7
Der Reichswehrsoldat auf dem Kurfürstendamm - Fremde Agenten - Die Grunewaldvilla des französischen Journalisten - Juppa-Juppa - Woher der Name Jazz - Zenatellos Festspiel-Pläne - Rundfunk-Jahrfeier - Fritz Ebert als Dinergast
Ein Reichswehrsoldat schlendert den Kurfürstendamm entlang. Ein Goslarer 17. Jäger. Am Söller der Rumpelmeyer-Konditorei wird er von einem gut gekleideten Zivilisten überholt. Der bleibt scheinbar freudig überrascht stehen.
"Was, Sie sind Siebzehner ? Aus meinem alten lieben Goslar ? Ist ja großartig! Ich habe auch in Goslar gedient, vor dem Kriege noch. Jetzt habe ich eine feine Stellung in der Industrie und könnte da noch einige Kameraden gebrauchen. Sind Sie am Ende gar Kompagnieschreiber ? War ich auch! Sagen Sie mal, ist es noch so wie früher, wo unsereins auch alle Geheimsachen bekam, oder erledigt die der Olle selbst ? Sie müssen mir mal gemütlich von Goslar erzählen. Ich bitte Sie zum Abendbrot heute um 8 in den Heidelberger, gleich vorne links. Ja, Sie kommen ? Hier die eine Mark in alter Kameradschaft einstweilen als Fahrgeld! Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, ich muß noch in die Fabrik."
Der Soldat erholt sich von dem Redeschwall und überlegt. Er ist ein heller Junge. Also die Sache ist sicher nicht sauber. Er meldet sie seinen Vorgesetzten, mit denen zusammen er zum Wachregiment nach Berlin kommandiert ist. Die geben ihm Verhaltungsmaßregeln. Auf jeden Fall solle er zum Heidelberger hingehen und weiter hören.
Er geht auch hin, findet aber den Zivilisten nicht vor. Der hat wohl inzwischen gemerkt, daß er dem Soldaten im Versehen statt der Mark - ein silbernes Frankstück gegeben hat. Jetzt weiß man sicherlich, daß er ein französischer Agent ist.
Das ist eine Geschichte, die wortwörtlich so sich zugetragen hat. Solcher Geschichten aber gibt es Dutzende fast an jedem Tage. Berlin ist überschwemmt von diesen Agenten, die ein sehr gutes Leben haben, während sie die von ihnen Verführten meist mit ein paar Glas Bier abfertigen. Haben sie erst einen in der Hand, dann muß er umsonst weiter für sie Landesverrat begehen, denn sie drohen sonst mit Anzeige, worauf er sicherlich Zuchthaus bekäme. Die Verräter sind immer die Geprellten. Das Geld, das im vorigen Jahre die drei Angeber Schlageters zusammen bekamen, reichte gerade für ein gutes Abendbrot; die Franzosen sind die filzigsten Zahler der Welt. Aus verständlichen Gründen macht keiner der geprellten Schufte Krach. Wenn er es doch versucht, ist er im Handumdrehen zur Fremdenlegion verfrachtet, die zurzeit 52 Prozent Deutsche zählt, und ist einige Monate später eine Leiche. Es sind schon Gemütsmenschen, diese Franzosen.
Aber besonders ihre Berliner Pressevertreter spielen die Herren der Welt. Ihnen allen ist die Inflationszeit gut bekommen - und auch sonst machen sie gute Geschäfte. Einer von ihnen kam während des Krieges, erst 23 Jahre alt, in die Schweiz und schmuggelte Champagner nach Deutschland. Nachher fand er sich als Zeitungskorrespondent in Berlin wieder und konnte einer tschechischen Bank den Ruhreinbruch schon drei Tage zuvor melden. Der Niederschlag dieser Meldung war eine Grunewaldvilla, die er jetzt besitzt.
Die französische Regierung hat für ihre lieben Kinder etwas übrig. Die Boches mögen sich ihren Zoll husten. Die Botschaft besorgt den französischen Journalisten zollfrei Burgunder, weißen Bordeaux und Cognac unter diplomatischem Frachtgut. Die deutschen Behörden haben Übung im Zudrücken beider Augen bei so etwas. Zum Dank werden wir in den Pariser Zeitungen täglich beschimpft, ohne daß anscheinend in Berlin jemand auf den Gedanken kommt, die Herren auszuweisen. Gewisse deutsche Nutznießer der französischen Überflutung aber denken schon mit Sorgen an die Zeiten, wo es kein besetztes Gebiet mehr gibt. Die Regierung in Paris beziffert diejenigen, die dann aus bestimmten Gründen aus Deutschland flüchten müßten, auf rund 4000, die politisch den Parteien vom Zentrum bis zu den Kommunisten angehören, wirtschaftlich sehr schwach sind, in punkto Bildung aus allen Gebieten stammen; wenn es erst so weit ist, gedenkt man, sie - als Landarbeiter in Frankreich anzusiedeln, nach Möglichkeit unter der Knute auf Staatsbesitz.
Wenn es doch erst schon so weit wäre!
