"Rumpelstilzchen"

Haste Worte?
(Jahrgangsband 1924/25)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1925

Glossen 1 - 3
18. September bis 2. Oktober 1924


1

Rin! - Kissinger Trott - Die neue Gewissensfrage - Berliner auf "Peer Gynt" - Knoppchen aus der Jerusalemer Straße - Mitbringsel - Andrang bei der Stellenvermittlerin - Die große Pleite

"Rin!", weiter nichts, pflegte der Unteroffizier von den Gardejägern zu sagen, der in der Schwimmanstalt in Potsdam die Aufsicht hatte, und dazu zuckte er ganz leicht mit den Augenbrauen. Er brauchte die Rekruten nie anzufassen; sie sprangen trotz aller Angst wortlos wie die Frösche ins Wasser.

"Rin!", weiter nichts, habe auch ich mir zugerufen, als ich aus dem Lehrter Bahnhof in Berlin heraustrat und meine Adoptivvaterstadt mich mit ihrem Lärm und ihren Gerüchen wieder empfing. Man beißt die Zähne zusammen, denkt noch einmal an alles Schöne in der Welt und taucht dann im Trubel unter.

Diesmal hat es etwas länger gedauert als sonst.

Eine schwere Grippe hat sich für die Verachtung, mit der ich auf Fieber und ähnliche Allotria herabzusehen pflege und unbekümmert weiter flaniere und atbeite, diesmal infam gerächt; zum erstenmal in meinem Leben habe ich ein Heilbad aufsuchen müssen, weil die Grippe mir einen zum Wandern und Lieben und Rauchen sehr nötigen Muskel, das Herz, so ramponiert hatte. Nun ist das wieder in Ordnung. Ich kann wieder lachend über Berliner Buddelgebirge und quer durch Tanzsäle steuern, meine Mitmenschen - besonders die mit Schuhnummer 36 - sind mir erneut ungemein erfreulich, und kerzengerade steigt schon frühmorgens das erste Rauchopfer zum Äther empor. In einem Monat Kissingen, unter der sorgsamen Hut des Sanitätsrates Dr. Uibeleisen in seinem schönen Sanatorium, ist das erreicht. Ich war aber auch gehorsam wie ehedem ein Rekrut bei den Gardejägern.

Sogar abends im Kissinger Kurkasino habe ich gelegentlich zwar eine Flasche Wein, sozusagen als Sitzmiete gekauft, aber ungetrunken stehen lassen. Nur die Augen wanderten mit den Paaren im Mittelraum. Noch nie ist mir der gänzlich uneuropäische Charakter des modernen Tanzes so klar geworden, wie in diesen stillen Stunden eines Rekonvaleszenten. Wie man einander da beschleicht und betrottet, das ist schon fast Tempeldienst derEs ist viel Östliches-Allzuöstliches in Kissingen. Astarte; und besonders widerlich an einem Ort mit so vielen anormalen Figuren, wo entweder Fettmassen von Tänzer und Tänzerin ineinanderquellen oder dürre Knie Beulen in enge dünne Kleidchen stoßen. Es ist viel Östliches-Allzuöstliches in Kissingen. Führende Sowjetmoskowiter mit ihren juwelenbepackten Frauen und Sekretärinnen füllten zu Zeiten das ganze Parkhotel Vier Jahreszeiten. Aber doch setzt auch Berlin mit Rundfunk-Geschwindigkeit sich hier durch. Wenige Tage nach dem Aufkommen der letzten großen Gewissensfrage Deutschlands "Warum guckste mir denn immer in de Bluse?" wurde diese weltbedeutende Frage auch hier in Kissingen bereits gefiedelt und geträllert; nur in dem Sanatorium Uibeleisen gab es Gott sei Dank ein Publikum, das nicht kurfürstendammerte, so daß man sich wohlfühlen und still seiner Genesung entgegenreifen konnte. Die Ausflüge in die herrliche Umgebung, bis zur Trimburg einmal sogar, taten dann noch ein Übriges. Den einen Monat als Gesundheitssträfling konnte man unter diesen Umständen gut überstehen, obwohl einen auch in der Ferne Berlin nie losließ.

Dann knappe elf, aber elf wundervolle Tage Ferien: Nachkur auf See!

Es wird behauptet, daß der Peer Gynt das schönste Exkursionsschiff der Welt sei. Das kann ich nicht nachprüfen. Ich kenne nicht alle. Aber ich bin sehr viel zur See gefahren und habe wenigstens rund um Europa, zwischen Atlantischem Ozean und Kaspischem Meer, nichts besseres gesehen. Vor allem keinen so gut durchlüfteten Dampfer. Auf diesem Schiff riecht es nirgends nach Schiff. Schon deshalb fordert hier die Seekrankheit weniger Opfer als anderswo. Auf dieser elftägigen Fahrt in die norwegischen Fjorde hatten wir nur an einem einzigen Abend Schlingerleisten an den Tischen, weil draußen eine grobe See stand, an fünf Tagen sogar Windstille und die liebe Sonne am blauen Himmel. Überdies führte der Kurs ja meist zwischen den Schären hindurch, wo das Wasser nie allzu bewegt ist. In Bergen, der bekannten Dachtraufe Skandinaviens, wo die kleinen Kinder schon mit Wachstuchmantel zur Welt kommen, goß es natürlich in Strömen. Um so behaglicher konnte ich mich an Tyskebryggen, an der deutschen Brücke, in dem alten Hansehaus, das mit allem Gerät aus der Zeit von 1400 bis 1600 vollkommen erhalten ist, in unsere Geschichte aus der Zeit versenken, wo wir noch Seegeltung besaßen. Und nachher ebenso in aller Ruhe, statt mich in einem Hotel französisch abfüttern zu lassen, an anderer Stelle gut landesüblich essen, von der köstlichen bunten Schüssel mit den Vorspeisen an bis zu "Katrineplommer med flöte", großen Backpflaumen in Sahne als Nachtisch.

