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Zeebrügge und anderes - Eine Division Zinnsoldaten im Stellungskampf - Z.R.III zum Abschied - Zeppelin-Erinnerungen - Eckeners Anfänge - Schon fünf Revuen - Der absetzbare Bubikopf - Große Gesellschaft bei Schachts - Ebert und der Wachtposten
In den Schulen kleinerer Städte erscheinen zuweilen Berginvaliden, um gegen kleines Eintrittsgeld ihr "bewegliches" Modell eines Bergwerks vorzuführen. Da sehen die Buben, was ein Schacht ist und was ein Stollen, sehen den Förderkorb auf- und niedersausen und vor Ort die Häuer bei ihrer Arbeit am Gestein.
Im Berliner Zeughaus haben wir - noch winziger - die Darstellungen großer Schlachten von 1866 und 1870, nur starr, nicht beweglich; darunter besonders gut mit den Regimentern von Zinnsoldaten der Tag von St. Privat. Aber das ist alles schon ein bißchen alt und verstaubt. Und so zusammengedrängt nach heutigen Begriffen. Inzwischen hat der Weltkrieg uns ganz andere Maße gelehrt. Aber Giftschwaden strömten von der Heimat zur Front, schlagende Wetter streckten die Kämpfer nieder und - wir sind Invalide geworden, besitzen keine modernen Kampfmittel mehr, können wieder nur mit Modellen hausieren gehen, um in einer neuen Jugend die Liebe zum Waffenhandwerk zu erwecken. Wir haben kein Museum unserer Großtaten von 1914 bis 1918, wir haben noch nicht einmal eine bleibende Darstellung der Schlacht vor dem Skagerrak oder der Schlacht bei Tannenberg. Unsere britischen "Vettern" haben keine Kriegserinnerung, die daran heranreichte. Trotzdem pflegen sie ihre Überlieferung. In der Londoner Börse, wo die großen Wandgemälde von englischer Geschichte erzählen, hängt als neuestes aus der Zeit des Weltkrieges: "Zeebrügge". Dabei war das keine Schlacht, sondern nur ein kleiner englischer Handstreich; noch dazu ein mißlungener. Und im Regierungspalast der Reichsschau in Wembley ist etwas Imponierendes ausgestellt: "Eine deutsche Flotte ergibt sich". Kein Ort, kein Datum dabei; wenn man näher zusieht, entdeckt man, daß es sich um die Ablieferung nach dem Kriege in Scapa Flow handelt! Aber das weiß der schlichte Englishman aus Cornwallis oder Neuseeland oder Manitoba natürlich nicht, sondern ihm schwillt nur das Herz über die englischen Siege; und in scheuer Achtung staunen auch die Foreigners aus Siam und Palästina und Bolivien.
Können wir denn garnichts tun? Da ist ein kleiner ehemaliger Leutnant bei uns, Sander, der 1920 Adjutant bei Ehrhardt war, auf den Gedanken gekommen, in der Art der Zeughaus-Schlachten das Modell des Stellungskampfes einer deutschen Division im Weltkriege mit Zinnsoldaten darzustellen. Unter dem Protektorat des Generalmajors Grafen v.d.Goltz und unter der geschäftlichen Leitung durch die Deutsche Zeitung ist das Tableau in 3 mal 5 Metern in einem leeren Fabriksaal in der Steglitzer Straße 18 in Berlin aufgestellt und soll von hier aus seinen Weg durch ganz Deutschland machen. Unseren Buben leuchten die Augen. Auch mancher alte Krieger nimmt seine Frau mit und erklärt ihr hier an den kleinen Modellen die modernen Kampfmittel, die wir heute - nicht mehr haben dürfen, die schweren Minenwerfer, die 21-cm-Haubitzen, die Flugzeuge, den Fesselballon, zeigt ihr an der einen Stelle den feindlichen Einbruch, der mit Handgranaten abgewiesen wird, an einer anderen den Riesenscheinwerfer en miniature, den abrollenden Lazarettzug, die herangaloppierende Munitionskolonne oder den eiligen Bau einer Aufnahmestellung. Manches mag man kindlich nennen, wie den Flugplatz nur 5 Kilometer hinter der Front oder das stehend-freihändige Schießen der meisten Zinnsoldaten außerhalb des Schützengrabens, aber das erklärt sich durch den Zwang des Zusammendrängens oder des Sichtbarmachens. Jedenfalls gibt die Aufstellung den Kindern und den Laien einen guten Einblick; und da es nicht ein bestimmtes Gefecht ist, nicht eine namentlich bezeichnete Truppe, sondern "der unbekannte Soldat" und seine Führer in schematischer Darstellung, können auch unsere Nie-wieder-Krieg-Republikaner kaum etwas gegen diese Ausstellung einwenden. Nur ein Herr Schlesinger, der weder zu den bekannten, noch zu den unbekannten Soldaten des großen Krieges gehört hat, gießt seinen Spottkübel in der demokratischen Presse darüber aus.