Wir könnten viel glücklicher ohne diese deutschen Lumpen und ihre fremden Zuhälter leben. Wir würden ja trotzdem nicht binnenländisch versimpeln, denn das Interesse für alles Fremde bleibt nach wie vor brennend. Ganze Zeitungsspalten unter der Rubrik "Tanzsport" werden ja heute wieder der Debatte darüber vorbehalten, ob der neue "Juppa-Juppa" wirklich als Ablösung für die anderen Modetänze sich durchsetzen wird. Woher der Name kommt, weiß ich nicht einmal; vielleicht heißt ein Senegalese so. Nur den sprachlichen Urspung des Jazz habe ich endlich feststellen können, obwohl alle Konversationslexika und das Wörterbuch der Pariser Akademie da versagen. Ein sogenannter Stimmungskapellmeister, wie einst der Berliner "Dr.Meschugge", ein Nigger namens Jasbo (sprich: Dschäsbu) in, glaub' ich, Chicago oder einer anderen amerikanischen Großstadt war der erste, der Autohupen, Saxophone, Kinderklappern und Trillerpfeifen in die Tanzmusik einführte. Dieser Klimbim al la Dschäs - was man klanglich auch "Jazz" schreiben kann und schrieb - wurde reißend nachgeahmt. Er ist bei uns jetzt schon im letzten ostpreußischen Dorf bekannt. Wenn man dort den Kindern das Wort Jazz, deutsch ausgesprochen, diktierte, würden sie vermutlich korrekt "Jetzt" schreiben. In Berlin aber sind wir schon einen kleinen Schritt weiter zu Skepsis und Selbstbesinnung. Die Jazzbandseuche hat sich musikalisch anscheinend überlebt, die Zahl dieser Kapellen beginnt endlich abzunehmen, man hört schon weniger Geheul und Radau - und der alte Walzer gilt hier und da schon als köstlich erfrischende modernste Entdeckung.
Ein Wunder wäre das nicht, denn seit einigen Wochen merkt man schon, wie der Besuch der Tanzdielen nachläßt. Das junge Volk hat nicht mehr das Geld dazu. Seit April dieses Jahres sind 41 Prozent aller männlichen und weiblichen Bankangestellten in Berlin "abgebaut". Auch in anderen Betrieben sind schubweise alle entbehrlichen Leute, namentlich der jüngsten Jahrgänge, entlassen worden. Mit der "reiferen Jugend" aber kommen die Rundtänze wieder auf. Statt der zwei oder drei Berliner Lokale, die sie schon bisher spielen ließen, zeigen jetzt ihrer Dutzende die Rückkehr dazu an. Etliche tausend Glatzen röten sich vor Vergnügen.
Im Grunde sind das alles kleinbürgerliche Vergnügungen. Nicht etwa, daß dem Deutschen der Sinn für monumentale Festlichkeit fehlte, für große Volksfeiern im antiken Sinne; nein, es fehlt ihm dazu nur meist - das Klima und die Gegend. Man ist eben an die vier Wände gebunden. Wünscht man sie sich erweitert, so wird denn ein Ausstellungspalast daraus, in dem die "Aida"-Aufführung der italienischen Stagione so elend erfror. Wir kriegen aber immer wieder in ganzen Trupps künstlerischen Besuch aus Italien. Dahinter steckt - Mussolini selbst. Und damit die staatliche Förderung. Ein gutes lyrisches Theater, hat Mussolini gesagt, macht mehr Propaganda als ein Waggon voll Propagandabroschüren. Dieser Tage habe ich zwei der hervorragendsten Mitglieder einer solchen Truppe, den Tenor Zenatello und seine Frau, die Mezzosopran singt, in der Volksoper gehört. Frau Gay-Zenatello ist geborene Spanierin, hat "in Zivil" schon weiße Haare, aber kaum ein Fältchen im Gesicht und ein Gebiß wie eine Wildkatze. Eine "Carmen" hat sie da gespielt, mit solchem Feuer, wie es in dem sanften Deutschland sonst nirgends lodert. Also sie und ihr Mann versprechen sich große Dinge von einer Reihe solcher Aufführungen - im Freien. Vor Tausenden. Vielleicht im Stadion draußen oder sonstwo. Man kann es den Herrschaften nur schwer begreiflich machen, daß in unseren Breitengraden die dazu passenden warmen, trockenen Sommerabende zu zählen sind und daß wir nirgends eine Akustik kennen wie etwa die in dem altklassischen offenen Theater von Verona, wo man, wenn ich an meiner Steinbank kratze, noch 300 Meter weiter das Rascheln deutlich hört. Und es fehlt auch die "Gegend". Der Frau Gay-Zenatello blitzen die Augen, wenn sie von Wien erzählt. Da wurde die "Aida" mit dem Siegeseinzug von 4000 farbenprächtig gekleideten Kriegern des Radames durch die 28 Meter hohen Tore Thebens gegeben. Ein Scheinwerfer von 1 Million Kerzen Stärke ließ sie erstrahlen, mehrere Hunderttausender-Scheinwerfer hellten die Kernschatten auf. Nicht weniger als 500 Wiener Polizisten mußten allein den Verkehr von der "Hohen Warte" regeln; und über den zaubervollen Theaterplatz hinweg sah man jenseits der Berge und Hügel das Lichtermeer Wiens die Szenerie ergänzen.
So etwas haben wir eben nicht. Berlin ist kuchentellerflach. Die einzige märkische Schönheit heißt: Wasser. Draußen die Havel oder der Müggelsee oder sonst eine der vielen großen Wasserflächen. Führt da meinetwegen eine Nilfahrt oder die Seeschlacht von Salamis auf! Aber anderswo ist nirgends Aussicht. Und im Stadion wiederum verweht jeder Ton, selbst der durchs Sprachrohr grbrüllte.
