Wer gerissen ist, kann es natürlich zu etwas bringen, aber die Sanftmütigen und Braven bleiben ihr Leben lang "Vertreter" und vertreiben sechsfache Sicherungsstöpsel oder den Kleinen Brockhaus oder Patenthosenträger oder grasen die Bekanntschaft mit allerlei Policen ab.

Das einzige Glück ist es noch, daß man sich wenigstens in das Paradies der Erinnerung flüchten kann: wie es einst vor Weihnachten war. Die lieben, lachenden, lockenden Schaufenster haben vor Advent wieder große Parade gemacht und gleißen in ihrer Reichhaltigkeit so, wie wir es seit 1913 nicht mehr gesehen haben. Da sind als ideelle Magenwärmer und Phantasiesättiger zunächst die ungezählten Auslagen der Feinkostgeschäfte. Man sollte meinen, wir seien ein wohlhabendes Volk, so viel exotische Früchte und Konserven und Weine prangen da, - die meisten Beschauer ahnen eben nicht, daß der Unfrieden von Versailles uns zur Abnahme von so und so viel Luxusartikeln einfach verpflichtet; nicht das Begehren reicher Schlemmer, sondern die Novemberpolitik hat uns die Einfuhr aufgezwungen. Mit ungemischter Freude aber sieht man sich die für die Kinder bestimmten Auslagen der großen Kaufhäuser an. Immer wieder plattgedrückte rote Näschen an den großen Scheiben und das Jubelgekreisch: "Mutta! Mutta! Kiekemal!" Es bleibt beim Kieken, das wissen diese kleinen Berliner schon, die schon mit vier oder fünf Jahren nicht mehr zu bitten wagen, man möge ihnen dies oder das kaufen. Schon Sehen macht selig. Da hat Wertheim in einer ganzen Front von Schaufenstern die Geschichte der Biene Maja dargestellt, von ihrem ersten Ausflug an bis zu der großen Wespenschlacht im Bau, alles in mehrhundertfach vergrößerten plastischen Figuren. Die Schlacht im Königreich der Bienen ist fast das einzige Kriegerische in der Ausstellung für Weihnachten. Zwar bekommt man Trommeln, Hörner, Pfeifen selbstverständlich noch zu kaufen, daneben freilich auch schon Jazz-Band-Instrumente für Kinder, aber das kriegerische Getöse hält sich mehr im Hintergrunde. Und wenn einer deutsche und französische Zinnsoldaten verlangt, so muß das Fräulein sie erst unter dem Ladentisch hervorsuchen; oben darauf hat sie ägyptische Zinnsoldaten in der Tracht der Zeit von Tutanchammon. Oder ganze Truppenaufstellungen aus kolonialen Feldzügen - moderner fremder Mächte; wir Deutschen dürfen ja nicht mehr. Auch die Knaben-Jahrbücher haben sich arg verändert, ersetzen das Historisch-Militärische durch Technisch-Allerneuestes, vergessen ganz das Wort Goethes, daß das Beste an der Weltgeschichte der Enthusiasmus ist, den sie erregt. Nur ist Gott sei Dank die übrige Jugendliteratur alter Art noch nicht ausgestorben, sondern wird in den Buchhandlungen mehr als je verlangt. Ganz ist es unserer Linken doch nicht gelungen, die Freude an nationaler Selbstbehauptung zu ertöten, oder gar, unsere heranwachsenden Kinder zu internationalen Pazifisten zu machen, zu jenen Leuten, von den der General Deimling, der jetzt so gründlich umgeschworen hat, früher zu sagen pflegte, sie hätten zwar Hosen an, es sei aber nichts darin.