Wir haben wirklich alle Veranlassung, gerade jetzt der deutschen Taten und des schmählichen Ausgangs zu gedenken, wo der letzte Zeppelin als Beutestück seine Fahrt über den Ozean antritt. Als er neulich auf dem anderthalbtägigen deutschen Rundfluge über Berlin erschien, ist in der offiziellen Begrüßung durch unsere nachnovemberliche Stadtobrigkeit von dem Verlust mit keinem Wort die Rede gewesen. Statt dessen hat man etwas reichlich nach alter deutscher Unart gegackert. "Noch nie" sei bisher ein Mensch anders als zu Wasser über den Ozean gekommen. Nachdem ein englisches Luftschiff des Zeppelin-Typs schon vor Jahr und Tag und nun auch noch die amerikanischen Weltumflieger auf dem Luftwege hinübergekommen sind, hätte die Berliner Bürgermeisterei sich diesen Satz wirklich ersparen können. Der Flug selbst ist heute nichts Unerhörtes mehr. Ein gewöhnliches Verkehrsluftschiff der Zeppelin-Werft von viel geringerem Ausmaße, das später als "Dixmuide" von unkundigen Franzosen in den Untergang gefahren wurde, ist schon 118 Stunden, nahezu 5 Tage ununterbrochen geflogen; und unter normalen Umständen kommt man in der Hälfte dieser Zeit über den Atlantik. Jetzt, wo uns der "Zeppelin rigide III" als letzter verläßt, quillt die Erinnerung an die 25 Jahre Zeppelin-Geschichte wieder übermächtig in uns empor. Es war, glaube ich, im Jahre 1898. In einem Stuttgarter Hotel sitzt ein straffer kleiner Herr mit weißem, buschigem Schnurrbart, in Zivil, am Ende der Tafel und redet lebhaft gestikulierend auf drei Offiziere ein. Wer ist das? Und der Oberkellner zuckt die Achseln und sagt:
"Dees isch e Narr, der meint, mer kennte fliege; Zeppelin heischt er."
Aber dieser stahlharte greise Junker und General paukte sich sieghaft durch, unerschüttert durch alle Schicksalsschläge im Erfinderleben. Das erste Luftschiff verließ, während Zeppelin mit gefalteten Händen in Gegenwart seiner Arbeiter laut um Gottes Segen betete, schwebend die schwimmende Halle in Friedrichshafen, das dritte konnte schon den Flug nach Berlin wagen, eines verbrannte bei Echterdingen, eines zerkrachte im Teutoburger Walde, aber in der letzten Not, nachdem der alte Graf sein ganzes Vermögen zugesetzt, half ihm das gesamte deutsche Volk durch eine freiwillige Riesenspende wieder auf, der Kaiser tat sein Möglichstes für das große Werk, die kleinen Konkurrenten auf falschem Wege um den Major Groß herum verstummten, - und im Kriege kreuzten deutsche Luftschiffe bei Island und vor den Kanarischen Inseln und über dem ägyptischen Sudan. Im Frieden und im Kriege habe ich manche Stunde an Bord von Zeppelinen verbracht; im Kriege nur in der ersten Zeit, bis das Telegramm Bethmanns - "London darf nicht beworfen werden, das wäre völkerrechtlich unzulässig" - kam und ich in ohnmächtigem Zorn, vorzeitig, die Luftschifferei mit dem Schützengraben vertauschte. Zu meinen ältesten Erinnerungen aber gehört ein flammender Aufsatz "eines" Dr. Eckener für die Sache Zeppelins, ein Aufsatz von solcher Pracht der Bilder und von so suggestiver Eindringlichkeit, daß ich glaubte, den besten Schilderer in der jungen Schriftstellergeneration entdeckt zu haben. Wer denn das sei ? Ein Meteorologe, hieß es; kein Schriftsteller; auch kein Techniker. Seither haben viele Tausende diesen liebenswerten Menshen und in seiner holsteinischen Beharrlichkeit besten Mitkämpfer und Mitarbeiter Zeppelins kennen gelernt und schauen ihm nun in Ehrfurcht und Trauer nach, wo er den stolzesten Bau seiner Werft über den Ozean der größten Goldmacht der Welt zuführen muß.
Die Phäaken und Böotier der Reichshauptstadt haben natürlich ganz andere Sorgen und Freuden, haben ihre innerliche Erhebung am Zeppelintage vor zwei Wochen schon ganz vergessen. Wir anderen wollen diese Stunde nicht vergessen, die so wundersam uns eine "Volksgemeinschaft" brachte, die keine heutige Politik erreichen kann. Eine einmütige Nation jubelte in allen deutschen Gauen nach oben. Der dort im Äther schwimmende riesige Silberwal, das war die deutsche Tat, die den Klassenkampf und alle sonstige Scheidung vergessen ließ. Ein Vorzeichen. Wenn irgend einmal ein Tatmensch bei uns ersteht, um die Zeit der Reden und Parlamentsbeschlüsse zu enden, wird er ebenso das ganze Volk mit fortreißen; und dann hat unsere Knechtschaft ein Ende. Heute aber ist es für die große Menge natürlich weit wichtiger, ob man die inzwischen herausgekommene fünfte Revue dieses Saisonbeginns gesehen haben "muß" oder noch warten soll, bis sämtliche Theater nur noch Revuen und lebende Kandelaber aus nackten Frauen bringen; oder ob es an der Zeit ist, daß man dem Bubikopf wieder entsagt, der für die meisten Mädchen schon längst zur Frisur a la Reiserbesen geworden ist, da das tägliche Kräuseln doch zu teuer wird. Ganz Schlaue wissen sich auch da gut anzupassen. Tritt da neulich, während ich bei meinem Bartschaber sitze, eine schlanke Schöne herein, um sich den Bubikopf neu wellen zu lassen. "Ich hole ihn nach einer Stunde wieder ab!" sagt sie, zieht sich - die Bubi-Perücke vom Haupte, unter der sich hübsches langes Haar in schlichtem Knoten offenbart, und stülpt das Ding hin. Gebobbt geht die junge Dame nur ins Bureau und zur Tanzdiele. Wenn sie einen Besuch bei der Erbtante macht, dann tut sie es mit ihrem natürlichen Haar. Man muß Tante vorsichtig behandeln. Tante sitzt im Lehnstuhl und nimmt übel. Das ist die Hauptbeschäftigung der lieben Tante, die man doch so nötig hat.
