16
Über den Weihnachtsbüchern - C'est la faute - Meine Frau ist sprachlos - Das Heiratsgesuch - Stelldichein im Theater - Normaluhr, Kirche, Kaffeehaus - Die Ifta - "Liebst du mich?" - Bei der Alten in Friedrichshagen - Soldat und Mädel
Geben ist seliger denn Nehmen, steht über der ganzen Weihnachtszeit. Das sagen sich auch die Boxer im Sportpalast, wenn sie ihre Kinnhaken und Herzstöße austeilen.
Aber unsereins denkt anders. Hat man das Jahr über seine geistigen Abfallprodukte unter die Menge gebracht und dabei wohl auch dem und jenem einen Pritschenschlag versetzt, so will man in den stillen Tagen vor Jahresende einmal selber Leser sein, nicht mehr geben, sondern nehmen. Schon vorher habe ich während arbeitsreicher Wochen immer wieder in fliegender Hast die Bücher verschlungen, die auf die vielen Gabentische bei uns kommen sollten. Ob Kinder, ob angeheiratete Verwandte, ob Freunde: sie können sich alle darauf verlassen, daß ich kein Buch verschenke, das ich nicht vorher gelesen habe. Dann kommen die beiden Weihnachtstage, an denen andere Leute den neuen Mantel oder die neue Puppe ausführen und damit auf der Straße paradieren, während ich - "Daniel in der Büchergrube" - vom Sessel nicht loszureißen bin und vom Morgen bis in die sinkende Nacht lese, lese, lese. Mitunter muß ich hell auflachen, wenn ich gerade wieder ein Geschichtchen aus Friedrich Hussongs "Russischem Ei" auf den Knien habe; wenn ich selber so viel allerfeinste Kultur besäße, wie dieser köstliche Ironiker, könnten meine Leser sich dazu beglückwünschen. Dazwischen wird Ernsteres studiert. "Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit" von Professor von Freytagh-Loringhoven besitze ich erst kurze Zeit, und doch ist sie schon ganz zerlesen, die beste Staatsbürgerkunde der nachnovemberlichen Aera für den gebildeten nationalen Deutschen. Dazwischen greife ich immer wieder zu der dreibändigen weltgeschichtlichen Reihe von Bildnissen, den "Meistern der Politik", herausgegeben von Erich Marcks und Karl Alexander v. Müller, dem von mir im letzten Jahre meistverschenkten Buch. Von Perikles bis Juanschikai erstehen da in meisterhafter Darstellung die großen Staatsmänner aller Zeiten und Völker; und ich will es nur gleich gestehen: mein Liebling ist Cromwell. Ein kleineres ganz kürzlich erschienenes Buch, "Tage des Königs" von Bruno Frank, ist von einem Manne geschrieben, den sicherlich Welten von mir trennen, der sicherlich nicht schwarzweißrot ist, - aber ich habe noch nie einen stofflich so fesselnden, psychologisch so faszinierenden Fridericus-Roman gelesen; ein Buch für erwachsene feste Leute. Und nun zur Literaturgeschichte: Friedrich v.d. Leyens "Deutsche Dichtung in neuer Zeit", in wundervoller Sprache dahinflutend, ist mir allein schon um der Gegenüberstellung des jungen Goethe und des jungen v.Hofmannsthal willen lieb, verwundert mich durch seine Begeisterung für Stefan George, enthält prächtige Kapitel über den Einfluß der Ibsen und Strindberg auf unser Schrifttum und ist allen denen zu empfehlen, denen Bartels zu trocken ist. Schade, daß ich nicht seitenweise weiter so meine Lektüre aufzählen kann. Ich habe in der Weihnachtszeit, seit dem ersten Advent, 21(sprich: einundzwanzig) Bücher von A bis Z durchgelesen - und dieses Nehmen war meine schönste Erholung. Dabei werden rundum Nüsse geknackt, wird rundum getuschelt und gezischelt, weil die ganze große Familie in den Ferien beieinander ist; und der Jüngste hat auf dem Budenmarkt eine Nasenpfeife erstanden, die diesmal in allen Metropolen gleichzeitig aufgetaucht ist, und bemüht sich, um sein Französisch nicht zu vergessen, "C'est la faute à mon papa" darauf zu blasen, den letzten Pariser Schlager. Unheheuer gebildet sind sie, unsere heutigen Buben. Als ich so alt war, kannte ich noch kein Couplet, hatte außer dem Tell auch noch kein Theaterstück gesehen; diese meine Sekundaner aber haben als Ferienaufsatz "Die Grundidee in Wagners Nibelungen" aufbekommen. Trotzdem die Nasenpfeife. Und der Kinderballon, der, mit einem Konfekt beschwert, von der Galerie in der Halle herniederschwebt, um dann, entlastet, wieder hinaufgeschickt zu werden. Zu Silvester ist selbstverständlich auch allerlei Unsinn angeschafft worden; das Taschengeld von 6 Mark monatlich scheint wirklich noch etwas zu reichlich zu sein. Ich weiß nicht, ob das für alle Berliner Häuser typisch ist. Typisch ist aber wohl das besondere Mitteilungsbedürfnis der Angehörigen in den Festzeiten. Mitten in der spannendsten Lektüre werde ich von den Buben unterbrochen. Mit etwas ungeheuer Wichtigem. Sie wollen durchaus wissen, wer wohl "Bobmeister von Deutschland im Fünferbob" werden werde. Haben die aber Sorgen! Doch auch meine Frau teilt die Ansicht der übrigen Berliner Frauen, daß man an Feiertagen am besten interviewe.
"Ich bin einfach sprachlos!" sagt sie, wenn sie eine lange Rede beginnt, der ich, der große Stumme von Portorico, hinter meiner Zigarrenwolke gedeckt, mit fabelhafter Geduld stillhalten kann; derweil entwerfe ich nämlich im Kopfe die besten Leitartikel oder subtrahiere das Monatseinkommen von den Weihnachtsausgaben oder lasse mir früher erlebte amüsante Situationen für den nächsten Plauderbrief wieder einfallen.
"Da bin ich wirklich sprachlos!" sagt sie nach den ersten zehn Minuten ihrer Rede und fährt dann verdoppelt eindringlich fort. Sie will mich wieder einmal davon überzeugen, daß ich nicht die richtige Frau geheiratet hätte, denn ich müsse unbedingt eine sehr reiche und sehr leichtlebige haben, und ich sollte mir das doch mal ernstlich überlegen.
Schon gut, schon gut. Aber ja doch. Hast Recht, hast Recht. Wir können ja nächstens mal darüber sprechen. Also dann gerne.
"Nicht nächstens, nein, sondern sofort!"
