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Man steigt nach - Allerlei Exotisches - Das Wickelkleid - Bettler am Bürgersteig - Breitensträter schlägt Wagner Knockout - Allemand Daudets "Meisterboxer" - In der Baumblüte
Man steigt nach, falls man noch nicht völlig verkalkt ist, das versteht sich. Nichts macht alt, als das Einwilligen darein, schreibt Rahel Varnhagen. Oder wie ein moderner Cyniker sagt: der Mann ist jung, solange er sich jung fühlt, die Frau, solange sie sich jung anfühlt.
Also man steigt nach, sobald ein weibliches Wesen, schön wie aus dem Märchen, vor einem entschwebt, oder durch exzentrische Toilette - dieses eine wissen leider auch die häßlichsten Frauen - sich von der Umgebung abhebt oder aus sonst einem Grunde einem ins Auge fällt, aus irgend einem je-ne-sais-quoi; vielleicht lockt uns manchmal, wie den Falter, nur ein verwehter Duft. Ich möchte den Mann wissen, der nicht nachsteigt! Das ist nun mal von Natur so, zur Erhaltung des Menschengeschlechts. Und wenn einer sogar zwölffacher Großvater ist, schlurft er vielleicht beseligt noch hinter einem Kinde mit Hängezöpfchen drein. Man tut das umso beruhigter, je gefestigter der eigene Ruf ist; der Flaneur, der nichts kann, als nur nachsteigen, ganz gleich, wen er vor sich hat, wenn es nur überhaupt etwas Weibliches ist, der ist natürlich ein Fatzke. Mein Ruf ist glänzend. Zu meinem letzten Geburtstage schenkte mir eine unbekannte junge Dame symbolisch einen kleinen Stachelkaktus, der unter der trefflichen Pflege meiner Frau wundervoll gedeiht. Als so unnahbar gelte ich in den zuständigen und urteilsfähigen Kreisen. Außerdem habe ich Generalabsolution durch meinen Beruf; auch der Maler pürscht ja auf interessante Modelle.
In Stallupönen tut man so etwas natürlich nicht. Erstens kennt man Tante Malchen mit Kapotthut und Kinnbändern sowieso, ebenso alle übrigen weiblichen Bewohner der Stadt, zweitens ist an jedem fünften Parterrefenster ein Außenspiegel angebracht, ein sogenannter Spion, durch den die häkelnde Damenwelt jeden Schritt des stärkeren Geschlechts kontrolliert. Aber in Berlin muß man schon sehr nach innen sehen, ganz mit seinen Gedanken beschäftigt sein, um nicht ständig mit den Augen anzustoßen. Das gilt ja nicht nur für uns Männer, sondern auch für die Frauen. Die jungen Mädchen in Stallupönen werden es nie erleben, daß plötzlich vor ihnen zwei bronzebraune lustige Afghanen gehen, in europäischer Tracht, aber mit buntseidenem Turban, in den sie hinten ihren bekannten kurzen Mozartzopf hineinstopfen. Es gibt auf der ganzen Welt wenige so vergnügte Leute, wie es die Afghanen sind. Ich habe einmal, weit hinten in Asien am "Dach der Welt", mit einem afghanischen Derwisch, einem Bettelmönch, Freundschaft geschlossen, der garnichts Mönchisches an sich hatte, sondern strahlend lustig war; er ließ sich sogar - bei Mohamedanern einfacher Schichten etwas sehr seltenes - lachend von mir photographieren. Und zwei andere Afghanen, die ich in der Oase Merw traf, erzählten mir in zwei Stunden mehr Witze, als ein deutscher Cognacreisender in einer ganzen Saison zur Verfügung hat. Also so etwas sieht man nun plötzlich auf dem Bürgersteig in der Friedrichstraße. In einem unserer ersten Hotels wohnt gegenwärtig eine indische Prinzessin. In ihren Augen träumt die Wehmut von Jahrtausenden, ihre Haut ist wie feines gelb gewordenes Elfenbein, ihr Schmuck wie