Natürlich ist in gewissen Berliner Zirkeln Pazifismus heute die große Mode, wie vor wenigen Jahren noch der Kommunismus die große Mode bei gewissen Tiergarten-Millionären war. Ein bißchen schämt man sich freilich noch. Aber man beruft sich für die nationale Knochenerweichung auf - den alternden Friedrich den Großen, der allerdings nach einem Leben voll beispiellos gewaltiger Schwertschläge sich zu Pflug und Webstuhl hielt und meinte, es werde einst möglich sein, daß "das Heer die Bataillen schlägt, ohne daß die Nation etwas davon merkt". Das war natürlich eitle Hoffnung eines alten Mannes. Mit dem Exerzierreglement von 1786 haben wir 1806 Jena verloren. Noch unsinniger ist die Berufung unserer Berliner Hyperkulturellen, die womöglich im vorigen Sommer die Darmstädter Schule der Weisheit Keyserlings besucht haben, auf dei Jahrtausende alte Ethik des Morgenlandes, vor allem Indiens, die jede rohe Abwehr empfangenen Unrechts verabscheue. Keyserling ist ein internationaler Snob. Und Tagore, der uns als indischer Heilnad aufgeschwatzt worden ist, wird mehr in Deutschland gelesen, als in Indien selbst, wo man vielmehr Ghandi zujubelt, auf dessen Geheiß rund 60 Millionen Anhänger jederzeit zum Äußersten bereit sind. Es wäre vielleicht ganz gut, wenn unsere Herrschaften aus dem Tiergartenviertel einmal "wirkliche" gebildete Inder kennenlernten, von denen wir ja etwa drei Dutzend der hervorragendsten seit Jahren in Berlin unter uns haben. Gerade habe ich mit Chempakaraman Pillai, dem Führer der Vereinigung vergewaltigter Völker, in seinem hiesigen Heim ein Stündchen über angeblichen indischen Quietismus und Pazifismus verplaudert. Es plaudert sich gut mit diesem hochgebildeten und rastlosen Menschen, der es unter anderem fertiggebracht hat, daß nach dem Kriege der deutsche Handel in Indien wieder die zweite Stelle erreicht hat; nur jetzt, in der großen Pleite, geht es unserem Handel auch drüben wieder schlechter. Immer wieder jubilieren die Vögel in unser Gespräch hinein. Eine Menge Kanarien, eine bunte chinesische Nachtigall, eine deutsche Schwarzdrossel, verschiedene andere Singvögel konzertieren im Nebenzimmer. Aber das beunruhigt nicht, denn von diesem Manne mit den ebenmäßig schönen "indogermanischen" Zügen, der, wenn er nur nicht so sehr gebräunt wäre, für ein Christusbild Modell sitzen könnte, geht tiefer Friede aus, auch wenn er eine Kampfnatur ist. Und er erklärt mir den ganzen angeblichen Quietismus Indiens mit dem einen Bekenntnis: "Der Wille ist stärker als physische Macht." Das ist also weiter nichts, als der stolze Trost, den auch unser Philosoph Fichte für alle Vergewaltigten hatte: daß zuletzt die "Kraft des Gemütes" über Völkerschicksal entscheide. Sind wir seelisch wieder gesundet, so finden sich schon die Waffen; und dann übermögen wir auch jede physische Macht. Chempakaraman Pillai, der deutsch wie englisch vorzüglich spricht, begibt sich jetzt auf eine sechsmonatige Vortrags- und Erkundungsreise durch Mexiko, Mittel- und Südamerika, um für Indien und für Deutschland zu zeugen. Es geht ein eigenartiger Zauber von diesen Leuten aus. Sie gehören zum Uradel der Menschheit; wie altes Elfenbein schimmert ihnen der Augapfel, und darin schwimmt glänzend und doch ruhevoll die große ebenholzfarbige Pupille.

Nicht als Leidensmenschen, sondern als Willensmenschen, die stärker sind als ihr Schicksal, meistern sie da Leben. Das gibt ihnen auch den Gleichmut, der mit Quietismus nicht zu verwechseln ist. Pillai, der schon seit 1909 unter uns weilt und während des Krieges in vielen Hunderten deutscher Städte gesprochen hat, hat sein Erspartes wie wir alle in der Inflatíonszeit verloren und hat wie unsere Daheimgebliebenen im Kohlrübenwinter 1916/17 mitgehungert. Er war sozusagen Ehrengast der deutschen Nation. Das Auswärtige Amt bot ihm, wie neutralen Diplomaten, Zusatzkarten an, damit er sich doch gelegentlich etwas mehr Nahrung gönnen könne, aber er lehnte ab. Und er beklagte den Materialismus der Deutschen, die heute "Nieder mit dem Krieg!" schrieen, wenn die Speisekammer leer war, und morgen wieder "Sieg! Sieg!" posaunten, wenn es ein halbes Pfund Extra-Marmelade auf Karten gab. Das sind harte Worte, aber gütig gemeint; und auch auf die heutige Zeit wendet Chempakaraman Pillai das an und sagt: "Bei den Wahlen wird man ja sehen können, ob das deutsche Volk in materialistischer Versumpfung sich der Knechtschaft ergibt oder den Idealismus aufbringt, sich gegen sein Schicksal aufzubäumen und einen männlichen Reichstag sich zu geben."