Natürlich läßt man sich im übrigen Feste baß gefallen, denn jedes Volk, nicht nur das alte römische, will Brot "und" Spiele. Es ist nicht wahr, daß nur die wilhelminische Monarchie den Drang zum Pomp hatte. Nur ist die gegenwärtige Zeit leider so wenig zur Freude geeignet, da die böse Politik mit ihren Begleiterscheinungen einem ja doch den Spaß verdirbt. In einer kleinen Bauernschänke in der Rheinsberger Mark steht darum auch der Spruch an der Wand:
Sup di duhn |
Also sauf dich trunken und friß dich dick, aber halt dein Maul von Politik. Na ja. Die Bauern draußen sagen freilich: das Eine tun und das Andere nicht lassen! Die Berliner hätten natürlich gut reden. In Berlin ist ja, wie man in der Zeitung liest, in jedem Augenblick irgendeine große Sache los. Gewiß, gewiß. Da haben wir gestern die Festvorstellung im Opernhause anläßlich des "einjährigen" Rundfunk-Bestehens gehabt - beiläufig bemerkt: im alten Reiche wurden die "Marksteine" immer erst nach längerer Zeit gesetzt - und da waren freilich alle sogenannten Spitzen da und dazu unsereins als geladener Gast, aber da ist nur ein einziges Mal das Opernhaus voll, und Berlin hat vier Millionen Einwohner! Im übrige ist der alte Stil ganz wieder erreicht. Vorspiel und Festwiese aus den "Meistersingern", Ballett, eine weitere Ouvertüre, eine Szene "Fliegender Holländer", ein Weihespruch, von Walter Bloem gedichtet und persönlich vorgetragen, Ansprachen eines Staatssekretärs und eines Funkdirektors mit Verneigung nach der Loge rechts, wo "Er" sitzt, der hohe Herr und Landesvater. Vor der Loge Fritz Eberts aber ein halbes Dutzend jener Gentlemen, deren verbogenem Smoking man die polizeifiskalische Herkunft auf 20 Meter Entfernung ansieht. Es muß allmählich eine ganz kolossale Bildung sein, die Fritz Ebert sich so bei all den Kunstgenüssen aneignet. Die bescheideneren Arbeiterfeste besucht er meines Wissens längst nicht mehr. Dafür fehlt es ihm nicht an Einladungen zu offiziellen Festessen, aber das ist für den unglücklichen Mann in gewissem Sinne nur eine Last.
Sitzt er da neulich gerade beim dritten Gange: Mignon-Filets mit Gänseleberschnitten. Er nimmt nur eine von diesen Schnitten, läßt das Mignon-Filet liegen.
"Ja, bei wem's so gut anschlägt!", meint lächelnd ein Herr Generaldirektor in der Nähe.
Und Ebert erwidert: "Ich tue ja schon alles, was ich kann, ich reite täglich zwei Stunden und lasse mich jeden zweiten Tag massieren, aber es hilft alles nichts!"
Höflich und teilnehmend, wie unsere deutschen Arbeiter nun mal sind, werden sie hierzu höchstens denken: dem seine Sorgen möchte ich haben!
30. Oktober 1924 (Donnerstag)
8
Die ßeikolodschi beim Flirt - Oberstleutnant Siegert - Ein bißchen Griechisch - Überall rhythmisches Turnen - Steiners Eurhythmie - Haben wir eine Gesellschaft? - Die neue "Komödie" am Kurfürstendamm
Nein, ich will nicht zu Besuch nach England, so sehr mir auch manches drüben gefällt. Die Berliner Hausfrauen sind nämlich besser als die Londoner Hausfrauen. Dort kriegt man in neun von zehn Familien nach dem sonntäglichen Hammelbraten am Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag egal kaltes Hammelfleisch mit Pfeffferminztunke. Am Freitag muß man sich dann die Gurgel womöglich mit Curry zerkratzen lassen, um am Sonnabend in Erwartung des Sonntagshammels sie mit Worcestershiretunke nachzupolieren. Nein, ich mag diese Küche nicht und schätze ihre Frauen nicht allzu hoch. Aber die jungen Mädchen aus England, worunter ich keineswegs nur die Tippergirls der Revuen verstehe, gleichen Gott sei Dank sehr wenig der Miß unserer Witzblätter, haben fast durchweg etwas so Gesundes, Frisches, Rosiges, Unbekümmertes. Da ist eine oben im Londoner Vorort Finchley, die heiratet dieser Tage nach Berlin, heiratet einen veritablen Prussian von Übergardemaß. Vor zwei Jahren dachte sie nicht daran, sondern sagte mir in Oberstdorf im Allgäu fröhlich, sie wolle bloß flirten, "denn dabei man lernt kennen am best die ßeikolodschi von die Männer, was ist sehr interesting!"
Ach so, die ßeikolodschi. Nämlich die Psychologie, wie wir es aussprechen. So ein Fremdwort hat es in sich. Man ist gleich so "gebildet"! Der Oberstleutnant Siegert, der Freund zugespitzter Reden, sagte einmal: "Holt mir einen beliebigen Gefreiten von der Straße herauf und ich mache in 6 Wochen aus ihm einen Inspekteur der Fliegertruppen!" Das wäre reichlich riskant gewesen. Siegert liebte Verblüffendes. Er nannte ja auch die Flieger eine Kreuzung zwischen dem Zirkusdirektor Renz und der hundertarmigen Göttin Kali; und hat sich, der lose Vogel, erst neuerdings wieder durch Spott über Kriegsorden den Mund so verbrannt, daß die alten Kameraden entsetzt abrückten und daß er selber schleunigst aus dem Aeroklub austreten mußte. Aber ich möchte sein Wort variieren und behaupten: "Holt mir ein beliebiges Volksschulmädel von der Straße herauf, und ich mache mit zwanzig Fremdwörtern aus ihr eine Dame von Welt!"
Auch da kommt es natürlich noch sehr auf die Auslese an. Aber es ist doch wahr und wahrhaftig, daß wir uns durch nichts so leicht einfangen lassen, als durch scheinbar tiefgründige Oberflächlichkeiten. Wenn es nur nach griechisch klingt - wie Psychologie. Irgendein findiger Geschäftsmann wirft das Wort "Biochemie" auf den Reklamemarkt und schon sind Zehntausende davon überzeugt, daß Biochemie das einzig Wirksame gegen Arterienverkalkung, Rheumatismus, Asthma, Lungenemphysem, Impotenz und Grauen Star ist.