In die wirklich erste Gesellschaft ist der Bubikopf bei uns nur verhältnismäßig wenig eingedrungen, und so wird es auch wohl anderswo sein. Man trifft ihn auch noch kaum auf den Zweckessen unserer höheren nachnovemberlichen Beamtenschaft, die jetzt erste Gesellschaft werden will. Bei Reichsbankpräsidents sah es neulich wirklich fast ganz so aus, wie vor elf oder zwölf Jahren bei den damals Hochmögenden, nur daß es seither ein wenig üppiger geworden ist. Der vornehme und materiell so bescheidene Havenstein hat in Schacht den für unsere Zeiten durchaus passenden Nachfolger gefunden. Man versteht jetzt ganz anders zu repräsentieren, man legt gar keinen Wert mehr darauf, irgendwelche deutsche Ärmlichkeit darzustellen. Schacht hat die Havensteinsche Dienstwohnung modernisiert bekommen, wofür Summen ausgegeben sind, die von beteiligten Handwerkern auf 400 000 bis 500 000 Goldmark geschätzt werden. Der neue Herr Reichsbankpräsident, der Matador der demokratischen Partei, hat bei Saisonbeginn sein erstes großes Fest allerdings geben müssen, ehe noch alles fix und fertig war. Aber die wenigen Räume, die noch Baustellen waren, wurden durch eigens aufgeführte Wände, durch Aufbauten mit köstlichen Vasen und anderes, so gut verdeckt, daß nichts Störendes erblickt werden konnte. Gerade in einer Stellung, wie Schacht sie inne hat, muß man heute mehr denn je mit Ausländern verkehren, da sie doch überall in unserem staatlichen Leben als Aufsichtsräte installiert sind, und sie empfinden es natürlich angenehm, wenn sie auf eine ihrer Ansprüche würdige Umgebung treffen. Die Zeiten, wo man für einen halben Dollar eine Fahrkarte erster Klasse Berlin-München bekam und auch sonst für ein Fast-Nichts glänzend leben konnte, sind für die Fremden, seit Helfferichs Rentenmark den Papiermarkschund weggeräumt hat, wohl endgültig dahin. Um so angenehmer empfinden sie daher nun die Geselligkeit im Kreise unserer nachnovemberlichen höheren Beamtenschaft.
Am unergiebigsten fast ist für sie das Haus Ebert, denn der Präsident der Republik treibt keinen großen Aufwand. Seit er es gelernt hat, reitet er nur sehr gern; das erhält außerdem jung und schlank. Häufig genug sieht man ihn in hohen Stiefeln, fertig zum Ausreiten, aus den inneren Gemächern seines Palastes kommen. Leider ist sein Bild noch nicht in allen Landeskindern fest "verankert". Ein Posten vor seinem Portal steht kürzlich unter Gewehr, als der republikanische Landesvater heraustritt. Ebert sieht den Posten an. Der Posten sieht Ebert an. Weiter erfolgt nichts. Wenige Minuten später wird der brave Reichswehrsoldat, der erst vor vierzehn Tagen zum Wachtregiment nach Berlin gekommen ist, von dem Wachhabenden angepfiffen. Warum habe er vor dem Herrn nicht präsentiert ? Das sei doch, gottverdimmich, der Reichspräsident gewesen!
"Der ?"
Das war das einzige Wort, das der tapfere Soldat fassungslos herausbrachte. Seitdem hängt, um derartige Unannehmlichkeiten zu vermeiden, ein großes Bild Fritz Eberts in der Wachtstube an der Wand.
9. Oktober 1924 (Donnerstag)
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Alles mümmelt - Die Boxkämpfe im Sportpalast - Breitensträter in Form - Vom weiblichen Blutdurst - Isadora Duncans Wiedererscheinen - Djagilews Ballett - Als einziger Zuschauer bei der Probe - Liebe ausgeschlossen
Ganz Berlin mümmelt. Die nettesten jungen Mädchen gleichen auf einmal alle meiner verstorbenen Großtante, deren Kinnladen in den letzten achtziger Jahren ihres Lebens auch dauernd mahlten. Immerzu, auch wenn es gar keine Mahlzeiten gab. Als Junge dachte ich, daß nur zitterige alte Großtanten und wiederkäuendes Rindvieh mümmelten. Oder allenfalls Binnenländer auf der ersten Überfahrt übers Haff oder nach Helgoland; aus Angst vor Seekrankheit oder kurz vor ihrem Ausbruch. Aber was ist in die Zehntausende von Berlinern gefahren, daß sie ihre Kinnladen nicht stillhalten können ?
Es ist die große Amerika-Äfferei. Sie haben Kaugummi im Munde. Jeder dritte Straßenhändler hat Beech Nut auf seinem Wägelchen. Für 75 Pfennig gibt es fünf der kleinen weichelastischen Tafeln.