Sonst war das Wetter, abgesehen von noch einem Regentag in Molde, so gut wie nur möglich, die Fahrt namentlich durch den Näröfjord wunderbar schön, und in Gudvangen mir sogar die Möglichkeit geboten, das einzige norwegische Wort, das ich schon als kleiner Junge an der Wasserkante aufgefangen, nützlich anzuwenden: Skal. Skal heißt Prosit. Und als wir von Stalheim heruntergekommen und in einer langen Reihe von Wagen wieder in einstündiger Fahrt zum ankernden Peer Gynt zurückgebracht waren, gab ich meinem Kutscher ein sehr wackeres Trinkgeld mit den Worten: "Skal Kaiser Wilhelm!" Da leuchteten dem die blauen Wikingaugen, da freute er sich übers ganze Gesicht und schüttelte mir die Hand, und andere drängten herzu und sagten mir allerlei freundliches, wofür aber mein Norwegisch nicht mehr ausreichte. Die mächtige 12 Meter hohe erzene Frithjof-Statue auf der Landzunge gegenüber Balholmen, das Geschenk Kaiser Wilhelms an die Norweger, hält die Erinnerung an ihn hier auch augenfällig wach. Von den 211 Passagieren unseres Dampfers, unter denen sich doch auch viele Berliner befanden, darunter einige solche, denen man die Zugehörigkeit zur demokratischen Partei an der Nase ansah, war niemand der Ansicht der demokratischen Berliner Presse, daß das Denkmal die Gegend verschandele. Das lassen ja schon die Bergriesen, die rundum bis zu 1800 Metern aufragen - über dem Fjälandsfjord drüben sieht man sogar kolossale Gletscher - nicht aufkommen. Man stelle sich vor, daß eine derartige Statue im "Malerwinkel" an unserem Königssee stünde. Auch da könnte sie nicht protzen.

Aber ich will ja nicht von Norwegen, sondern von Berlin auf der Nordlandfahrt sprechen. Dieses Berlin, mit einer sodablonden rheinischen Bubi dazwischen, saß schon vormittags in der Bar und schlenkte sich nachmittags bis in die späte Nacht hinein auf der Tanzdiele. Kurz vor 3 Uhr wollte mich noch ein wildfremder junger Mann einmal aus der Kabine zu einem bildschönen Umtrunk lotsen. Die Berliner betrachten das Ganze eben als Vergnügungsreise. Die anderen mehr als Erholungsreise. In unserer Arche Noah waren alle Stände vertreten. Dabei alles nur Passagiere erster Klasse. Nirgends also Schranken, über die Zweitklässler nicht hinausdürfen; dabei das Schiff so geräumig, daß man genügend Auslauf und immer auch die Möglichkeit zur Einsamkeit hatte. Nur ein ganz, ganz kleiner Unterschied wurde gemacht. Der Professor aus Berlin, der eine gewöhnliche Kammer gemietet hatte, war, wie auch andere Leute, "mit Frau" auf dem Türkärtchen verzeichnet, ein Herr Stadtrat aber aus Berlin, der in der Luxuskabine installiert war, natürlich "mit Frau Gemahlin"; und wenn er der schöngeistigen Baronin, seinem Gegenüber am Kapitänstisch im Speisesaal, so beiläufig erzählte, er habe daheim in Berlin drei Chauffeure, dann hielt die Umgebung doch ein wenig den Atem an. Im übrigen war die Gesellschaft nicht so herzeinig, nicht so frère et cochon, wie auf der längeren Spitzbergenreise vorher, sondern diesmal in einzelnen Gruppen geschichtet; kein schlechtes Zeichen.

Und nun, nenn' mir, o Muse, den Mann, dem wir die köstlichsten Freuden verdankten!

Natürlich war er auch aus Berlin. Knoppchen wurde der Kugelrunde genannt, an einem lustigen Abend auch in einem Couplet, und er war glücklich über seine Popularität. Er ist Kneipwirt in Berlin. Ich habe schon gestern am ersten Tage daheim gleich mich aufgemacht und durch die offenstehende Tür in sein überfülltes gutgehendes Lokal in der Jerusalemer Straße 11/12 hineingesehen, wo er kein Nordlandslatein erzählte, sondern wieder gemütlich mit Gästen seinen Skat drosch. Er hatte "die Olle" in Berlin gelassen, sich selbst und seine Tochter, das Dorchen, aber fein gemacht und so zu zweit den Peer Gynt bevölkert. Knoppchen galt mindestens für ein Dutzend, denn man sah und man hörte ihn überall, während Dorchen mehr für das stille, aber deutliche Flirten an abgelegenen Stellen war. Er ruderte zwischen Gräfinnen und Generaldirektoren, Doktoren und Kommerzienratstöchtern mit beweglichen Armen umher, sauste raketenartig in jede Gesellschaft und war um seines unverwüstlichen Mundwerks willen überall wohl gelitten, auch wenn er fast jedermann duzte.

Warum er diese Nordlandsfahrt unternommen habe, wurde er einmal gefragt.

"Ick hab' jedacht, Peer Jint, neuet Schiff, erste Fahrt jut jejangen, zweete machste mit, damit de 'n jebildeter Mensch bist!"

Das leuchtet ein. Wie überhaupt alles, was dieser helle Kopf sagt. Er hat sich 20 Flaschen Cognac mitgenommen, weil er gehört hat, in Norwegen gebe es bloß Bier und Wein. Er hält seine ganze Umgebung, soweit sie darauf eingeht, frei. "Kann ick Dir een Jlas Bier anbieten?" fragt er einen in die Bar Eintretenden. Der sieht ihn abweisend an. "Nee, Du willst nich? Na, denn schmeiß' Du 'ne Lage, un ick trinke mit!" So ist unser Knoppchen; er läßt sich nicht verblüffen. Mitt seinem runden roten Gesicht sieht er aus wie eine Sekunde vor dem Herzschlag. Aber die Serpentinen nach Stalheim hinauf läuft er wie ein Wiesel. Er schwitze ja so, wird ihm gesagt. "Ick? Ick schwitze nich! Det is man bloß der Cognac; det Wasser kommt noch lange nich!" Es ist nicht gut, mit ihm zu debattieren. Man zieht immer den Kürzeren. In der Laube auf dem Achterdeck erklärt er einem Andersdenkenden: "Ick muß Dir mal Dein Jehirn 'n bisken massieren, ich habe bloß jrad keen Ziegelstein bei mir!" Und eine weitere Diskussion schneidet er mit den Worten ab: "Mit deine Beene kannste angeln jehn, da beißt jeder Hecht an, so muffig sind se!" Solche Berliner sind wirklich das Salz der Erde. Das hat man schon während des Krieges in der Marschkolonne gemerkt. Mit einem Berliner dazwischen ist das schlechteste Wetter erträglich.

Während der ganzen Reise hat es nur zwei Unglücksfälle gegeben. Am vorletzten Tage überfraß sich ein Herr - man bekam vom Besten, soviel man wollte - derart an Hummer, daß er in der Nacht darauf wegen Magenkrämpfen den Schiffsarzt bemühen mußte. Und ein blutjunges blondes Dingelchen, das mit den Eltern zusammen diese erste größere Seereise seines Lebens machte, verlobte sich am drittletzten Abend im Damensalon mit einem Gent. Zum Glück sind beide Angelegenheiten nicht irreparabel.

Nun hat man sich die Lungen mit See- und Bergluft vollgepumpt. Das Herz pocht auch erneut stark und regelmäßig. Nach dem Abendessen wird daheim auch wieder die erste Partie Billard riskiert. Tags darauf wirft man sich in Besuchsanzug. Wie ein Holzhammer schlagen einem die vielen "Verpflichtungen" - genau so wie die dicke Berliner Atmosphäre - auf den Kopf. Also ich muß zunächst zu Geheimrats.