aus Tausend und Einer Nacht, ihre Schlankheit wie die einer Gazelle, ihr Benehmen das vollendet vornehme einer Angehörigen der alten Herrscherkaste, und doch würde ich ihr nie nachsteigen oder beim Fünf-Uhr-Tee mich ihr vorstellen lassen. Ich habe genug mit den absonderlichsten weißen Geschöpfen zu tun. Auch die laufen einem leider in Berlin mehr als in Stallupönen über den Weg, und stolpern will man schließlich doch nicht, also weicht man aus, macht Kehrt und steigt nach, auch wenn das Ergebnis nur eine Modebetrachtung ist. Da kommt vom Brandenburger Tor her eine Dame, Typ Amerkanerin, jedenfalls Dollarmaus, in einem kurzen Fehrücken-Pelzcape, darunter einem Wickelkleid. Das ist also kein genähter, sondern ein bloß umgeschlagener Rock, eigentlich nur ein quadratisches Stück Stoff: hinten so eng anliegend wie ein Badetrikot nach dem Bade, vorn der eine Flügel über das rechte Bein geschlagen, der andere diesen Flügel deckend über das linke. Die Dame trippelt. Wenn sie aber nun ausschreitet? Oder wenn ein Windchen kommt? Zufällig geschah beides, und da sah man denn einen Seidenstrumpf - vom Knöchel bis zur Mitte des Oberschenkels, einen Seidenstrumpf ohne sichtbares Strumpfband, der sich irgendwo oben in die Unendlichkeit verlor, einen Seidenstrumpf sozusagen bis unter die Achseln, ohne jedes sonstige Unterzeug. Schade, daß Tante Malchen aus Stallupönen nicht da war. Sie hätte "Stoff" bis an ihr Lebensende gehabt. Im ersten Moment, ganz instinktiv, stand mein Entschluß natürlich fest: Nachsteigen; nachsteigen bis, nun, sagen wir, zum American Girls Club Berlin oder zum American Women Club Berlin, zu dem die Dame sicher wanderte. Mit hineingehen. Einfach erklären, ich sei auch ein amerikanisches junges Mädchen. Erst nachher habe ich erfahren, daß beide Clubs während des Krieges aufgeflogen und nicht wieder eröffnet sind. Und außerdem stand ich auf dem Hinterperron der Straßenbahn, die in diesem Augenblick anzog und mitleidslos weiterfuhr. Also Tante Malchen kann sich, wenn auch nicht "bezüglich jener Person", doch bezüglich meiner Person beruhigen.
Die Fremden erregen in Berlin nur noch selten Aufsehen, es sei denn, daß sie es selber wollen, umsomehr Aufsehen erregen aber die Berliner bei den Fremden, die mit naiver Neugier am liebsten alles betasten möchten, was jetzt so anders ist als ehedem. Auch unsere Wunden betasten. Unsere Not kennen lernen, so wie unsereins sich früher, weil es so etwas in Deutschland nicht gab, etwa in die Londoner Elendsviertel, die Slums, führen ließ oder mit den Lazzaroni, die in Neapel an der Straße liegen, sich in ein Gespräch einließ. Die Not in Berlin ist riesengroß, weit größer als in mancher Kleinstadt, weil in der unendlichen Steinwüste Berlin der Einzelne eben so verloren ist, ungekannt verhungern und sterben kann, ohne daß es jemand gewahr wird. Neben den wirklich Notleidenden die vielfach nur scheinbar Notleidenden, die Bettler, die in jeder vielbegangenen Straße heute mehrfach vertreten sind. Die Schüttler sind freilich in den letzten Monaten außer Mode gekommen. Aber die unbeweglich Stillsitzenden mit Stelzbein oder mit erloschenem Augenlicht mehren sich, und am meisten die alten Frauen und Männer ohne besondere Gebreste, abgesehen eben - von Hunger. Auch von noch ganz gutgekleideten Weißhaarigen wird man unterwegs angesprochen, die das Gehen einträglicher finden als das Stillsitzen.