Und so haben denn - mm, mm - alle Leute etwas zu kauen und zu lutschen und zu rollen und zu formen, und wenn man sie nach Beliebigem fragt, so spucken sie zwar nicht erst vor einem aus, wie der priemende Matrose, aber sie sprechen - mm, mm - mit etwas belegter Knödelstimme und lassen während des Sprechens die Zunge unentwegt kreisen. Auf einem Amerikadampfer, dem Presiden Grant, bin ich vor Jahren zum ersten Male in eine solche Wiederkäuer-Gesellschaft geraten und kann nur sagen, daß meine Eindrücke dabei ästhetisch unverwischbar waren. Ganz gleich, ob es sich um das Gesicht eines frischen jungen Mädels oder das eines alten Gelehrten handelt: der Anblick der rastlos und konvulsivisch bald hier, bald da aufgebeulten Maultaschen oder der Ober- oder der Unterlippe, dieses Brodeln und sozusagen Blasenwerfen irgendeines verdeckten Gerichts im Munde ist gräßlich. Aber das Smart-Amerikanische ist nun mal die große Mode und so stopft sich denn jedermann den "chewing gum" hinter die Zähne, saugt in den ersten zehn Minuten die ihm anhaftende Süßigkeit bis zum letzten Atom aus und wälzt den Rest, der weiter nichts ist als eine Art geschmacklosen Glaserkitts, stundenlang weiter zwischen Zunge und Gaumen und Zähnen. Ist eine Pause unumgänglich nötig, so kann man den Klecks - in Kugelform, in Würstchenform, in Hantelform, wie man ihn sich zurechtgedrückt hat - unter die Tischplatte kleben oder an die Reeling; und in Augenblicken der Gefahr meinetwegen den Kaugummi als Faden abhaspeln und sich wie eine Spinne daran aus dem Fenster des zweiten Stocks auf die Straße niederlassen . . .
Das lächerlichste ist, daß alle diese Menschen - mm, mm - sich als Sportsleute vorkommen, denn in den Zeitungsreklamen steht ja, daß beim Sport Beech Nut unentbehrlich sei. Kaue nur feste, dann siegst du. Vor allem aber - mm, mm - kaue, wenn du als Zuschauer dabei bist, dann denkt vielleicht jemand, du seist auch einer vom Bau.
Was ich dazu denke, das sage ich nicht.
Jedenfalls kauten beim letzten Meisterboxen im Sportpalast links und rechts von mir die Männer und Frauen Berlins so intensiv, daß sie das Opernglas nicht ruhig halten konnten. Das wird mit der Zeit freilich sich wohl noch bessern. In Deutschland wird ja alles methodisch von Grund auf gemacht. Also werden wir neben den freundlichen Damen, die in ganz Berlin W jetzt davon leben, daß sie der Menschheit das Mah-Dschong-Spiel "mit allen Finessen" beibringen, demnächst wohl auch Kaugummilehrer - oder vielmehr Gummikaulehrer - bekommen.
Die Gefahr, daß jemand in plötzlicher Erregung das Gummiknäuel verschluckte und sich so die Kehle verkittete, war während der diesmaligen Boxerei zum Glück nicht groß, denn es verlief alles unentschieden und es gab keinen Knockout, um dessentwillen allein doch die annähernd 10 000 Menschen hingehen. Der Menschendunst, der Fieberdunst ist dementsprechend. Aus dem Dunkel der Riesenhalle steigen die Schwaden auf und schwälen vor dem grellen Bogenlicht in der Mitte über dem Boxerring. In den einleitenden Kämpfen sieht der Berliner Kulturmensch von 1924 wenigstens rohes Fleisch. Einem Boxer wird die Temporalis angeschlagen und die Gegend der linken Augenbraue aufgerissen. Sein Gegner hat schon im zweiten Gange eine blutiggeschundene linke Schulter. Ein paar junge "Damen" im Parterre, Block A, lecken sich tiefbefriedigt die Lippen. Das ist Natur, nicht etwa Dekadenz und Perversität. Es ist der ewige Unterschied der Geschlechter. Wenn die Geliebte sich auch nur den Finger ritzt, dann hat der Jüngling schon beinahe Tränen in den Augen. Wenn das Mädchen aber den Jüngling so recht lieb hat, dann sagt es: "Ich möchte dich zerfleischen!" Ich begreife es nicht, daß Männer, die diesen grausamen Kätzcheninstinkt doch kennen, ihre Mädchen zu dem Boxkampf in den Sportpalast schleppen können; ich möchte wetten, daß manch eine, als gerade Hans Breitensträter von Cook einen Leberhaken versetzt bekam und auf eine Weile niederging, sich so in den Nachbar gekrallt hat, daß er als Nichtboxer und friedlicher Zuschauer doch mit blauen Flecken heimging. Gegen früher auffallend viel weibliche Zuschauer sieht man diesmal. Soweit sie nicht durch Gummikauen an lebhafter Meinungsäußerung verhindert sind, beteiligen sie sich auch an Beifall und Pfeifen und Zwischenruf. Wir sind, heißt es, kühle Nordeuropäer. Unsere Frauenwelt bedarf nicht der strengen Abschließung, wie sie im Süden üblich ist. In Sizilien darf eine Dame nicht einmal allein in die Konditorei gehen, sondern läßt auf der Straße halten und sich die Portion Eis an die Droschke bringen. In Andalusien können nicht einmal zwei Freundinnen gemeinsam ohne männliche oder Dienstbotenaufsicht das Theater besuchen. Dafür geben sie sich um so leidenschaftlicher aus, wenn sie etwa beim Stiergefecht sitzen, wo sie hingerissen dem Matador oder - dem Stier zujubeln. In der Abschließung machen wir es dem Süden nicht nach, aber allmählich in der Leidenschaft. Besonders, wenn der blonde Hans, der goldbeschopfte Breitensträter, dabei ist. Er hat sich wieder herausgepaukt. Er hatte im vorigen Winter offenbar nicht ganz trainingsmäßig gelebt, so daß er den Titel als Schwergewichtsmeister gegen Samson-Körner verlor. Jetzt ist er wieder im Kommen. Er hat gegen den australischen Preisboxer Cook "gut durchgestanden". Mit geblähten Nüstern warten die Berliner "Damen" auf sein voraussichtliches Zusammentreffen mit seinem Besieger aus der vorigen Saison, das von ungeheurer Wucht zu werden verspricht. Man sieht, wie hart der Liebling der Berliner inzwischen geworden ist. Beim Clinch hält er ganze Serien von Herz- und Magenpüffen aus. Er ist so hart, wie es die englische Nation in einem Kriege zu sein pflegt.