Geheimrats sind nicht zu Hause. Aber ihr altes Faktotumn, die Lina, die ich schon seit siebzehn Jahren kenne, erzählt. Ja, diesmal hätten Geheimrats sich endlich wieder, seit 1919 zum erstenmal, eine Reise leisten können. Sie seien drei Wochen in Oberdorf bei Oberstdorf gewesen. Na, da hätten sie ihr wohl auch was mitgebracht, sage ich. "Ach Gott, ja. Wollen Sie mal mein Museum sehen?", fragt mich die Lina. Und da zeigt sie mir die gesammelten Mitbringsel ihres Lebens. Das schönste ist noch eine kleine Mosaikbrosche aus Venedig, wie sie Kinder aus dem Volke dort tragen; unter Brüdern ihre 2½ Mark wert. Dann ein Briefbeschwerer aus Holz mit der Aufschrift: Bastei. Eine Kinderklapper: Gruß aus Osterode. Ein Aschenbecher in Form eines Nachtstühlchens: Willkommen in Marienbad! Ein geeichtes Drei-Zehntel-Literglas: Bad Kissingen. Ein hölzerner Nußknacker: Freudenstadt. Ein Miniatur-Rettungsring aus roter Pappe: Helgoland. Ein einziges Mal ist etwas scheinbar Brauchbares darunter gewesen, ein kleines Nähkästchen; aber die Schere darin, mehr Blei als Stahl, war und blieb stumpf nach dem Durchschneiden etlicher Fäden. "Sie habens selber nicht!" sagt Lina mit einem Seufzer der Ergebenheit; aber, meint sie, ein paar ordentliche Strümpfe statt des ganzen Krams hätte man ihr einmal doch wohl mitbringen können.

Eine andere Lina steht derweil daheim bei unserer eigenen Küchenfee und heult. Ihre Herrschaft hat sie vor der Sommerreise entlassen und behilft sich jetzt ohne Mädchen weiter. Und bei allen Stellenvermittlerinnen säßen die Mädchen in dicken Haufen und fänden kein Unterkommen. Der sofortige wirtschaftliche Umschwung zum Guten, den unverbesserliche Träumer von der Annahme des "zweiten Versailles" erhofften, wie Helfferich das Dawes-Gutachten nannte, ist jedenfalls noch nicht eingetreten. Bei 1482 Berlinern ist das Telephon gesperrt, weil sie die Gebühren nicht haben bezahlen können. Wo man hinhört, heißt es, wir kämen peu-a-peu zum großen P. Sprich P wie Pleite. In den ersten Zeitungen, die ich seit 14 Tagen wieder in die Hand nehme, sehe ich zollhohe Überschriften vom Preisabbau auf allen Gebieten, aber Butter und Eier und manche andere Dinge sind um 40 Prozent teurer geworden, seit ich im Juli Berlin verlassen habe. Ich treffe Bekannte, die auch nichts von abgebauten Preisen wissen; wohl aber von abgebauten Angestellten. Berlin ist trotzdem geschäftig, sogar die Stadtverwaltung selbst. Der Straßenverkehr wird neugeregelt, und zwar in unserer vielgeschweiften Stadtkarte nach Mustern, die den rein schachbrettartigen amerikanischen Metropolen entlehnt sind. Ob es gut geht, weiß man noch nicht. Jedenfalls steht der zentrale Schutzmann des Potsdamer Platzes jetzt auf einer Kanzel. Mit gequälten Mienen hastet mancher Berliner in diesen schlechten Zeiten an ihm vorüber. Für mich persönlich bin ich aber, seit das Herz wieder in Ordnung ist, von unverwüstlichem Optimismus. Ich mache nicht Pleite. Denn diesmal bin ich mit einem für mein fröhliches Ausgeben ganz unwahrscheinlichen Überschuß von der Nordlandreise heimgekehrt, nämlich mit einer ganzen Rentenmark und 27 Öre in der Tasche.

Zwei Jahre vor dem Kriege kam ich von einer großen Schweizerreise - mit Fettlebe in Interlaken, Bummel aufs Jungfraujoch, tüchtigem Pfropfenknallen in Luzern und so - viel ärmer zurück. Mit nur 11 Pfennigen. Trotzdem konnte ich mit meiner Frau noch vom Bahnhof nach Hause fahren; denn damals gab es noch den Sechser-Omnibus.
18. September 1924 (Donnerstag)


2

Don-Kosaken im Sportpalast - Die Spekulation auf das reiche Deutschland - Zusammenbruch des Aida-Unternehmens - Bei Mascagni - Aus der Geschichte des Adlon - Primitives von den Bühnen - In drei Revuen - Reklameverse überall

Der vereiste Zuckerhut des Kasbek ragt 5200 Meter aus dem Kaukasus in die Himmelsbläue; lockender noch als das steile Matterhorn in der Schweiz. In dem Jahre nach dem russisch-japanischen Kriege, als die erste allgemeine Revolution das Zarenreich erschütterte, stand ich eines Tages einsam auf dem Gletscher, seit Monaten wilder Unruhen, die jeden Verkehr lahmgelegt hatten, wieder der erste Europäer, der die Grusinische Straße heraufgekommen war. Es ist etwas Wundervolles um solches Alleinsein. Brot und etwas harter saurer Käse war der einzige Proviant, den ich unten in der letzten bewohnten Staniza bekommen hatte. Die Post ging schon lange nicht mehr. Bergführer waren nicht vorhanden, ein Steinadler hoch in den Lüften das einzige lebende Wesen in der grandiosen Einöde, die ganze betriebsame Welt irgendwo weit weg versunken; mein nächstes Nachtlager beim Abstieg fand ich unten in einer Burgruine aus den Zeiten der sagenhaften Kaiserin Tamara. Da rumpelte es abends in dem Gemäuer. Menschen! Plötzlich befand ich mich in einer Gesellschaft von 18 Terek-Kosaken, die mich maßlos erstaunt anstarrten; sie hatten alle Veranlassung dazu, zu ihrer Beratung in drangvoller Zeit die wildeste Einsamkeit aufzusuchen. Wir freundeten uns sehr bald an wie Robinson und Freitag.

Seit jener einzigartigen Reise wird es mir immer warm ums Herz, wenn ich irgendwo in Europa die sogenannte Tscherkessentracht auftauchen sehe. Einmal, Jahre danach, stieß ich im Berliner Friedrichstraßen-Gewühl auf solch einen Menschen, stellte ihn und erzählte ihm von den gastfreien Kosaken in der Tamara-Burg. Er besuchte mich, pumpte mich an und verschwand für immer.

