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Wahltreiben in den Straßen - Knoppchen an die Propheten - Wirkungen des Frauenstimmrechtes - Krach in der "Wilhelma" - Dünkel und Titel - Alte deutsche Fehler der neuen Republik - Mein größtes Trinkturnier - Berlin wird solide - Das seriöse Verhältnis - "Ich hab' ne Bimmel"
In Leitartikeln sprich man wohl von dem Wahltag als dem Gerichtstag. Diesmal war es mehr ein Volksfest. Ich habe kaum je so viel jauchzende Kinder auf den Berliner Straßen gesehen als am vorigen Sonntag, Kinder, die die zur Wahlreklame massenhaft verteilten schwarzrotgelben oder schwarzweißroten Fähnchen schwenkten, nach den von den Parteiautos herniederflatternden weißen oder roten Flugblättern haschten oder einen lärmenden Reigen um den fast 2 Meter langen Riesenkerl tanzten, der in altdeutscher Heroldstracht in der Krausenstraße für die Deutsche Volkspartei warb. Das war schon fast karnevalistisch ausgelassen. An der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Westen aber stauten sich schließlich rundum Zehntausende Erwachsener und trieben in harmloser Fröhlichkeit allerlei Scherz, nachdem sie vorher im Wahllokal mit den beiden Stimmzetteln für Reichstag und Landtag anscheinend eine seelische Zentnerlast losgeworden waren. Alle die gegenseitige Verhetzung die Wochen vorher in den Parteiblättern war wie weggewischt. Sie ist genau so notwendig, wie für den Ladenkaufmann die Zeitungsanzeige, solange die Konkurrenz auch inseriert, sie verhindert nämlich den Rückgang des Kundenkreises. Aber im allgemeinen hat bei dieser Wahl doch schon vorher jedermann seinen Weg gewußt, - und deshalb sind die ganz großen Reklamemacher, die einen überwältigenden Sieg der Demokratie herbeizuführen hofften, von dem Ergebnis ihres teuren Wahlfeldzuges auch so bitterlich enttäuscht.
Gewisse moderne Regierungskreise hatten es geradezu zum Glaubenssatz erhoben, daß die Deutschnationalen auf 85 Reichstagsmandate zurückgedrückt werden würden. Statt dessen ist die Zahl der deutschnationalen Mandate auf 111 gestiegen. Unter den kleinen Leuten Berlins, in den Schichten, die man "das Volk" nennt, lachte man freilich über den Regierungs-Tip. Ich habe mal auf eine halbe Stunde Einkehr in der Großdestille bei Knoppchen gehalten, dem vergnügten Reisekumpan von der Nordlandfahrt, dem Urberliner mit dem fabelhaften Mundwerk in der Jerusalemer Straße. Dem prophezeite auch gerade einer, daß die Demokraten von 28 auf mindestens 45 Sitze kommen würden. Da drehte Knoppchen sich ihm zu und sagte lediglich:
"Mensch, fahr bloß nich nach Indien, wenn da ein kinderloses Rhinozeros dir mal sieht, so adoptiert es dir sofort!"
Ordentlichen Klamauk, wie der Berliner es nennt, hat es in diesem Jahre nicht einmal in den vielen Kneipen in den Tagen vor der Wahl gegeben. Daran ist eigentlich das neue Frauenstimmrecht von 1919 schuld. Früher konnte der Rentier Schulze oder der Lehrer Lehmann in den Wahlwochen immer ein wichtiges Gesicht aufsetzen, an fast jedem zweiten Abend den Hausschlüssel verlangen und erklären, er müsse zur Versammlung. Heute sagt in solchen Fällen Frau Schulze oder Frau Lehmann: "Schön, ich komme mit!" Dann lieber nicht, sagt sich der Ehegatte, schwänzt auch die wirklichen Versammlungen, und in den Zeitungen steht nun, es sei eine ungeheure Wahlmüdigkeit ausgebrochen. Keine Spur. Nur sind die Leute vor der Wahl mehr als je ruhig zu Hause geblieben.
Voll, pfropfenvoll, ist es nur immer in der "Wilhelma". Das ist, Ecke Rankestraße und Kurfürstendamm, eigentlich, nicht geschäftlich und juristisch, aber der Struktur des Publikums nach, die wiedererstandene "Hopfenblüte", die der älteren Generation Unter den Linden bekannt war. Stimmung, Stimmung, Betrieb! Wie die "Hopfenblüte, so die "Wilhelma": Tisch an Tisch und Kopf an Kopf Studenten, Soldaten, Amtsrichter, Assistenzärzte, Kleinbürger. Mitunter ganze Familien. Aber kein einziger Tauentzientyp darunter. Man kann lange suchen, ehe man einen Bubikopf entdeckt; und die männliche Jugend hier trägt kein langes angeklatschtes Haar. Es ist alles einwandfrei "altes System", alles ein Herz und eine Seele, wenn die Musik - frühere Militär-Hoboisten in einer reichswehrähnlichen Phantasieuniform - großes Potpourri mit Tschingtara herunterhaut, von "Ich bin ein Preuße" über "Ännchen von Tharau" und "Am Brunnen vor dem Tore" bis zum "Ehrhardt-Lied". Natürlich ist die Wilhelma deutschvölkisches Stammlokal geworden. Darum berichtete auch der sozialdemokratische Vorwärts als von einer ganz fabelhaft mutigen Unternehmung, daß jüngst 6 Leute vom Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in voller Kriegsbemalung in der Wilhelma ihren Schoppen getrunken und - keine Haue gekriegt hätten. Viel angestarrt, aber gänzlich unverletzt hätten sie sich dann in voller Ordnung wieder zurückgezogen. Freilich hat daran wohl auch der Wirt einen Teil Verdienst. Er hat nämlich schon vor Monaten auf jeden Tisch ein gedrucktes Kärtchen stellen lassen, dessen erster Satz lautet:
"Unser verehrtes Publikum wird hiermit höflich gebeten, von jeder Provokation andersdenkender und sitzenbleibender Gäste beim Spielen patriotischer Lieder abzusehen, da eine Nötigung zum Aufstehen oder sonstige Belästigungen polizeiliche Ahndung nach sich ziehen." |
Diese Mahnung scheint wirklich nötig zu sein, denn als ich neulich abends, zum zweitenmal in meinem Leben, mir den Trubel in der Wilhelma ansah, das an sich so harmlose Beieinander bescheidener Gäste, die ihren Topf Bier trinken, aber den Kellner nur selten für etwas Kulinarisches bemühen, gab es doch zuletzt den schönsten Krach. Zuerst freute sich alles stillvergnügt an den "markigen" Weisen der Musik, die allenfalls leise mitgesummt werden, weil man anderswo doch nur Schlager und nicht Volkslieder mehr hört. Alles freut sich auch an den "markigen" Männern da oben in Uniform, besonders an dem strammen Rücken des Dirigenten, der früher natürlich auch aktiver königlich preußischer Musikmeister war. Unterhalb der Estrade sitzt vor seinem Schoppen ein unzweifelhaft teutonischer Gesell mit Kneifer und schon etwas schwimmenden Äuglein, der, so oft die Musik einen Marsch oder ein Lied beendet hat, als Zeichen seines Beifalls ein lautes "U-hu-hu" - ich glaube, das ist der Heilruf der Schlaraffen oder einer ähnlichen Gilde - hinausschmettert. Schon das ist den Musikern peinlich. Sie fühlen sich doch noch alle als Soldaten und nicht als Ulk-Kapelle. Eine Weile später steht der U-hu-hu-Rufer auf und stammelt laut und gerührt:
"Wenn ich so in der Wilhelma sitze und deutsche Männer sehe, dann ist mir um den Ausgang der Wahl am 7. Dezember nicht bange!"