Am rührendsten sind unter diesem ganzen Bettelvolk die primitiven Musikanten, die es auch schon in zahlreichen Exemplaren gibt. Da hat einer aus einer Zigarrenkiste und einem Brettchen sich - eine Geige mit ganz guter Resonanz zusammengebastelt, eine Geige mit nur einer einzigen Saite, und sein Kompagnon hat in einer größeren Kiste eine Art Harmonium zusammengenagelt, und da sitzen die Beiden nun am Straßenbord und spielen - es ist ein Stück Poesie in dem Großstadtlärm - ganz wundersam eindringlich ihre getragenen Lieder, etwa Gounods Ave Maria, sodaß die gassenhauerverderbte Jugend andächtig stehen bleibt und selbst der Stift aus dem benachbarten Kontor beschämt mindestens einen Hundertmarkschein in die Bettelbüchse stopft.
Manche Fremde machen freilich slebst hierzu skeptische Gesichter, denn anderswo sehen sie doch, daß Berliner gerade der sogenannten proletarischen Schichten unbedenklich Zehntausende ausgeben, wenn es das Vergnügen gilt. Der Sportpalast in der Potsdamer Straße könnte doppelt und dreifach so groß sein als er ist und wäre trotzdem imm er ausverkauft, wenn etwa ein "Großkampftag" im Boxen angezeigt ist. Nachgerade muß man beinahe schon "Beziehungen" haben, um überhaupt für Geld, sehr viel Geld, und gute Worte, sehr gute Worte, eine Eintrittskarte zu bekommen, die bei den wilden Händlern schließlich ganz phantastische Preise erklettern. Am letzten Sonnabend haben Spätkommende, natürlich Neureiche, bis zu 150 000 für einen Sitzplatz bezahlt, um Breitensträter, unseren deutschen Schwergewichtsmeister, gegen den neuen Mann aus Duisburg, Wagener, kämpfen zu sehen. Der goldblonde Hans Breitensträter in seiner fast mädchenhaft weißen Haut sieht neben dem bräunlichen Riesen Wagener, der mit seinen 192 Zentimetern ihn um Haupteslänge überragt und auch ein viel größeres Gewicht in seine langen Arme legen kann, wie David vor Goliath aus, hat aber, das sieht man gleich anfangs, die bessere Technik und den stärkeren Angriffsgeist. In dem halbdunkel des Riesenraumes starrt alles gebannt von der ersten bis zur letzten Sekunde auf den lichtüberfluteten "Ring" in der Mitte, das viereckige durch Seile abgesperrte Kampfpodium, starren 15 000 Paar Augen - oder mehr noch - auf die einander umspringenden Boxer und ihre Stöße. Schon hat Wagener, den Breitensträter manchmal buchstäblich anspringt, zwei wuchtige Hiebe an - soviel ich erkennen kann - die Kehle bekommen. Da, etwa in der 19. Minute des Kampfes, kriegt er einen Magenstoß und blitzschnell im nächsten Augenblick einen schweren Kinnhaken und stürzt rücklings hin wie ein gefällter Stier. Alle Viere von sich. Bewußtlos. Die Augen geschlossen, das gesicht totenbleich. Er wird "ausgezählt". In der zehnten Sekunde bewegt sich langsam, traumhaft, sein rechtes Bein, das Knie hebt sich etwas, fällt aber wieder wie leblos zurück. Der umjubelte, umtoste Breitensträter hat schon längst seinen Lorbeerkranz, seinen Wald von Flieder, seine Millionenschecks, als Wagener noch immer bewußtlos daliegt und von vier starken Männern endlich aufgehoben, weggetragen und ins Leben zurückgerufen wird. Man muß immer wieder sagen: es ist eigentlich ein rohes Handwerk. Es kommt auch wohl erst auf je 100 männliche Zuschauer eine Dame.