Also nun hilft die Verschanzung hinter Rauchwolken und Büchern nichts mehr, - ich muß Rede und Antwort stehen. Ich bestätige daher, daß ich "sofort" die nötigen Schritte ergreifen würde, um unter den "richtigen" - den goldenen - Pantoffel zu kommen. Aber meine Frau solle sich nicht etwa einbilden, daß sie vorbedachter geheiratet habe als ich. Im Gegenteil, sie habe auch den falschen Mann erwischt, sage ich. Eine Frau, deren Mann nicht einmal ein Auto hat, ist keine anständige Frau!
Nun sind wir fast schon wieder einig. Immerhin: versprochen ist versprochen. Also entwerfe ich "sofort" folgendes Heiratsgesuch:
Neujahrswunsch! |
Seriöser, lebenslustiger Herr sucht Neujahr gestattet. |
Leider wollte keine der fünf Berliner Zeitungen, die ich damit aufsuchte, diese Anzeige aufnehmen. An einem Schalter wurde mir sogar mit dem Portier gedroht. Schließlich fand ich ein Kellergeschäft in einer lebhaften Straße, das die Fensterreklame betrieb. Ich mußte für eine Woche ein kleines Platzquadrat mieten, auf das der Dussel von Geschäftsinhaber meine sauber mit der Maschine geschriebene Anzeige klebte. Sie hat da nur einen einzigen Tag geklebt. Ich werde mich hüten, deswegen um Rückzahlung vorstellig zu werden, denn erstens pfeift der Mann dann vielleicht nach der Polizei, und zweitens - hatte die Anzeige bereits vollen Erfolg! Schon am nächsten Morgen lagen 18 Chiffre-Zuschriften auf dem Postamt. Ich denke nicht daran, die weiteren 46 oder 180, die noch nachher eingegangen sein mögen, abzuholen.
Mir genügte schon das Erreichte. Stolz kam ich damit zu Hause an. Nun wurde gesichtet. Zwei Ulkbriefe von sehr gewitzten, jungen Damen, die - nicht hereingefallen waren, wurden mit Genuß verlesen. Sieben Zuschriften eindeutiger und anrüchiger Art wanderten ins Herdfeuer. Aber neun seriöse und lebenslustige Damen, die gar zu gern heiraten mochten und den Vorbehalt sehr verständig fanden, wurden auserkoren. Leichtlebig, wie ich nun einmal bin, überschlug ich den Rest meiner Vorschüsse, ob es noch "lange", und siehe da, es langte für die halbe erste Parkettreihe eines kleinen und billigen Theaters. Also die kaufte ich mir und schrieb jeder der neun Damen, indem ich jeder eine Eintrittskarte beilegte, sie möchte zum ersten Stelldichein ins Theater kommen; ich sei bestimmt auch da. Und wirklich, die Damen erschienen alle. Sie wunderten sich freilich, daß kein Herr neben ihnen säße, sondern links und rechts wieder eine Dame; eine von ihnen machte mit der Nachbarin sogar Krach, fragte, ob sie nicht auf dem falschen Platze säße, und erklärte scharf und verärgert: "Meine Dame, auf dem Platz sitzt mein Bräutigam, er wird bestimmt sofort kommen!"
Als der Vorhang hochging, gab es Ruhe, die neun Musen fanden Interesse an dem Stück, übrigens dem dümmsten Stück, das ich seit langem erlebte, und - wir konnten auch mit der nötigen Ruhe die Gesichter der neun studieren.
Wir, nämlich meine Frau und ich, saßen in der Orchesterloge. Es war, wie gesagt, ein dummes Stück. Aber wir haben seit Jahren nicht mehr so gelacht.
Abwechselnd nahmen wir - gedeckt im Dunkel der Loge - meinen großen Zeiß 7:50 vor und beäugten die Kandidatinnen. Mir scheint, daß die "Lebenslustigkeit" mit den Jahren wächst. Aus dem gefährlichen Alter, in dem ich mich noch befinde, waren einige Damen jedenfalls schon heraus. Das Zeiß-Glas ist erbarmungslos. Wir studierten jedes Fältchen, jedes putendumme Lachen, jeden Blickwurf in die Umgegend, ob der Bräutigam noch nicht käme. Und die ganze Aufmachung. Eine der Holden hatte offenbar kein Fettpuder gehabt, sondern sich mit Diachylon-Wundpuder von der Wickelkommode des jüngsten Enkels bestäubt. Der fiel nun ab und blieb als Schneerille nur in den Falten liegen.
Weitere Bemühungen um eine passende Frau sind mir gnädig erlassen worden; ich soll mit dem eigenen Hauskreuz auszukommen versuchen. Allerdings bin ich nun selber auf den Geschmack gekommen: ich muß nächstens noch unbedingt zu einer berufsmäßigen Glücksstifterin, um vor allem festzustellen, was alles auf dem Heiratsmarkt sich heute "gebildet" nennt. Auch ein rein volkswirtschaftliches Interesse an diesem modernen Gewerbe habe ich natürlich. Nur scheint mir, daß die Vermittlerinnen heute nicht mehr so notwendig sind wie für gewisse Kreise vielleicht früher, denn die Praxis des Sichfindens braucht einem wahrhaftig nicht mehr erleichtert zu werden. Besonders unsere jungen Mädchen sind doch längst Manns genug, um den "Richtigen" zu finden und der Eltern oder der Heiratsvermittlerin dabei entraten zu können. Keine strenge Sitte hemmt mehr ihren Ausgang. Die "Dame allein" - ich meine wirkliche Damen - fällt heute im Kaffeehaus oder dem Weinrestaurant gar nicht mehr auf. In romanischen Ländern ist es vielfach noch anders. Da geht eine Dame selbst in Begleitung kaum ins Kaffee - oder sie ist eben keine Dame. Dafür ist doch die Kirche da, wenn man sich unauffällig und anständig mit seinem Beau treffen will. Die katholischen Kirchen stehen tagsüber ja immer auf. Wer beispielsweise im Mailänder Dom Statistik treiben will, der findet dort auf 10 Beter 20 Touristen und 50 verliebte Pärchen. Wenn er notabene den Blick dafür hat; denn die Sache ist ehrbar und unauffällig. In Berlin traf man sich auch früher nicht in der Kirche, sondern "an der Normaluhr am Potsdamer Platz". Die ist inzwischen, wie auch die übrigen städtischen Normaluhren, eingegangen. Die Stadt hat sie alle in der Infaltionszeit verkauft, Stück um Stück für 40 000 Papiermark, ein glänzendes Geschäft für den Abbruchsuntenehmer; an der Stelle der Uhren stehen jetzt einträgliche Reklamesäulen. Mitten auf dem Potsdamer Platz gibt es zwar eine neue Uhr, aber ich wollte niemand raten, sie zu Stelldichein zu bestimmen, denn - sie befindet sich im Verkehrs-Leuchttürmchen, mitten in der fürchterlichsten Großstadtbrandung. So etwas ist aber, wie gesagt, unnötig geworden. Die junge Dame von heute kennt und besucht alle Lokale und trifft sich an beliebiger Stelle mit dem Erwählten.