Heutzutage hat man's besonders mit dem Rhythmus. Ich will beileibe nichts gegen das sogenannte rhythmische Turnen sagen, das gegenwärtig in Berlin W epidemisch geworden ist. Das ist gut; eine ästhetisch gefärbte Abart des früher so bekannten Müllerns. Reife Damen jeglichen Formats ziehen sich morgens nur Badehöschen und Büstenhalter an und beginnen dann, meist in kleineren Zirkeln unter Leitung einer Lehrerin, daheim diese Übungen. Tennis und Hockey oder gar Golf sind bei uns doch noch nicht so verbreitet. Nach den entbehrungsreichen Jahren von 1916 bis 1923 aber ist der Heißhunger nach Fettem und Süßem - selbst alte Herren sieht man heute in jeder Konditorei Schlagsahne schlecken - so groß geworden, daß die Wirkung, der Mode entgegengesetzt, sich im Aufquellen zeigt. Auch der Engländer gebraucht da ein Fremdwort. Wenn er eine sehr umfangreiche Dame sieht, die er natürlich sofort für eine Deutsche erklärt, sagt er nicht "German woman", sondern mit leisem Lächeln: "German Frau!" Also das Überfrauliche wird in ganz Berlin und namentlich Berlin W so epidemisch, daß man das rhythmische Turnen als Gegenmittel auch epidemisch werden läßt. Die Damen nehmen es ernst. Vier oder fünf oder sechs, meist verheiratete, manchmal aber auch Jungmädchen darunter, "die es noch gar nicht nötig hätten", aber auf alle Fälle vorbeugen wollen, stehen da auf dem Teppich "mit sehr wenig an" und rollen die Schultern und schwenken den Oberkörper mit Bauchatmung vor- und rückwärts und spreizen die Beine und runden klassisch die Arme und gehen und stehen hoch erfreut Pose. Natürlich sind die Türen abgeschlossen und die Schlüssellöcher verhängt. Selbst ich als berufener Kritiker werde zu so etwas nie zugelassen, obwohl ich ganz dafür bin und das rhythmische Turnen für eine ganz prachtvolle Sache erkläre.
Also kein Wort gegen das rhythmische Turnen! Und erst recht kein Wort gegen das brave griechische Lexikon. Solange es das noch gibt, kann es uns an Lebensreform nicht fehlen. Schon für den leiblich Kranken ist es ungemein beruhigend, wenn der Arzt die Krankheit auf griechisch benennt. Ist einem so eine Pleuritis verbürgt, dann ist man schon halb getröstet. Und die allgemeine kulturelle Erkrankung ist auch nur griechisch zu bannen. "Ich weiß nicht aus noch ein: ich bin alles, was nicht aus noch ein weiß" - seufzt, laut Nietzsche, der moderne Mensch. Auch ihm kann griechisch geholfen werden. Nicht durch rhythmisches Turnen, aber - durch Eurhythmie.
Eurhythmie ist der neueste Geschäftszweig der Anthroposophen.
Wie man sieht, wir kommen vom Griechischen nicht los. Unter Anthroposophen habe ich mir immer, solange ich keine kannte, eine Art Sokratesse vorgestellt, bis eine bekümmerte Frau aus Berlin N, die Gattin eines abgebauten Beamten aus einer Zweizimmerwohnung, in der es immer nach nasser Wäsche und gebratenen Zwiebeln riecht, mir von der anthroposophischen Späterleuchtung ihres Mannes erzählt. Was der macht ? Ach, er macht im Schreiten Betbewegungen mit den Armen im Walde; und ißt kein Fleisch; und schläft auf blankem Fußboden; und fängt morgens um 5 mit Eurythmik an.
Da habe ich nun das Buch des Gründers der anthroposophischen Sekte Steiner über "Soziale Dreigliederung" gelesen und doch von dieser praktischen Auswirkung nichts gewußt. Auch das Tabernakel der Anthroposophen in Dornach bei Basel, bevor es niederbrannte, habe ich gesehen: einen plumpen hölzernen Kuppelbau auf abschüssigem Boden mit geradezu anarchistischen Säulen, verschieden lang, verschieden dick; man glaubt, man ist betrunken. Dieses Dornacher "Goetheanum", armer wehrloser Goethe, hat nun auch in Berlin, in der Motzstraße in einem Hof links parterre, eine von Frau Marie Steiner betreute Brutstätte gefunden. Da werden Kurse in Eurhythmie veranstaltet und sie kosten nur 25 Mark den Monat. Da lernt man die "sinnlich übersinnliche" Sprache. In dem Prospekt heißt es: "Der räumlich-bewegte Mensch wird zur Erscheinung des Seelisch-Geistigen."
Das muß man gesehen haben, da muß man reingetreten sein, sagt der Berliner.
Also bewege ich mich räumlich zum Lessingtheater, wo die Gemeinde zu einer Matinee versammelt ist. Ich hab's den ganzen ersten Teil hindurch ausgehalten. Dann dachte ich an den Sonntagsbraten daheim, die Flasche Burgunder, die Apfelbeignets, dachte an das schöne Herbstsonnengold im Tiergarten und rückte aus. Die Gemeinde hat sich an noch weiteren neun eurhythmishen Szenen sinnlich-übersinnlich erbaut; ich hatte genug an den acht genossenen. Diese Eurhythmie, scheint es, ist der erste Anfang des Liebhabertanztheaters aus Posemuckel. In fließenden Gewändern und dito farbigen Strümpfen (die Schritte müssen lautlos sein) und einer Schleiertoga kommen einige höhere Töchter auf die Bühne, machen bei wechselnder Beleuchtung zu Musikstücken einige reichlich stümperhafte Tanzbewegungen oder "untermalen" ebenso irgendwelche Gedichte, die Frau Marie Steiner von einer Parterreloge aus vorträgt. Es ist nichts Beschwingtes dabei.