Und doch, und doch, - es liegt etwas Spartanisches in der Erziehung zum Boxen, denn es lehrt ja nicht nur Püffe auszuteilen, sondern auch zu ertragen, es macht "hart" gegen Faustschläge und Schicksalsschläge. Hans Breitensträter, der jetzt 26 Jahre alt ist, hat die beste Vorbereitung dazu als Schiffsjunge genossen. Er erzählt selber, daß er vorher leider in keinem Seefahrtbuche gelesen habe, wieviel Keile es da gebe: "Kein Mensch glaubt, wie so ein Matrose hauen kann, dem man zufällig im Wege steht, wenn er über die Reeling spucken will." Ich schreibe dem Boxen der Engländer einen guten Teil sogar ihrer weltpolitischen Erfolge zu. Vor Jahren war mir das nicht klar. Wenn der lange Ire Mister Kempling, der Ingenieur, morgens vor der Fahrt in die City erst mit meinem Schwager Konrad, der auch hinmußte, seine paar Runden boxte, dann in die Badewanne stieg und sich seine verquollene Nase kühlte, so fand ich das komisch. Noch komischer fanden es aber die Engländer, daß unter gleichen Umständen der normale Deutsche dieselbe Zeit mit der Schnurrbartbinde unter der Nase stillsaß und sich gar keine Bewegung machte. Hart werden, Püffe vertragen, mit keiner Wimper zucken, den Gegner schließlich knockout schlagen: das versteht der Engländer im Sport, im Geschäft, in der Politik. Und er kennt keinen Verständigungsfrieden und kein Angebotsgewinsel vor der Entscheidung.
Natürlich kann man das Boxen auch nur von seiner lächerlichen Seite sehen, und es hat ja auch seine lächerlichen Seiten wie jede - Übertreibung. Wahrhaft zur Groteske gesteigert ist das in dem eben im Berliner Widder-Verlag erschienenen köstlichen "Meisterboxer" von Allemand Daudet (unter demselben Decknamen, aber lange nicht mit so souveränem Humor, hat der Verfasser vorher die Tartarin-Bücher herausgegeben), dessen Luxusausgabe mit den Illustrationen von Lutz Ehrenberger ein wirklich erlesenes Geschenk ist. Nicht etwa nur die Boxerei, sondern die ganze närrische Welt mit ihrem Völkerbund, Kurfürstendamm, Dollarwahnsinn, Filmfimmel, Behördenzopf, mit ihren Franzosen und Juden und Amerikanern und Deutschen und Chinesen kriegt hier solche Kübel voll Spottlauge über den Kopf, daß man eine Weile alles Elend vergißt. Schade, daß ich keinen reichen Erbonkel habe und ihm das Buch schenken kann; am selben Abend läse er es auf einen Sitz aus und am selben Abend hätte er sich totgelacht.
Das Gros der Berliner Menschheit kauft sich freilich keine Bücher zur Erheiterung, sondern nach der Väter Sitte einen gehörigen Affen in Werder, sobald die "Boomblüte" lockt und der 1914er Johannisberger wieder auf der Bismarckhöhe kredenzt wird. Der diesjährige erste Blütensonntag ist freilich völlig verregnet. Mit der Hoffnung, den Obstweinrausch im Freien bei Mutter Grün ausschlafen und Montag früh mit dem ersten Zuge nach Berlin zurückfahren zu können, war es wieder nichts. Man mußte schon mit dem letzten Abendzuge heim. Da schwankten denn die Einzelnen heran, womöglich noch mit zwei vollen Flaschen an Bindfaden um den Hals, da torkelten selig die Pärchen, und siehe da, ein Wagen dritter Klasse war, "wegen schadhafter Beleuchtung", völlig dunkel und hatte - nicht trotzdem, sondern deswegen - den größten Andrang zu verzeichnen. Es gab Sitzplätze, Stehplätze und Schoßplätze. Es gab wie immer trotz Regen und Kälte ein fast karnevalsfrohes Treiben. Und nur da, wo ganze Familien an diesem obersten Berliner Familienfest heimpilgerten, wurden hie und da Besorgnisse laut: "Mutta, Mutta, laß Vata'n bloß nich von de Leine!"
26.April 1923 (Donnerstag).