Spricht's und prostet dem Musikmeister zu. Der winkt ab. Er ist hier im Dienst und nicht dazu da, jedem Angeheiterten Bescheid zu tun. Da wird aber der Mitbürger im Parterre feindlich. Und fuchtelt mit der Hand und brüllt: "Sie sind ein dummer Junge! Sie stehen ja tief unter mir! Sie benehmen sich lümmelhaft!" Der Geschäftsführer der Wilhelma kommt und will beruhigen, anstatt den Störenfried hinauszuwerfen. Der Kapellmeister beschwert sich über eine solche Erledigung, und als weiter nichts erfolgt, der liebe Gast vielmehr im Hintergrunde weiterbellt, ertönt das scharfe Kommando: "Aufhören! Einpacken!" Und die gesamte Musik zieht mit ihrem Führer ab. Ich erzähle diese kleine Alltäglichkeit nicht deshalb so ausführlich, um der Wilhelma Gäste abspenstig zu machen, die es für ein Radaulokal halten könnten, oder Gäste anzulocken, die gerade so etwas lieben, sondern weil der Fall typisch für jenes falsche "alte System" ist, das mit dem echten nichts zu tun hat und uns böse Seitenblicke aller Kulturmenschen einträgt. Das schlimmste ist das Wort: "Sie stehen ja tief unter mir!" Wahrscheinlich hat der Kapellmeister höchstens "das Einjährige", der Radaumacher sicherlich mindestens "das Abitur"; oder der eine hat 240, der andere aber 260 Mark Monatseinkommen. Nichts hat so sehr der Revolution in die Hände gearbeitet, als dieser Dünkel gewisser Preußen ohne Herzensbildung, denn der Dünkel der Hohlköpfe treibt den Verletzten das Blut in den Kopf und den Zorn in die Faust. Niemand steht so hoch, daß er sich über irgendeinen Mitdeutschen erhaben dünken dürfte. Der in seinem Wesen bescheidenste und höflichste Mensch, dem dafür der letzte Diener die Hand hätte küssen mögen, war unser alter Kaiser - und er war doch Wilhelm der Einzige, der Sieger in hundert Schlachten und der Einiger der Nation.
Auch das ganze Tschingtara, das, bescheiden genossen, eine Wohltat sein kann, schafft in seiner Aufdringlichkeit nichts. In der Bibel steht: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Geberden. Auch unser altes Kaiserreich nicht. Das wartet auf die stille Einkehr und Umkehr der Deutschen, und wenn die vollendet ist, dann ist es da. Nachher mögen wir es allenfalls mit Tschingtara begrüßen.
Wer aber nun etwa glaubt, die Republik habe erkannt, was früher töricht bei uns war, und schaffe es ab, der irrt sich gewaltig. Das Kastenwesen ist das alte geblieben. Das Titelwesen wird sogar von Tag zu Tag schlimmer, obwohl die Verfassung ausdrücklich sich dagegen wendet. Man erfindet fortgesetzt neue Titel, die sogar ganz militärisch klingen dürfen. Vor allem darf es natürlich keine Diener mehr geben. Also heißen die früheren Gerichtsdiener jetzt Justizwachtmeister. Auch die kurzlebigen Amtsnamen parlamentarischer Größen, die doch keinen Beruf bezeichnen, werden zum dauernden Ornament. Der alte Gothein schreibt keinen Artikel, ohne sich als "Reichsschatzminister a.D." zu bezeichnen. Auf der Kandidatenliste zum Reichstag haben Parteisekretäre sich in Menge ebenso als Minister im Ruhestand verewigt. In Berlin wurde der Sozialdemokrat Paulsen zum Oberstadtschulrat ernannt. Daraufhin erhielt der Leiter des Volksschulwesens unter ihm den Titel Obermagistratsschulrat. Da aber ein "Ober" doch mehrere "Unter" haben muß, wenn er sich als voll ansehen will, so wurden dazu Magistratsschulräte geschaffen, und zwar aus der Zahl der Schulräte, die bis vor kurzem Inspektoren hießen. Man kenn sich nachgerade nicht mehr darin aus. So ist es aber auf allen Gebieten. Sogar das Dienstmädchen heißt amtlich heute Hausgehilfin, und die Stütze Ober-Hausgehilfin. Die Engländer lachen darüber, wenn sie bei uns ein derartiges polizeiliches Schriftstück sehen und buchstabieren: Oberhaus-Gehilfin.