Nun haben in der vorigen Woche 32 "Don-Kosaken" unter Leitung ihres Dirigenten Jarow, eines ehemaligen Offiziers, in dem riesigen Berliner Sportpalast Konzerte gegeben, nachdem sie schon in Dresden und in anderen deutschen Städten, auch in Holland aufgetreten waren. Die ersten Abende waren schwach besucht. Dann sprach sich das Eigenartige, Ergreifende herum, und Tausende strömten herzu. Der Krieg hat viel nivelliert. Die 32 Sänger tragen noch ihre Pluderhosen mit breiten roten Streifen in den Schaftstiefeln, aber darüber nur schlichte schwarze Blusenhemden; das Prächtige ist dahin, auch die hohe Lammfellmütze verschwunden. Es sind Versprengte von der Wrangel-Armee, die in Sofia in Bulgarien eine Bleibe als Kirchensänger in der griechisch-orthodoxen Kirche gefunden haben. Die Riesenkerle marschieren rottenweise auf das Podium. Stillgestanden. Hände auf dem Rücken. Kein Muskel zuckt. Das alte disziplinierte Rußland. Davor der zierliche kleine Jarow. Mein neuer Binoktar, das 7x50 Zeißglas, dessen unerhörte Schärfe und Aufhellung von keiner optischen Werkstätte der Welt erreicht wird, ist zwar so groß wie ein kleiner Minenwerfer, aber hier ganz am Platze. Ich kann jede Miene studieren. Es sind stupide, engstirnige, grobe, russisch bäurische Gesichter, und ein leichter Schatten fliegt einem über die Seele, wenn man an Ostpreußen denkt, wo diese Kerle losgelassen waren. Hier sind sie an der Leine! Unter der Knute - oder auch nur den energischen Winken eines Püppchens von Dirigent - ist der russische Mensch zu gebrauchen. Abgrundtief rollen die Bässe. Bald flüstern sie, bald tosen sie daher wie ein Sturzbach. Unendlich zart wiegen sich darauf helle Tenöre. Es ist eine ganz andere Welt, aus der sie erklingen, der Don und die Wolga und der Kuban und der Terek und der Ural rauschen herein, der Kasbek steilt sich empor und das Gewimmel der Landstraße lärmt dazwischen hindurch. Ekstatische religiöse Gesänge wechseln mit sehnsüchtigen Volksliedern und kultivierter Tonkunst. Zwei von den Leuten tanzen zuletzt einen wilden Kasatschok. Da wird es ganz fremdländisch. Der Chor summt die Begleitung, aus dem Summen lösen sich Responsorien, der Chor fällt ein, täuschend nachgeahmtes Hundegebell und gellende Pfiffe, aber immer abgestimmt, schrillen darein, die Leidenschaft wächst. Das ist schon fast Variété. Das Publikum rast vor Entzücken. Ich habe noch kaum je solche Beifallstürme in Berlin erlebt.

Berlin ist nun einmal die große Durchgangsstation für jegliche Musik, die hier kritisch abgestempelt wird. Nun sind die Don-Kosaken vielleicht sogar amerikareif. Drüben würden sie sicher von einer Begeisterungswoge bis an den Stillen Ozean getragen. Vielleicht brächte ihr erschütternd melodiöser Gesang, obwohl auch Urlaute dazwischengellen, die Erlösung von dem bloß krachenden Rhythmus unserer Niggerzeit.

Sie haben sich durchgerungen, schließlich in Berlin auch finanziell ganz gut abgeschnitten. Das ist eine Seltenheit. Im Allgemeinen wird unsere Aufnahmefähigkeit im Auslande maßlos überschätzt. In Deutschland, so heißt es, könne man Gold scheffeln. Seitdem das deutsche Volk, diesmal ganz freiwillig, erklärt hat, es könne unbestimmte Jahrzehnte hindurch jährlich rund 21/2 Milliarden Goldmark Tribut abführen, also die Hälfte dessen, was vor dem Kriege unsere gesamten jährlichen Reichsausgaben betrugen, ist der Glaube unerschütterlich, daß wir Unschätzbares im Strohsack haben. Wir sind überflutet von ausländischen Sängern, Tänzern, Darstellern. Das Naivste haben sich Wiener Unternehmer geleistet, die die große Verdische Prunkoper Aida hier vierzehn Tage lang hintereinander mit italienischem Personal, meist von der Mailänder Scala, unter Mascagnis Leitung aufführen lassen wollten, in der riesigen Auto-Ausstellungshalle draußen am Kaiserdamm. Ganz fabelhafte Gehälter wurden den Italienern zugesichert. Ist es überhaupt denkbar, daß täglich 6000 Berliner zu solch einer Aida-Aufführung zu klotzigen Preisen gehen? Aber selbst bei vollbesetztem Hause wäre ein Defizit trotzdem unausbleiblich gewesen. Nun ist der Krach da, und seit zehn Tagen müht man sich um einen Ausweg, um den fremden Künstlern, auch dem deutschen Chorpersonal, es zu ermöglichen, daß sie mit blauem Auge wieder heimkommen.

Mascagni selbst hat mit der ganzen üblen Finanzgeschichte nichts zu tun. Ich gehe auf einen Sprung zu ihm ins Adlon hinein. Ganz prachtvoll, wie diesen Musikerkopf, der doch schon ein Sechziger ist, das volle dunkle Gelock noch umwallt. Wir sitzen in der Halle des Hotels, in der Nähe des Kamins, über dem wie immer die Büste des Kaisers, im Adlerhelm und dem Küraß aus schwarzem Marmor, ihren Standort hat. Das kann Lorenz Adlon, der vor Republiken ebenso wenig kriecht, wie vor Monarchen, sich wohl leisten. Allerlei Schicksale hat sein Prachtbau am Pariser Platz Unter den Linden, das ehemalige gräflich Redernsche Palais, schon gesehen. Hier brandet das Weltgeschäft und die große Politik. Hier hatte die Schnüffelkommission der Entente ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Hier thronte der französische General, nach der Ruhrbesetzung von allen Deutschen und guten Europäern gemieden, in erfrorener Herrlichkeit, bis als erster dann ein Vertreter des Hauses Ullstein sich wieder an ihn heranschlängelte. Hier gab es 1920 das letzte Straßemgefecht, als die Brigade Ehrhardt durch das Brandenburger Tor abzog und vom Adlon-Portal aus Schieber und Rote ihr Unflätiges nachriefen. Hier hatte Stinnes seine wichtigsten Konferenzen mit fremden Industriekapitänen. Hier tanzte vor Franzosen und Belgiern Frau Stresemann für arme deutsche Kinder. Nun sitzen wir in der Halle, Mascagni schaut gedankenvoll hinüber zur Kaiserbüste und fängt lebhaft an zu plaudern. Ja, der Kaiser! Oft genug hat er ihn gesprochen. Bei der Generalprobe des Ivanhoe, bei einer Cavaleria-Aufführung und bei anderen Gelegenheiten. Nur aus der geplanten Ratcliffe-Première in Berlin 1896 wurde nichts; die Oper ging nach Stuttgart. Warum? Mascagni lächelt. Mit dem Generalintendanten, sagt er, sei er schon einig gewesen, aber der Kaiser habe nicht gewollt. Der Text ist ja Heines Tragödie Ratcliffe entnommen, und der Kaiser habe seinem Intendanten, es war wohl noch der Graf Hochberg, erklärt: "Nichts von Heine auf meiner Bühne! Ich mag diesen Juden nicht!" Mascagni trägt einen merkwürdigen eisernen Ring mit einem Brillanten am Finger, und auch der hat seine Geschichte. Auf Bestellung schnitt ein Florentiner Künstler die Porträts von Verdi und Rossini in das Eisen. "Diesen Ring hat Ihr Kaiser einmal acht Tage lang getragen!" Die italienische Gemmen- und Steinschneidekunst ist ja berühmt, dieser eiserne Ring besonders schön; und da habe sich ihn der Kaiser eben einmal ausgeliehen, getragen und überall gezeigt, Gespräche über Kunst daran geknüpft und ihn schließlich Mascagni zurückgestellt. "Nicht ohne Leihgebühr!", lacht der Maestro und tippt sich ans Knopfloch.