Im vorigen Winter hat Breitensträter, der doch unsere große Hoffnung auf "internationale Klasse" ist, nicht nur sehr fidel bis in die Nacht hinein mit Frau und Schwiegervater auf dem Presseball etlichen Pullen die Hälse gebrochen, sondern sich auch am Vortragspult für seine weibliche Anhängerschaft versucht. Offenbar kennt er nicht den guten Rat Goethes: "Bilde, Künstler, rede nicht!" Kunst verlangt Könner; und wessen Kunst nachläßt, der fängt eben zu reden an.
Als lebendiges Beispiel dafür ist - Isadora Duncan wieder unter uns erschienen. Ein Stück Chronik aus verklungenen Zeiten. Ein Wesen mit überlebensgroßen Beinen macht auf der Bühne Hüpfversuche wie eine kranke Krähe. Und - redet dann. Von der Bühne herunter ins Publikum. Sagt, daß sie selber zwar nicht mehr tanzen könne (warum tut sie es dann, bloß um der kommunistischen Zuschauer willen, um Rentenmark oder um Parteiprogramm ?), aber den vielen lieben Kindern, so wie sie es jetzt in Moskau tue, die Freude des Tanzens erschließen möchte. Na ja. Sie hat einmal den Tanz revolutioniert, indem sie als erste auf das herkömmliche Trikot für die Beine verzichtete. Sie hat dann, wie David vor der Bundeslade, vor Venizelos getanzt, damit Griechenland sich dem Kriege gegen uns anschlösse (und hat jetzt die Frechheit, als Ruine in Berlin aufzutreten). Sie hat sich schließlich dem Sowjet verschrieben und sich in Moskau auf ihre alten Tage einen jungen Vollblutrussen als Mann gekapert und ihn auf eine Tournee nach Amerika mitgeschleift, wo sie das Publikum chokierte und er schließlich - glückselig - ihr entrann. Ihr Tanzinstitut in Moskau ist ein Drecknest. Nur photographiert macht diese "staatliche" Einrichtung eine auf deutsche Kommunistengemüter eindrucksvolle Reklame für das Sowjetparadies.
Die Duncan hat auch finanziell in Berlin nichts erreicht. Schon die Besucherzahl des zweiten Abends hat die Unkosten nicht mehr gedeckt.
Tag für Tag ausverkauft aber sind die Vorführungen der ehedem kaiserlich russischen Tänzer und Tänzerinnen unter Djagilew, einem kunstbegeisterten ehemaligen Offizier, Fünfziger, dessen Unternehmen in seinen ersten Anfängen noch vom Zaren Nikolai finanziert worden ist. Djagilew ist ein Hoftheaterintendant der alten guten Schule, ein Mann von Welt, der Höchstes zu bieten sich bestrebt. Wie man, lange vor dem Kriege, zu dem ersten russischen Großballett mit Nishinskij und der Pawlowa hinströmte, so drängt man sich jetzt zu Djagilews Truppe. Im Kaiserlichen Marientheater in Petersburg wurden tanzbegabte schöne Kinder schon mit vier Jahren aufgenommen und auf Kosten der Hofschatulle tänzerisch und wissenschaftlich erzogen. Vornehm wie in einem adeligen Stift. Ohne das ganze schwüle Drum und Dran der sonstigen Tanzlaufbahn. Und wurden mit 30 Jahren unweigerlich pensioniert, anständig pensioniert. Also dda gab es keine Sorgen und kein Welken. Diese Zeit liegt ja keine acht Jahre hinter uns, fast alle Mitglieder des Djagilews-Balletts stammen also noch aus der Marientheater-Schulung. Wenn man sie sieht, - wahrhaftig, man wird milder gestimmt gegen den Despotismus.
Es ist Ballett alter Art, vielleicht das einzige der Art, das noch existiert, aber von einer Vollendung, die, glaube ich, für Angehörige anderer Völker unerreichbar ist. Berlin reißt die Augen auf. "Wat, jar keene Nacktkultur ?" Jawohl, gar keine; nicht einmal in dem traumhaft schönen, farbentrunkenen orientalischen Ballett "Scheherezade" wird Entblößtes geboten. Dafür aber eine technische Meisterschaft sämtlicher Mitwirkenden, so daß man den Eindruck hat, lauter Stars sich gegenüber zu sehen. "Das Auge sieht den Himmel offen, es schwelgt das Herz in Seligkeit" - und es gibt sehr ernsthafte Menschen, die in diesen Tagen sechsmal hintereinander hinpilgerten.
Ich habe mir außerdem, ganz still im Dunkel der Intendantenloge, einen Vormittag Probe gegönnt. Man muß das Volk bei seiner Arbeit aufsuchen, sagt Gustav Freytag. Das gilt auch von dem Völkchen dieser Tänzer; dann erst erkennt man die Leistung.