Die rote Linke ist freilich guten Mutes, oder tut wenigstens so, als sei ihr die Wahlernte sicher, jetzt nach sechs Jahren der Umwälzung, - "denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht und die Gewohnheit nennt er seine Amme", habe ja schon der Dichter gesagt. Es mucke kaum jemand mehr; und wenn er es doch täte, dann könnten die Mannen vom Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold oder der Staatsgerichtshof ihm den Mund schon stopfen. Ich glaube nicht, daß es wahr ist, daß viele deutsche Aufrechte jetzt wirklich schlaff zusammenknicken. Vor vier Jahren jedenfalls, als das Aufrechtstehen noch viel gefährlicher schien, stand man aufrecht, - auch in Kleinigkeiten. Damals inspizierte Herr Noske, jener Zeit Reichswehrminister, die Grenzschutztruppen in Schlesien. Schon war unter dem üblichen Tschingtara das "Augen rechts!" für ein in Parade stehendes Bataillon befohlen und der Zivilist Noske begann die Front abzuschreiten, - den Hut auf dem Kopf und die Hände in den Paletottaschen. Da hob sich der Bataiilonsführer, ein Hauptmann, in den Bügeln und kommandierte mit schallender Stimme:

"Augen geradeaus! Gewehr ab! Rührt Euch!"

Nun lief der über den Skandal bestürzte hohe Stab zusammen. Um Gotteswillen, was sei denn los ? Kurz und knapp meldete der Hauptmann.

Am nächsten Bataillon defilierte Noske mit abgezogenem Filzhut.

So etwas kann das deutsche Volk auch bei den Wahlen durchsetzen, - wenn es nur will.
27. November 1924 (Donnerstag)


12

Das Pärchen auf Taille - Es gibt wieder Ohren - Cleo de Mérode - Grock und die Nigger in der Skala - Minstrels - Aus der Artistenwelt - Sprachenaustausch zwischen Sachsen und Frankreich - Mein kleiner Freund Franz - Wahlrummel - Blaus Villa Tiergartenstraße 34

Ein auf Taille gearbeitetes Pärchen geht vor mir einher. Er hat die Taille unter den Achseln sitzen. Sie hat die Taille um die Oberschenkel. Natürlich trägt die junge Dame auch fleischfarbene Strümpfe auf der Straße, Strümpfe, die in Metropolen besseren Geschmacks nur zu hellen Abendkleidern im Salon möglich sind. Bis hierher ist das ein alltägliches Bild; solche Pärchen sieht man zu Tausenden, und in neunhundert von tausend Fällen haben Er und Sie sich, wie verabredet, nach der Bureauzeit getroffen, um sich gegenseitig ihr Herz auszuschütten. Er berichtet, wie der Chef ihm zugemutet habe, den Brief an Meyer & Co. noch einmal zu schreiben, aber da habe Er dem Chef einen Blick zugeworfen, einen Blick . . . "Welch ein Held!", denkt erschauernd Sie. Und nun erzählt Sie, wie die Direktrice, dieses Scheusal, diese dumme einfältige Gand, die keine Spur von Geschmack habe . . . "Welch ein Temperament!", sagt sich im stillen Er. Beide schauen einander bewundernd an. Beide sind wieder getröstet und können für 24 Stunden erneut den Kampf um das Leben aufnehmen. An der Ecke verabschieden sie sich. Er lüftet vorsichtig den Hut, ganz vorsichtig, damit die aalglatte Haarhaut - anders kann man es kaum nennen - nicht aufgerissen wird; sicherlich trägt der junge Mann nachtsüber im Schlafe ein enggedrehtes Frisiernetz um sein langhaariges Haupt, wie sein Vater in seinen Jahren nachts die Schnurrbartbinde trug. Auch das ist etwas Alltägliches. Aber nun neigt das Mädchen den Kopf und man traut seinen Augen kaum: das Mädchen hat sichtbare Ohren!