Über den Fall Aida sprechen wir nicht. Ich könnte Mascagni doch nur erklären, was er sich inzwischen wohl selbst schon gesagt hat: daß wir ein armes ausgesogenes Volk geworden sind und überdies in unseren eigenen Berliner Opern treffliche Aida-Aufführungen häufig genug haben. Es fehlt überhaupt nicht an Unterhaltung. Wir haben in Berlin vier Opernhäuser, statt der zwei vor dem Kriege, und die Theater und Kabaretts haben sich noch stärker vermehrt. Der Spielplan hat sich freilich nicht verbessert. Und sogar gelitten hat die Inszenierungskunst. Bitte, Gyges und sein Ring, in der Volksbühne, seht Euch das mal an! Ist nur eine Bank auf der Szene: Gemach des Königs. Hat die Bank eine Lehne: Gemach der Königin. Steht ein Besen neben der Bank: Königlicher Garten. Für diese erkältende Dürftigkeit ist es nur ein erst recht schlechter Ausgleich, wenn die Volksbühne, die seit Kayßlers Ausscheiden noch mehr den gewerkschaftlichen statt künstlerischen Interessen dient, nun den sozialistischen alten Schmarren "Waffen" von Paquet gibt, die Chicagoer Streikgeschichte, in der Bomben knallen und schließlich vier Galgen ihrer natürlich schuldlosen Opfer harren. Schon ist ihnen die Schlinge um den Hals gelegt. Da wird es dunkel und die Bühne dreht sich. Das Publikum hat es schon vorher getan. Und mit seiner ganzen Sehnsucht - aus dem grauen Alltag hinaus, in das buntschillernde Märchen hinein - läuft es nun zur Ausstattungsrevue. Das ist unter dergleichen Umständen gar kein Wunder. Hier brauchen die Menschen einmal gar nicht zu denken, sondern sich nur von wahren Kaskaden von Farbe und Licht überschütten zu lassen, alles mit Musik und Tanz, alles von einer ganz tollen Unwahrscheinlichkeit auch in den Kostümen mit bisweilen meterhohem Federn- und Perlenkopfputz. Und nicht nur fabelhaft angezogen, sondern auch fabelhaft ausgezogen sind die Darsteller. Für das in der Farbenorgie ermüdete Auge sind die nackten Körper dann, so sonderbar dieses Bekenntnis auch klingen mag, nachher kein neuer Reiz, sondern ein tiefes Ausruhen im Blick auf Gottes unverhülltes Schöpfungswerk.

Tante Malchen aus Ostpreußen würde sagen, hier wäre ich schon blasphemisch geworden. Diese Nacktgeschichte sei doch Teufelswerk. Ich kann das nicht finden. Unter anderen Umständen, in dem geheimen Nachtlokal, in dem sich eine ausgekleidete Person, die nichts weniger als modellhaft ist, vor ausgezechten Gästen dreht und windet, trifft das freilich zu. In der großen Revue aber wirken die Angezogenen meist viel unanständiger als die Ausgezogenen, - wenn man überhaupt Zeit hat, in dem Ton- und Farbengewoge an so etwas auch nur zu denken.

Ich habe hintereinander alle drei neuen Revuen auf mich herniederprasseln lassen. Wer typisch berlinischen Witz, berlinische Schnoddrigkeit in den Zwischenspielen liebt, der mag zu "Noch und Noch" in den Admiralspalast gehen und sich schief lachen, wenn Maxe Schliephake bei der Überfahrt nach London in Damenunterhosen und in Damenkorsett in seine schaukelnde Koje kriecht, weil er gehört hat, daß bei einer Strandung zuerst Frauen und Kinder gerettet werden. Wer einige exquisite Einlagen liebt, etwa die, wo Kammersänger Slezak, der berühmte frühere Wagnersänger der Metropolitan Opera, sich selber leibhaftig spielt und parodiert und schalkhaft übergipfelt, der muß "Das hat die Welt noch nicht gesehen" in der Komischen Oper mitmachen, wo der der deutschen Rechtschreibung noch nicht ganz kundige Direktor James Klein im übrigen diesmal leider auch augenschwach geworden zu sein scheint und in der Gegend der Ackerstraße weibliches Personal engagiert hat, das mehr nach Zille als nach Rafael aussieht. In beiden Revuen gibt es reichlich English Girls, spanische Tänzerinnen und sonstige weithergeholte Attraktionen; in beiden ist der Farbenrausch gewaltig und an besonderen Tricks kein Mangel.