Die Titelsucht ist freilich nicht etwa nur preußisch, sondern deutsch, findet sich auch in München genau so wie in Wien; und in Darmstadt habe ich es mit einem sonst lieben Kerlchen einmal ganz verschüttet, weil ich "Prost, Herr Becker!" sagte, anstatt "Prost, Herr Steuerakzessist!" In England sagt man selbst zu Geheimen Räten und ihren Gattinnen einfach Herr und Frau Soundso, - nur in dem stark deutsch untermischten Amerika ist schon jeder zweite Gentleman entweder "Colonel" oder "General", auch wenn er nur - Generalagent ist. In Rußland, noch im zarischen Rußland, wurde zwar der Hauptmann oder der Hofrat von den Untergebenen mit Euer Hochwohlgeboren angeredet, aber sonst nannte man sich sogar nur bei Vor- und Vatersnamen. So etwas verscheucht die Steifheit und erleichtert den Verkehr. Wenn man beispielsweise mit dem Minister Grafen Witte sprach, so war er in Gesellschaft nicht "Hohe Exzellenz", sondern einfach Sergej Julitsch. Das habe ich vor dem Kriege einmal gut kennen gelernt. Ich wollte an den großen Manövern in Frankreich im Herbst teilnehmen, aber sozusagen unter Deckadresse, mit Empfehlungen aus Petersburg. Alexander Iwanowitsch Gutschkow, der Führer der Oktobristen, den ich in Berlin kennen gelernt hatte, als er hier seinen alten Lehrer Professor Dr. Schiemann besuchte, gab mich an den Minister Kokowzew weiter. Mit dem verplauderte ich eine ganze Stunde. Dann kristallisierte sich in meinem Hotel ein Baron Grotthuß an mich heran, dessen sorgsam gehüteter Beruf mir aber nach fünf Minuten klar war: er war "Beamter für besondere Aufträge" in Kokowzews politischer Polizei und sollte mich wohl auf Herz und Nieren prüfen. Er lud mich zu Cubat ein, wo man mindestens so gut ißt und trinkt, wie in irgendeinem Feinschmecker-Chalet des Pariser Bois de Boulogne, und es hub ein Männertrinken an, wie ich mäßiger Mann es selten erlebt habe. Aber in diesem Rennen - es ging darum, wessen Zunge zuerst sich verriete - blieben wir Gurt an Gurt; keiner von uns siegte auch nur um Nasenlänge. Was dieser Mensch aus Berlin eigentlich wollte, kam nicht heraus. Ich blieb auch im amtlichen Bericht der harmlose Weltbummler, den man wohl empfehlen dürfe. Den armen Teufel, den Baron Grotthuß, haben die Russen dann während des Krieges, wie ich höre, erschossen; unter der irrsinnigen Behauptung, er - ausgerechnet er - sei deutscher Spion.
Das ist damals - vielleicht - das letzte große Trinken meines Lebens gewesen. Und es war sozusagen beruflich. Selbst wenn gute Freunde draußen im Reich darob maßlos erstaunt sein sollten: mir genügt heute selbst an Festtagen, etwa Skagerrak, eine halbe Flasche - freilich wirklich guten - Weines. Überhaupt ist es mit dem trinkfreudigen Berlin längst alle. In ganz Deutschland wird heute noch nicht einmal die Hälfte der Vorkriegsmenge Alkohol vertilgt, und das seßhafte Kneipergeschlecht ist ausgestorben. Die meisten "berühmten" Stammtische auch in der Reichshauptstadt sind aufgeflogen. Besonders jetzt in der Weihnachtszeit sind die Berliner Gaststätten mit wenigen Ausnahmen erkältend leer, so daß neue Gäste manchmal schon in der Drehtür Kehrt machen. Die junge Welt spart lieber für Skier oder Tennisschläger, und die Alten sparen für die Jungen und traben die Läden statt der Stammlokale ab.
Sonst gehört des Ausgeführtwerden wenigstens zum Tagesprogramm derjenigen jungen Damen, die dauernd himmlische Rosen ins irdische Leben irgendeines Junggesellen zu flechten pflegen. Heute sind in Berlin auch diese Verhältnisse viel solider geworden. Wie der Wiener sagt: ßehr ßeriös, ßehr ßeriös. Unter uns bewohnt ein baumlanger Ausländer eine ganze Zimmerflucht gemeinsam mit einer kleinen deutschen Tänzerin, die er ihrem eigentlichen Berufe entführt und dadurch der öffentlichen Bewirtschaftung entzogen hat. Die Kleine hilft ihm wahrhaftig sparen; wenn unten mal Besuch ist, geht es wohl um eine Nuance lebhafter zu, als in regulären Familien, aber das ist auch wohl das einzige bohemienhafte, wo man sonst sicher - wenigstens früher - geglaubt hätte: da knallt's egal mit Sektkorken.
Berlin ist wirklich solide geworden. Und man hat so seine kleinen Freuden. Steht da in stiller Seligkeit ein winziger Berliner Junge, von drüben aus der Kellerwohnung, auf der Straße vor mir und stammelt:
"Ick hab' ne Bimmel . . . wemman dran bimmelt . . . denn bimmelt se!"
11. Dezember 1924 (Donnerstag)
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Die Reimseuche - Amerikanisierung der Reklame - Automobilausstellung - Der Pullman der Landstraße - Shaws "Heilige Johanna" - Aus der Geschichte des Weinhauses Dressel
Die Grippe scheint uns dieses Jahr verschonen zu wollen. Dafür verbreitet sich die Reimeritis seuchenartig. Alles reimt. Früher waren das nur vereinzelte Anfälle. Die Goldene Hundertzehn, ein Kleider- und Anreißergeschäft, lockte durch seine Verse. Ein Schaffner der Straßenbahn produzierte sich als Stegreifdichter, wenn nette junge Damen oder Berliner Grünschnäbel einstiegen. Heute aber wird man überall in Versen angeschrien. Du eilst über den Weihnachtsbudenmarkt auf dem Leipziger Platz, möglichst schnell durch all das Knarren, Pfeifen, Gröhlen hindurch, ohne einen Blick für den flimmernden Tand, aber plötzlich vertritt Dir jemand den Weg und deklamiert Dich an:
"Da biste baff, da bleibste stehn: |
und wahrhaftig, Dir zu Füßen stelzt eine kleine Blechpuppe, "Stick for Stick 'n Jroschen", am Rande des Bürgersteigs. Es gibt einfach nichts, was nicht in Versen angeboten würde.
"Kauft meine Seife, wenn's Euch dreckig geht, - |
ruft ein anderer Händler. Ein dritter preist gegen Abend in Versen seine heißen Bockwürste an und sagt Dir: "Detis die erste Wurscht von dem Schwein, det Se im janzen neuen Jahr ham wern." Ein vierter, ein zehnter, ein hundertster reimen Hosenträger, Aachener Printen, kleine Globusse, Südfrüchte, Herrenschals. In den Schaufenstern stehen Verse, in den Zeitungsanzeigen stehen Verse. Nachts im Bierlokal werden Schlagerverse auf Postkarten von Hausierern feilgeboten. Man trollt endlich nach Hause, möchte einen vernünftigen Gedanken fassen, aber die dummen Verse tanzen ihren Reigen im Gehirn, und schließlich taktiert es in Dir nur noch: "Eine Katze hat se - eine Katze hat se - eine Katze hat se." Auch alle politischen Parteien, von den Deutschnationalen bis zu den Kommunisten, sind von der Reimeritis befallen gewesen. Unwiderstehlich, meinten sie, sei diese Anreißermanier; aber nur unausstehlich war sie für Menschen von Geschmack. Freilich, - hat die Mehrheit denn Geschmack ? Und die Mehrheit will man doch schließlich durch dieses kindliche Gebimmel gewinnen.