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"Die Entlassung" - 1809 im Zirkus - Der alte Busch - Schlangendame und dummer August - Die verarmte Berliner Wissenschaft - Lausejungs und Fabrikmädel - Um den Tanz-Weltrekord
"Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte", heißt es von Wallenstein immer noch, obwohl schon etliche Jahrhunderte historischer Schatzgräberei nach ihm verrauscht sind. Wieviel mehr gilt das Wort von einem noch Lebenden! Nun hat es Emil Ludwig-Cohn unternommen, in dem Drama "Die Entlassung" den Zusammenprall Wilhelms II. mit seinem Kanzler von 1890 möglichst gunst- und haßlos, möglichst dichterisch-verstehend zu schildern. Das Ergebnis ist - Kientopp. In Prag, in Leipzig und anderswo hat man das Stück schon aufgeführt, in Berlin wird es jetzt seit kurzem im Residenztheater, weit draußen in Berlin O. in der Blumenstraße gegeben, wo früher die Pariser Ehebruchs- und Kokotten-Komödie gepflegt wurde, und ein Vorstadtpublikum läßt sich dort über jüngst vergangene Zeitgeschichte belehren. Es ist eine unzweifelhaft saubere und fleißige Arbeit, die Herr Dr. Ludwig-Cohn geliefert hat, eine Arbeit, wie sie etwa der Dr. Moritz Busch, das "Büschchen", allenfalls auch fertig gebracht hätte, aber man geht voll Skepsis hin und kehrt voll Skepsis heim. Dieser Wilhelm II. von 1890 müsse aus seiner Jugend und aus seinem Temperament verstanden werden, lautet etwa die These; und da sehen wir denn einen außerordentlich zappeligen, kientopp-zappeligen jungen Kaiser, von Dietrich v. Oppen in seiner Art gut dargestellt, aber man hat trotzdem den Eindruck, daß dies ebensogut irgend ein überschneidiger Bahnsteigschaffner sein könnte, der da vorn auf der Flimmerleinwand - Verzeihung: Bühne - agiert. Der schnarrende sogenannte Gardeton macht daran nichts besser. Es leben doch noch zu viel Leute, die den Kaiser gesehen und gehört haben. Gewiß, in Ansprachen vor Truppenteilen, bei Rekruten-Vereidigungen und dergleichen, wo es galt durchzudringen, da sprach der Kaiser auch wohl abgehackt: "Mein Rr-ement!" Im Zwiegespräch war nichts davon zu merken. Wilhelm II. konnte sehr sanft, sehr ruhig, sehr sachlich sich unterhalten, und es war eine Arbeit, sich mit ihm zu unterhalten, da er viel erwartete und verlangte; und da gab es kein Geschnarre, - eher ist mir das Gegenteil aufgefallen, nämlich beim s ein leichtes Anstoßen. Und nun gar erst der Fürst Bismarck, von einem an sich ganz trefflichen, körperlich leidlich ausreichenden Schauspieler, Müller, verkörpert: da wird einem erst bang und weh ums Herz, da hat man richtig das Gefühl, daß es doch die Ehrfurcht einem verbieten müßte, diesen Heros schon dem gegenwärtigen Geschlecht, in dem kurzen Abstand von noch nicht einem Menschenalter, so vorzufälschen! Schon die Kopfweite - Bismarck hatte 62 Zentimeter und konnte Hüte nur auf Bestellung sich machen lassen - langt nicht, die große Schauspielernase mit den kientopp-bebenden Nüstern stört, das fliehende Kinn enttäuscht; mit Schnurrbart und Kahlkopf allein läßt sich die Sache wirklich nicht machen. Ich hafte absichtlich an derlei Äußerlichkeiten. Vom Stück selbst, von den mehr oder weniger geflügelten Worten, aus denen Emil Ludwig-Cohn es, geschickt genug, zusammengestoppelt hat, will ich garnicht reden, darüber mögen die Zünftigen sich unterhalten. Man wird den Eindruck nicht los, daß es sich um ein Konjunktur-Geschäft handelt. Der historische Film war eben bis vor kurzem die große Mode.