Aber das Liebenswürdigste und Geschmackvollste bieten uns in "Wien gib Acht!" im Lessingtheater diesmal die Österreicher; das Ronachertheater gastiert da mit dieser Revue. Man wird nicht durch die Massenhaftigkeit der Mädchenbeinparade sozusagen an die Wand gequetscht, die Bühne ist ja auch dafür wohl nicht groß genug, aber das Gebotene ist wirklich auserlesen. In den einzelnen Szenen - "Bilder" werden sie mit Recht in den Revuen genannt - tritt hier das Lieblichste und Bestgewachsene auf, was sich im alten Habsburgerreich nur auftreiben ließ, in dem "Decollté im Laufe der Jahrhunderte", in den "Puppen", in der "Liebesschatulle", im "Urteil des Paris", im "Modernen Restaurant" und wie diese Abschnitte alle heißen mögen. Eine Algerierin, die in wirklich dezenter Art ihren nationalen Bauchtanz uns vorführt, Serah Achmed, hat zwar eine afrikanische "Schnut", aber die Biegsamkeit einer jungen Gerte und einen so wohlgebauten Körper, daß Künstler in helle Begeisterung geraten mögen; und Mali Podzuk aus Böhmen enthüllt uns als Aphrodite ein solches Ebenmaß der Glieder, daß ein Bildhauer sofort zum Modellieren greifen - und dabei wohl nicht einmal ihre appetitliche kleine Blinddarmnarbe, dieses entzückend schalkhafte Grübchen, vergessen würde. Das alles sind Dinge, die für Tante Malchen sich sicherlich lasterhaft anhören. Für meine Person gestehe ich ohne Bedenken, daß man heutzutage überall viel Schlimmeres sieht und hierher - sie sind doch alle aufgeklärt genug - auch seine erwachsenen Töchter ruhig mitnehmen könnte.

Ohne ein bißchen Sentimentalität läßt sich Wienerisches nicht denken. In dem Bilde "Wien 1883" kann es sich hier ganz ausgeben. Der Walzer, meine Herrschaften, der Walzer . . . Und dann die letzten Mann, original, von der Deutschmeisterkapelle. In Uniform. Darunter der Tambour Wolferl der österreichischste, der pschütteste österreichische Soldat, dem je das Publikum zujubelte. Seine wirbelnden Hände sind von einer hinreißenden Eleganz der Bewegung. Das ist kein kommissiger Trommler, nein, das ist ein fabelhafter Bonvivant. Und wie dann der Radetzki-Marsch daherschmettert, da ist auf einmal das elektrische Fluidum zwischen Bühne und Publikum da.

Es gibt also schon noch genug Augenweide in diesem Herbst des Mißvergnügens; genug, um sich zu übertäuben. Nur wird die Konkurrenz um den Besucher, um den zahlenden Gast, um den Käufer immer stärker, weil so wenig Geld da ist. Das Letzte muß herausgelockt werden. Alle Welt versucht es jetzt, wie in der guten alten Zeit nur die "Goldne Hundertzehn", das Anreißer-Kleidergeschäft, durch Verse. Sogar eine ganz unpoetische Kohlenfirma bepappt die Anschlagsäulen mit ihrem herzlich schlecht gedrechselten: "Hab'n Sie Ihre Kohlen schon? Bestell'n Sie sie bei N. und Sohn!" Selten gibt es einen Schlager in dieser Reklamepoesie, von der auch die Zeitungsanzeigen voll sind. Aber eine kleine Kneipe in unserer Nähe, in der es gar nichts besonderes gibt, ist tagtäglich gepfropft voll. Der Inhaber, ein richtiger Urberliner, macht glänzende Geschäfte. In seinem Schaufenster steht mit fußhohen Buchstaben nur der Vers:

"Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd,
Bei mir da ist das umgekehrt!"

25. September 1924 (Donnerstag)


3

Zensurtag - Von erblicher Belastung - Die Volksschülerin im Autopelz - Angelsächsische und deutsche Erziehung - Auf dem Jugendbund-Abend - Der Indianer im Nachthemd - Wie die Toiletten der Massary zustandekommen - Ewige Jugend - Das Afterröhrchen D.R.P.

Die Mütter stehen an diesem Dienstag-Vormittag überall vor den Haustüren und spähen die Straßen entlang. Kommt der Junge immer noch nicht mit seiner Zensur aus der Schule? Gleich ist Vater zum Mittagessen zu Hause; und man müßte nötigenfalls doch noch vorher einige taktische Maßnahmen besprechen. Hie und da schlendert auch schon einer mit dem "Wisch" in der Hand heran. Vorerst wartet ja nur die Mutter, da kann man noch Überlegenheit markieren und braucht nicht Haltung anzunehmen. Unser Jüngster, der Obersekundaner, kommt endlich auch angestrolcht. Wir wissen schon, daß seine Zensur wieder eine glatte Versetzung für Ostern verheißt. Aber was wir nicht wußten, das ist die Bemerkung oben unter Betragen: "Neigt zu Unfug."

Oh, oh, oh. Im Familienkreise sieht mich alles an.

Ja, das ist eben die erbliche Belastung vom Vater her. Unser Junge kann wahrhaftig nichts dafür. Im Deutschen hatte ich immer, auch im Abiturientenaufsatz, eine Eins. Aber wegen Unfugs einmal sogar das consilium abeundi. Und unmittelbar nach der Gymnasialzeit bekam ich die erste Polizeistrafe. Und zwar "wegen Veranstaltens einer nächtlichen Musikaufführung auf der Straße, wozu die polizeiliche Genehmigung vorher nicht eingeholt war."

Noch im Kriege erhielt ich wegen "unbefugter" und gänzlich unangebrachter Kritik einer militärischen Behörde von Admiral v.Schröder einen einfachen Verweis. Der famose alte Admiral hat sich freilich dabei das Lachen verbeißen müssen. Nach dem Kriege hat aber so mancher Neurepublikaner gestöhnt, meine bloße Existenz sei schon grober Unfug.

Kein Wunder, daß das schließlich auch auf den leiblichen Jungen abfärbt.

Auch andere Eltern haben natürlich ihre Sorgen. Um Michaeli herum wie um Ostern herum. Nicht einmal für diejenigen, die nun, 14 Jahre alt, konfirmiert werden und die Volksschule verlassen, ist das Leben so einfach wie ehedem. Man möchte in die Lehre, man muß aber ans Verdienen. Zunächst steigert schon die Einsegnungsfeier selbst, ganz abgesehen von der notwendigen neuen "Kluft", die Sorgen selbst im schlichtesten Berliner Elternhause, denn seit einer Reihe von Jahren ist es üble Sitte geworden, daß die Konfirmation fast so gefeiert wird wie eine Hochzeit. Besonders, wenn es sich um ein Mädchen handelt, also um ein bereits tanzbares Geschöpf. "Bis dreie ham wa jedanzt!", erzählt die eine nachher dem Rektor beim Abschiedsbesuch. "Wir bis frieh um fimwe!", platzt stolz die zweite heraus. Gelegentlich werden diese Besuche bei den Lehrern in der alten Schule wiederholt, bis sie seltener und seltener werden. Eine noch nicht Sechzehnjährige kommt im Auto und präsentiert sich in pelzbesetztem Ledermantel. "Mein Verlobter wünscht mich so!", sagt das kleine Balg. Wer sei denn das? "Er ist Prokurist in einer Bank. Er war Stammgast im Faun. Da hat er mich als Tänzerin kennen gelernt." Rektor und Lehrer und Lehrerinnen und vor allem das kleine Volk machen große Augen. Selbst in Zehnjährigen erwacht die Lust, zur Ballettschule zu gehen. Nahezu alles, was auf Berliner weltbedeutenden Brettern herumhüpft, und sehr vieles, was im ganzen Reiche die Tanzvarietés bevölkert, stammt aus Berliner Volksschulen.