Die jungen oder auch älteren Damen im Antiken-Gewande machen durchweg bitterlich ernste Gesichter wie bei einer religiösen Bußübung. Es ist quälend, diese starren Gesichter zu sehen. Das macht: die Eurhythmiker stehen - unter dem Gesetz! Rudolf Steiner hat die Ausdrucksmittel paraphiert. Wenn Frau Steiner deklamiert: "wir schweben empor", so flattern die Mädchen mit spitzen Ellenbogen, und wenn sie schreit: "da zuckte der Blitz", so machen sie Zickzackbewegungen mit gespreizter Hand. Das ist noch einfach und plausibel. Aber so einfach ist die Eurhythmie gar nicht. Sie kommt nicht aus dem tänzerischen Gefühl heraus. Sie will gelernt sein, Paragraphos wohl einstudiert. Es soll gar nicht eine Bewegungsform für eine Empfindung oder ein Erlebnis gesetzt werden. Nein, man vermißt sich, mit dem Körper zu - sprechen, ja es gibt Leute, die für jeden Laut eine bestimmte Bewegung auswendig wissen und dir ein F, ein H, ein O - fast hätte ich gesagt, ein X für ein U - in die Luft hauen, daß du denkst, sie sind meschugge geworden.
Also man sagt jetzt: "Sie treibt Eurhythmie." Früher sagte man: "Se red't mit de Händ'." Aber die Gemeinde ist begeistert und klatscht so stürmisch Beifall, daß draußen die Garderobefrauen an ein ganz großes Ereignis zu glauben beginnen.
Jetzt möchte ich nur noch einen Menschen, der auf Biochemie in allen Lebenslagen schwört, mit einem zusammenbringen, der in der Eurhythmie die Erlösung sieht, und ihre Debatte mir dann anhörten!
Es ist der deutsche Fluch, daß wir alles so bitter ernst nehmen.
Da verstehen die anderen, die vom Kurfürstendamm, sich weit besser zu erlustieren. Reinhardt hat die Laune gehabt, ihnen ein neues Theater zu schenken. Diesmal etwas ganz Exklusives. Kein Theater der Fünftausend, sondern ein Theaterchen der Vierhundert; der obersten Vierhundert, versteht sich, der obersten Vierhundert in der Steuerliste. Das ist mal was ganz Kokettes, diese "Komödie" am Kurfürstendamm 206. Schon die Logenschließer sind peinlich korrekte Gentlemen in modern wagerecht abgeschnittener Frackweste, und das Theaterchen hat keine offenen Ränge, sondern rundum - der Zuschauerraum ist knapp 6 Meter hoch - nur lauter Schwalbennester von kleinen Logen; vier davon sogar auf der Bühne selbst, hinter dem Vorhang. Der Sitz kostet 25 Mark. Spaß. Wir haben's ja. Es sind doch nicht alle Revolutions- und Inflationsgewinnler schon pleite.
Sie stellen die Besucher, und ihre Frauen insgesamt tragen ein derartiges Vermögen allein an Perlenketten zur Schau, wie ich es kaum je selbst bei Festvorstellungen im Königlichen Opernhause vor dem Kriege sah. Natürlich ist das, was wir hier in Reinhardts Komödie sehen, nicht "die Gesellschaft" von Berlin. Die gibt es jetzt überhaupt nicht mehr; allenfalls Reste von ihr in den symphonischen Sonntagskonzerten der Staatsoper. Wenn wir Gesellschaft sehen wollen, müssen wir schon außer Landes gehen. Auch das riesige Scalatheater in Mailand hat rundum Logen, aber sie sind alle in festen Händen, und das Parkettpublikum weiß: "Da wird gleich die Gräfin von Turin erscheinen." Oder: "Dort ist die Loge des Senators Albertini."Oder: "Das da ist der Duca del Mare." Oder: "Da haben Mascagnis Besuch." Oder: "Die Visconti Modrone kommen heute nicht." In Berlin kann man bestenfalls einmal die Würdenträger des Novembers beieinandersehen, wenn es eine offizielle Gratisvorstellung gibt, oder, wie gesagt, ein paar Gruppen der seit 1918 ergiebigsten Steuerzahler. Alles andere ist verarmt und zerstoben. Dafür ist alles in der "Komödie" echt kurfürstendammerisch. Schon im Vestibül leuchten rote Hummern am Bufett; und hinter jeder Loge befindet sich eine kleine Camera, in der man sich auf Wunsch servieren lassen kann. Das Ganze ist eine Unternehmung für gesättigte Existenzen, für die wahren Könige unserer Zeit, die sich zur Verdauung - Preis Nebensache - ein übermütig-lustiges Hofnarrenspiel leisten können. Goldonis 200 Jahre alter Schwank "Der Diener zweier Herren" ist von Reinhardt mit neuem Leben erfüllt, tollt wie spritziger Champagner über die Bühne, voll von neckischen neuen Einfällen, hinreißend in der komödiantischen Selbstpersiflage; hier ist jene Welt, die - nichts ernst nimmt.
Einer trägt das ganze Stück, der junge Thimig; ein pfiffiger Dummkopf von Diener, ein verfressener Tausendsassa von Diener, ein springlebendiger Harlekin von Diener, ein ergebenst schwitzender deustcher Diener dieses Parketts von schwarzhaarigen und elfenbeinblassen Geldherrschern des nachnovemberlichen Berlins. So viel sprühende Laune aber, als Reinhardt hier als Regisseur aufgebracht hat, hatte er nicht einmal einst im Sommernachtstraum.