Je unerfreulicher die Geschichtsperiode ist, in der wir gegenwärtig leben, desto erklärlicher ist die Sehnsucht der Massen, wenigstens aus früheren Zeiten Erhebenderes zu sehen. Das ist bis in den Zirkus gedrungen. Die große Wasserpantomime hat sich, scheint es, überlebt. Auch in der Arena wird Politik gemacht. Die literarisch ungemein fruchtbare Paula Busch, die ganz köstliche lebenswahre Novelletten aus dem Artistenleben schreibt, viel bessere, als sie sonst üblich sind, ersinnt auch die großen Schaustücke für den Zirkus Busch. Das neueste heißt: 1806. Zum lebhaften Unbehagen der roten Presse wird darin Königin Luise "verherrlicht", werden darin stark nationale Töne angeschlagen. Es mag sein, daß das heute gut ist. Ich persönlich mag solche Szenenfolgen nicht, wo in der einen Minute die hoheitsvolle Erscheinung der leidgekrönten Königin rührt, in der nächsten Minute hundertzwanzig wirbelnde Trikotbeine von Zirkusmädchen die Galerie ergötzen. Der alte Kommissionsrat Busch ist jahrzehntelang, auch schon vor der Pantomimen-Zeit, der Liebling seiner Berliner gewesen, und mich will es bedünken, daß in der Zeit der noch rein zircensischen Künste Besseres geleistet wurde. Busch sollte ursprünglich Theologie studieren, er wählte aber die Hippologie, nachdem er als strammer Garde-du-Corps 1870 seine reiterlichen Fähigkeiten entdeckt hatte. Sein Vater war noch mit einer Pfarrerstochter verheiratet gewesen. Er aber nahm eine Zirkusreiterin, eine junge eheverlassene Frau, und er und sie und die kleine Stieftochter machten einen Zirkus auf und bestritten ganz allein das gesamte Programm, von der Parterreakrobatik über das Panneau bis zur hohen Schule. Lange, bange Jahre vergingen auf der Wanderschaft bis zur Errichtung des ersten "stehenden" Zirkus. Zuletzt freilich war der Herr Kommissionsrat ein gemachter Mann und, beiläufig bemerkt, nicht einmal so stolz auf sein Geld, als auf - seine Ähnlichkeit mit dem Kaiser. Die Nase, das Kinn, die Stirn: ganz "Er". Selbstverständlich und in der Hauptsache auch der Schnurrbart. Nur das Auge ließ einen im Stich. Es sagte doch sehr wenig.
Die Zahl der Zirkusbesucher, die das Reiterliche lockt, wird in unserer unritterlichen Zeit natürlich immer kleiner; das Piaffieren, das Renvers-Reiten, der Wechselgalopp, der spanische Tritt finden immer weniger verständnisinnige Zuschauer. Auch die alte zigeunerische Romantik gibt es kaum mehr in solch steinernem Riesenbau. Da kann der Berliner die Kleinstädter mit ihrem gelegentlichen Wanderzirkus noch richtig beneiden. Das erste Mal in meinem Leben sterblich verliebt - lang, lang ist's her - war ich in eine Schlangendame, die in einem solchen Zirkus auf den Händen stand und dabei die Beine um den Kopf schlang, und sie war mir, dem täglichen Besucher und Schokoladenspender, auch garnicht abhold, bis eines Tages der "dumme August" des Unternehmens mich mit den etwas wehleidigen, aber doch bestimmten Worten beiseiteschob: "Erlau'm Se mal, das ist meine Frau!" Da habe ich denn ein Gesicht gemacht, auf das hin ich sofort selber als dummer August hätte engagiert werden können. Bis dahin hatte ich die Schlangendame für eine holde Märchenjungfrau gehalten, die einst einen Prinzen ehelichen würde. Die heutigen Mitglieder etwa eines Zirkus Busch sind erheblich weniger von Romantik umwittert, besitzen in ihrer "Nummer" zum Teil ein ganzes Vermögen, haben für alle Fälle bei ihrem Bankier eine Devisen-Rücklage und sind in Abend-Toilette von anderen gesättigten Existenzen nicht zu unterscheiden. Die Armen, die nichts als ihre "Kunst" haben, haben ausgespielt. Es gibt keine Romatik mehr. Ohne Betriebskapital ist nichts zu machen.