Bei dem ehemaligen Rektor der Lederbemäntelten aber läuft diser Tage ein dicker amtlicher Fragebogen ein. Der ehrlich bekümmerte Rektor soll "betreffs Antrags behufs Fürsorgeerziehung" Auskunft über die Abwärtsgleitende geben.

Nicht nur politische Parteien, kirchliche Gemeinschaften, sportliche Vereine tun, was sie können, um sich unserer Halbflüggen anzunehmen, sondern auch die Lehrer und Lehrerinnen unserer Volksschulen selbst. Man darf doch die Kinder, besonders in der Großstadt, nicht einfach wie den kleinen Ismael in die Wüste stoßen. Und das gerade heute, wo nicht einmal die allgemeine Dienstpflicht mehr besteht, die immerhin noch etliches an Gesundung bedeutete. In Amerika werden die Kinder erst mit 16 Jahren aus der Schule entlassen, sind also zwei Jahre länger unter heilsamem Einfluß, und vor dem 16. Lebensjahr darf dort niemand in Fabrik oder Werkstatt eintreten. In diesen letzten zwei Jahren macht man die Kinder zu guten Amerikanern, die jeden Morgen der feierlichen Hissung des Sternen-Banners voll Überzeugung zujubeln. Unsere deutschen Demokraten haben ja keine Ahnung davon, wie nationalistisch und militaristisch die Erziehung in dem "demokratischen" Amerika ist. Und sie würden sich ebenso wundern, wenn sie wüßten, was alles in dem "freiheitlichen" England geschieht, wo in jedem Cottage jeder Schule der höchste Ehrgeiz sich auf die besten Leistungen - im Scharfschießen richtet und wo trotz aller Sportfreudigkeit straffste Zucht herrscht: noch heute ist selbst in den höheren Schulen Englands die ungebrannte Asche ein wesentlicher Bestandteil der Erziehungschemie. Mich selbst kriegen vorläufig keine zehn Pferde über den Kanal. Solange ich, um überhaupt als Glied einer verfemten Nation die Einreiseerlaubnis zu erhalten, einem Konsul erst vorlügen und beweisen muß, daß die Reise "im Interesse der englischen Volkswirtschaft" läge, verzichte ich. Aber Kinder kann man schon ohne weiteres zu Verwandtenbesuch hinüberschicken. Also hat unser Unfugtreiber die Sommerferien in London verbracht und es dort erlebt, wie ein im siebzehnten Jahre stehender Vetter, der im Juli noch Schule hatte, einmal "die Bilanz zog", wie man es dort nennt: ob nämlich an dem einen Tage das Wetter schön genug sei, um zu schwänzen und auf der Themse zu liegen, obwohl es dafür am nächsten Tage in der Schule 10 Stockhiebe gibt. So etwas ist in dem weichen Deutschland natürlich unmöglich. Der Hosenboden unserer Jungen ist längst als heiliges Land erklärt. Was die Lehrer und Lehrerinnen also tun können, ist höchsten die Gründung und Leitung eines "Jugendbundes" der Schulentlassenen, eines Vereins mit harmlosen Vergnügungen, mit Singen und Klampfen und Wandern und Reigentanzen und kleinem Liebhabertheater; dadurch hält man die Buben und Mädel eine Weile von Schlimmerem ab. In Berlin sind diese Bünde nach den Schulen numeriert. Dieser Tage habe ich einen Abend mitgemacht, den von, sagen wir, Nr. 149 und Nr. 220, einer Mädchen- und einer Knabenschule, der natürlich - freilich in Gegenwart von Eltern und Lehrern - auch in Wackeln und Schieben endete, aber sonst so nett war, wie nur irgendein Kränzchen in einer Kleinstadt.

Sehr nett auch in der ganzen sauberen Aufmachung der Teilnehmer. Es sind gar keine Zille-Typen da. Den jungen Burschen, die das seidene Kavaliertaschentuch zwischen schmutzigen Fingernägeln knüllen, ist ja anzusehen, daß das Leben sie nicht mit Glacéhandschuhen anfaßt, aber die kleinen Mädchen, die jetzt schon ein oder zwei Jahre in einer Herrschaftsküche oder hinter dem Ladentisch oder am Kontorpult arbeiten, sehen allesamt so adrett wie höhere Töchter aus dem Geheimratsviertel aus. Zumeist auch rund und rosig. Gewiß, ich kann nur von den Anwesenden sprechen; es mag viele geben, die nicht so gekleidet sind, viele, denen man Entbehrungen ansieht, aber auch die anwesenden Lehrer und Lehrerinnen sagen mir, daß man jetzt ohne die Quäkerspeisung wohl schon auskomme. Wir sind ja nicht so elend geworden, weil wir uns das Nötige nicht erarbeiten konnten, denn fleißig ist Berlin, ist Deutschland immer gewesen, sondern die Ursache ist doch nur die satanische Absperrung gewesen, die nicht einmal nach dem Kriege aufhörte. Dazu die Ablieferung Zehntausender von Milchkühen, während im besetzten Gebiet jeder französische Offiziershund seine Schüssel voll Milch bekam. Dazu der Mangel an Wäsche, so daß Neugeborene in Zeitungen gewickelt werden mußten.

Mit gierigen Blicken wurde nach dem Kriege jeder Leinensack gemustert, der amerikanisches Mehl brachte. Er wurde sofort zu Wäsche verarbeitet, obwohl die farbecht eingedruckte Warenmarke sich nicht ausflecken ließ. Dieser schwarze Indianerkopf prangte vorn und hinten auf dem Nachthemd so mancher kleinen Jungfrau. Aber jetzt ist auch diese Notwäsche wohl schon ausgemerzt.

Nur fühlen wir noch ein schmerzliches Brennen der Augen, wenn schneller als erwartet der Luxus die Not überstrahlt. Noch nicht in den sogenannten weitesten Kreisen, denn eine wenn auch etwas abgemilderte Not ist noch immer vorhanden, auch Selbstmorde aus Hunger werden noch in jeder Woche verzeichnet, - aber in den Schaufenstern und auf den Bühnen gleißt alles wieder wie ehedem. Für den richtigen Berliner beginnt die Saison alljährlich erst an dem Tage, an dem in "ihrer" Operetten-Neuheit die Fritzi Massary auftritt und durch ihre Toiletten die gesamte Damenwelt in ungeheure Aufregung versetzt. Also mit dem letzten Septembertage hat diesmal die Saison begonnen. Die Kleiderpracht der "Unvergleichlichen", nicht brettelhaft bizarr, sondern wirklich geschmackvoll, buhlt geradezu um einen adäquaten Dichter. Ich weiß nur leider keinen.