Das Publikum war in der Vorstellung, die ich besuchte, durchaus seriös, wie man in Berlin zu sagen pflegt. Lauter legitime Gattinnen neben männlichen Embonpoints. Ich fürchte, davon wird Reinhardts Komödie auf die Dauer nicht leben können. Wenn sie nicht auch ein Pleitetheater werden soll, wie heute schon mindestens zwölf in Berlin, werden weniger seriöse Gäste, weniger legitime Gattinnen die Logen bevölkern müssen. Die vielen Schwalbennester sind wohl für flüchtigeres Volk gebaut.
Nun ist der Jubel nach dem dritten Akt verklungen, nun schließen sich in der Garderobe kostbare Pelze über den Perlenkolliers, nun fahren draußen endlos die Privatautos vor.
Im Dunkel steht ein Mensch.
"Verzeihung, ein Arbeitsloser, ich möchte . . ."
"Wat for'n Ding ?"
Die Tür kracht zu, das Auto entrollt; ein zweites, ein drittes, eine ganze Heerschar. Der Kurfürstendamm hat gut verdaut. Für die anderen ist die Eurhythmie das beste. Seit dem November 1918 arbeiten wir alle für den Kurfürstendamm.
6. November 1924 (Donnerstag)
9
Berufliche Sehnsucht nach dem Kittchen - "Abschlägig verbeschieden" - Für wen? - Wieder einmal Haussuchung - Berliner Selbstmorde - Das große Reitturnier - Bei den Stettiner Sängern - Die Theaterstulle
Man baut so gerne Luftschlösser, während man den Rauchkringeln der Zigarre nachstarrt. Die meinigen erstrecken sich sogar über dieses winzige Zeiträumchen des eigenen Erdenwandels hinweg. Mit besonderem Vergnügen denke ich mir aus, daß lange nach maienm Tode meine Kinder erzählen könnten:
"Ja, damals , als Deutschland noch eine Republik war, da hat auch unser Vater einmal hinter schwedischen Gardinen gesessen!"
So ganz fremd sind mir ja die Gefühle nicht, die man bei einer Freiheitsstrafe hat, denn in meinem salad days, wie der Engländer es nennt, in meinen grünen Jahren, habe ich schon einmal - wegen Herausforderung zum Zweikampf - ein paar Tage Festung gehabt. Ich wurde im Winter verknackt und wollte doch erst im Frühling sitzen. Da ein Gnadengesuch aufschiebende Wirkung hat, richtete ich also, obwohl ich wirklich eine Begnadigung nicht wünschte und erwartete, ein solches Gesuch an den Landesherrn, in dessen Bezirk ich verurteilt worden war. Nach langen Wochen erhielt ich vom Staatsministerium ein Schreiben, wonach Seine Königliche Hoheit das Gnadengesuch "abschlägig zu verbescheiden geruht" habe. Das war im März; noch zu früh. Und unter dem Schriftstück stand: Gebühr 10 Mark. Also antwortete ich dem Großherzoglichen Staatsministerium, sein Amtsdeutsch sei ja schauerlich, beim "Verbescheiden" müßte doch die geduldigste Feder rebellisch werden. Außerdem: weshalb sei in dem liberalen Musterländle eine Gebührentafel zwischen dem Ohr des Landesherrn und den Gesuchstellern aufgebaut ? In Preußen kenne man so etwas nicht. Wiederum nach einigen Wochen erhielt ich ein neues Schreiben, diesmal vom Großherzoglichen Verwaltungsgericht, das in seiner Sitzung vom Soundsovielten auf meine Beschwerde hin entschieden habe, daß die Gebühr zu Recht erhoben werde. Und unter dem Schriftstück stand: Gebühr 20 Mark. Da bezahlte ich fröhlich beide Summen und zog auf Festung, denn inzwischen war es Mai geworden.
Also damals habe ich das "Inhaftierten-Milieu" schon ein wenig kennengelernt. Aber so richtig Gefangener, sagen wir einmal Untersuchungsgefangener, bin ich noch nie gewesen. Nicht einmal unter dem Gesetze zum Schutze der Republik. Meine besten Freunde tun schon verwundert. Meine Kinder schätzen mich nicht mehr als ganz untadeligen Mann des alten Systems. Habe ich aber nicht seit sechs Jahren das Ätzendste gegen unsere Novemberlinge geschrieben ? Das ist es eben: ein Mensch von Geschmack vermag sich immer so auszudrücken, daß es vor dem Gesetze einwandfrei ist, auch wenn die Gegner darob die Kränke kriegen. Was sollen sie tun ? Da wir "bekanntlich" in dem Lande der vollkommensten Freiheit leben, seit Scheidemann die Republik proklamiert hat, ist das ganz einfach. Kann man dem Verfasser gerichtlich nichts anhaben, so versucht man, mit nackter Polizeigewalt sich seiner Schriften zu bemächtigen und sie beiseitezuschaffen; bis nachher die Beschwerde erledigt ist, ist vielleicht die beste Zeit für die Verbreitung der Arbeiten schon vorbei.