Vielleicht gehört das zu der Amerikanisierung unseres Lebens. Der Kampf um den Käufer und um den Wähler nimmt - für unsere Begriffe - jedenfalls immer grotekere Formen an. Die trübseligen Sandwich-Männer, die mit Plakaten auf Brust und Rücken einherschwankten, wie die Kamele im Wüstensand, sind jedenfalls längst überholt. Vier gleichmäßig auffallend angezogene junge Mädchen, gepudert und geschminkt, onduliert und manikürt, mit der großen Aufschrift "Parfum" über dem Busen, gehen im Gänsemarsch auf dem Bürgersteig und händigen jedem Entgegenkommenden ein duftendes Reklametäfelchen der Firma ein. Ein Clown zieht auf Rädern eine ganze pappene Litfaßsäule durch die Straßen, aus der oben ein Maskenkopf in regelmäßigen Intervallen emporschnellt, und preist "Scherzartikel" an. Die Behäbigkeit ist dahin, laute Aufdringlichkeit ist Trumpf. Das stille Christfest wird durch allgemeines gegenseitiges Sich-Überschreien eingeleitet; wer seit zehn oder zwölf Jahren nicht mehr in Berlin war, de erkennt es heute nicht wieder, so hat das Tempo des Straßenlebens sich verändert.
Irgendwo muß doch noch viel Geld sein, wenn man es mit so großen Unkosten hervorlockt, sagt der Naive. Ich glaube umgekehrt, es ist so wenig Geld da, daß man sich eben darum balgen muß.
Wer in diesen Tagen die große Automobilausstellung besucht hat, der könnte allerdings auf den Gedanken kommen, daß wir heidenmäßig viel Geld haben. In zwei Riesenpalästen am Kaiserdamm - der zweite ist gerade soeben, ein Jahr nach unserer tiefsten Inflationsnot, fertig geworden - drängt sich draußen in Charlottenburg das Volk. Am Eröffnungstage werden über 50 000 Besucher gezählt, nachher nicht viel weniger. Es sind sogar, man hört es und staunt, sehr viele Käufer da; nicht nur Herren, denen man auf 20 Meter den mehrfachen Aufsichtsrat ansieht, nicht nur Damen in Leopardenfell und Perlenketten, sondern auch schlichte kleine Geschäftsleute, ja sogar Menschen von dem Typ, die man früher Sechserrentiers nannte. Noch suchen sie vergeblich nach etwas, das dem amerikanischen Ford-Wagen gliche. Das deutsche Kleinauto ist noch nichts für kleine Leute. Es sind zwar treffliche Wagen von geringem Umfang ausgestellt, aus Chemnitz, aus Apolda, aus Plauen und anderen Plätzen der Automobilindustrie, aber sie sind eben besser als der Ford und daher auch teurer. Natürlich möchte man sich am liebsten das Beste leisten, etwa einen Maybach, dessen Luftschiffmotoren den Grafen Zeppelin zum Siege geführt haben, aber da kostet ja das nackte Chassis allein schon rund 24 000 Mark; also können nur verhältnismäßig wenige Auserwählte sich daran erfreuen, wie vollkommen rucklos man in diesem Wagen die Geschwindigkeiten wechseln kann. Oder da ist das Stromlinien-Auto der Rumplerwerke, auch eine ganz eigenartige Schöpfung, die aus dem Bau von Luftfahrzeugen herausgewachsen ist und sich rühmen kann, in der Fahrt den allergeringsten Widerstand zu erregen. Da sind noch manche andere Wagen, die man nur unter großem Bedauern, wirklich wegen Platzmangels, von der Erwähnung ausschließt, - Hunderte von Wagen, die den Hochstand der deutschen Technik verkünden, aber allesamt für unsereins doch nichts sind; weil es schließlich doch auch Leute geben muß, die zu Fuß laufen, bis der deutsche "Ford" da ist, den sich dann auch der sogenannte bessere Arbeiter leisten kann. Also unsereins geht nur als Zuschauer hin und freut sich am meisten über das Luxus-Wohnauto, den besten Witz dieser Ausstellung, dem man schon deshalb viele zahlungskräftige Käufer wünschen möchte. Es ist, soviel ich mich erinnere, ein Ago-Wagen; man hat eben Firma und alles übrige vergessen, während man darin ging und saß und sich freute. Ein Pullmann der Landstraße. Ein Zigeunerwagen für Millionäre. Mit Waschraum (fließendes Wasser natürlich), W.C., Küche, Salon, Hunde-Abteil, Rundfunk, Sonnendeck und "allen Schikanen", nachts ein Schlafwagen erster Klasse, aller Zubehör einschließlich des Koch- und Tischgeschirrs prachtvoll in kaum auffallenden Wandschränken verstaut. Den Wagen will ich natürlich auch haben, um endlich von den Hotels unabhängig zu sein. Ich warte nur noch, bis er auch ein Schwimmbecken, einen Zandersaal und eine Tanzdiele enthält.
Wir reißen doch noch die Augen auf. Wir wissen nicht, daß wir auf diesem Gebiet nur Nachahmer sind. Seit elf Jahren gehören wir doch nicht mehr zu den wohlhabenden Völkern, und in dieser Zeit haben die anderen uns in Luxus oder auch nur behaglicher Bequemlichkeit weit überflügelt. Es ist eine deutsche Automobilausstellung am Kaiserdamm, also solide, zuverlässig, und in technischer Beziehung keine Schleuder-, sondern Präzisionsarbeit. Aber wenn das Ausland da auch vertreten wäre, würden wir erst sehen, wie ausgeplündert wir sind. Unser Bestes geht ja auch hinaus. Der innere Markt ist sehr eng geworden.