Ob das eine neue Art Perversität ist ? Oder ob die Welt wieder der getuschelten Geheimnisse voll sein soll ? Seit Jahr und Tag hatten die Damen keine Ohren mehr. Dafür alttestamentliche Gebetslocken. Was sage ich, Locken ? Bürsten! Bürsten über und vor den Ohren! Einmal wollte ich einer bräutlichen Jungen etwas Weltbedeutendes zuflüstern, aber da bekam ich diesen Rasierpinsel in die Nase und mußte mich heftig schneuzen; die Stimmung war weg. Die erste Ohrenlose unseres Zeitalters war Cleo de Mérode, die schlanke Tänzerin mit dem Madonnenscheitel. Die angebliche Geliebte des Königs Leopold von Belgien. Sie ist es nie gewesen, sie war auch nicht etwa Französin, sondern entstammt einem Alt-Wiener Geschlecht. Ihr seidenartig, fast metallisch glänzendes braunes Haar kam aber, so über die Ohren gestrichen, am besten zur Geltung. In Brüssel zischelte man, sie habe überhaupt keine Ohren. Ein Eifersüchtiger habe sie ihr abgeschnitten. Das ist nun wirklich nicht wahr. Ich habe anno 1902 in Gegenwart ihrer Mutter - die war von ihr unzertrennlich - einmal in der Nähe von Brüssel mit ihr eine Tasse Tee getrunken, ihr nachher den Mantel umgelegt und dabei, als ich den Kragen emporzog, ganz leise kosend über das Haar gestrichen. Seitdem kann ich beschwören, daß sie entzückende kleine Ohren hat, obwohl ich diese nie gesehen habe. Aber was weiß ich über die Ohren der Damen von 1923 und 1924 ? Gar nichts. Hinter den Rasierpinseln, so nehme ich an, versteckten sich wulstige oder entartete zerzackte Wascheln, die überdies noch dringend einer hygienischen Behandlung bedurft hätten. Nun aber atme ich auf. Es gibt wieder Damenohren! Man kann ihnen wieder Geheimnisse anvertrauen! Und das Netteste: man kann wieder Ohrläppchen erglühen sehen. Damit werden auch zahllose lyrische Dichter modern, die uns, wenn sie von den kleinen Ohren der Geliebten schwärmten, in den letzten Jahren so altmodisch vorkamen, wie die uns 1914 ins Feld nachgesandten Poetereien, die von rauschenden Fahnen und zum Angriff blasenden Trompeten berichteten.

Am selben Abend, vor dem ich das Wunder mit dem jungen Mädchen ohne galizische Haartracht erlebt, sitze ich in dem Riesenvarieté in der Martin-Luther-Straße, der Scala, und mache große Inventur der Damenköpfe. Richtig, einige ältere Damen haben, wie seit jeher, das hatte ich nur vergessen, tatsächlich die beiden zierlichen Ornamente an ihrem Haupte unverhüllt. Nur die jüngeren Semester spielen damit Versteck. Und zu Hause kommt mir die Minna so komisch vor. Wahrhaftig, die zeigte bisher noch ihre Ohren, was mir auch gar nicht aufgefallen war, und ausgerechnet gestern zum ersten Male verfällt sie auf die "neue" Frisur, die gerade Gott sei Dank anfängt, veraltet zu werden. Seither habe ich noch zwei - bitte sehr, recht hübsche - junge Damen gesehen, die auch schon den Wandel der Mode begriffen hatten. Auf der Bühne in der Scala aber tragen die mehr oder weniger farbigen Damen von Will Garlands Neger-Ensemble sogar noch Perrücken über dem Kraushaar, wohl um anzudeuten, daß bei ihren Tanzgesängen der Gehörsinn am wenigsten zu suchen hat. In der vorigen Woche trat noch Grock in der Scala auf, der weltberühmte musikalische Clown (er ist aber viel mehr als das), der 14 Instrumente spielt, 16 Berufe gehabt hat und unter anderem einmal Erzieher des jetzigen ungarischen Ministerpräsidenten war. Ich hätte mit Grock, der ein biederer Schweizer Lausbub aus Biel ist, gern einmal eine Partie Karambolage auf dem Billard riskiert, denn auch darin ist er Meister. Aber nun ist er schon in Paris. Und wir haben dafür die Nigger aus Carolina in den Südstaaten. Das flutet jetzt hin und her über die Weltmeere. In der Artistenwelt ist der internationale Austausch wieder so wie vor dem Kriege, während man in anderen Schichten noch sehr zugeknöpft ist.