Es wird jeden Tag mehrere Stunden hindurch geprobt. Sonst wäre alles bald zum Teufel. Auch stellenlose Artisten bitten gewöhnlich, daß man sie im Zirkus oder auf dem Brettl wenigstens üben lasse, damit sie auf der Höhe bleiben. Wer im Kabarett sich dreht und schwänzelt, der braucht dieses ernste Training wohl nicht, aber Djagilews Leute werden scharf herangenommen. Das den ehemaligen deutschen Soldaten so vertraute "Zurück, marsch, marsch!" kann man, nur auf Russisch, hier häufig genug hören. Es ist alles sonst wie am Abend, nur steht keine Dekoration auf der leeren Bühne und kein erfrorenes süßes Lächeln in den Gesichtern der Damen. Es ist bitter ernst, es wird hart geübt; hin und wieder schwebt ein leises Keuchen durch den Raum. Eine junge Dame - ach, auch ungeschminkt sieht sie entzückend aus - pirouettiert auf die Bühne, springt pfeilgerade empor und trillert mit den Beinen. "Ruki! Ruki!" ruft Djagilew aus der Nacht des Zuschauerraums. Hände! Hände! Die Hände waren zu starr. Also zurück, marsch, marsch, in die Kulissen. Die Musik hebt von neuem an. Auch die hat nichts zu lachen. Es ist das deutsche Orchester der Volksoper, aber am Dirigentenpult sitzt ein Russe. Häufig genug klopft er ab. "Jeschtscho ras!" Noch einmal! Vielleicht ist das Tempo zu langsam für die Sprünge auf der Bühne, vielleicht der Echoruf der Geigen nach einem Horn zu laut. Auf einmal hat die einzige Dame des Orchesters, die Harfenistin, ihren Anschluß verpaßt. "Die Frollein von die Charfe! Drom pom pom dideli! Frollein, wo bleibt Ihr Drom pom pom dideli ?"
Die Ballettmitglieder sind nach solch einer Probe todmüde. Man nimmt ein Bad, man ißt zu Mittag, man ruht, man geht zur Abendarbeit, man schminkt sich ab, man sinkt todmüde ins Bett. Wirkliche Erholung gibt es erst auf den Ozeanfahrten bei Gastspielreisen von Erdteil zu Erdteil: Europa, Amerika, Australien. Aber alle die Mitglieder sind stolz auf die Leistung - und stolz auf ihre gesellschaftliche Stellung. Es ist da nichts von dem üblichen Balletteusentum. "Wir sind im Marientheater dreisprachig erzogen", sagt mir eine der Damen, "und das Wort Liebe kannten wir wohl schon als Kinder in einem halben Dutzend Sprachen, aber für Tändeln haben wir keine Zeit, und Soupers sind für uns keine Lockung." Und sie klatscht vergnügt in die Hände, als ich ihr sage, da sei ja fast wie in dem neuen Couplet unserer Berliner Brettlsängerin Cläre Waldoff:
Herrjott, schitz' mir vor die Liebe |
16. Oktober 1924 (Donnerstag)
6
Mutter Wolffens Rundfunk - "Ich möchte mal so blau" - Aus der Tanzstunde - Reichstagsauflösung - Jackie Coogan - Lebendes Schach - "An Alle" - Der Schulrat in der Hausfrauenschule
Neulich an dem Sonntag, an dem der Zeppelin über den Ozean brauste, haben wir unseren Rundfunk wirklich liebgewonnen. Alle fünf Paar Kopfhörer besetzt. Von zweitausend Seemeilen her glaubt man noch die Motoren brummen zu hören. Und nun kommt's: "Achtung! Achtung!" Wir sind ja schon mäuschenstill, wir wollen ja nur das neueste von unserem Zeppelin hören. An diesem zeitungslosen Tage ist der Rundfunk uns ein angenehmer Erzähler.
"Mensch, und die Bildungsmöglichkeiten für das Volk!", sagt der immer etwas schwärmerisch soziale Doktor mit einem bedeutenden Augenaufschlag.
Ja, richtig. Es werden ja auch populäre Vorträge dem Sender anvertraut. Die Vorbemerkungen zu einem Richard-Wagner-Abend kürzlich waren zum Wälzen. Aber sehen wir mal selbst zu. Unsere Waschfrau, die drüben im Keller mit ihrem Sohn und dessen junger Frau haust, hat es abends etwas einsam, weil der Herr Sohn und die Schwiegertochter dann meist ausgehen. Also hat sie sich auch endlich, freilich kaum aus Bildungshunger, einen Rundfunk zugelegt. Schon bin ich drüben. Das erste, was ich in der Wohnküche entdecke, sind zwei Teller von unserem guten Porzellan, während wir bisher annahmen, diese brave Mutter Wolffen klaue uns bloß Kartoffeln. Na, nichts sagen! Also ich beginne mit einem leutseligen Interview über den Detektor-Empfänger der Waschfrau.
Sie strahlt übers ganze Gesicht und erzählt, da sei richtige Musike aus det Opernhaus unner de Linden drin. Sie selbst ist noch nie in einer Oper gewesen, hat von der "Zauberflöte" im Rundfunk auch nichts verstanden, aber - "man schläft so scheen nach in!" Ob sie auch das andere zuweilen sich anhöre, die neuesten Nachrichten. Tjawoll, sagt sie.
"Jestan war et wunnerscheen jruselig, sechs Mächen uff eenmal dot!"
Wo denn, wie denn?
"Ick weeß ooch nich, ick jloobe, Frankreich oder wo."