Man hat einen guten Maßstab dafür, ob ein Volk "bei Kasse" ist, wenn man es bei seinem Vergnügen aufsucht. Nach dem Revolutionsrausch und nach dem Infaltionskater, wo alle Welt das Geld hinauswarf, um sich zu betäuben, ist der Rückschlag eingetreten. Wollene Strümpfe gelten wieder für nötiger als das abendliche Amusement. Die Große Volksoper im ehemaligen Theater des Westens in der Kantstraße ist schon verkracht. Andere Bühnen reiten Wechsel, um die Tageskosten zu erschwingen; das Publikum füllt sie nicht mehr. Nur die wirkliche Elite kann sich noch halten, aber auch da das Deutsche Theater Reinhardts nur deshalb, weil es von den Überschüssen des auf gewöhnliches Amusierniveau geratenen Großen Schauspielhauses lebt. Leidlich volle Häuser machen zurzeit - die Weihnachtszeit ist für Theater die schlechteste - Shaws "Heilige Johanna" bei Reinhardt. Nicht etwa, weil alle Welt nach Schillers nun auch Shaws Jungfrau von Orleans kennen lernen möchte, sondern weil ein Theater- und Filmliebling der Berliner, die kleine Bergner, die Titelrolle gibt. Merkwürdig. Sie ist der Typus, den der Mediziner als infantil bezeichnet, als völlig zurückgeblieben in der körperlichen, weibhaften Entwicklung. Man trifft solche verkümmerten, kleinen mageren Geschöpfe in manchem Ghetto in Polen. Ein engbrüstiger, kindhafter Oberkörper auf stöckchendürren Beinen. Die und Landmädchen aus Domremy ? Die und Soldat im Heere des Königs ? Unmöglicher Gedanke! Es gibt ein einziges Bild der Jungfrau, in das ich mich einst so versenkt habe, daß ich kaum loszureißen war. Es hängt in Paris. Es ist von Paul Dubois gezeichnet. Das ist keine Französin, geschweige denn eine polnische Jüdin, sondern ein deutsches Bauernmädchen aus Lothringen, keusch und versonnen und aller Wunder voll, und doch kräftig genug, um in einen Männerharnisch zu passen, - wie wir ja auch 1813 ein Mädchen gehabt haben, das in Uniform mitkämpfte und ihr Geschlecht erst verriet, als die feindliche Kugel es hinstreckte. Die heilige Johanna nun war ein gläubiges Kind Gottes. Und doch ein Mädchen von Fleisch und Blut, ein kräftiges Kind der heimischen Lothringer Erde, die in Reinheit und Kraft das verlotterte Heer emporriß. Diesem Dingelchen aber, der Bergner, glaubt man es nicht. Es bleibt nur das Visionäre, Kindhafte. Das allerdings bringt ihr großes Talent erschütternd zum Ausdruck. Auch die übrigen Darsteller, von dem äußerlich trottelhaften König an, hinter dem in Wirklichkeit mehr steckt, bis zu dem letzten Troßbuben sind auf der Reinhardtbühne auserwählte Solokräfte, von einer künstlerisch empfindsamen Regie hineingestellt und mit einer verschwenderischen Szenerie umgeben, die bis zum letzten Flicken burgundischer Geckentracht historisch echt ist. Natürlich ist Shaw nicht Schiller. Dem irischen Spötter ist es mehr um den Prozeß der Jungfrau und ihr Ende zu tun, als um ihren Kampf und ihr Leben; sein Drama isr eine Kampfschrift gegen Kirche und Krone und jegliche sonstige Autorität, so sehr er sich auch bemüht, als getreuer Chronikschreiber zu erscheinen. Trotzdem steht man selbst als abgebrühter Theater-Habitué ganz im Banne der Aufführung, ganz im Banne - das ist von Shaw nicht gewollt - der vaterländischen Idee. Ich weiß nichts in Berlin, was zurzeit dieser inneren Erhebung gleichkäme.
Und doch möchte man vor Wut mit Handgranaten werfen. Mitten in das Publikum hinein! Dieses Publikum - lacht. Lacht bei den unmöglichsten Stellen, wenn es irgendeinen Blender Shaws nicht versteht. Besonders das Publikum in den Ranglogen und Orchestersesseln, nicht die jungen Leute mit den heißen Herzen oben auf der Galerie. Dieser Idiotenklub von Publikum hat wohl geglaubt, "heilige" Johanna sei ironisch gemeint, und es komme gleich die große Auskleideszene.
Man soll nicht immer an die guten ganz alten Zeiten erinnern, aber es scheint doch, daß damals gebildetere Leute im Theater saßen. Damals, als es noch literarische Stammtische gab, der Jazz noch nicht erfunden war, die jungen Mädchen - bis in die Kreise von Kleinhandwerkern herunter - daheim mit verteilten Rollen Schiller lasen und in unseren berühmten Weinhäusern nicht Revolutionsschieber, sondern Künstler die angesehensten Gäste waren. Das berühmteste ist in diesem Jahre wiedererstanden. Das Weinhaus Rudolf Dressel. Dressel, der ja nun schon lange tot ist, war einst Oberkellner im Kletteschen Restaurant in einem Keller der Luisenstraße und war "eine Seele von Mensch", dem ganzen Künstlervölkchen bekannt, ein Mensch, der zwar mir und mich noch zuweilen verwechselte, aber sonst als sehr helle galt. Die nachher literaturfähig gewordene Redensart "Das Geschäft ist richtig!" stammt von ihm; und von ihm stammt auch das 1869 eröffnete Weinhaus Rudolf Dressel, Unter den Linden, das er mit wenigen hundert ersparten Talern ins Leben rief. Während des Krieges 1870, den Dressel als Unteroffizier beim Franz-Regiment mitmachte, wurde sein "Lokal" aus purer Freundschaft von ein paar Gästen, Schauspielern, verwaltet; sie konnten es ihm 1871 mit zwanzigtausend Talern Reingewinn wieder übergeben. Im Kriege und nach dem Kriege war es für Berlin eine Weltberühmtheit. Seine chambres apartes - von den Berliner "Sehparee" genannt - spielten noch in den achtziger Jahren in fast jedem "realistischen" Roman eine Rolle. Auch im ersten Akt des Moserschen Lustspiels "Unsere Frauen" kommt es vor. Rudolf Dressel ließ sich von seinen Künstlerfreunden dazu bewegen, in der Erstaufführung selber als der Wirt aufzutreten. Das gab eine freudige Sensation. Nur später wollte er nicht mehr und sagte: "Einmal gelebt ins Paradies, aber nie nich und nie wieder!" Als Dressel, der Wohltäter ungezählter späterer Berliner Geistesgrößen, starb, hatte schon ein anderer die Firma übernommen. Den Krieg 1914/18 hat das berühmte Weinhaus nicht mehr überlebt. Auch Dressels Tochter und deren Mann, der Weinhausbesitzer Traube aus der Leipziger Straße, leben nicht mehr, sondern nur deren Erben, - und die haben es jetzt neu erstehen lassen, dort, wo vor dem Kriege "Traubes Diele" zum ersten Male dem Weltstadtcharakter des neuen Berlins Rechnung trug.