Jahr um Jahr habe ich das Wiederauftreten der Massary geschildert, das letztemal mir dabei einen Ruck gegeben und mir gesagt: nun aber Schluß! Diese letzte noch lebende der Preziösen lockt trotzdem wieder übermächtig. Ähnliche "ewige" Wunder der Konservierung in schalkhafter Anmut hat man ja wohl auch früher alle Jahrhunderte einmal erlebt; Ninon de Lenclos entzückte noch mit 80 Jahren ihre Liebhaber, und Frau Pallenberg-Massary hat ein erheblich geruhigeres Leben. Die neue Operette, in der die Zierliche auftritt, ist ihr natürlich wieder auf den Leib und, bitte, auf den Geist geschrieben, es ist also immer wieder dasselbe Thema und kaum mehr zergliedernswert. Aber wie die Hauptsache bei solchen Operetten entsteht, nämlich die verschiedene Gewandung der Massary, das zu erspüren lohnt wirklich, das ist ein Zeitdokument unserer Kulturgeschichte.

Also im Juli ist das Libretto der Operettendichter fertig; Musik folgt nach. Das Libretto - das Buch, den Gang der Handlung - bekommt sofort zum Studium die Firma Clara Schultz, von der nicht nur Fritzi Massary, sondern auch Maria Jacobini und andere Größen der Bühne und des Films sich einkleiden lassen. Einer der Chefs des Hauses reist mit dem Buch nach Garmisch. Dort, in der Villa Pallenberg, legt er der Massary schon einige von Künstlern gemalte Kostümentwürfe vor. Acht Tage lang lesen die beiden Szene für Szene und beraten Aufmachung und Farbenwirkung von dem Brokatschleier eines Pyjama an bis zum duftigen Rosa-in-Grau eines Abendkleides über alle sonstigen im Stücke notwendigen Toiletten hinweg. Man hat auch schon Skizzen der Choristinnen-Gewänder, unter denen beileibe keines den gleichen Ton wie das des Stars haben dürfte, man kennt die Farbe der Teppiche, Möbel, Tapeten auf der Bühne und studiert die malerischen Akkorde. Anfang August reist dieser Chef des Hauses Clara Schultz gemeinsam mit der Massary nach Paris, um die kostbaren Stoffe auszusuchen, die, wie beide behaupten, so in Berlin noch nicht zu haben sind, sondern immer erst eine Saison später. Daheim in Berlin haben dann rund 30 Angestellte der Firma vier Wochen lang mit dem Schneidern zu tun. Die Massary selbst erscheint Mitte September, läßt sich die einzelnen "Schöpfungen" (jede andere Bezeichnung wird als Lästerung empfunden) von Mannequins vorführen und legt sie dann auch am eigenen Leibe an. Zuletzt auf der - Privatbühne des Modehauses, die eigens für solche Zwecke mit Rampenlicht, Soffitenlicht, Schnürbodenlicht und seitlichem Scheinwerfer ausgerüstet ist, um jeglichen Effekt in Abendbeleuchtung zu erproben. Noch sind Änderungen möglich, noch wird auch geändert, dann steigt - fast hätte ich gesagt: die schaumgeborene Göttin - die Massary endlich im Nollendorftheater empor, und tausend Berliner Damen haben nur noch den einen Wunsch: auf dem nächsten Ball à la Massary zu erscheinen.

Professor Steinach könnte trotz allem noch ein reicher Mann werden, wenn die Massary ihm verriete, mit welchen Mitteln sie sich so die Jahrzehnte hindurch bühnenjung erhält. Die letzte Manipulation kann ich zufällig verraten. Die Massary hat sich ein bißchen - skalpieren lassen. Ein berühmter Chirurg mußte ihr links und rechts, angefangen hinter dem Ohr und beendet fast am Scheitel, einen zwei Zentimeter breiten Streifen Kopfhaut wegschneiden. Dann wurden die Wunden vernäht, es blieb als Narbe nur ein feiner zarter Strich, der überdies vom Haar verdeckt wird, und die Hauptsache war erreicht: die stark zusammengezogene Haut strafft sich, die Stirn ist wieder jugendlich glatt, die Krähenfüßchen sind verschwunden.

Jawohl, wieder jung werden, immer jung bleiben! Das ist doch der Sehnsuchtsseufzer bei unserer ganzen Generation, Männlein wie Weiblein jener Generation, die fünf Jahre ihres Lebens durch den Krieg verloren zu haben behauptet. Das einfachste, jedem Zeitgenossen zugängliche Mittel heißt: "Mensch, ärgere dich nicht!" Das ist freilich heute schon ein rechtes Kunststück. Andere Leute verkünden mit großem Trara: "Mensch, lebe naturgemäß!" Ich für meine Person lebe längst naturgemäß, nämlich meiner Natur gemäß, aber ich glaube, daß ein richtiger Naturheilkundiger darüber die Hände ringen würde. Auch die Naturheilkunde ist in ihrer Art längst zur "Schulmedizin" mit einheitlichem Über-den-Kamm-scheeren geworden, aber Anhänger muß sie doch wohl eine schwere Menge haben, denn in Berlin hat sie neuerdings sogar eine eigene - Tageszeitung. Der Kampf zwischen studierten Medizinern und unstudierten Heilkundigen und alles übrige Drum und Dran mag sehr fesselnd sein, aber ich überschlage die polemischen Leitartikel und studiere mit um so innigerem Behagen die Anzeigenseiten. Da steht diesmal ein Inserat, durch das sich mir, da ich sehr überzeugend vorzutragen verstehe, vielleicht eine Lebensstellung eröffnet. Das Inserat lautet:

Zur Bekanntmachung der fast wundersamen Heilwirkung stets ungehinderter Darmentgasung, wie sie mit unserem seit 5 Jahren vieltausendfach glänzend bewährten Afterröhrchen D.R.P. unter vollster Wahrung von Sitte und Rücksicht immer möglich ist, suchen wir für dauernd

hervorragende Vortrags-Reisende.

Als ich das in der "Tagesschau", der Tageszeitung für die Interessen der gesamten Naturheilwissenschaft, las, war mir freilich auch schon gleich klar, daß das wunderbar wirkende Afterröhrchen unbedingt noch einer ergänzenden Erfindung bedürfe, über der ich nun im Interesse der Menschheit nachsinne, nämlich einer an das Entgaser-Röhrchen anschließbaren Turbo-Musikdose D.R.P. mit der Melodie: So leb denn wohl, du stille Gasse.
2. Oktober 1924 (Donnerstag)



Jahresinhalt

Glossen 4 - 6

© Karlheinz Everts