Ja, Mudderken, da bilden Sie sich man weiter mit Ihrem Rundfunk! Er bringt ja jetzt auch Schlager; und die, die er nicht bringt, bringt der Sohn der Waschfrau, der Chauffeur ist, nach Hause. Die Bildung nimmt reißend überhand. Sogar in der gymnasialen Jugend, soweit sie jetzt - wieder ganz wie im Frieden - Tanzstunde bekommt und beim Anschlagen des ersten Onesteps sofort verständnisinnig summt:
"Ich möchte mal so blau wie deine Augen sein!"
Die Angst vor der ersten Stunde ist ja nun überwunden, die große Angst der Herren Söhne, daß am Ende die Mutter mitkommen werde. Um Gottes willen! Bloß nicht "hingebracht" werden! Man ist doch fast ein erwachsener junger Herr! Es gibt in jedem Jungenleben Perioden, wo man sich schämt, eine Mutter zu haben, schon eine Schwester am liebsten verleugnet und nur vom Vater geboren sein möchte. Das läßt sich nun leider nicht machen. Außerdem, wenn wir mal hingingen, würden wir Eltern uns genieren. Was die Sekundaner allwöchentlich an ihrem Dienstag in dem Hotelsaal bei der Tanzlehrerin gelernt haben, das führen sie doch schon jeweils am Mittwoch abends zu Hause vor und schwenken dazu sämtliche weibliche Hausgenossen bis zur Minna einschließlich. Es ist, offen gestanden, greulich: mit einer so hohen Knieaktion wie ein Orloff-Traber, und dabei eng an die Tänzerin gepreßt, so daß man nachträglich versteht, daß am Kaiserhofe bei uns dieses "moderne" Tanzen verpönt war. Es scheint, daß solche Art wieder aus der Mode kommen wird; aber noch haben wir mit den Ausläufern der letzten Mode zu tun.
Tausende von Berliner Eltern machen jetzt dieselbe Erfahrung. Wir sind mitten in der Hochsaison des Tanzstundenbetriebes. Ich habe an sich gar nichts gegen den Betrieb. Soweit es sich um Mädchen aus gutem Hause handelt: Kindlein, liebet euch untereinander und lernet artige Rede! Auch bei den jungen Kadetten im alten Reich war Tanzstunde Pflichtfach. Aber da die Töchter, wie übereinstimmend berichtet wird, fast durchweg nicht nur von den Müttern hingebracht werden, sondern während der zweieinhalb Stunden - man ist doch in dem gefährlichen Berlin - auch neben den Müttern an der Wand sitzen müssen, wenn sie nicht gerade tanzen, ist auf Lockerung des Sprechapparates kaum zu hoffen. Gestern kommen unsere Buben und sagen, sie müßten das nächste Mal leider weiße Handschuhe mitbringen. Und fügen in aller Unschuld hinzu:
"Wir tanzen ja bloß mit den Mädels, zur Unterhaltung mit ihnen kommen wir gar nicht, wozu brauchen wir da weiße Handschuhe?"
Ja, wozu eigentliuch? Die Handschuhe ließen sich so schön schwenken oder übers Knie legen oder an- und ausziehen in rhythmisch-lässig-eleganter Bewegung, während man etwa von Jackie Coogan erzählte, dem großen Erlebnis dieser Woche. Auch der Reichstag ist in dieser Woche aufgelöst worden, aber dieser beschleunigte Selbstmord der bisherigen Koalition, die nun einer nach rechts bis zu den Deutschnationalen erweiterten wird weichen müssen, interessiert noch nicht sonderlich; allenfalls lächelt man über das blitzschnelle Verschwinden der 62 Kommunisten, von denen der Staatsanwalt gerade nur noch 3 zu packen gekriegt hat. Für sie ist der Reichstag eben weiter nichts als das Asyl, in dem man als Urkundenfälscher und Landesverräter - wegen dieser und anderer Delikte wurden sie fast alle gesucht - ungestraft und hochbezahlt Souverän des deutschen Volkes spielen kann. Aber Jackie Coogan, der ist natürlich Gesprächsstoff von ganz Berlin gewesen. Ein hübsches, etwas mickeriges, blasses Bübchen, dem man trotz des Blondhaars glaubt, daß es aus der gleichen Retorte stammt wie Charlie Chaplin. Wenigstens der Vater, der alte Coogan, sieht ganz danach aus. Er ist mal Komiker an Variétés gewesen; und die Mutter, jetzt als Dollarmillionärin ein bißchen dick, war einst Tänzerin. Alles hat sich um Jackie, "the Kid", gerissen, sogar die Reichseisenbahnverwaltung hat ihn, als wäre er wie der Altkönig Ferdinand von Bulgarien geprüfter Lokomotivführer, auf ein prustendes Schnellzugungetüm gelassen und ihm das Rücken an den Hebeln erlaubt. Das nichtamtliche Nur-Publikum hatte wiederholt die Möglichkeit, der Heldenverehrung zu frönen und ganz nah den kleinen Jakob zu bewundern. Wer beispielsweise an einem bestimmten Vormittag etwas Erhebliches im Kaufhause S. Adam einhandelte, der kriegte die Eintrittskarte zu dem von diesem Hause für Jackie Coogan veranstalteten 5-Uhr-Tee im Hotel. Ich muß gestehen, daß ich den kleinen Flimmerkönig persönlich nicht gesehen habe, also bis Ende Oktober zu den ungebildeten Leuten Berlins gehöre; aber ich habe mir erzählen lassen, daß dem Kleinen nächst dem Papste in Rom und der Akropolis in Athen am meisten die Schimpansin des Afrikareisenden Schomburgk in Berlin imponiert hat, die beim nächsten 5-Uhr-Tee dabei war und am Nachbartisch ihre Schokolade mindestens so manierlich trank wie die Kinder rundum, sich das Schnäuzchen nicht einmal ableckte, sondern regelrecht mit der Serviette wischte. Die Reise Jackie Coogans durch die Länder seiner Filmkonsumenten mit Eltern und Gefolge kostet einen schönen Batzen Geld, bringt aber wohl noch viel mehr ein, denn nun rennt man doch erst recht zu "Bettelkind" und "Klein-König" hin. Eine lohnende Propaganda. Darin sind die Leute von drüben immer groß gewesen; und in diesen Jackie Coogan, in sein Bild, ist die gesamte zivilisierte Welt heute ja verliebter als einst in den blue boy von Gainsborough.