Kellner im dunkelgrünen Frack und schwarzen Kniehosen bedienen lautlos bei Dressel. Ein Page, Jackie Coogan wie aus dem Gesicht geschnitten, gleitet einher. Weine von 1893, das Köstliche vom Köstlichen, prangen auf der Karte. Die "Sehparees" mit den zugezogenen Vorhängen sind freilich verschwunden. Statt dessen gibt es Kojen, Logen, deren blumenbestandene Brüstung jedoch so hoch ist, daß man nur gerade eine spiegelnde Glatze oder einen weiblichen Wuschelkopf sich von der seidenen Tapete abheben sieht. Diesen Ort suchen Weltreisende geanu so auf, wie sie in Hamburg nach Pfordte fragen, bis sie endlich erfahren, daß er im Hotel Atlantic aufgegangen ist. Künstler trifft man bei Dressel kaum mehr, es seien denn solche mit Stargagen. Häufig kommen, alter Erinnerung voll, Granden aus Ostpreußen oder Westfalen, königliche Kaufleute aus Hamburg oder Bremen hierher.
Und natürlich auch gelegentlich Revolutionsgewinnler. Aber die fühlen sich hier nicht allzu wohl. Der Ort ist ihnen zu vornehm. In dem ersten Rundsaal ist die Decke al fresco mit den Köpfen all der großen Geister bemalt, die "bei Rudolf" einst eine gute Flasche zu trinken pflegten. Damals wurden Schieber hinausgeekelt. Heute haben sie das unbehagliche Gefühl, daß solche Zeiten wiederkommen könnten.
18. Dezember 1924 (Donnerstag)
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Weihnachts-Unrast - Toi, toi - Die Flucht in die Berge - Kein Vorschuß - Ladenbesuch als Leidenschaft - Luxuswäsche in der Rankestraße - Noske und Nußbaums - Vom Ebert-Prozeß - Erich Mühsams Empfang - Aus der Zeit des "Café Größenwahn" - Bei mir Schiefertafel
Irgendwo in einem deutschen Städtchen mag es schon eben, wo ich dies schreibe, am Vormittag des Heiligen Abends, tief nach innen strahlende Gesichter geben, mag es in allen Leuten, die einander auf stiller Straße begegnen, wie mit silbernen Harfen klingen: "Und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen." Irgendwo in Deutschland weiß man noch, was Adventszeit ist, und hat von Sonntag zu Sonntag inniger ihren Segen verspürt. Die Mutter rackert sich fröhlich ab und backt Speculatius oder andere Plätzchen, der Vater ist weicher und freundlicher als sonst, und die Kinder werden vor sich selber fast schamrot ob der vielen guten Vorsätze. Diese Vertiefung in Güte fehlt uns Großstädtern. Bis zur letzten Minute flutet, hastet, donnert das Leben und treibt einen um und um, man kommt gar nicht zu der Ruhe und Besinnlichkeit, etwa eine Weihnachtskrippe zu bauen oder sonst etwas gut deutsch Hausväterliches zu basteln. Man rechnet. Man rechnet und man kauft nur noch, und alles fragt oder läßt sich fragen, wie - das Weihnachtsgeschäft gehe. Den Inhaber eines großen Spezialkaufhauses, der offenbar diesmal nicht klagen kann, frage ich dieser Tage auch so, weil ich denke, es macht ihm Freude, befriedigt zu antworten. Er sagt aber nur "Toi, toi!" und klopft mit dem Fingerknöchel unter den Ladentisch. Dieses Rotwelsch nimmt in Berlin überhand. Toi, toi heißt: "Unberufen!" Man will es schier noch nicht glauben, daß wirklich wieder leidlich gekauft wird, und fürchtet abergläubisch, es könne noch im letzten Moment schlimm kommen. Weihnachten ist für Unternehmer wie Angestellte - denn auch diese rechnen mit schwankender Gratifikation - in Berlin eine spekulative Etatposition geworden. Daß es das geworden ist, empfindet man freilich in den wenigen Augenblicken der Besinnung mit stechendem Weh im Herzen und sagt sich, man müsse dieser verfluchten Geschäftswelt einmal entrinnen, einmal wieder selbst Kind sein, einmal am Heiligen Abend die Sterne und fern ein Licht in verschneitem Häuschen schimmern sehen.
Das war vor allem die große Sehnsucht unserer heruntergearbeiteten Überstunden-Girls aus den Großbanken im vorigen Jahre. Voll von dieser Sehnsucht gingen sie zu Weihnachten in die Berge, - sahen aber nichts von ferne schimmern, sondern stepten und foxten die Nacht hindurch bis morgens um fünf.
Noch niemals ist so in das Familienleben des Berliners Bresche gelegt worden; überall traf man verlassene Eltern. Aber man hat Geschmack am Ausfliegen gefunden, und auch diesmal sind die ins Mittelgebirge fahrenden Züge schon vor Weihnachten dicht besetzt. Die ehemaligen Bankfräuleins sind nur noch zum kleinen Teil dabei, denn sie sind meist keine Bankfräuleins mehr, sind abgebaut und vielfach froh, an Mutters Tisch wenigstens das Essen zu haben. Aber Scharen anderer Berliner sind dafür unbändig geworden und wollen hinaus, wenn sie gut verdient haben oder - wenn sie den nötigen Vorschuß bekommen. Der Kampf der Beamten um die grundsätzliche Vorauszahlung des erst am 29. Dezember fälligen diesmonatlichen Gehalts war natürlich meist von dem Wunsch diktiert, sich zu Weihnachten endlich den schon viel länger fälligen neuen Anzug kaufen zu können, aber manch einer unter ihnen hat auch an Braunlage oder Krummhübel oder Friedrichroda gedacht. Grundsätzlich ist das Verlangen abgelehnt worden. Im Einzelfall kann aber Vorschuß gegeben werden, sagt sich Herr Mulack, Lehrer an der 572. Volksschule, und macht sich fröhlich auf den Weg zur Stadtkasse.
Er wird sehr freundlich empfangen. Jawohl, er können gleich den Antrag stellen, aber, bitte, schriftlich. Warum denn schriftlich ? Ja, er müsse, der Antrag nämlich, doch zum Provinzialschulkollegium. Mein Gott, wann gibt das aber Antwort ? Na, so gegen Ende Januar sicher!
Da verzichtet Herr Mulack.