Das erschwert ja heutzutage jede Berufswahl; nicht einmal selbständiger Handwerker kann der Unvermögende werden, während doch früher jeder solide und sparsame Geselle die Aussicht hatte, einmal als Meister in eigener Werkstatt wirken zu können. Die Ausländer sagen immer noch, es sei ja alles so billig in Deutschland. Wir aber merken unsere Armut daran, daß für uns alles so teuer ist. Und das gesamte Ausland samt Weltvernunft und Weltgewissen sieht interessiert zu, wie das deutsche Volk, einer ermattenden Fliege vergleichbar, in dem zähen Leim des Versailler Vertrages sitzt, hier mal ein Bein mühsam herauszieht, gleich darauf mit dem anderen tiefer einsinkt, heute noch lebt und kämpft, morgen vielleicht auch mit den Flügeln lebendig begraben ist. Wir können unsere geistigen Flügel kaum mehr regen. "Den deutschen Kopf könenn sie nicht beschlagnahmen!", lautete immer noch unser letztes stolzes Wort; wir würden uns schon wieder dank unseren Gelehrten und Technikern herausarbeiten. Aber auch die Wissenschaft ist schauerlich verarmt und unterernährt. Die größten gelehrten Institute Berlins leiden. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik hatte 1914 einen Etat von 75 000, dagegen 1922 einen solchen von nur - 950 Goldmark. Das Institut für Krebsforschung hat Mitarbeiter entlassen müssen, kann auch nur noch in beschränktem Maße seine Versuchstier-Zuchten aufrechterhalten, da eine einzige Ratte heute schon 3500 Mark kostet, das Futter für Kaninchen fast unerschwinglich ist. Das zahnärztliche Institut war für eine Durchschnittsziffer von 300 Studierenden eingerichtet, aber bei den schlechten Berufsaussichten, vor allem wegen der unbezahlbaren Instrumente, sinkt die Ziffer ständig: am Anfang des letzten Wintersemesters hat sich, abgesehen von ein paar Ausländern, nur noch - ein einziger Reichsdeutscher eingefunden. Das englische Seminar krankt an der Unmöglichkeit der Beschaffung der nötigen Bücher; will man auch nur für ein Pfund Sterling, also 20 Friedensmark, in England etwas bestellen, so braucht man heute dazu ja 176 500 Papiermark. Ähnliches hört man aus allen Seminaren. und Instituten. Das Reichsamt für Landesaufnahme hat die weitere Herausgabe der Buntkarten 1:100 000 völlig einstellen müssen, kann sich die Fachzeitschriften für die Fortbildung der Beamten nicht mehr halten, weiß nicht einmal, ob der Druck eines Jahresberichtes möglich sein wird, und ist schließlich auch noch der Photogrammetrie beraubt worden. Für Aufgaben der staatlichen Luftbildmessung hatte uns die Entente großmütig 6 alte Rumpler-Flugzeuge genehmigt, die wir ihr - aus den deutschen ausgelieferten Beständen - abkaufen mußten. Nach dem neuen Diktat vom vorigen Jahre wurde auch das verboten. Die Flugzeuge sind zerschlagen.
Zerschlagen. Alles wird zerschlagen.
Und doch wächst eine junge Generation heran, die nichts davon merkt. Während alle Stände verarmen, während die Wissenschaft hungert, während der Staat nicht aus noch ein weiß, hat der jugendliche Arbeiter, hat die junge Arbeiterin immer eine volle Geldtasche. Sie essen nicht schlechter, sie kleiden sich besser als früher; und sie machen weit mehr Vergnügungen mit. Der ältere Arbeiter mit kleinen Kindern hat seine liebe Not. Der halberwachsene aber trumpft auf, weil sein Lohn dem des Alten so angenähert ist, wie man es früher nicht gekannnt hat.Das Dienstmädchen, das ehedem von jedem Witzblatt sich sagen lassen mußte, daß es seinem Soldaten eine Wurst (man denke, eine ganze Wurst!) oder einen Taler (das wären heute mindestens 10 000 Papiermark) am Sonntag zuzustecken pflege, kann sich das nicht mehr leisten. Aber die achtzehnjährige Genossin in