Sie braucht sich nicht einmal zu Hause, zu bestimmter Stunde, wenn die Mama nicht da ist, anklingeln zu lassen. Für so etwas ist die "Ifta" da.
Die Ifta ist eine telephonische Nachrichtenstelle, bei der man sich abonnieren kann. Um ein weniges. Fräulein Isolde ist Abonnentin und ruft unterwegs von einem Automaten aus an. "Hier Abonnentin Nr. 2443, ist was für mich da ?" "Jawohl, ein Herr Theodor läßt sagen, er warte bis 5 bei Rumpelmeyer, Nische links." Wer vom anderen scheinbar "versetzt" ist - in Wirklichkeit hat man sich hoffentlich nur verfehlt - fragt bei der Ifta an, was nun eigentlich los sei. Die Ifta ist der Göttebote, Hermes und Amor zugleich, und ist flink und verschwiegen. Und da sitzt denn das Pärchen bald darauf glücklich bei Rumpelmeyer, vielleicht sogar vor der Nische, unter dem Mistletoe-Zweig, - vornehme Konditoreien müsen zu Weihnachten diese englische Sitte mitmachen, aber doch küßt sich niemand unter den weißen Beeren. Man plaudert auch nur wenig. Man futtert gedankenvoll von dem Stück Ananastorte und schlürft den Mokka dazu. Nur gelegentlich flüstert das Mädchen: "Sag', liebst du mich ?" Man braucht kein Taubstummenlehrer zu sein, um das von den Lippen ablesen zu können. Die ewige Frage. Sag', liebst du mich ? Und "du mußt es dreimal sagen!", heißt es im Faust. Unsere Frauen, jung und alt, haben durchweg zu wenig Selbstbewußtsein. Daß man sie liebt, ist für sie so unbegreiflich, daß man es ihnen immer wieder versichern muß. Nur die erfahrenen Liebeskünstlerinnen fragen nicht.
Die Ifta reicht über die Berliner Bannmeile noch hinaus, ist aber doch das reine Großstadt-Institut, schon in Zehlendorf oder Nikolassee und den anderen Wohnorten der guten Gesellschaft, namentlich des höheren Beamtentums, viel weniger benutzt, als zwischen Berlin W und Berlin O. Wenn man nun gar nach Köpenick oder Friedrichshagen hinausfährt, zu dem kleinen Mittelstande, so ist man in einer ganz anderen Welt. Da ist es noch fast so, daß Bursche und Mädel sich am Brunnen treffen.
Mich zieht etwas anderes dort hinaus, als das Beobachten des jungen Volkes. In Friedrichshagen wohnt ja die 78jährige Alte, von der ich schon früher erzählt habe, die von Vionville, der in ärgster Notzeit etliche freundliche Leser durch mich Geld zukommen ließen. Jetzt kann ihre Tochter wieder etwas für sie sorgen, nun ist die Not behoben. Urgroßmutter ist die Alte und hat doch noch kein graues Haar, zieht resolut die Schublade aus der Kommode, in der ihre Erinnerungen liegen, hebt die schwergepackte Lade mit gestreckten Armen auf den Tisch und unterschreibt noch ohne Brille mit fester Hand die Quittung über die letzte durch mich ihr übermittelte Gabe. Ihr Stübchen, in einer Baracke auf dem Hofe, ist freilich kalt, hat für einen Ofen keinen Platz, sondern nur für den kleinen Herd, die "Maschine", wie der Berliner ihn nennt. Am 27. Januar hat die Frau Geburtstag. Just am 27. Januar. Da hat ihr früher der Kaiser immer 50 Mark geschickt. Am 3. November dieses Jahres hat sie eine Geldsendung von dem Kronprinzen erhalten, nachdem "die nötigen Ermittlungen" angestellt waren, eine umständliche Sache, auch sehr kostspielig für die hohen Herrschaften, da sie ein richtiges Bureau zur Prüfung all der Bittgesuche unterhalten müssen; vielleicht nützt, beiläufig bemerkt, bei dieser Gelegenheit meine kleine Bitte: nachdem Ihr die Hohenzollern entthront oder der Entthronung wenigstens ruhig zugesehen habt, laßt sie doch mit Euren Bitten zufrieden, wo ihnen doch jetzt nicht einmal mehr der amtliche Apparat zur Nachprüfung zur Verfügung steht! Also, um wieder auf unser Altchen zu kommen: die Frau, die 1869 geheiratet hat, als sie von ihren Dienstmädchen-Ersparnissen Bett und Schrank (beides noch da!) anschaffen konnte, weint noch heute ihrem Seligen, der ihr schon 1870 entrissen wurde, bitterliche Tränenn nach; und es kommen ihr schon die Tränen, wenn sie - von dem vielen Erzählen ist es stereotyp geworden - berichtet:
"Da hatte mein Mann bei Saarbricken een franzeesches Horn jefun'n und denn bei Fionfille am 16. Aujust, da ist der Jraf Allenstein herumjerittren und hat jerufen, is denn keener da, der blasen kann, und da is mein Mann aus det Loch, wo er lag, uffjesprungen und hat, ick weeß nich, zum Reteriern oder Awangsiern, so heeßt et doch, jeblasen, und da sin die Franzosen jeloofen und so hat mein Mann die Schlacht jewon'n!"
Es ist schon dunkel, als ich durch Friedrichshagen zum Bahnhof heimtappe. Kaum eine Laterne brennt. "Steh ich in fin - strer Mitternacht!" klingt es aus einer noch dunkleren Ecke hervor. "So einsam auf - der stillen Wacht!" fällt ein zager Sopran in den Bariton ein. Dann gibt es eine Pause. Zweie küssen sich da. Der eine hat Reichswehruniform. Die andere einen dörflichen Zopf. "Und denke an - mein fernes Lihieb!" Wieder die angenehm ausgenützte Pause. "Ob's mir auch treu - und hold verblihieb!" Halten sich umschlungen und singen von dem fernen Lieb. Haben sich und singen von einander. O du liebe deutsche Einfalt! Zwei Meilen vor dem Zentrum von Berlin ist manchmal Berlin schon nicht mehr wiederzuerkennen.
31. Dezember 1924 (Mittwoch)
17
Neujahrsfaulheit - Schnee liegt in der Luft - Berlin in Oberschreiberhau - Silvester im "Kaiserhof" - Bismarck und die Veuve Cliquot - Ploetzens Bowle - Werner Krauß als Charleys Tante - Theater 1893 im Neuen Palais - Der Korruptionsskandal
Man kann ja auch Stickstoffatome durch Beschießung mit Alphastrahlen zertrümmern. Oder man kann allabendlich von einer Rangloge aus feststellen, wieviel Prozent der Herren im Parkett den Scheitel links tragen, wieviel rechts, und wieviel wegen vorgeschrittener Glatzenbildung gar keinen. Oder man kann den eigenen menschlichen Körper als Antenne für Funksprüche aus der übersinnlichen Welt einstellen und damit experimentieren. Oder man kann sein Bielefelder Leinen-Notgeld und sein Pößnecker Leder-Notgeld ordnen.
Es gibt unendlich viel Liebhabereien, die sich um Neujahr herum treiben lassen. Man ist da so recht von Herzen faul und erwartet ein Schlaraffenjahr.
Aber was der richtige Berliner ist, der geht in die Berge, mindestens sieben Eisenbahnstunden weit. Oder wie er sagt: in den Schnee. In der Zeitung steht ja, im Riesengebirge liege 5 Zentimeter Neuschnee. Jawohl, irgendwo liegt er auch. Aber nicht 5 Zentimeter hoch, sondern 5 Zentimeter breit. Der gutmütige Schaffner, der Alte, geht zwar schon von Hirschberg an mit hocherhobener Nase schnuppernd durch die Wagen und sagt überall, wo Menschen in das Braun und Grün der Landschaft hinausstarren: "Es liegt Schnee in der Luft!" Sehr gur, sehr gut; aber noch besser wäre es, der Schnee läge auf der Erde. Im Italienischen gibt es eine Redensart: "Piove, - governo ladro!", auf Deutsch etwa: "Es regnet, - matürlich, diese verfluchte Regierung!" Auch der Berliner, der diesmal um Neujahr in den Bergen vergeblich nach ultravioletten Strahlen über blendenden Schneeflächen suchte, grollt. Nicht einmal auf das Wetter ist seit der Revolutionzeit mehr Verlaß. Es gab ja auch früher in Berlin selbst oft genug grüne Weihnachten, aber pünktlich am Neujahrsmorgen, wenn der Kaiser mit sechs Söhnen in einer Reihe zu Fuß über die Schloßbrücke zur Parole in das Zeughaus ging, setzte knackender Frost ein, und Harz und Riesengebirge und Thüringer Wald und Oberbayern waren schon seit acht Tagen verschneit.
Aber mit tausend Masten schifft in den Ozean auch diesmal der Jüngling. Vom Görlitzer Bahnhof aus. Die Damen in den schönsten Sportjacken, die das Christkind gebracht hat, verlassen, wie es die Tradition erheischt, in Lübbenau den Wagen, um alsbald mit zwei triefenden Salzgurken in jeder Hand zurückzukehren. Man kann es verstehen, wenn jemand in Wien nicht Wiener Würstchen ißt sondern Ochsenfleisch mit Krautsalat und nachher ein Backhähndl. Aber im Spreewald muß der Berliner, auch der mit schwächstem Magen, Salzgurken essen. Von Kottbus an kann er sich ja wieder im Speisewagen restaurieren.
Es ist ganz dasselbe, ob man Silvester in Berlin oder in Oberschreiberhau verbringt. Hier wie dort sind unter 100 Leuten, die einem begegnen, 85 Berliner, 10 Tchechogalizier, einer aus Manchester, einer aus Buenos Aires, 3 vom Affenstein bei Frankfurt am Main.
Und man trifft immer Bekannte.
Selbstverständlich ist der Ort überfüllt, aber meist mit harmlosen Leuten. Die Großverdiener sind im Hotel Lindenhof konzentriert. Da geht man besser nicht hin. Es könnte dort am Ende eine Christenverfolgung ausbrechen. Die Musik spielt da bloß Niggertänze; der Walzer ist altes System, ist also sozusagen deutschnational, mithin verpönt. Ich finde gerade noch gute Unterkunft im Hause du Bois, an dessen Pforte steht: Nur für christliche Gäste. Famos. Da ich mich auch nur unter meinem Pseudonym, nämlich als Major a.D. angemeldet habe, werde ich also unter den vielen übrigen Majors a.D. mit ihren Gattinnen und Kindern nicht auffallen und ganz ruhig und ungestört und ungekannt und ohne Verpflichtung zum Konversationmachen einige Tage mich erholen können.
Der erste, der mir im Flur begegnet, ist - mein Berliner Verleger. Der breitet die Arme aus und brüllt: "Rumpelstilzchen!"
Um ein Haar hätte ich ihn ermordet.
Nun hatte ich nicht einmal mehr die Möglichkeit, still, aus irgendeiner Ecke heraus, einfach das Bild der beiden Inhaberinnen der Pension zu genießen. Das ältere Fräulein du Bois, hoch und schlank, mit der charakteristischen Aristokratennase der alten Réfugiés, ist die in Kupfer fein gestochene Marquise. Die jüngere der beiden Damen, aber auch schon mit grauem Schopf, ist eine pudellustige Riesendame von mehreren Zentnern, anregend, quicklebendig, voller Einfälle. Sie wird Tante Agathe genannt. Ihre etwas kleinere Nichte ist die Germania auf dem Niederwald am Rheine.
Schon am Silvesterabend flüchte ich vor meiner Popularität und gerate in Schlickers Weinstube. Da ist - Berliner Betrieb. Den großen Nebentisch haben die Insassen der Pension Sunem bestellt. Pfarrerfamilien, Lehrerfamilien. Natürlich zu 85 v.H. aus Berlin. Es geht auch ganz berlinisch-neckisch zu. Um ½12 Uhr heftet ein Professor einem Konsistorialrat hinten an den schwarzen Rock ein Pappkärtchen mit der Inschrift "Backfischjäger" an. Man kichert, man kreischt. Um 12 Uhr streut einer aus Königs Hotel mit vollen Händen Nießpulver im Saale aus. Hatschi, - prost Neujahr! Es geht doch nichts über Berliner Geistigkeit.
Daheim in Berlin ist es nicht viel anders gewesen, nur daß dort von der Polizei wegen Körperverletzung, Trunkenheit, Sachbeschädigung und ähnlichen Delikten 283 Personen während der Neujahrsnacht verhaftet worden sind. Das handfeste Berlin N und Berlin O fehlt eben in Oberschreiberhau. Außerdem ist es in Berlin viel teurer gewesen. In Schlickers Weinstuben kostete das trockene Festmahl 6, im Berliner Kaiserhof 40 Mark. Freilich darf man nicht verschweigen, daß in dieser Summe ganze 10 Mark Vergnügungssteuer enthalten sind, die die Stadt erhebt. Die Silvesterfeier selbst ist ja schon eine Besteuerung, die der erwerbstätige Berliner sich für seine Geschäftsfreunde aus dem Reiche auferlegt. Er selber bliebe viel lieber in der Familie. Statt dessen muß er mit seiner angetrauten Frau und den Fremden ins Hotel, um sich von diesen womöglich nachher noch sagen zu lassen, im Pavillon Mascotte oder in der Geisha wäre es vielleicht doch netter gewesen, als bei diesem aufgelegten Stumpfsinn mit künstlerischen Vorträgen erster Berliner Bühnenmitglieder. Die Lieblinge von Berlin sind nicht die Lieblinge von Krefeld oder Bautzen. Außerdem stoßen einen die Krefelder und Bautzener doch unter dem Tisch gegen das Schienbein und zischeln einem zu: "Kommt denn nicht bald ein Nackttanz von Anita Berber oder so ? Wir haben uns Berlin ganz anders vorgestellt!" Und Du zwinkerst dann mit den Augen, weist mit dem Daumen heimlich auf Deine Frau und bezahlst zum Schluß seufzend die ungeheure Schampusrechnung.
Was für ein Champagner, das ist ganz egal. Die Gourmets, die nicht nur die Marken, sondern auch die Jahrgänge des Schaumweins zu unterscheiden verstanden, sind ja doch ausgestorben. Ganz überraschend schnell nach dem Kriege, seit die Neureichs aufkamen. Aber schon vor dem Kriege sind wir allmählich verengländert. Wenn der Engländer Rheinwein trinken will, verlangt er "Hock". So nennt er den Hochheimer. Er weist die edelsten Rüdesheimer Creszenzen zurück, weil das sicher irgendein Schwindel sei; "Hochheimer" muß auf der Flasche stehen. Wir Deutschen sind jetzt bald auch so weit. Auf der Flasche muß "1921" stehen und über 10 Mark muß sie kosten. Demgegenüber gab es einst eine Zeit, wo George Hesekiel, weiland Redakteur an der Kreuzzeitung, der bekannte Romanschriftsteller, nach einem Diner bei Bismarcks den Fürsten-Reichskanzler naserümpfend eine Parvenu nannte. Und warum ? Man denke: Bismarck hatte zu Wiener Torte - Veuve Cliquot einschenken laseen, obwohl doch nur Heidsieck dazu passe, während Veuve Cliquot bei Leuten von Geschmack lediglich zu Baumkuchen gereicht werde!
Vielleicht ist es aber ganz gut, daß wir nicht mehr unter Hesekiels Entrüstung leiden. Wir sind primitiver in unseren Genüssen geworden. Wohl dem, der überhaupt einmal im Jahre seinen Schaumwein hat! Heute ist es doch bestenfalls nur der umgetaufte ehemalige Mumm oder der Deutz & Geldermann. Und wer ihn zu einer Bowle verwenden will, dem kann ich ein ganz einfaches Rezept verraten. Es stammt von einem alten wackeren Zecher, einem der pommerschen Herren v. Ploetz. Ein jüngerer aus der Familie war einmal mein Schulkamerad, trat später als Offizier bei den Garde-Kürassieren ein und sprang in voller Uniform bei Eistreiben im Winter am Halleschen Tor in Berlin in den Landwehrkanal und holte ein versinkendes Menschenkind da heraus.
Also das Rezept. Man nehme, ganz dünn abgesäbelt, die Schale von einer Zitrone und einer Apfelsine, lege die Schalen auf ein feines Sieb und gieße sehr langsam Champagner durch. Das ist alles.
Neun von zehn deiner Gäste werden nicht herausbekommen, was es eigentlich ist. Aber sie alle werden erklären, daß es eine ganz fabelhafte Bowle sei.
Wir sind ja wieder mitten in der Saison, in der jedermann gern sich ein gutes Tröpfchen anbieten läßt, denn wir nähern uns der Karnevalszeit - und Trübsal darf nicht geblasen werden. Auch die Theater verzapfen Lust und Ulk. Das Staatliche Schauspielhaus ist sogar mit beiden Beinen in einen tollen alten Schwank gesprungen und bringt "Charleys Tante" von Brandon-Thomas mit einem besonderen Witz heraus: den Studenten Babberley, der sich als brasilianische Erbtante seines Kommilitonen Charley verkleidet, spielt nicht ein Komiker, sondern - ein erster Held und Tragöde, nämlich Werner Krauß, der Darsteller von Schillers Wallenstein und Strindbergs Martin Luther. "Da stehste Kopp, vastehste", sagt sich der Berliner und pilgert hin. Die erste Überraschung für ihn ist ein ganz karnevalistischer Vorhang in dem ernsthaften staatlichen Theater. Die zweite Überraschung die Kunst dieses Werner Krauß, der nicht, wie die patentierte Berliner Tante Guido Thielschers, in der Hauptsache mit runden Bäckchen, rundem Bäuchlein und quecksilbrigen Beinchen Erfolge erzielt, sondern durch die unendliche Komik, die das gelegentliche Rebellieren Babberleys gegen die ihm aufgezwungene Weiberrolle ermöglicht. Wenn diese Tante in sonorem Baß plötzlich nach einem Cognac brüllt oder ängstlich wispernd die Mitverschworenen fragt: "Wieviel Kinder habe ich denn nun eigentlich ?" oder sich die Kleidage vom Halse reißt und die beiden anderen Studenten mit den Worten abwehrt: "Faßt bloß meine Hautana nicht an!", dann biegt sich alles vor Lachen. Das ist kein Schwerenöter in Verkleidung. Das ist ein prächtiger, guter, überrumpelter, mitfortgerissener, etwas trotteliger Junge, dessen Angst in der fremden Rolle viel erheiternder ist als die gelegentliche Forschheit. Die dritte weniger angenehme Überraschung ist die sogenannte Modernisierung des Schwankes. Es sind Gesangseinlagen, sehr schwache Schlager, darin, und Tänze, die noch mäßiger sind, so daß man, um sie erträglich zu machen, zur Selbstverspottung gegriffen hat. Eine richtige Persiflage von Revue und Operette ist es aber doch nicht geworden. Das ist alles nur unpassendes Ornament; der gute Bau ist und bleibt die alte "Charleys Tante" in ihrer Unverwüstlichkeit.
Als junge Leute haben wir uns an ihr schon gesund gelacht. Damals im Adolf-Ernst-Theater. Im November 1893 ließ der Kaiser eines Abends das ganze Ensemble, mit dem Direktor Adolf Ernst und mit Guido Thielscher an der Spitze, ins Schloßtheater im Neuen Palais kommen und vor sich und seiner Familie, vor dem russischen Großfürsten Wladimir mit Gefolge und vor der ganzen Hofgesellschaft die Tante aufführen. Das war mal etwas anderes. Ganz Berlin freute sich, daß der Kaiser, der angeblich weltentrückte in den Wolken eines mystischen Gottesgnadentums schwebende Monarch, einmal so recht biergemütlich sich gab. Aber: wie man's auch macht, 's ist falsch. Das ist eine extra aus Monarchenschicksal gezogene Redensart. Maximilian Harden setzte seine bitterste moralische Miene auf und entrüstete sich. Erstens hätte von den 4000 Mark, die Adolf Ernst für den Tag bekam und sofort an Wohltätigkeitsanstalten verteilte, ein "ernster" Künstler ein ganzes Jahr leben können. Zweitens: wie könne ein deutscher Kaiser einen so korrumpierten Geschmack haben, diese englische Burleske "in das durch große Erinnerungen geweihte Schloß seiner Ahnen" einzuführen! Außerdem: wisse er denn nicht, wie man die Person der - Schauspielerinnen beurteile, die er nach der Vorstellung in seinem Palais habe bewirten lassen ? In diesem Tone vier Seiten. Harden als Moralist. Daß die ganze Truppe in einem Nebengemach einen Imbiß vor der Abfahrt gereicht bekam, der in 15 Minuten geschlungen werden mußte, da man sonst den Zug nach Berlin nicht mehr gefaßt hätte, hat Guido Thielscher selbst noch kürzlich in seinen Erinnerungen als besondere Nettigkeit anerkannt. Aber damals machte Harden Schule. Demokratische und sozialdemokratische Blätter stießen alsbald auch in dasselbe Horn.
Und nun führt der Intendant des staatlichen Theaters der Republik, der Sozialdemokrat Jeßner, neu einstudiert die verpönte Tante auf! Es gibt doch wirklich noch weltgeschichtliche Korrekturen auch im Theaterleben und seiner Kritik
Unsere Republikaner haben freilich andere Sorgen. Vor einigen Wochen habe ich hier den Tiergartenmillionär Blau, ehemaligen Hausdiener in Elberfeld, späteren Arbeiter- und Soldatenrat in Düsseldorf, Duz-, Jagd- und Geschäftsfreund des sozialistischen Ministers a.D. Bauer, angeführt. Seit Weihnachten sitzt dieser Großschieber Blau im Untersuchungsgefängnis. Außer ihm noch eine ganze Menge seines Gelichters, dazu eine Anzahl fahrlässiger oder bestochener Beamten. Man schüttelt die Köpfe und ist bedrückt. Aber das ist ja erst der Anfang, und auf den geflissentlich ausgegebenen Tip, daß es sich nur um Ostjuden und um Beamte des "alten Systems" handele, sollte wirklich niemand hereinfallen: Die Haupternte der Staatsanwaltschaft steht noch bevor, und dazu gehören große Politiker aller drei Parteien der Novemberkoalition, der sozialdemokratischen an der Spitze. Reichsgut ist in ungeheuerlicher Art verwirtschaftet worden. Die dabei verdienten, waren natürlich dafür wieder erkenntlich; es ist ein stinkender Sumpf.
Kürzlich hat die Sozialdemokratie einen ihrer Großen deswegen befragt. Er stellte sich, als könne er alles auf die leichte Achsel nehmen. Aber ebenso wie seinen Genossen stand ihm der Angstschweiß auf der Stirn.
8. Januar 1925(Donnerstag)
18
Nachruf auf Bobby - Barmat-Jungens - Hochkonjunktur für Bücherrevisoren - Mit Sorgen und Brillanten in der Tanzdiele - Die vierzig Bildschönen - Der Reichsbanner-Gymnasiast - Freie Bahn dem tüchtigen Nachtwächter - Die Frau ohne Speckseite
Gelegentlich wird bei Leihbibliotheken eine Umfrage nach dem populärsten Buch des Jahres veranstaltet. Die Statistiken und entsprechende Urteile gehen weit auseinander. Wer aber das populärste Lebewesen in Berlin sei, das war bis vor kurzem unumstritten. Selbstverständlich Bobby! Bobby im Zoologischen Garten. Dieser Schimpanse war so manierlich, daß er nicht nur wesentlich von der quiekenden und johlenden Kinderschar vor seinem Gitter abstach, übrigens auch von den Erwachsenen, von denen manche immer wieder mit dem Spazierstock durch das Gitter stochern müssen, - sondern daß er, Bobby, sogar dicht vor der ehrenvollen Berufung in den Reichstag stand, um dort pädagogisch zur Verbesserung der Verkehrssitten zu wirken. Es mag sein, daß Bobby in seinem früheren außereuropäischen Dasein auch Melonenkerne auf seine Kameraden gespuckt hat, aber in Berlin ist er ganz gewiß ein Musterknabe gewesen. Allenfalls verzog er nur seine überaus beweglichen großen Lippen zu einer stummen Kritik des Menschengeschlechts, turnte dann bis an den obersten Rand des Gitterhauses, klemmte sich ein und dachte nach. So wie es auch wohlerzogene und gelehrte Deutsche machen, wenn sie aus einer törichten Umgebung flüchten und über Dinge nachdenken, die für den Aufstieg der Menschheit unentbehrlich sind: etwa über Grenzfälle zwischen dolus eventualis und bewußter Fahrlässigkeit oder über den zweiten Aorist als zentrales Problem des Griechentums. Nun ist Bobby gestorben, still eingegangen an der Schwindsucht, dieser Berufskrankheit aller Schimpansen, die in unser Klima als Bahnbrecher der Kultur versetzt werden. Bobby hat nicht etwa darauf losgelebt, wie manche unserer Schwindsüchtigen in Arosa, er hat die Aufregungen des Flirtens und Tanzens und Rodelns gemieden und allabendlich pünktlich und kurgemäß sich zur Ruhe begeben und die Steppdecke in seinem Bett sogleich bis an das Kinn - soweit Affen überhaupt eines haben - gezogen. Nicht ohne vorher auf das breite Blech neben dem Bett gestiegen zu sein, das im europäisch-äffischen Haushalt als Nachtgeschirr dient. Als Bobby schwächer und schwächer wurde, schämte er sich; und als er in der letzten Nacht das Blech nicht mehr erreichen konnte, sondern im Bett wie ein dummes Menschenbaby sich naßmachte, fing er haltlos an zu weinen.
Nach acht Tagen spricht natürlich kein Mensch mehr von ihm. Schon heute ist der populärste Name in der Reichshauptstadt ein ganz anderer: nicht Bobby, sondern Barmat. In der Größe und im Aussehen haben sie eine entfernte Ähnlichkeit, nur daß Bobby schlanker war als Barmat, aber in ihrem Wesen waren sie sehr verschieden. Zum mindesten in der Raffgier ist Barmat dem Bobby erheblich über gewesen. Wie populär Barmat bereits ist, dafür habe ich erst gestern ein Beispiel erlebt. Ein fremder Reisender kommt aus dem Anhalter Bahnhof und prallt auf eine Gruppe junger Leute im Kostüm des Reichsbanners Schwarzrotgold. Er fragt den Gepäckträger, was das für Menschen seien. Und der antwortet lachend:
"Och, das sind Barmat-Jungens!"
Fern sei es von mir, zu glauben, daß Judko Barmat, der Hauptkerl der Affäre, oder Herschel Barmat oder einer der anderen Brüder dieses Hauses wirklich das Reichsbanner Schwarzrotgold finanziert hätte. Da die Bannerleute, wenigstens die Ortsgruppe Berlin, sogar dem Ministerium des Innern, das ihnen zur Popularisierung der Republik billig schwarzrotgelbe Fahnen besorgt hatte, die Rechnung dafür im Betrage von 3000 Mark schuldig blieben, kann Barmat sich wirklich nicht allzusehr für sie angestrengt haben. Aber, wie gesagt, man traut ihm alles zu. Trotz aller überstürzten und einander häufig widersprechenden Dementis steht soviel schon fest, daß der Reichspräsident Fritz Ebert Herrn Judko Barmat, in dessen Konzern übrigens außer hochmögenden Politikern der Novemberkoalition auch Eberts Sohn angestellt war, ein Bild von sich mit eigenhändiger Unterschrift geschenkt hat. Das wiegt in den Augen der Berliner noch mehr, als die verpulverten Millionen deutschen Nationaleigentums zugunsten der Schieber. Ein Tausendsassa, dieser Barmat; an jedem Stammtisch ist er heute Held des Tagesgesprächs.
Es kommen eigens Leute nach Berlin, um von mir (ich soll wirklich alles wissen!) zu erfahren, wo man die Angehörigen der großen neudeutschen Schiebergilde, die Barmat, Bach, Blau, Kutisker, Katz, Kahn, Heymann und Genossen eigentlich von Angesicht zu Angesicht sehen könne. Man kann doch nicht in Rom gewesen sein, ohne den Papst gesehen zu haben, und wenn man schon nach Berlin kommt, will man auch, wenn auch in respektvoller Entfernung, die Leute bewundern, die wir dank der Revolution nun an Stelle der Hohenzollern als unsere wahren Herrscher betrachten können.
Leider verfügen zurzeit nur die Staatsanwälte Linde und Kußmann über die Audienzkarten. Außerdem sind zurzeit nicht weniger als 48 Bücherrevisoren mit der Nachprüfung der Regierungsakte dieser Dynastie beschäftigt.
Aber es gibt ja noch viele Nichtverhaftete der Sorte. Nur 822 Verdächtige haben in den letzten Wochen Berlin "mit unbekanntem Ziel" verlassen. Das ist wenig genug. Die Politiker in dem Kometenschweif der Barmat und Genossen können schon um ihres guten Rufes willen nicht fort. Sie müssen bis zum letzten Moment, bis sie gefaßt werden, und das kann vielleicht bei dieser Herkulesarbeit Monate dauern, noch "das Gesicht wahren". Diese Leute mit der eisernen Stirn und die hiergebliebene Sippe der 822 amüsieren sich nach wie vor, wenn auch mit sorgenvollen Gesichtern.
"Wenn ich nich hätte de Surgen, de Surgen!"
So ächzt leise hinter mir in dem bekannten Tanzkabarett in der Taubenstraße ein Mann mit Brillantknöpfchen in der Hemdbrust. Das ist ein Lokal, in dem man "nur im Gesellschaftsanzug" zugelassen wird. Da sieht man die ersten Exemplare des vor Weihnachten aufgekommenen - zweireihigen Smokings, der alle sorgenbeschwerten Dicken ein wenig schlanker erscheinen läßt; da sieht man an ausgeschnittensten Damen der Schiebergesellschaft mehr Perlenketten und Diamantenarmbänder, als selbst in der Reinhardt-Komödie am Kurfürstendamm. Es funkelt, es gleißt; dazu als Konsolateur - einen anderen brauchen die Damen nicht - der perlende Champagner oder schwerduftende Liköre. Der bisherige Postminister, der Zentrumsabgeordnete Höfle, kommt nicht mehr hierher. Vor einigen Wochen saß er eines Abends noch da, noch ganz der Vertreter des souveränen Volkes, noch ganz ohne sichtliche Barmat-Patina und bestellte in Lebenslust und Ehrbarkeit beim Herrn Ober lautschallend "die zwanzig teuersten Schnäpse". Aber von den Stammgästen halten viel an der altgewohnten Besuchsstätte fest, schon deshalb, weil die Bekannten darob vielleicht vor Wut platzen, daß man selber anscheinend noch nicht im Schlamassel sei. Außerdem hat man doch nur hier täglich die Gelegenheit, seine Juwelen zu zeigen, - und man ist auch sonst unter sich und ungeniert. Der Gattin eines nachnovemberlichen Großfinanziers wird hier im Tanzlokal durch einen linkischen Nachbarn ein volles Glas Sekt auf das Kleid geschüttet. Da zieht sie coram publico die triefende Seide empor, klemmt sie sich unter das Kinn, breitet eine Serviette über die blaßvioletten Höschen, steckt sie mit einer Sicherheitsnadel an und läßt dann das Kleid wieder darüber fallen. Hony soit qui mal y pense. Wenn man unter sich ist, "noch dazu bei die schlechten Zeiten", ist man über Kleinlichkeit erhaben.
Im Hause des Gehängten soll man nicht vom Strick reden. Aber der eine Gedanke, der alle erfüllt, läßt einen doch nicht los. Unwillkürlich läßt einer den Namen Barmat fallen. Die Gesichter verzerren sich ein wenig, aber eine der Damen ist schnell gefaßt. In solchen Situationen hilft nur das Berlinern.
"Püh, was ich mir mach' aus der Barmat-Affäre! Deswegen werd' ich mir kein Monogramm in den Bauch beißen!"
Das ist das erlösende Wort. Herr Ober, also noch eine Pulle.
Im großen und ganzen sind ja die Berliner Stätten leichten Vergnügens und Übertäubens gegenwärtig recht leer. Wenn man gar am Montag und gar pünktlich um 8 Uhr abends eine von ihnen aufsucht, kann man der einzige Gast sein. Die schreiende Reklame in den Zeitungen, im Anzeigenteil namentlich der Spätabendblätter, zieht auch kaum mehr. Hin und wieder muß man einmal feststellen, was aus den althistorischen Lokalen geworden ist. Schon bin ich im Palais der Friedrichstadt, wo einst, als es noch Amorsäle hieß, der zur Boxerei kommandierte Leutnant, natürlich in Zivil, das Tanzbein schwang, ohne bei seiner schmalen Zulage auch nur für einen Pfennig etwas zu verzehren. Das besorgte "der Wollonkel" aus der Provinz, der alsbald vor einer Flasche Burgunder landete. Heute lockt das Lokal, in dem mäßige Berufstänzerinnen auftreten, mit seinen "40 Bildschönen". Die sind aber schon alleräußerste Provinz, sind lange nicht mehr das, was früher im Schlitzrock auf dem Parkett etwa des Palais de danse daherscherbelte, - diese "40 Bildschönen" sind wohl zumeist dem ehrsamen Stande der Dienstmädchen allmählich entglittene Animiermamsells, weder schön noch unterhaltsam noch gepflegt, kurz, Besselstraßenauslese zweiten Ranges, deren Wahlspruch lautet: "Schön und jung braucht auch der Kavalier nicht zu sein, aber besoffen muß er sein!" Wenn diser Wahlspruch floriert, so von Donnerstag ab die letzten Tage der Woche und dann immer gegen 12 Uhr, ist es widerlich, wenn auch nicht mehr so gedrängt widerlich, wie ehedem, denn die Zahl der Gäste, auch der aus dem Reiche, nimmt in solchen Lokalen doch schon merklich ab. Aber am Montag, und dann recht früh, kann man hier mal Mittelpunkt des Weltalls sein. Allein für mich tanzen Ellen Garden, Ellen Gerhard, Ellen Rimanoff. Nicht einmal die Mühe des Beifallklatschens brauche ich mir zu machen. Der Programmverteiler, der Teddybärverkäufer, die 8 Barmaids, die 4 Mixer, die 6 Kellner, die 7 Jazzmusiker, der Konferenzier und der Boy besorgen das Klatschen. So wird ein großes Publikum vorgetäuscht und doch ist das ganze eine melancholische Sache. Es soll bloß keiner nach Berlin in der Meinung kommen, hier werde Lust verzapft, wo eine Zeitungsanzeige es verheiße; er wird schwer enttäuscht wieder heimfahren. Alles Überschäumende ist längst dahin, auch das wild korybantische, von heimlischer Angst gepeitschte Tollen der Inflationszeit; geblieben ist nur ein sehr schaler Rest, - und vor allem und Gott sei Dank: Jugend, deutsche Jugend, ist in diesem trübseligen Großstadtkehricht nicht mehr zu finden.
Die Berliner Jugend scheidet sich heute schon früh in scharf getrennte Lager. Das mag an sich, sozial gesehen, bedauerlich sein, aber es hat doch auch sein Gutes. Es gibt nur noch äußerst selten geheime Saufverbindungen der Schüler, weil die Schwarzweißroten und die Schwarzrotgelben darin doch nur das Hauen kriegen würden. Hie und da gibt es auch Reichsbanner-Angehörige - "Barmat-Jungens", wie der Gepäckträger sagte - unter den Gymnasiasten, aber sie haben es meist nicht leicht, obwohl wir in Berlin leben, dem großen Wucherfelde der Barmats. Nicht immer löst sich die Sache so einfach, wie in der Untersekunda eines uns benachbarten Gymnasiums. Da war ein Junge von der gewitzten Nation, der - als "Papphelmer" verspottet - die äußerst gewandte Antwort gab: "Besser ein Papphelm auf'm Stahlkopf, als ein Stahlhelm auf'm Pappkopf!" Seine gewandte Zunge wäre trotzdem den Fäusten der andersdenkenden Buben unterlegen, wenn nicht schließlich, Geschäft ist Geschäft, folgender Kompromiß zustande gekommen wäre: der kleine Moritz bekommt wöchentlich von der Klasse 10 Pfennig ausbezahlt, wofür er sich verpflichtet, solange die Zahlung pünktlich erfolgt, die Insignien des Reichsbanners Schwarzrotgold öffentlich nicht mehr zu tragen.
Der Kampf ums Dasein, besonders in der Großstadt, ist ja hart. Früh höhlt die Hand, was ein Schieber werden will. Draußen im Reich ist alles vielleicht noch anders, noch kindlicher, unschuldiger. Draußen hat man auch noch immer Mittel, sich gegenseitig als getreuer Nachbar zu helfen. Da ist ein netter kleiner Ort nicht allzuweit von Berlin, in dem man das Sperrgesetz und sonstige vom Reich und dem Reparationsagenten Gilbert abhängende Bestimmungen nur ungern sieht. Aber man weiß sich eben zu helfen. So wird denn der Nachtwächter mit einem neuen Titel belehnt, nämlich zum "Nachtpolizeibetriebsassistenten" ernannt, und - rückt somit aus der Gehaltsklasse 1 in die Gehaltsklasse 3 empor.
Alle diese Sorgen bleiben einer Menschenklasse fern. Ich meine diejenige Klasse, die von der Atzung der Nebenmenschen lebt. Den Inhabern von Feinkostgeschäften in Berlin geht es immer noch glänzend. Ebenso den gut kochenden kleinen Restaurateuren.
Die Frau eines solchen Gastwirts in Berlin N suchte vor etlicher Zeit einen mir bekannten Chirurgen auf und bat um Operation, da sie sicher irgendwelche Gewächse im Leibe habe, und bestand auf ihrer Bitte, obwohl sich keinerlei Anzeichen für innere Geschwülste ergaben; auf jeden Fall könne der Herr Professor sie bei der Gelegenheit von etwas überflüssigem Speck befreien. Die Frau war unheimlich dick und konnte eigentlich ohne Hebekran nicht einmal mehr in eine Droschke verfrachtet werden. Also sie wird operiert, es findet sich tatsächlich nichts Schlimmes, aber bei der Gelegenheit werden ihr wunschgemäß 28 Pfund Bauchspeck entfernt. Nun liegt sie erleichtert und schlanker als zuvor in der Klinik und genest sehr schnell. Der Arzt fragt sie, was sie denn so am Tage früher zu sich genommen habe.
"Ach, Herr Professor, so nach dem Aufstehen morgens immer was leichtes, so zwei Kalbssteaks und ein paar Pfund Spargel, dann ein ordentliches zweites Frühstück, und vor dem Mittagessen, Herr Professor, Sie sollten mal zu uns kommen, wir haben wirklich einen guten Happenpappen, also vor dem Mittagessen ein anständiges Eisbein mit Sauerkraut und ein paar Glas Doppelkümmel, und dann . . ."
Dem Arzt stehen die Haare zu Berge. Er sagt der Frau, er müsse ihr mal die richtige Diät verordnen, und tut es auch. Also morgens ein Stück Röstbrot und ein Ei, dazu eine Tasse ungesüßten Tees, mittags und abends auch keine fettbildenden schweren Speisen. Jetzt, Mitte Januar, trifft er die brave Restaurateurgattin auf der Straße, und siehe da, sie ist wieder nahezu so dick wie früher. Er fragt, ob sie auch richtig das esse, was er ihr aufgeschrieben habe, und sie antwortet:
"Aber gewiß, Herr Professor, ganz genau nach Vorschrift! Daneben esse ich natürlich auch alles das, was ich früher aß. Nicht wahr, Herr Professor, man will doch nicht verhungern ?"
15. Januar 1925(Donnerstag)
Glossen 13 - 15 |
Jahresinhalt |
Glossen 19 - 21 |