Und er wandert due unruhvollen Straßen entlang und sieht überall gehetzte Leute. Nicht so gehetzte Leute mehr, wie sie es 1923 waren, als die Papiermark an Schwindsucht starb. Man hat ja wieder gutes Geld; aber nun hetzt man nach dem Außergewöhnlichen, das dieses Geld einem beschaffen soll. Man giert nach dem Luxus. Meine eigenen Buben haben nur den "größten" und "einzigen" Hauptwunsch, eine Windjacke zu bekommen, aber unsere Küchenfee möchte erstens eine Armbanduhr und zweitens einen Regenschirm "mit echten Elfenbeinspitzen". Ganz außer Rand und Band ist die Berliner Damenwelt. Wieder wie vor 1914 ist in den Läden ja "alles da", und wenn man auch nicht kaufen kann, so kann man doch wühlen. Über knisternde Seide streichen, die Finger in Spitzengeriesel stecken! Sehen genügt nicht, die Frau will fühlen; sie faßt die Stoffe nie in Handschuhen an, sondern läßt sie bis an den entblößten Unterarm wogen. Immer mehr, immer mehr, immer höher die Wogen! Sie kosen so schön. Am liebsten risse man sich die Kleider vom Leibe und wälzte sich nackend in Crêpe marocain, Foulard, Duchesse, Crêpe de Chine, Chiffon. Totmüde Ladengehilfinnen breiten automatisch immer wieder die Schätze aus und wissen doch, daß sie in neunzig von hundert Fällen keinen Verkauf erzielen, der in fünfundneunzig von hundert Fällen gar nicht beabsichtigt ist, sondern nur eben dieser Leidenschaft der Großstadtdamen gefügig sein müssen, der einzigen Leidenschaft, der man kostenlos frönen kann. Der Mann kauft. Die Frau berauscht sich.
Das Berauschendste bot in diesen Tagen ein - Kellerlokal in der Rankestraße, aber freilich ein Kellerlokal, das raffiniert künstlerisch ausgestattet war. Eine Malerin, Lene Kainer-Schneider, verkauft dort Luxuswäsche, die von ihr entworfen und in der von ihr geleiteten Werkstatt angefertigt ist. Ich will nur gestehen: es gehen nicht nur Damen hin. Es gibt ja auch männliche Fetischisten. Und hier in der Rankestraße 14 sind es überdies zwei gut ausgesuchte junge Schauspielerinnen, die die Hemdchen und Höschen und Combinations und Pyjamas vorführen. "Bin ich nicht knusprig ?", fragt ihr Blick, wenn sie sich drehen und wenden. Freilich: das Berühren der Figüren mit den Pfoten ist verboten. Aber den Besuchern glänzen die Augen, und wenn das lachsfarbene seidene Nachtkleid mit Brüsseler Spitzen, das allenfalls Herrn Gustav Noskes Schwiegersohn Max Nußbaum bezahlen könnte, ein Sündengeld kostet: Frau Kainer-Schneider verkauft so etwas an die Herren im Handumdrehen.
Vielleicht ersteht es Herr Karl Nußbaum, der Bruder des Max. Der ist, wie jetzt vor Gericht festgestellt worden ist, nicht nur mit Herrn Oberpräsidenten Noske, sondern gleichzeitig auch mit einer Freundin in Pontresina gewesen, die dort allerdings als "Frau" Nußbaum gemeldet wurde, weil es sich doch nicht schicken würde, daß der Herr Oberpräsident von Hannover in Gesellschaft eines bloßen "Verhältnisses" seines Schwiegerneffe reiste. Eine unangenehme Sache, diese deutschen Gerichte mit ihren Feststellungen.
Ein paar Tage Studium habe ich mir gerade in dem Magdeburger Justizgebäude gegönnt. Es ist schon ein Vergnügen, in Magdeburg kreuz und quer über den Breiten Weg oder die Guerickestraße zu schlendern, hinüber und herüber, ohne Gefahr des Überfahrenwerdens, weil immer nur in märchenhafter Ferne eine Straßenbahn bimmelt oder ein Auto schreit. Schon das ist für den Berliner eine Erholung. Und nun das Gericht selbst: wahrhaftig, "es gibt noch Richter in Magdeburg", es gibt noch männliches Rückgrat in Deutschland. Dieser Landgerichtsdirektor Dr. Bewersdorf muß sich doch sagen, daß er es trotz aller seiner Qualitäten, solange die Republik des Herrn Ebert besteht, kaum zum Oberlandesgerichtspräsidenten bringen wird, seit er jetzt mit samt seinen Beisitzern dem Reichspräsidenten dessen versuchten Landesverrat vom Januar 1918 bescheinigt hat. Das Gericht erklärt, die Ansichten und Absichten Eberts - für deren Güte waren zahlreiche Leumundszeugen aufgeboten - mögen, das werde als wahr unterstellt, die besten gewesen sein, aber die Taten und Unterlassungen allein bestimmten das Urteil; und danach habe Herr Ebert in strafrechtlichem Sinne Landesverrat begangen. Damit ist zum ersten Male die Tragödie von 1918 gerichtlich aufgerollt. Das ist von ganz ungeheurer Bedeutung. Die "Volksbeauftragten" haben sich ja selber die Amnestie votiert und von der Nationalversammlung 1919 bestätigen lassen, so daß die Wahrheit gar nicht anders an den Tag kommen kann als auf dem Wege solcher Beleidigungsklagen. Alle Achtung vor denen, die dabei der leidende Teil sind; alle Achtung auch vor dem an sich unbeträchtlichen Herrn Rothard, der die "formale" Beleidigung Eberts mit 3 Monaten Gefängnis büßen muß, obwohl das Gericht den Wahrheitsbeweis für seine Behauptungen als erbracht ansieht. Dieser junge Mann ist als Kind mit Lichteziehen und Seifekochen beschäftigt worden, hat später bei einem Kleinkrämer hinter dem Ladentisch gestanden und ist schließlich kaufmännischer Angestellter, zeitweise "Verantwortlicher" eines kleinen Staßfurter Blattes in Vertretung des wirklichen Schriftleiters gewesen. Ein dicker großer Junge mit Kneifer vor den gutmütigen Augen, ungewandt und plump bei seinen "in Vertretung" vorgenommenen redaktionellen Versuchen, so daß er auch die mit der Schere ausgeschnittene Notiz über Eberts Landesverrat, derentwegen allein er also nicht verurteilt worden wäre, unbedingt mit ein paar eigenen, formal beleidigenden Zusätzen "wattieren" mußte. Er ist hart bestraft. Aber dieses Einzelschicksal ist ja gänzlich gleichgültig, genau so gleichgültig, wie das Fallen eines einzelnen Musketiers, wenn nur der ganze Angriff vorwärts geht. Der gilt gar nicht einmal Herrn Ebert. Oder gar der deutschen Republik. Sondern der gesamten sozialdemokratischen Führerschaft von 1918, die ihren August 1914 vergessen hatte und uns ins Unglück stürzte, selber aber nachher, mit Ämtern wohlversehen, den Revolutionsgewinn in ihre Scheuern fahren konnte.
Diese Emporkömmlinge sind doch wenigstens noch ernst zu nehmen; brach doch unter ihrem Tun ein mächtiges Deutsches Reich zusammen. Was soll mman aber dazu agen, daß jetzt sogar - die Hanswurste der Revolution zu Abgöttern der Menge werden ?