Man taumelt von einem Augen- und Ohrenschmaus zum anderen. Die entzückendsten Abendkleider aus Silber-Lamé mit zartfarbigen Pleureusen als Volant halten einen an jedem Schaufenster fest. Im Sportpalast ist von Lasker und Rubinstein eine Partie "lebendes Schach" gespielt worden, wobei gutgewachsene und wohlausgesuchte Mädchen in kurzen Höschen die 16 Bauern darstellten und - Mascagni die Begleitmusik dirigierte. "Und das nennen Sie raffiniert ?", fragt mich aus verschleiert glimmenden Augen die Frau Generaldirektor. "Und das nennen Sie raffiniert ? Das ist noch gar nichts! Ich denke, wenn in alten Zeiten ein Perserschah lebendes Schach spielte, dann wurden die Figuren, die geschlagen waren, auch wirklich geköpft." Ich danke, meine Gnädigste; diesen Reiz können Sie doch bei nur 20 Mark Eintrittsgeld wirklich nicht verlangen. Aber, wenn Sie wollen, gehen Sie doch in das nunmehr sechste Trvuetheater Berlins. Es ist das Große Schauspielhaus, das "Theater der Fünftausend" Reinhards, in dem diser Tausendsassa uns einst zur Kunst erziehen wollte. Da ist, ins Farbenbunte und Fleischige übersetzt, mindestens so viel zu sehen, als früher in dem Zirkus Barnum und Bailey mit seinen gleichzeitigen drei Vorstellungen. Die Revue heißt: "An Alle", und es gehen alle die hin, die nicht alle werden; die unbedingt noch einmal zu den fünf übrigen Malen an einer schnurgerade schwingenden Reihe von Tanzgirls-Beinen sich erheben wollen. Fünftausend Herzen und nur ein Schlag. Sechzehn Tanzgirls und nur zwei Beine.
Es gehen keine Lebegreise hin Es gehen keine Schwelger hin. Das arbeitende Berlin geht hin. Es gehen die Kleinbürger hin.
Am nächsten Morgen sitzt alles wieder in Bureau oder Laden oder Werkstatt; tippt, schneidet Schlackwurst und gekochten Schinken auf, hobelt. Von Saison zu Saison mehr blutjunge Mädchen auch aus sogenannten gebildeten Familien "müssen" so etwas zur Aufheiterung ihres angeblich lichtlosen Daseins haben. Jede Berufsausbildung wird lang und länger. Jetzt verlangt man schon von einer künftigen Gewerbelehrerin für Wäschenähen und Putz, daß sie ihr Abiturium macht und dann 3½ Jahre lang ihr Kunstgewerbe studiert. Nur dann, meint man, wenn die jungen Mädchen ebensoviel Zeit hergeben, wie die jungen Männer, können sie diesen einst - im Gehalt und so - gleichgestellt sein. Schon mehren sich überall in Amt und Würden auch die weiblichen Prüfungskommissare. Noch gibt es freilich ergraute Schulmänner, die auch in der Handarbeits- und in der Haushaltsstunde revidieren, und das gibt natürlich manchmal Gelegenheit zu launiger Nachrede.
Also die kleinen Mädchen üben, um ihren ersten Nähbeutel bald herstellen zu können, auf Aidastoff den Kreuzstich, den Stielstich, den Steppstich. Sie sagen immer Idastoff. Die Lehrerin will ihnen den richtigen Namen einprägen und läßt sie im Chore "Aidastoff, Aidastoff" sagen, eine angenehme Unterbrechung, die schmetternd ausgenutzt wird. Dann stichelt man weiter.
Nun kommt zum Schluß die fachmännische Kritik des Hochmögenden.
"Fräulein Schulz, ich habe - ehem, ehem - im allgemeinen an der Auffassung der Kinder nichts auszusetzen; nur, die Hauptsache, das Im-Chor-Sprechen - ehem, ehem - muß pädagogischer Erfahrung gemäß leicht, leise und schnell erfolgen!"
Oder ein anderer Hochmögender prüft an der Hausfrauenschule einer Studienanstalt im Kochen. Es scheint alles von der Suppe bis zur Nachspeise ungemein lecker zu werden.
Plötzlich eine Zwischenfrage.
"Fräulein Müller, woher kommen Klöße ?"
Fräulein Müller ist perplex.
"Das will ich Ihnen sagen, Fräulein Müller, Klöße, plattdeutsch Klüten, kommen von althochdeutsch cliusan, das heißt schließen."
Im Hintergrund aber steht der Direktor der Studienanstalt mit zwei Flaschen Rheinwein im Arm und sagt zu einer Schülerin:
"Rasch, stellen Sie mal die beiden Pullen kalt, das ist die Hauptsache, dann wird dem Schulrat Euer Zeugs schon schmecken."
23. Oktober 1924 (Donnerstag)
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