Vor dem Kriege gab es sogar einen Lehreraustausch zwischen Deutschland und Frankreich. Nur Prussiens wollte man drüben nicht, also nahm man seine Deutschlehrer - aus Sachsen. Das war Vorbedingung. Ich will meine lieben sächsischen Leser nicht etwa kränken, ich will auch keineswegs behaupten, daß am Ende die Bealina ein besseres Deutsch sprechen oder gar die Frangforder, aber ich kann nur sagen, daß ich mich in Roubaix einmal halbtot gelacht habe, als dort ein junger französischer Handelsschulabsolvent, der von solch einem Austauschlehrer unterrichtet worden war, so mit mir Deutsch sprach, daß ich dachte: Herrjemersch nee, der ist wohl Plakatankleber für den Humoristen Reimann gewesen ? Mit dem gegenwärtigen Austausch, dem der Varietés, geht es sehr flott. Alle 14 Tage wechselt ja das Programm. Es gibt keinen Beruf voll solcher Unrast. Ich sehe alle diese Leute gern bei ihrer Morgen- und Abendarbeit, dazwischen auch im Café, das überall ihre Heimat ist, und ich kann nur sagen, diese Gesellschaft ist viel weniger zigeunermäßig, als manche Eingesessenen. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Besonders bei dem ständigen schnellen Wechsel des Aufenthaltsortes bleibt für Romanhaftes wenig Zeit; die Leutchen heiraten ja auch meist untereinander und sind, schon um sich arbeitsfähig zu erhalten, solider als man meint; es sei denn, daß es gerade die five Sisters Barrison von anno dazumal oder etwas Ähnliches sind. Die Nigger nun, die uns als erste Austauschexemplare neuerdings Amerika so zahlreich herüberschickt, sind natürlich Grotesk-Komiker, auch wenn sie sich um ernsthafte Kunst bemühen. Sie werden einfach dazu gestempelt. Der Angelsachse will es so. Schon in jedem englischen Seebad, in Herne Bay oder sonstwo, wo es viele Kinder gibt, sammelt man sich vormittags um die "Minstrels", die schwarzen oder nur schwarz angepinselten Sänger und Tänzer in den Dünen, die zu Banjo-Klängen auf Nigger-Englisch ihre Liedchen vortragen. Für die jauchzenden Kleinsten in der Babysprache:

"Tum to seepy, tum to bye-bye, tum,
B'yeß yat tiny winey winey yikee fum!"

und mancher kleine Knirps ist schon frühmorgens seinem Commodore - unsere deutschen Jungen sagen: dem alten Herrn - um den Bart gegangen, damit er ihm ein paar Pence für den schwarzen Uncle Arthur oder den kaffeebraunen Uncle Fred verehre. Nun wird Ähnliches auch bei uns Mode. Wenigstens vorerst in den Varietés. So wie auch der Lesestoff nach angelsächsischem Geschmack umgemodelt wird und die "Magazine" statt alter deutscher Zeitschriften reißend überhandnehmen; gleich drei große Verlage überschütten uns seit dem Herbst mit diesen Magazinen.

Ich bin sicher, daß mein kleiner Freund Franz, das Geschäftsgenie aus der Unbegabtenschule, weder Ullsteins noch Scherls Magazin liest, wenn er sie auch gelegentlich verkauft. Augenblicklich kümmert er sich darum gar nicht. Wahlzeit ist für ihn Erntezeit, da macht er sich allen Parteien in seinem Viertel unentbehrlich. Getreulich klebt er spät abends überall Kommunistenzettel an. Getreulich reißt er sie im Morgengrauen wieder ab und überklebt sie mit deutschnationalen Bilderchen. Getreulich ersetzt er sie am selben Tage durch demokratische Aufrufe.

Mir hat er, ohne aufzuschauen, ein Zentrumsblatt in die Hand gedrückt. Auf wenige Sekunden kriege ich ihn zu fassen, da schnattert er schon los:

"Mensch, jehnse aus'n Licht, sagt Archimedes! Heit aamt bin ick Meschores bei'n Papst! Morjen kenn' Se mir wieda schwarzweeßrot anquasseln!"