Ich habe mir alle die Jahre hindurch schon so genau in Gedanken die Zelle ausgemalt. Welch' himmlische Plauderei ergäbe das nachher! Ich passe mit meiner Figur und meinem Kindergemüt in jede Zelle. Es geht mir ja nicht so wie dem Vetter Nick, dem im Onestep, von dem einem heute jedes Tanzorchester und jedes Grammophon schon entgegengröhlt:
Vier Meter lang, zwei Meter dick, |
Aber nichts da. Keine Anklage, keine Vorladung. Bloß in ganz Berlin werden - ohne richterlichen Befehl - Polizeibeamte herumgejagt, um zu beschlagnahmen, was sie vom 51. bis 100. Tausend meiner Schrift "Für wen? Ein Rückblick auf 1914 bis 1924" noch kriegen können. Vor dieser Broschüre scheinen unsere Roten, auch die roten Polizeipräsidenten, wirklich von dem großen Unbehagen gepackt zu sein. Sie bringt nur Tatsachen; aber sehr, sehr unbequeme, die bis zum 7. Dezember noch viel besprochen werden mögen. Sie ist bis auf die letzten Tage erneut und ergänzt, nachdem ihre erste Auflage, damals unbeanstandet, schon zum 4. Mai ihre Dienste getan hatte. Ob die Polizeibeamten viel gefunden haben ? Du liebe Güte! Keinen Arm voll. Weder in der Druckerei noch an der Versandstelle noch bei mir. Jeder Besteller kriegt das seinige, selbst wenn er etliche tausend Exemplare braucht. Ich selbst muß bekennen, daß mir die Herren von der Polizei heute unter der Republik viel sympathischer sind als einst unter der Monarchie, denn heute walten sie ihres Amtes mit einem so vergnügten Augenzwinkern, daß einem das ganze Herz aufgeht. Sie haben nicht mehr den bärbeißigen Wachtmeistertyp von ehedem. Es sind Menschen von Welt, die innerlich auch schon ihren Rückblick auf 1914 bis 1924 längst gemacht haben. Ich erleichtere ihnen gern ihr schweres Amt. Bei mir liegen schon immer sämtliche Schlüssel für eine etwaige Haussuchung - diesmal war es die dritte in zwei Jahren - bereit. In den beiden Beamten, die gestern stundenlang bei mir waren, hätte auf Anhieb niemand Polizisten vermutet. Der eine sah aus wie ein netter junger Kaufmann von Rudolf Hertzog; der andere wie ein Charakterspieler eines guten Theaters. Wohlerzogene Leute. Höflich zu mir Höflichem. War mir eine Ehre. Danke, gleichfalls. Nur glaube ich nicht, daß diese Leute, die bei einem Hungergehalt die Republik schützen sollen, mehr für diese Republik übrig haben als ich.
Kürzlich haben wieder zwei Berliner Schutzleute Selbstmord begangen; junge, kräftige Männer von rund 26 Jahren, denen dienstlich und außerdienstlich nichts vorzuwerfen war. Den eine begleitete seine Braut in den Tod, seine "ewige" Braut; denn bei 80 Mark Monatsgehalt heiraten wäre doch mehr als leichtfertig. So grinste die Verzweiflung die jungen Leute an. Sie wissen, daß die Republik durch unerhörtes Anziehen der Steuerschraube einen Überschuß von etwa 1 Milliarde Goldmark gemacht hat. Man könnte sie also besser stellen. Aber es geschieht nicht, und wenn es endlich doch unaufschiebbar wird, dann ist es unzulänglich. Man hätte die jungen Leben dem Staat sonst wirklich erhalten können. Wenn zu der gleichen Zeit zwei alte Droschkenkutscher ihrem dürftigen Dasein Valet sagten, so kann man da schon eher von Schicksalsbestimmung sprechen. Der Verkehr gehört von Tag zu Tag mehr der Maschine; die Droschkenkutscher werden allmählich so überflüssig wie einst die Nagelschmiede, die doch zu Großvaters Zeiten noch ganze Dörfer bevölkerten. Manchmal steht so ein Gaul, der sich kaum mehr seinen Hafer verdient, höchstens noch als Häcksel-Motor verspottet wird, den ganzen lieben Tag an seiner Haltestelle, ohne daß ein einziger Fahrgast kommt. Mit dem Rückgang der Pferdedroschken von rund 8000 vor dem Kriege in Berlin auf jetzt kaum noch 800 verlieren auch die Großstadtspatzen ihren früher so reichgedeckten Tisch. Man sieht kaum mehr welche auf den Straßen. Ihr fröhlich-freches Geschilp hat fast ganz aufgehört.
Scheidet das Pferd aus den Beförderungsmitteln der Städte allmählich ganz aus, so erobert es sich dafür im Sport wieder die alte vornehme Stellung. Unsere Warmblutzucht nimmt sogar einen erfreulichen Aufschwung. Napoleons Reitergenerale schätzten einst nichts so sehr wie das deutsche Pferd aus der Eifel, das sie schließlich denn auch bis zum letzten Fohlen aus dem Lande schleppten. Heute stehen die Ostpreußen und die Hannoveraner und noch manche andere mindestens eben so hoch. Vor dem Kriege kaufte sich mancher deutsche Offizier roh eine ungarische Remonte für wenige hundert Mark, ritt sie zu und hatte nachher ein durch seine Gänge bestechendes Parade- und Geländepferd, das sich vor allen anderen hervorhob. Heute brauchen wir die Pußta nicht mehr, ja vielleicht holen sich die Ungarn nächstens ihre Pferde sogar von uns. Verschiedene ihrer Offiziere reiten jetzt - in Uniform - im Sportpalast mit, wo 14 Tage lang vom Reichsverband und vom Berliner Sportkartell Turniere veranstaltet werden. Auch Holländer, Schweden, Schweizer sind dabei. Aber es ist nicht mehr so, wie einst, lange vor dem Kriege in Turin, wo unsere deutschen Pferde und Reiter beschämend von der hohen internationalen Klasse abstachen. Damals "klemmte" sich der Kaiser dahinter. Er machte wirklich Dampf auf. Wir hatten ja