Am Sonntag abend steuere ich dem Anhalter Bahnhof zu. Schon von weitem hört man verworrenen Lärm und Gesang aus rauhen Männerkehlen, ein Volkshaufen drängt zum Askanischen Platz, ein anderer flüchtet die Möckernstraße hinunter, hier taucht eine Reihe von Schutzleuten mit Karabiner und Gummiknüttel auf, dort kreischen Weiber und schütteln Buben von der "Kommunistischen Jugend" die Fäuste, an Spazierstöcke gebundene rote Taschentücher werden geschwungen, irgendwo ist die Menge durchgebrochen, berittenen Polizisten klappern aus einer Nebenstraße heran. Alles gespentisch überflackert von den wenigen Laternen, alles in groben Schattenrissen. Mit großer Anstrengung habe ich mir endlich den Weg in den Bahnhof erkämpft, dessen Riesenhalle von einem ungeheuren Getöse erfüllt ist. Hier singen Hunderte die Internationale, dort rufen Hunderte ihr "Nieder!" mit dem gegenwärtigen Staate, und da, von Hunderten umdrängt, auf die Schultern gehoben, einhergetragen, schwankt - Erich Mühsam näher, während einzelne Reisende aus dem Süden Deutschlands und dem Auslande in dem gräßlichen Tohuwabohu mitsamt ihren Koffern verschlungen werden. Mühsam ist der Freiheit wiedergegeben, Mühsam ist der Volksheld, für Mühsam schreien sich deutsche Arbeiter ihre Kehle wund.
O, wir Berliner, die wir irgendwie mit der Literatur verschwägert sind, kennen ihn gut. Er ist nicht der letzte, auch nicht der unbegabteste, aber sicher der ungewaschenste Bohémien aus dem alten "Café Größenwahn", Ecke Kurfürstendamm und Joachimsthaler Straße. Schon seine Mitschüler - er wurde aus der Untersekunda relegiert - warfen dem kleinen Erich, diesem stupend häßlichen Kerlchen, weniger seine Rasse und seine verstiegenen Ideen und seine körperliche Faulheit, als - sein Dreckigsein vor. Dann wurde er nach einer kurzen Apothekerlehrzeit Literat und führte in dem Kaffeehaus nächtlicherweile das große Wort, bis morgens gegen sechs die Scheuerfrauen ihn hinauswarfen. Spätestens um ¾6 aber hatte er sich von einem Gast oder einem Kellner einen Taler gepumpt und bestritt damit sein Dasein für 24 Stunden. Es fehlte ihm nicht an Mitteln, er hatte vom Vater Apotheker her, einem achtfachen Hausbesitzer, einen ganz bourgeoisen Zuschuß, aber er verjubelte und verluderte eben alles. Ich habe nie so gelacht wie 1919, wo Mühsams Name unter einem Aufruf für den Achtstundentag stand. Dieser Mann hat noch nie in seinem Leben auch nur zwei Stunden an einem Tage gearbeitet, sondern immer nur im Kaffeehaus gesessen, den auf der schiefen Nase baumelnden Kneifer zurecht geschoben, große Töne geredet, sich den verlausten Kopf gekratzt und gegen Morgen sich dann irgendwo bei Bekannten eine Unterkunft zum Schlafen gesucht, oder, noch häufiger, in der Ringbahn in einem Wagen 2. Klasse gepennt, bis er nach mehrmaligem Umkreisen Berlins genug hatte.
Sein gräßlichstes Erlebnis hat er einmal bei Bekannten. Die - schleppen ihn in die Badewanne und schrubbern ihn ab, ehe sie ihm einen Schlafplatz auf dem Sofa gönnen. Er dichtet, mit Vorliebe Schüttelreime, er tritt auch - später, während seiner Münchener Zeit - in dem Kabarett bei Kathi Kobus in der Türkenstraße auf, er tut den Ausspruch: "Die besten Elemente aller Nationen leben in den Zuchthäusern!", sucht Anschluß an die Verbrecherwelt, hat gelegentlich selber einen Ekel vor seinem Kaffeehausleben:
<>"Paar urnische Männlein, paar lesbische Weiber, |
Und kann doch nie davon los, denn da, sagt er, ist "meine Welt, wo ich mich langsam in die Grube sumpfe"; und dieser Parasit, der noch nie nützliche Arbeit getan hat, erkennt sein Nichts:
"Noch nichts. Und ich harre und harre. |
Die Räterevolution in München machte er mit geschwollenen, faseligen Aufrufen mit. Vor Gericht erwidert er auf die Bekundung eines Zeugen, daß man diesen Hanswurst nie ernst genommen habe: "O doch, sehr ernst hat man mich genommen, in fast jeder Versammlung bin ich geprügelt worden!" Am 22. April 1919 schreibt ein alter Dortmunder Genosse über ihn und seinen Freund Landauer:
"All das Elend und die Leiden, welche die Arbeiter infolge der Unruhen jetzt durchkosten, sind auf das Konto dieser zweifelhaften Helden zu setzen. Diese Gesellen haben kein Gewissen, kein Gefühl für Sorge und Kummer der Arbeiterfamilien. Em Ende schnüren diese sogenannten Schriftsteller ihr Bündel Papierwäsche und tauchen in einer anderen Gegend auf."
Aber die vielleicht vier- bis fünftausend Proletarier, die Mühsam, heiser vor Leidenschaft, am Anhalter Bahnhof empfangen und vergöttern wollen, bis tief in die Schöneberger Straße hinein und nachher noch am Blücherplatz tosend brüllen, wissen davon nichts.
Auffallend viele junge Arbeiterinnen sind darunter. Während einer Polizeiattacke sind wir - Kommunisten, Reisende, Passanten, ein kleines Häuflein - in einen Hausflur gedrängt worden. Darunter auch zwei solcher Mädchen mit rotem Sowjetabzeichen. Einer bandelt mit ihnen an, aber ganz unpolitisch, und sofort scheint der ganze Rummel vergessen zu sein. Der Herr verabredet mit der Jüngeren ein Stelldichein und fragt, ob sie auch bestimmt da sein werde. Er bekommt die Antwort:
"Bei mir - Schiefertafel!"
"Was heißt das ?"
"Uff mir kenn' Se rechnen!"
In diesem Moment ist die Attacke vorüber, die beiden Mädchen stürmen weg, und "Nieder! Nieder!" schreien sie gellend in den Abend hinaus. Drei Tage vor Heilig Abend 1924 in Berlin. Wir brauchten wohl ganze Generationen von Leuten, wie Friedrich Wilhelm I. einer war, um in dieses nachnovemberliche Berlin wieder etwas von alter preußischer Zucht hineinzubringen.
24. Dezember 1924 (Mittwoch)
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