Damit hatte die Audienz ihr Ende; mein kleiner Freund Franz hatte schon wieder, immer weiter mechanisch seine Blätter verteilend, eine wichtige geschäftliche Konferenz mit einem Kleinauto, das mit dem Transparent "Wählt demokratisch!" herumfuhr. Tagsüber rollen mehr die großen Lastwagen durch die Stadt, auf denen Leute mit roten Sowjetfahnen stehen und unbehelligt "Hoch!" und "Nieda!" brüllen. Also mit Fahnen einer fremden Macht, die Deutschland in die Weltrevolution stoßen möchte. Das geht natürlich. Oder sollte Severing im Interesse der öffentlichen Ordnung da eingreifen ? Es sind nun die letzten Tage vor der Wahl, und da hat die Wahlreklame, die immer einen riesigen Heerhaufen vortäuschen soll, immer glauben machen soll, daß "das ganze Volk" hinter ihr stehe, durchaus ihre technische Berechtigung. Das Anziehungsgesetz, das Gesetz der Schwere, gilt ja auch in der Politik. Bei der vorvorigen Reichtagswahl, im Juni 1920, sah ich in einem Abstimmungslokal eine alte Dame unschlüssig vor dem Vorstandstisch trippeln, und schließlich stotterte sie:

"Ach, liebe Herren, können Sie mir nicht sagen, wen die meisten wählen ?"

Ein bißchen weiter sind wir ja heute wohl schon. Besonders die Frauen, die in den Notjahren seit dem Kriege, weil auf ihnen die allerschwerste Last und Sorge lag, kaum die Möglichkeit hatten, sich um Politik zu kümmern, haben die Atempause, die uns die Helfferichsche Rentenmark verschaffte, fleißig zum Nachdenken benutzt. Heute, wo wieder die grausame Schraube Teuerung - Lohnerhöhung - neue Teuerung - Lohnerhöhung - weitere Teuerung zu knirschen beginnt, sind sie mit ihrer Überlegung fertig. Die Kerntruppe der Anhänger der einzelnen Parteien steht natürlich fest. Aber die Entscheidung wird diesmal, scheint es, zwischen den "Treibholz" liegen, der Masse derer, die sich im letzten Augenblick von der größten Reklamewelle fassen und anschwemmen lassen, und der durch schwere Erfahrungen belehrten Frauenwelt. Welche Gruppoe stärker ist, weiß noch niemand. An eine "Wahlmüdigkeit" aber glaube ich nicht mehr, sondern meine, daß wir diesmal eine gewaltige Beteiligung haben werden, denn nach den Affären der letzten Wochen, die uns gezeigt haben, welche landfremden Elemente bei uns Millionen von Reichs- und Staatsgeldern scheffeln, muß sich doch jeder für oder gegen diese Praxis entscheiden, um sie entweder zu verewigen oder zu vernichten.

Natürlich gibt es auch manche helle Leute, die mit der neuen Praxis ganz einverstanden sind. Geschäft sei Geschäft. Und wenn wir Deutschen keine Wohnungen bekämen, wohl aber die Galizier, so seien diese eben die tüchtigeren Geschäftsleute.

Da haben wir wieder die große Formel: dem Tüchtigen freie Bahn! In Berlin sammeln sie sich, da kann man sie sich ansehen, wie die Löwen im Zoologischen Garten. Man braucht dazu bloß einen Spaziergang durch den vornehmen alten Berliner Westen. Solch einen Gang kann sich Sonntags auch eine Arbeiterfrau gönnen. Da kann sie beispielsweise in der Tiergartenstraße 34 eine wundervolle Villa sehen, die Herr Gustav Blau mit seinen zwei Chaufeuren und der übrigen Dienerschaft bewohnt. Herr Gustav Blau besitzt außerdem ein großes Export- und Importgeschäft in der Jägerstraße, das vielleicht noch im Gefolge der Kutisker- und Barmat-Affären Tagesgespräch werden wird, und ist selbstverständlich auch Großgrundbesitzer; unter anderem gehört ihm das ehemalige Hofjagdrevier des Kaisers bei Globsow, und er lädt häufig seinen Duzfreund Gustav Bauer, den früheren sozialdemokratischen Reichsschatzminister, zu einem feisten Hirsch dorthín ein. Dieser tüchtige Herr Blau war im November 1918 Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats in Düsseldorf und hatte die Verfügung über unendliches dort lagerndes Material. Das ist wirklich ein Geschäftsmann großen Stiles, der uns Minderbegabten gezeigt hat, wie man heute aus eigener Kraft vorwärts kommen kann.

Ich nehme als selbstverständlich an, daß er nicht mit jenem Gustav Blau aus Kronenberg im Rheinland identisch ist, der zwei Jahre Zuchthaus wegen Brandstiftung gehabt hat. Ich weiß nur, daß dieser Gustav Blau ein sehr freigebiger Herr ist, dem die sozialdemokratische Parteikasse sehr viel zu verdanken hat.
4. Dezember 1924 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts