"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 34 - 36
17. bis 31. Mai 1923


34

Der Familienrat tagt - Herabkömmlinge und Arbeitslose - Das seidene Hemdhöschen - Nigger in Berlin - "Die Bacchantin" von Hans Pflanzer - Preisausschreiben für Historiker

Der Familienrat tagt. Vater braucht ein paar neue Stiefel. Vater ist Geheimer Regierungsrat. Soll man? Soll man nicht? Die Abgelegten könnte vielleicht der Älteste bekommen. Links müßte allerdings ein Riester darauf, das Durchsteppen hält nicht mehr. Und rechts ist die Brandsohle gebrochen. Der Familienrat tagt lange. Mein Gott, von den Kosten eines Paars Stiefel könnte man doch . . . Nein, nicht doch, sprecht nicht davon. Vater hat schon Sorgen genug. Und als Geheimer Regierungsrat muß er schließlich ganze Stiefel haben. Also, wollen wir? Oder können wir nicht? Ein paar Stiefel, das bedeutet heute das Gehalt von einer Woche. Der Familienrat kommt zu keinem Beschluß.

In ungezählten deutschen Häusern wird so oder ähnlich parlamentiert, unglaublich viel Zeit und Grübeln und Rechnen wird auf die einfachsten Dinge verwendet, die man früher im Vorbeigehen irgendwo in der Stadt, ohne jemand zu fragen, erledigte, indem man seinen Geldbeutel zog und ihm zehn oder zwölf Mark entnahm. Wir wissen garnicht, wie unfrei wir geworden sind, obwohl die Volksmänner mit der neuen Freiheit prahlen. Auch die andere Freiheit, die, die sie meinen, war doch früher bei uns größer als anderswo. Man war nicht engherzig bei uns. In Amerika wurde der bekannte sozialistische Schriftsteller Upton Sinclair, der Verfasser des "Sumpfes", der erschütternden Darstellung der Fleischhaus-Schweinerei in Chicago, einmal wegen öffentlichen Ärgernisses zu Strafe verurteilt, weil er am Sonntag - man denke, am Sonntag - draußen Baseball gespielt hatte. So etwas brachten deutsche Behörden doch nicht fertig, und dabei waren sie garnicht einmal republikanisch. Was nützt uns übrigens alle sonstige Freiheit, wenn wir im Gefängnis unserer schlechten Valuta sitzen! Man kann sich ja nicht mehr rühren. Gewiß, es gibt Ausnahmen. Ich selber erschreibe mir meine Stiefel zur Genüge, meine Fassade ist immer noch gepflegt, eigentlich nur aus sozialer Koketterie, das gestehe ich ehrlich, habe ich im vorigen Sommer einmal einen Stiefel mit Riester, mit einem Lederflicken an der Seite, eine Zeit lang getragen. Aber ich sehe so viele in Arbeit ergraute Beamte und alte Akademiker, die nur noch "gewendet" herumlaufen oder gar klappernde Gummiröllchen tragen. Was die Bekannten dazu sagen? O, die sieht man ja nicht mehr. Schon die Stellenvermittlerin sagt dem Dienstmädchen in Berlin, wenn es nicht gerade in einer Luxusgegend ist, beruhigend: "Nehmen Se man die Stelle, Fräulein, arbeiten müssen Se überall, und Besuch und Aufbleiben gibt's heute doch nicht mehr!" Statt dessen rückt eben überall die Familie zusammen und berät, wie man den äußeren Menschen noch so leidlich über die Straße bringen kann.

Die Curson und Mussolini und die übrigen fremden Staatsmänner würden sich in die Seele hinein ihrer Noten schämen, wenn sie diese Zustände bei uns wirklich kennten. Gelegentlich hat man auch die Nöte anderer Schichten vor Augen, nicht nur die der Herabkömmlinge aus eigenen Kreisen. Man hat als Offizier, Seite an Seite im Unterstand oder Granattrichter, mit manchen Soldaten gute Kameradschaft geschlossen. Die kommen jetzt mit ihren Sorgen zu einem. Ja, sie schicken auch ganz Fremde her, von denen sie aber wissen: das sind solche Kerle, für die unser Alter sicher was täte! Da sitzt ein Prachtmensch bei mir, breitbrüstig, hoch, aus Potsdam gebürtig, beim verstorbenen Hofsattlermeister Bernhard dort in Lehre und Stellung gewesen, als Gardekürassier gedient, als Unteroffizier entlassen, guter Reiter und Pferdepfleger, ein ehrenfester deutscher Mensch. Mit der Sattlerei ist es nichts Rechtes mehr, seit wir keine Armee mehr haben und seit die Tante schon bei Lebzeiten versprechen muß, wer nach ihrem Tode den Lederkoffer erbt. Zum erstenmal in seinem Leben - er ist 42 Jahre alt, hat Frau und einen Jungen - ist der Mann seit sechs Wochen arbeitslos, möchte gern jede sich ihm bietende Stellung annehmen, auch als Aufseher oder sonst was, aber er läuft vergeblich herum. Nun schreibe ich mir Schwielen an die Finger, telephoniere auch an alle Bekannten: Habt Ihr was? Gesund und arbeitsfreudig sein und doch keine Brotstelle finden, das ist das Furchtbarste. Wer wollte es solchen Leuten verdenken, wenn sie bitter werden? In einem Berliner Modehaus sehen wir seit Wochen im Schaufenster ein duftiges Hemdhöschen, rosa Seide mit taubengrauer Passepoilierung, Preis: 895 000 Mark. "Ja, diese verdammten Reichen!" Aber das Hemdhöschen, die "Kombination", das übrigens auch mein ganzes Entzücken ist, liegt und liegt und wird in der Tat immer noch nicht gekauft: es wartet natürlich auf irgend einen Ausländer, denn nur der kann seiner Duenna noch so etwas schenken.

Vielleicht sogar ein Nigger seiner "kleinen Weißen". Woher diese Leute auf einmal wieder alle herkommen, ob aus Amerika oder dem Sudan, läßt sich nicht gleich feststellen, vielleicht lockt sie der erneute Verwesungsgeruch der Papiermark; jedenfalls sind sie, so Männlein wie Weiblein, zahlreich wieder in Berlin und lachen so unbekümmert und froh, daß der offene Mund wie ein glühendes Feuerloch in dem schwarzen oder braunen Gesicht aufleuchtet. Man ißt in Berlin ausgezeichnet, wenn auch nicht gerade billig in dem Weinrestaurant Kranzler, in dem oberen Stockwerk der altberühmten Konditorei. Sitzt da wahrhaftig am Nebentisch eine schokoladenfarbige Miß! Wenn das dem Hause nur gut bekommt. Die weißen Bürger der amerikanischen Republik - und die gerade besuchen doch solche Gaststätten bei uns - speisen nicht an Orten, wo Farbige verkehren. In Newyork fragt jeder Neger (es sind im Grunde bescheidene Leute, wo sie nicht verrückt gemacht werden) beim Eintritt in ein ihm fremdes Lokal, ob auch "coloured men" bedient würden. Tun sie es nicht, stzen sie sich ohne weiteres hin, so beachtet man sie eine halbe Stunde garnicht, dann gibt man ihnen das schlechteste Stück, sodaß sie nicht wiederkehren. Wer anders handelt, der kann sicher sein, daß die Weißen verschwinden und daß nach wenigen Tagen das Lokal zur reinen Negerdestille geworden ist. Ebenso ist es mit den Mietskasernen. Zieht auch nur eine Negerfamilie ein, so kündigen alle Weißen, und zwar für Schluß der nächsten Woche, und alsbald hat man einen schwarze Kolonie, die aber gut zahlt.

In Deutschland kennen die meisten Menschen diese Rassenscheu nicht. Eine Mulattin unterhielt früher in der südlichen Friedrichstraße ein Restaurant für Farbige. Ihre Tochter brannte mit einem Filou durch, die Mutter in ihrem sehr gefährlichen Alter machte es ihr nach. Jetzt gibt es keinen dunkeln Stammtisch mehr, denn die schwarzen und braunen Herren und Damen haben es nicht mehr nötig, man nimmt ihre Dollars und Pfunde überall gern. Die lange Negerin, die nach dem Kriege hier als Filmdiva auftauchte, in kostbarer Toilette einherstolzierte und als "Lieblingsfrau des Maharadscha" deutsche Freier suchte, hat sich wieder verflüchtigt. Die umschwärmteste Berliner Farbige war lange Zeit hindurch die kleine Hazel Weeks, die als deutsch-englisch-französische Korrespondentin in der griechischen Gesandtschaft Dienst tat. Es sind vielfach recht gebildete Leute. Vor dem Kriege war es anders. Da waren fast nur Schwarze hier, die in irgend einem Wanderzirkus lebendige Fische oder Feuer fraßen. Oder Boys aus dem deutschen Kolonialhaus Antelmann, deren einer als Leichtathlet Erfreuliches leistete. Oder irgend ein Askar, ein braver Kerl, der aus Ostafrika seinem Bwana Mkuba gefolgt war. Dazu, last not least, der sogenannte Leibmohr des deutschen Kaisers, nämlich der Kesselpauker von den Leibgardehusaren in Potsdam.

Alle diese lieben kolorierten Mitmenschen finden den Berliner Trubel ganz köstlich. In jedem "besseren" Lokal verübt ja eine Jazz-Band ihren fürchterlichen Lärm. Auch die Revuen in den Sommertheatern entsprechen immer mehr dem Niggergeschmack. Endlich hat auch das Große Schauspielhaus, das nach Reinhardts ursprünglicher Phantasie als "Theater der Fünftausend" eine Weihestätte für das kunstliebende Volk werden sollte, seinen endgültigen Beruf entdeckt. Fortan dient es nur noch der Ausstattungsoperette. Da ist endlich Volk! Volk in ganz unzweifelhafter Aufmachung! Wir haben uns gestern, um uns "Die Bacchantin" von Hans Pflanzer anzusehen, Plätze im ersten Rang genommen, mittelteure Sache immerhin, und sehen da zu unserem Erstaunen, daß ringsum lauter sogenannte kleine Leute sitzen, meist sogar Jugendliche, die aber heute - "der jugendliche Handarbeiter ist der eigentliche Revolutionsgewinnler, er schlemmt vom Elend Deutschlands", habe ich an anderer Stelle geschrieben - ohne Wimperzucken Zehntausende für einen Theaterabend ausgeben. Hinter uns kichert etwa ein sechzehnjähriges Bürschchen, neben ihm seine vielleicht fünfzehnjährige "Braut", deren entsetzlich schmutzige Finger und Fingernägel verraten, daß sie keinesfalls einer kulturell gehobenen Schicht angehören. Ringsum ein ähnliches Publikum. Nur unten auf den Plätzen zu 25 000 Mark sitzen Leute, die man heute "Schieber" zu nennen pflegt, auch wenn sie es nicht sind. Aber sonst überall: Volk, Volk, Volk! Allmählich wird man auch milder gestimmt. Nun ja, die Leutchen können doch nicht alle nur in klassische Dramen laufen, das tun wir ja selber nicht immer, und die Schaulust ist groß, - warum sollen sie sich nicht mal nach Herzenslust in einer Operette amüsieren? Die sogenannten Schlager auch in der "Bacchantin" sind freilich dasselbe Zeug, das immer wieder den kleinen Mädchen vorgeträllert wird, die große Propaganda für den Liebesrausch einer Nacht, das Eskamotieren jeden Leides in der Liebe, die Predigt des Leichtsinns, des Schwipses, die Gloriole des Flatterns von einem Mann zum andern Mann. Soll man darob die Hände ringen? Kinder, die Welt wird doch nicht anders! Und die kleine "Braut" hinter mir hätte auch ohne Operette ihren Galan gefunden. Eins hat diese Operette vor vielen anderen voraus, die uns Fall, Hirsch, Gilbert und andere beschert haben: die Musik von Cuypers und Corziliu ist durchweg graziös, in den Chören mitunter sogar berauschend schön. Der Text von Pflanzer ist lange nicht so blödsinnig wie der sonstiger Librettodichter, erhebt sich manchmal auch zu wirklich inniger Poesie. Das Nachtigall-Duett

"Es flötet und schluchzt durchs Tal entlang
Der süße, verliebte glückselige Sang,
Zwitt zwitt, huch husch,
Zwitt zwitt, huch husch,
Es zieht alle Pärchen zum grünenden Busch"

ist ganz allerliebst, auch orchestral von einer entzückenden Schalkhaftigkeit, und wird von Marie Escher und Paul Heidemann auch so poetisch - getanzt, daß all die tausend Beinchen im 1. Rang und höher hinauf das Kribbeln kriegen. Die Ausstattung ist pompös. Im ersten Akt die Piazetta neben dem Dogenpalast in Venedig, drüben, jenseits des schimmernden Canal grande, lichterbesät das andere Ufer mit Maria della Salute, am Himmel in dieser venezianischen Karnevalsnacht die funkelnden Sterne, dann am Morgen herrlich schön der Aufgang des großen Feuerballs, der Sonne. Ganz ekstatische Lieder werden dazu vom Riesenchor der quirlenden Menge gesungen. Alles ist natürlich perspektivisch verkürzt, die Säule mit dem Löwen von San Marco ein wenig zwergenhaft, immerhin: die Fünftausend trinken das farbensatte Bild, und unsereins hat mal wieder die große Sehnsucht. Der zweite Akt spielt im Festsaal einer Principessa, die für den Geliebten den Venusberg sich öffnen läßt: Elfen tanzen duftige Reigen, im Hintergrunde steht die Göttin Venus selbst - nackt, das versteht sich 1923 von selbst - üppig Pose, und die Musik tannhäusert dazu. Der letzte Akt schließlich führt uns vor die Tribüne eines Rennplatzes, und hier hört Venedig eigentlich auf, hier feiert saftiger Berliner Humor seine Triumphe, immer natürlich mit einem Schuß Sentimentalität mitten zwischen dem Ulk, denn so lieben es unsere kleinen Mädchen, und glückstrahlend erleben sie es noch, wie Marietta ihren Giuseppe und die Fürstin Claudia ihren Bildhauer Olaf Eglind bekommt. Es ist alles so unwahrscheinlich schön, so märchenhaft, und das ist es ja gerade, was der Berliner heute braucht, denn tritt er aus dieser Welt holden Wahns hinaus, dann ist draußen grauer Regen, und Kommunisten brüllen "Straße frei!" und geben dem ermordeten Sowjetmann Worowski das Trauergeleit.

Und die Milch wird teurer und das Brot wird teurer und die Eisenbahn verdoppelt die Tarife und neue Noten werden geschrieben und aus dem Ruhrgebiet dringt Stöhnen. Es ist doch gut, daß in einer solchen Zeit der preußische Staat noch etwas für Kulturaufgaben übrig hat. Er erläßt ein Preisausschreiben an unsere Historiker, ein republikanisch-modernes Lehrbuch der deutschen Geschichte für unsere Jugend zu schreiben, der deutschen Geschichte von der französischen Revolution an bis auf unsere Tage. Wie sie sich darauf stürzen werden! Mit welch glühenden Backen sie in Begeisterung den Anfang und das Ende dieser vorgeschriebenen Zeitspanne schildern werden! Dazu winkt ja noch der materielle Gewinn, der große Preis des Freistaates Preußen, des Staates, in dem Herr Severing uns vor Nationalismus und sonstigem Schaden bewahrt. Es sind - 500 000 Papiermark. Der Preisgekrönte wird also knapp in der Lage sein, sich auf diesen Kredit hin einen Anzug kaufen zu können, in dem er dann den Preis sich abholt.
17.Mai 1923 (Donnerstag).


35

Der lustige Engländer - Cunos Monatsgehalt - Pfingstverkehr - Bei den Aufkäufern in der 4. Klasse - Wozu Chlorzink dient - Spielklubs

Er war der aufgeräumteste Engländer, den ich je in irgend einem Erdteil getroffen, dieser rotköpfige Ingenieur, der in Batum zu uns an Bord stieg. Er kam aus einem Manganerzbergwerk im Kaukasus, ich noch weiter aus Asien her; gemeinsam fuhren wir über das Schwarze Meer nach Konstantinopel. Zum Glück hatte die "Stambul" genug deutsches Bier an Bord. Der Rotkopf soff wie eine Strandkanone. Schon frühmorgens hatte er die ganze erste Kajüte bei sich zu Gast. Der Kapitän hat heute Geburtstag, den müssen wir feiern, log er. Am nächsten Tage war der fünftausendjährige Todestag eines ägyptischen Pharao: na dann Prost. Am dritten und letzten Tage behauptete der Ingenieur, selber Geburtstag zu haben. In Konstantinopel stieg Vollmar, der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, mit seiner Frau zu einer mehrwöchigen Mittelmeerreise ein, und während ich dieses interessante Paar, das so kapitalistisch die Welt genoß (das war damals bei "proletarischen" Politikern noch eine Seltenheit), heimlich knipste, entwischte der bis dahin von mir unzertrennliche Engländer. Er versäumte die Weiterfahrt; in Pera gab es auch deutsches Bier. Und nun plötzlich, an einem kühlen Maitag 1923, taucht derselbe Rotkopf, unverändert mit allen seinen lustigen Fältchen im Gesicht, am Ausgang des Bahnhofs Friedrichstraße vor mir auf und lacht: "Halloh, old fellow, beer, beer, beer!" Er kommt aus Alaska. Er reist nach Mesopotamien. Und natürlich sagt er, heute habe sein Erbonkel Geburtstag, darauf müsse man eins trinken, - und das andere auf den wunderbaren Zufall, der uns nach Jahren wieder zusammengeführt habe. In Deutschland ist dieses Bölzchen zuletzt vor neun Jahren gewesen, freut sich nun wieder unbändig,sieht alles rosenrot, wundert sich nur, daß ich in der Zwischenzeit etwas ernster geworden bin. Beim vierten Schoppen Paulaner (ich komme kaum mehr mit) sagt der Engländer, ich sei doch ein guter Beobachter und ein lächerlich wahrheitsliebender Mensch, ich solle ihm also mal erklären, was mit der sogenannten Verarmung bei uns los sei. Ich antworte in einem einzigen Satz:

"Der höchstbezahlte deutsche Reichsbeamte, der Kanzler, bekommt - in ordentlichem Gelde gerechnet - mit Mai-Erhöhung, Frauen- und Kinderzulage ein Monatsgehalt von 12 Pfund Sterling, also 240 Friedensmark genau."

Da macht mein Konkneipant vom Schwarzen Meer auf einmal ein so ernstes Gesicht, wie ich es noch niemals bei ihm gesehen habe. So viel bekomme ja ein Dockarbeiter in London, meint er; und wenn das Leben in Deutschland allerdings auch lächerlich billig sei: das habe er sich doch nicht vorgestellt, daß unser Prime-Minister im Monat nur etwa den deutschen Wert von vier guten Herrenanzügen verdiene. Das müsse man wahrhaftig in aller Welt erzählen. Das sei durchschlagend. Das sei besser als Statistik und Leitartikel und Photographien aus Elendsvierteln.

Und trotzdem: man lebt. Es gibt eben viel mehr Löcher im Schnallgürtel, als wir in der Zeit des Wohllebens unter dem Kaiserreich ahnten. Man versagt sich dies und das, man genießt anderes. Sagen wir nicht alle paar Monate, nun werde das Reisen überhaupt aufhören? Aber keine Ahnung! Noch nie haben die Berliner Bahnhöfe in kurzen Stößen so viel Vor- und Nach- und Sonderzüge von sich gegeben wie diesmal zu Pfingsten; noch nie war die Zahl der Ausflügler, und zwar bis zu 400 Kilometern, so groß. Das Geheimnis dieser plötzlichen Reisewut ist ganz einfach. Die Eisenbahn ist viel gerissener als unsere Kaufleute. Diese zeigen in zollhohen Buchstaben an: "Trotz Steigens des Dollars noch die alten Preise!" Das zieht kaum mehr. Die Eisenbahn aber läßt verkünden: "Vom 1. Juni ab verdoppelte Fahrpreise!" Und sofort stürzt alles besinnungslos zu den Schaltern, um, wie es heißt, vielleicht das letzte Mal auf eine Weile Berlin zu entrinnen. Das ist also wirklich ein probates Mittel. Wird uns vor Beginn der Sommerferien erklärt, daß nach den Ferien die Fahrtkosten sich verdreifachen, so wird das Saisongeschäft glänzend, werden die Berliner sogar die Dächer der Wagen stürmen, um wieder "das letzte Mal" mitzukommen. Und so leben wir, so leben wir alle Tage. Immer kreuzfidel. Es ist die alte Geschichte von dem Reiz der Henkersmahlzeit.

Daß allmählich die Schnellzüge fast nur noch aus Wagen 3., die Personenzüge fast nur noch aus Wagen 4. Klasse zusammengesetzt werden, merken wir kaum. Man "wandert ab", gleichmütig, ohne viel Wesens. Gelegentlich nur quillt eine alte Erinnerung auf. Als wir das letzte Mal vor dem Kriege aus Ostende kamen, nicht wahr, da stiegen wir in den Luxuszug. Es saß sich so bequem in den Klubsesseln des Rauchsalons. Wenn schon, denn schon. Heute bekreuzigt man sich vor solch sündhaftem Luxus, selbst wenn Chemische Griesheim oder Leopoldgrube immer weiter steigen. Man tröstet sich bei kleinen Ausflügen gegenseitig sogar damit, daß es, nicht wahr, in der 4. Klasse meist am interessantesten sei. Zum mindesten ist man da sicher vor Neureichs und vor Reichstagsabgeordneten, die 1. Klasse fahren.

Die Wagen, in die man mit Traglasten hereingelassen wird, neuerdings "leider" nicht mit mehr als einem Zentner, beherbergen heute übrigens von und nach Berlin meistens findige Geschäftsleute. Es ist voll von Altsammlern und Aufkäufern und "Besorgern". Man klaut nicht etwa Holz in der Umgegend, sondern man besorgt es sich. Dito zuweilen Kartoffeln. Nach dem Kriege entwickelte sich der Hauptbetrieb auf den Schießplätzen bis Jüterbog hin, wo wertvolles Metall auszubuddeln war. Zünder aus Messing, Führungsringe aus Kupfer. Das ist jetzt schon fast alles abgebaut. Aber allerhand Sachen, die der "Provinzler" für wertlos hält, kann man in Kleinstädten noch billig aufkaufen. Man kann auch als sogenannter Naturforscher von Kehrichthaufen existieren, wenn man Spezialist ist und beispielsweise Konservenbüchsen aus Weißmetall sammelt, zu Klumpen zusammentritt und heimschafft. Chemische Fabriken behandeln die Masse mit Chlor. Was da abtropft, das braucht die Seidenfabrikation: damit werden die Stoffe, in die unsere Damen sich hüllen, schwer und rauschend gemacht. Zum Frühstück steht bei uns eine Dose Elbinger Neunaugen oder Revaler Killo auf dem Tisch. Der Deckel knallt und kracht beim Aufbiegen. O, in welch andere Musik wird er durch unsere Chemie verwandelt! Ich höre schon das Knistern der Dessous irgend einer jungen Schönen, wie sie nächstens sieghaft in den Ballsaal schreitet; Kindchen, Du trägst in Wahrheit meine alte Blechdose um Deine schlanken Hüften! Über derartiges machen sich die Geschäftsleute der 4. Wagenklasse allerdings keine Gedanken. Was nachher mit dem Blechabfall, den Lumpen, dem Altpapier, den Glasscherben gemacht wird, interessiert sie nicht, sondern nur der Tagespreis für alles dies, der gehorsam mit dem Dollar steigt und fällt. Es sind schon längst nicht mehr nur die professionellen Sammler und Händler, die dieses Gewerbe im Umkreise von mehreren hundert Kilometern um Berlin betreiben, sondern Leute aller Schichten. Bis zum sonst hungernden jungen Akademiker hinauf. Auch viele Frauen aus dem Arbeiterstande. Im Durchschnitt ist heute der Nettoverdienst eines Tages für sie 22 000 Mark. Ein glückliches Völkchen. Aber doch unendlich tiefstehend, wenn man seinen Alltags-Materialismus mit dem hochfliegenden Sinn anderer europäischer Nationen vergleicht. Hier in dem eifrigen Schwatzen - nur die paar Studenten, die in den Aufkäufer-Beruf hineingeschneit sind, schweigen still - ist Deutschland wahrhaftig schon zum bloß geographischen Begriff geworden. Von irgend einem Nationalgefühl keine Spur. Gespräche über den Ruhreinbruch der Franzosen werden als Störung empfunden. Der Refrain bei 99 unter 100 Leuten lautet: die Hauptsache ist, daß man was zu fressen kriegt, alles andere ist egal!

Not macht erfinderisch, Vergnügungssucht auch. Und wo beides zusammenkommt, ist der Vermittler der Dritte im Bunde. Es erscheinen in Berlin immer wieder Inserate, in denen für einige Tage der Woche eine Wohnung gesucht wird, in der ein "seriöser" Herrenklub sich versammeln könne. Für den Eingeweihten bedeutet das: also nicht Nackttanz, sondern Spielhölle. Der Nichteingeweihte schreibt schüchtern an den Inserenten. Da kommt denn ein Herr und zählt einem mehrere Hunderttausend Mark bloß dafür auf den Tisch, daß man eine kleine Reise unternehme und einem derweil die Wohnung, die ruhig ärmlich sein kann, überlasse. Das lockt fabelhaft. Immer wieder kommen solche kleinen Ferienreisen zustande. In der nächsten Nacht aber rücken Direktor, Croupier, Kellner, Garderobefrau an, die Schlepper beginnen ihren Dienst, im Handumdrehen ist der große Speisetisch zum Baccarat hergerichtet, die Chips fliegen über den Tisch und die Hunderttausender aus den Portefeuilles. Allnächtlich werden in Berlin so Milliarden umgesetzt. Immer wieder in neuen Behausungen. Allnächtlich werden auch Spielhöllen von der Polizei ausgehoben, aber trotzdem ist das Risiko gering, da noch nicht eine von hundert geklappt wird. Und gegen 1 Prozent Wahrscheinlichkeit des Gefaßtwerdens nebst Beschlagnahme versichert man sich eben. Auch das gibt es heute schon; und es ist weit rentabler als Feuerversicherung oder Lebensversicherung. Der Vermittler kann bei dem glänzenden Geschäft den Vermietern einer Wohnung "auf Tage" nicht nur Gewähr dafür leisten, daß nichts wegkommt (und es kommt auch nichts weg, da die Spieler ganz andere Interessen haben), sondern vielfach auch für sonstige unangenehme Folgen die Haftpflicht übernehmen. Ein Wohnungs-Darleher, der das nicht vorher ausmacht, kann leicht übel ins Fettnäpfchen treten. Denn das Wohnungsamt läßt nicht mit sich spaßen. Ein wirklich "echt" Verreister, der einen leichtsinnigen jungen Bekannten als Hüter eingesetzt hat, kommt neulich zurück, findet sein Heim versiegelt und eine gerichtliche Vorladung vor: er habe an einen nächtlichen Spielklub vermietet, die Wohnung werde daher beschlagnahmt!

Gelegentlich hatte man früher die Sehnsucht, einmal ganz weit auszubüchsen, etwa in eine mittelamerikanische Republik, unter der man sich etwas besonders Tolles vorstellte. Das hat man jetzt alles zu Hause. Revolution und Spiel, Schiebertum und Elend, bacchantisches Treiben in Ruinen und raketenartigen Aufstieg von Politikern. Es ist ein wilder Trubel. Nur der Auslandsdeutsche, der das Bild des alten ehrenfesten Vaterlandes wie auf einer photographischen Platte fest und treu im Gedächtnis hat, sagt verstört: es ist Verlumpung.
24.Mai 1923 (Donnerstag).


36

Die "Große Armee" in Karlshorst - Dachstuhlbrände - Der Kaiser als Branddirektor - Sport-Werbe-Woche - Jiu Jitsu - Bei Niddy Impekoven - Zeitgemäßer Wandschmuck im Arbeitszimmer

Der Wuhlheide bei Berlin mit dem Rennplatz Karlshorst gehörte einst unser ganzes Herz. Gewiß, Baden-Baden war im August vielleicht schöner, fashionabler. In Harzburg und Kreuznach und den übrigen kleinen Galoppnestern war es traulicher und ganz gedrängelos. Im Hamburg erfreute man sich an dem gesättigten Reichtum und man fieberte um das Derby. Und dann noch die vielen anderen Rennplätze, die man in seinem Leben gesehen hat, von Petersburg bis Trouville, von Ascot bis Kairo! Hundert nette Erinnerungen tauchen auf: Pferde, Reiter, Frauen. Aber das Herz schlägt doch am stärksten bei dem Gedanken an Karlshorst und seine alljährliche "Große Armee" in den glücklichen Jahren um 1910, nach Hoppegarten und vor Grunewald. Dieses schwere Jagdreiten über große Entfernung sah unsere Besten aus allen deutschen Kavallerieregimentern im Sattel. Alles, was zur Gesellschaft gehörte, gab sich dazu ein Stelldichein. Niemand war so populär wie der Sieger, der, umjubelt von den Massen, zur Wage zurückkehrte, um dann aus den Händen seines obersten Kriegsherrn oder des Kronprinzen den Ehrenpreis in Empfang zu nehmen. Da lag eitel Sonnenschein auf den Gesichtern von Tausenden; und wenn man gar die Kronprinzessin Cecilie eräugte, von der selbst ein so alter Hagestolz wie der Graf Haeseler mir einmal gesagt hat, sie sei in hundert Jahren wieder die erste vollendet kluge wirkliche Dame in der sonst so hausbackenen Hohenzollernwelt, dann strahlt man erst recht. Diesmal hat die hohe Regierung - wohl die preußisch-freistaatliche, denke ich - es gestattet, daß das berühmte Rennen wieder wie in alten Zeiten in Uniform geritten wird, und da hält mich nichts mehr, da muß ich wieder einmal hinaus in das liebe alte Karlshorst und wandere von der Bahnstation ab die schönen Parkwege zur ersten Trinüne.

Nach zwei Jockeyreiten die Große Armee. Ein Feldgrauer, zwei Totenkopfhusaren, zwei Leibgardehusaren, ein 3. Garde-Ulan, ein 8. Husar galoppieren zum Start. Den größten Teil der Hindernisse nehmen sie geschlossen wie in Eskadronsfront. Dann zum Schluß in der Geraden ein harter schöner Kampf. Nun kehren sie zurück, - durch eine fast teilnahmslose glotzende Menge, aus der kein Zuruf erschallt, kein Hut sich grüßend erhebt. . . .

Jedermann ist mit der Frage beschäftigt: "Wievielfaches Geld gibts am Toto?" Geld, Geld, Geld. Der Mann, der Reiter, gilt nichts mehr, er ist nur die Kugel im Roulette. Verstört mustert man nun seine Umgebung auf den besten, den Logeplätzen, und man greift sich an den Kopf. Von der guten alten Gesellschaft auch keine Spur mehr, ihre letzten Reste sitzen verschüchtert, weil man doch nun mal für den ganzen Betrieb verantwortlich ist, in dem Pavillon des Unionklubs drüben, aber hier auf der Tribüne sind nicht einmal Neureichs zu finden, sondern nur der Berliner Destillentyp: gemauerter Schlips, mitunter sogar nur Sweater, und Interesse lediglich und ausschließlich für Ziffern. Schon beim Rennen zuvor ist mir eine dicke Frau mit Ackerstraßen-Physiognomie aufgefallen, die ihren Mann anpfeift:

"Siehste, wennste un de hättst den Faffori jenomm, denn hättste det scheene Jeld nich valoren!"

Den Faffori. Sie meint den Favoriten. Alles dreht sich ja nur noch um die Frage "Favorit oder Außenseiter?", der Rennplatz ist vollkommen zur Börse der kleinen Leute geworden, ist von jeder Sportfreude und von jeder heiteren Eleganz entkleidet, unterscheidet sich kaum mehr von einem kleinen Schieberkaffee im Berliner Norden, in dem tagtäglich alles gehandelt wird. Entgeistert wandern ein paar Herren und Damen der Berliner Ausländerkolonien durch die quirlende Menge und suchen vergebens das alte Deutschland von Karlshorst. Es ist nicht da.

Aber es wird wiederkommen. So wahr das deutsche Volk unter allen Nationen der Erde immer die stärkste Kraft der Wiedergeburt offenbarte: es ersteht einst von neuem.

Wer jetzt behauptet, Berlin sei gegen früher nicht mehr wiederzuerkennen, der hat also gewiß Recht. Aber nicht alles ist verschwunden, was an die Zeit vor 1914 erinnern könnte. So beispielsweise nicht die serienweise auftretenden Dachstuhlbrände. Diese Spezialität ist uns geblieben, während andere, so Eisbein mit Sauerkraut und Quetschkartoffeln oder kühle Blonde mit Strippe, kaum mehr vorhanden sind. In letzter Zeit flackerte es bald hier, bald da auf, und enormer Schaden traf Hauseigentümer und Mieter, die ja heute allesamt kaum mehr zu einem Zehntel des Papierwertes ihres Besitzes versichert sind. Zuletzt mußte das bekannte Hotel Continental, was von richtigen Berlinern einfach "Kontienen-Tal" ausgesprochen wird, daran glauben; so an die 100 Millionen Mark sind flöten gegangen. Ältere Berliner erinnern sich, daß das Hotel um 1890 herum schon einmal das gleiche Schicksal hatte und daß damals der junge Kaiser selbst auf der Brandstätte erschien und, wie das so seine Art war, die Leitung der Löscharbeiten in die Hand nahm. Natürlich war er nicht gelernter Feuerwehrmann. Immerhin Offizier mit praktischem Blick und vor allem - ein "Anfeuerer" sondergleichen, wen man dieses nicht ganz passende Bild hier gebrauchen darf. Alles strengte sich doppelt an, wo sein Auge hintraf. So war es auf vielen Gebieten, wo er sozusagen das Letzte aus uns herausholte. Das ist persönliches Regiment. Das kann eine parlamentarisch-republikanische Regierung nicht; unter ihr ist der Eigennutz aller Volksgenossen immer größer als das Bestreben, sich für das Vaterland hervorzutun.

Unter dem Fehlen des höfisch-gesellschaftlichen Mittelpunktes leiden trrotz der großen Mühe, die Herr Fritz Ebert sich in repräsentativen Dingen gibt, fast alle Berliner Veranstaltungen. Trotz aller Liebenswürdigkeit, die man ihnen entgegenbrachte, haben das auch die vielen Sänger empfunden, die von der Ruhr und vom Rhein, aus Österreich und Holland in den letzten Wochen zu uns gekommen sind. Nun liegt die große Berliner Sport-Werbewoche hinter uns, die unter dem hohen Patronat des Oberbürgermeisters stand, des skeptischen alten Korpsstudenten Böß, dem ein starres Grinsen die Züge furcht, wenn vom "Nationalen" die Rede ist. Er muß ja mit seinen Roten leben und auskommen. Aber wenn Böß, der gefesselte König von vier Millionen Großberlinern, auch mit Salomo die Resignation teilt, alles sei eitel, so will er doch etwas für Mit- und Nachwelt getan haben und wirbt also für seine Stiftung zu Gunsten - neuer städtischer Sportplätze. Man "ertüchtigt" also. Man züchtet Muskelmenschen mit weiter Lunge und starkem Herzen. Man glaubt, daß damit vielleicht auch die kranke Seele genese und vor allem der verstörte Sinn der Deutschen. Auf Unmittelbares richtet sich die Bewegung nicht. Sie umfaßt alle Stände, alle Parteien, sie vermeidet ängstlich jedes Wort, das "national" gedeutet werden könnte, sie spricht nicht von der großen vaterländischen Not. Sie ist also nicht etwa mit Friedrich Ludwig Jahns Bewegung in napoleonischer Zeit zu vergleichen. Aber selbst über die hat ja Treitschke gespottet, daß sie vermeinte, mit einem Bauchaufschwung oder einer Riesenwelle die Franzosen zu vertreiben. Sport ist gut, Sport ist gesund, Sport ist notwendig, aber unsere großen Kriege haben wir nicht mit Sport, sondern mit Disziplin gewonnen; und augenblicklich sind wir das undisziplinierteste, ehrfurchtsloseste unter allen europäischen Völkern. Sport treiben heute sogar schon Kommunisten. Im übrigen ist die Werbewoche verregnet und auch an den schönen Tagen nicht mehr Volkssache gewesen, als sonst. Zuschauer waren im Wesentlichen die Mitglieder der Vereine, die irgend eine Mannschaft oder einen Einzelnen teilnehmen ließen.

Laufen, Springen, Turnen, Schwimmen, Rudern, Ringen, Boxen war das herkömmliche, neu aber für sehr viele Leute das Jiu-Jitsu, die sogenannte japanische Art der Selbstverteidigung. die zuerst unter freiem Himmel im Lustgarten - auch von einer durch einen "Strolch" überfallenen Dame - und dann im Sportpalast im Boxerring von Meister Rahn gezeigt wurde, gegen den ein anderer Jiu-Jitsu-Mann, dieser mit tätowierter Brust, also ein dufter Junge, anging. Für den Laien ist die einfachste Erklärung, daß man sagt: hier ist alles erlaubt und sogar höchste Kunst, was beim Ringen streng verboten ist. Vor allem Beinstellen. Oder Unterlaufen. Oder, wenn man im Knäuel vereint auf dem Boden liegt, das Drosseln, Fingerbrechen, Fußabdrehen, Armausrenken, der Stoß mit Daumen und Zeigefinger in die Augen. In der Arena, variétémäßig, werden natürlich die ganz bösen Sachen nicht gemacht. Es gibt genug harmlosere Arten der Selbstverteidigung. Man packt etwa den Gegner an der Brust, reißt ihn zu sich herüber, indem man ihn gleichzeitig mit einem Fuß vor die Knie stößt, und wirft ihn im Fallen seitwärts um, so daß man auf ihn zu liegen kommt. Oder wenn man von hinten um den Leib gefaßt wird, bückt man sich, greift durch die gespreizten eigenen Beine nach hinten packt den Gegner an den Beinen und entzieht ihm diese Pedale. Das sieht sich sehr abwecklungsreich und unterhaltsam an.

Immerhin, immerhin, ich habe da so meine bösen Träume. Im Traum lernte ich Jiu-Jitsu, während ich bisher mehr für das schnelle Schießen mit der Pistole war. Im Traum überfiel mich dann ein Räuber. Meine Uhr, meinen Füllfederhalter, mein Papiergeld, meinen harten Taler von 1913, meine fünf dicken Zigarren und die vielen empfindsamen Briefe in meiner Brusttasche kriegte er trotz allem. Der Kerl - konnte nämlich auch Jiu-Jitsu. . . .

Wenn man vor der Überschätzung des "völkerverbindenden" (wer lacht da?) Sportes warnt, so kann man trotzdem seine helle Freude an diesem wahrhaft hellenischen Getümmel unserer Tage haben. Wer früher etwa nur die ungeschlachtesten Drei-Zentner-Männer in irgend einem Zeltzirkus ringen und endlich "die Brücke durchdrücken" sah, der ahnt nicht den ästhetischen Genuß, den der Beschauer von dem Ringkampf frischer Jünglingsleiber hat, sofern es dabei fair und nach allen Regeln der Kunst zugeht. Dann versteht man auch endlich die Zwiegespräche Lukians über athenischen und spartanischen Sport mit seinem skytischen Besucher, die man als Oberprimaner einst nur griechisch-grammatikalisch begriffen hat.

Und doch gibt es noch schöneres, unendlich viel schöneres, nur wird es einem nicht in jedem Jahrhundert einmal geboten: das ist die in Tanz aufgelöste Musik, wenn sie Seele und Körper eines elbischen Wesens durchtränkt hat. Wir haben dieses lichte Wunder vor uns, wir sehen das Unbegreifliche Ereignis werden. Niddy Impekoven ist wieder da. Niddy Impekoven. Ich kenne arme Idealisten, die trotzdem die 40 000 Mark für einen Platz im ersten Parkett des Deutschen Theaters hergaben, um diesen Anblick nah, ganz nah zu haben, um nicht auf das Glas angewiesen zu sein, um sich im Atembereich dieses Kindes aus Poesieland einmal am Himmlischen sattzutrinken. Niddy Impekoven tanzt selten. Alle paar Monate einmal oder zweimal: in Deutschland oder in der Schweiz. Der Trancezustand, das Erdentrücktsein, die völlige Hingabe an die Musik mit allen Fibern, das läßt sich nicht tournéemäßig aufziehen, dazu ist die nachfolgende Erschöpfung zu groß. Niddy Impekoven - man möchte eigentlich ungläubig dazu lächeln - hat geheiratet. Der kleine Kobold einen baumlangen Menschen. Er ist (Gott sei Dank, muß man sagen) Arzt. Arbeitet am Robert-Koch-Institut in Berlin, ist im übrigen selbstverständlich auch ein durch und durch musikalischer Mensch und offenbar vom Schöpfer dazu ausersehen, sorgsamer Gärtner dieser Wunderblume zu sein. Er hat einen Gerhart-Hauptmann-Kopf und große treue Hände; er kann dieses Geschöpfchen, seine junge Frau, buchstäblich auf den Händen tragen, braucht wohl kaum ganze zwei Hände dazu. Ich sitze den beiden in ihrem Berliner Heim gegenüber. Niddy Impekoven hat das umschattete märchentiefe Auge, wie Lenbach es im Bilde seiner kleinen Tochter Marion gemalt hat. Sie ist keine Tänzerin, was man so Tänzerin nennt. Sie ist eine Besessene. Alle Sphärenmusik von Ewigkeit her hat von ihr Besitz genommen. Aller Glaube, alle Güte, alle Hoffnung der Welt jubelt durch sie, und sie ist Bildhauer und Ton zugleich. Nun hat Johann Sebastian Bach sie ganz gefangen. Wie das allmählich gekommen ist, wie sie innerlich und innig reift, das erzählt mir der Mann, während sie gerade mit der Mutter im Nebenzimmer hantiert. Nun huscht sie wieder herein. Nun klagt sie über ihr Schicksal: daß man unerhörte Preise nehme, wo sie am liebsten um Gotteslohn den Menschen ihr alles gäbe. Wer könne denn noch ins Theater gehen, wo 40 000 Mark für einen Platz verlangt würden?

Ich kann sie beruhigen. Ich habe an dem Abend kaum einen Menschen gesehen, der "für sein" Geld sich die Niddy Impekoven vortanzen ließ, weil Niddy Impekoven die große Mode ist, sondern nur beseligte Leute. Credo, Gloria, Jubilate. Und Schumanns Aveu. Und dann, entzückend schalkhaft: Bachs Marche, Humperdincks Was Ihr wollt, Englert Münchener Kaffeewärmer. Wir werden vielleicht, leider, immer weniger Schelmisches von ihr sehen, statt dessen immer mehr Tiefes, Geheimnisvolles. Hie und da einen wehen Ton. Aber nie einen unreinen Ton. Ich bin ein Feind aller Superlative. Ich gestehe auch gern, daß hier meine Worte versagen. Aber eines kann man mit Freuden erklären: daß kein Volk der Erde bisher eine solche Künderin und Gestalterin göttlicher Harmonien hervorgebracht hat.

Ein hartes Erwachen, wenn man wieder in unsere Welt hinaus tritt. Überall nicht mehr Musik, sondern unholder Lärm. Berlin hat so viel zu tun, um überall Kronen und Adler und sonstige Symbole der alten Zeit wegzumeißeln. Nur den alten marmornen Wilhelm I. in der Wandelhalle des Reichstags läßt man jetzt endlich doch in Ruhe. Die Wegschaffung - die Wegschaffung allein - würde heute 62 Millionen Mark kosten. Aber überall in den neudeutschen Amtszimmern ist der Schmuck wenigstens zeitgemäß geworden. Zufällig bin ich einmal zu einem Ministerialrat verschlagen, der die rechte Hand des Staatssekretärs Hirsch im Wirtschaftsministerium ist. Da hat sich der neue Geist schon ganz heimisch gemacht. Ich mustere die Bilder. An der einen Wand: die Karrikatur von Amtsrichter und Staatsanwalt alten Systems. An der zweiten Wand: der Siegeszug der Arbeiter. An der dritten Wand: Samuels Berufung.
31.Mai 1923 (Donnerstag).



Glossen 31 - 33

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Glossen 37 - 39

© Karlheinz Everts