treffliche Kampagnepferde und famose Frontreiter, aber kaum etwas für Turniere; in der Schulreiterei war Wien unerreicht, im Jagdspringen reichten wir an die Italiener nicht heran. Jetzt heimsen unsere Turnierreiter in aller Welt Preise ein, und in Berlin stehen sie an der Spitze. Wenn man jetzt - ich tue es Tag für Tag - im Sportpalast sitzt, dann kommt einem der Riesenraum, in dem sonst Sechstageradler starmpeln oder Boxer einander die Kinnladen traktieren, wie geadelt vor. Manchmal hat man fast die Vision, daß wir wieder so wohlhabend geworden seien, um uns ritterliches Spiel gönnen zu können. Freilich: irgendwoher ist auch diesmal sicher Kapital "hereingenommen" worden. Durch die Eintrittsgelder schafft man es nicht. Die Zahl derer, die so viel Freude am edlen Halbblut haben, um täglich herzukommen, ist zu gering, es kommen im wesentlichen nur die Angehörigen der Teilnehmer des Turniers, dazu die paar hundert Nichtstuer, die nur die Wette am Totalisator lockt. Bei dem Reiten einer Abteilung von 21 Damen ist mir aber manches über die Herkunft der Gelder klar geworden. Man hat eben gewisse Schichten der großstädtischen neuen Gesellschaft "hereingenommen" und damit ihr Geld. Jedem alten Kavallerieunteroffizier muß es ja zum Ko--bolzschießen sein, wenn er solche Abteilung auf den guten Pferden sich durch die Bahn wälzen sieht. Die Tetenreiterin reitet noch die Ecken aus, die anderen 20 runden ab, juxen auf, halten statt der vorschriftsmäßigen zwei Pferdelängen gar keine oder einen Abstand 20 Pferdelängen, parieren nicht durch, wenn sie ins Juckeln kommen, und verstehen nicht einmal bei abgekürztem Trabe ihr Pferd zu versammeln. Abgesehen von vielleicht drei oder vier Damen ist das übrige nur Zerrbild, wenn man den Turnier-, nicht den Tiergartenmaßstab anlegt. Vielleicht konnten die Vorfahren dieser Berliner Amazonen besser auf Kamelen in der Wüste reiten. Aber die Ritte etwa des Herrn v.Langen oder des Prinzen Friedrich Sigismund oder des Grafen Hohenau oder wieder des jungen K.Chr.v.Knobelsdorff oder verschiedener Offiziere der Reichswehr oder der alten Armee sind einfach wundervoll. Auch die wenigen Laien im Zuschauerraum werden gepackt und zollen begeistert ihren Beifall. Die deutsche Leistung reißt mit fort. Und der Jubel wird frenetisch, wenn unsere jungen Bauern einziehen, die ländlichen Reitervereine mit ihren Standarten, bis ihrer an die 200, "Roß und Reiter wie aus Erz", in der großen Halle traben und galoppieren und schnurgerade einschwenken und uns beweisen, daß auch die reiterliche - Disziplin bei uns lebendig bleibt; bis auf "den" Tag, der einst kommt.
Die Sehnsucht nach diesem Tage läßt sich durch keinen Unfrieden von Versailles, durch keine Weimarer Verfassung, durch kein Dawes-Protokoll in uns ertöten. Wer nur die westlichen Kabaretts oder die Revuen unserer Fleischbeschau-Paläste besucht, der lernt das nicht kennen, aber wer einmal zu den "Stettiner Sängern" in die Reichshallen am Dönhoffplatz geht, wo doch wirklich nur "Volk" im engsten Sinne sich versammelt, der weiß Bescheid. Ist es wirklich schon so lange Jahre her, daß ich als junger Milchbart zum ersten Male bei diesen Sängern war ? Sie sind unverwüstlich. Noch heute, wo freilich alle die Alten von damals schon längst ihren Ersatzmann haben, ist dies die einzige Berliner Theater- und Sängertruppe, die kein weibliches Wesen in ihren Reihen hat. Es gibt da viel drastischen Berliner Humor, viel gut deutsche Sentimentalität, viel vaterländische Erhebung, aber keinerlei rüden Kitzel. Es wird in keinem Berliner Zuschauerraum so herzlich gelacht. Und nirgends gibt es so tiefe Andacht wie hier, wenn etwa in der Skizze vom "Studentenleben auf der Rudelsburg", auch szenisch packend umrandet, die alten Lieder erschallen. Und es sitzen die Leute mit Tränen in den Augen und mit gefalteten Händen oder - geballten Fäusten da.
Volk, nur Volk. Lauter Volk, das wohl bis 7 Uhr noch hinter dem Ladentisch gestanden hat und nachher nicht mehr die Zeit hatte, zu Hause Abendbrot zu essen. Dafür nimmt man eben die "Theaterstulle" mit. Bitte sehr, das ist etwas ganz besonderes. Daheim hat man vielleicht nur Landleberwurst auf dem Butterbrot. Die Theaterstulle aber, zusammengeklappt, enthält - Schinken! Selbst auf den teuersten Plätzen, denen zu 2½ Mark, ganz vorne, wird diese Stulle langsam und feierlich durch die Zähne gezogen, bis der widerspenstige Speckstreifen einen halben Meter lang ist und die Finger sich tief in das Butterbrot krallen müssen, damit nicht die ganze Schinkenschnitte herausrutscht. Auch das geschieht durchaus mit Andacht und Gefühl. Besonders wenn ein Nachbar zusieht, der etwa nur Limburger Käse auf seiner Stulle hat. Natürlich hat man auch seinen Schatz bei sich oder seine Frau, man ist aufgeräumt, man ist gerührt, man denkt an alte Zeiten, man gluckst und schluckt, und vor einem stehen einträchtig auf dem Rückbrettchen des Vordersitzes die zwei Glas hellen Bieres. Man kann sich doch vor Muttern oder vor der Braut nicht lumpen lassen. Und wenn es einem auch schlecht geht -
Gönne dir etwas, |
13. November 1924 (Donnerstag)
Glossen 4 - 6 |
Jahresinhalt |
Glossen 10 - 12 |