der Fabrik führt dafür ihren Freund aus. In den Kneipen und auf den Rennplätzen fliegt das Geld. "Ick weeß nich, bei mir is Mosse, bei mir jeht alles durch de Decke!" sagt, mit der neuesten Berliner Redensart, der zwanzigjährige Handlanger und wirft einen Fünfzigtausend-Markschein auf den Tisch. Die Väter und Mütter können froh sein, wenn sie von solchen Göhren auch nur ein halbwegs ausreichendes Kostgeld kriegen. Die "Alten" sind ja ein überwundener Standpunkt, sie sind nur Sprungbrett für das nächste Geschlecht, sind dazu da, um getreten zu werden. "Hätten wir doch bloß wieder den Kommiß, damit die Lausejungs ordentlich geschliffen werden!", seufzen diese Alten. Eine Anzahl junger Gents aus Berlin sitzt abends, draußen in einem Ausflugsort, im Wartesaal des Bahnhofs um mich herum. Im Jahre 1914 hätten sie wahrscheinlich einen Sweater oder bestenfalls ein weiches weißes Hemd ohne Kragen angehabt, heute prangt der seidene Selbstbinder im glanzgebügelten Stehumlegekragen, ist der Anzug aus bestem Kammgarn, die Tolle vom Friseur frisch geölt, und wenn man gelegentlich nicht die völlig ungepflegten Pfoten mit den schwarzen Fingernägeln beim Humpenschwingen sähe, könnte man glauben, junge Bankbuchhalter vor sich zu haben. Am Nebentisch hat sich eine Gruppe junger Mädchen versammelt, für die ungefähr dasselbe gilt; ihre Lackstiefel, ihre Seidenjumper, ihre 80 000-Mark-Hüte stehen einigermaßen in Widerspruch zu ihrer Jugend und ihrer Beschäftigung mit einfachster gröbster Handarbeit. Wenn man nur ihr oberes Drittel ansieht, könnten es wohlhabende junge Studentinnen von ehemals sein. Eine erzählt von dem Fortbildungskursus, von der Abschiedsfeier zweier Kameradinnen, von dem - Kommers. Aber man habe "Pauker" dazu nicht eingeladen: "Nee, unsre Bierzeitung war zu ruppig!" Allgemeines Gelächter. Dann Gewisper. Die Lackstiefel wippen vor Vergnügen. Alle diese Mädchen wären heute in der Lage, sich eine kleine Aussteuer allmählich anzusammeln, aber noch nicht die zehnte denkt auch nur daran. Sieht nun ein Ausländer diese Jugend, so sagt er selbstverständlich: "Deutschland hat heidenmäßig viel Geld; die Boches könnten schon bezahlen."
Natürlich können alle diese "Mädchen aus dem Volk" alle neuen Modetänze tanzen. Die alten Volksreigen werden umgekehrt von den Wandervögeln aus dem gebildeten Mittelstande exekutiert. Jedesmal, wenn der Frühling da ist, und nun ist er wirklich da und der Tiergarten hat sein hell-seegrünes Brautkleid an, heißt es, diese gräßlichen neuen Tänze seien nun endgültig tot. Der Tango, der Maxixe, der Foxtrott, der Shimmy, sie alle haben sich nacheinander totsagenlassen müssen. Aber merkwürdig, ich habe noch nie so gesunde Leichen gesehen. Ganz gesellschaftsfähig sind sie nicht überall gewesen. Bei Hofe durfte nicht "gewackelt" und nicht "geschoben" werden, die erste Gesellschaft richtete sich im allgemeinen auch darnach. Aber in ihrer, sagen wir, abgeklärten Form sind die neuen Tänze deshalb so angenehm, weil sie nicht gewirbelt, sondern geschritten werden; man kriegt so leicht keinen Herzschlag dabei, man kann heute also selbst Herren, deren Bäuchlein nicht gerade apollinisch ist, gefahrlos auf dem Parkett loslassen. Mit Walzer, Polka, Galopp war man früher nach einigen Stunden erledigt, aber beim letzten Dauertanzen moderner Tänze hat ein Paar in Newyork jetzt - mit 65 Stunden ununterbrochenen Tanzens den neuen Weltrekord aufgestellt. Allerdings waren die Sohlen der, notabene, dicken Bergstiefel durchgetanzt, die Füße geschwollen, die beiden Preisträger mußten auch sofort ins Krankenhaus geschafft werden, aber in allen Tanzklubs von Berlin ("Gelbweiß", "Schwarzweiß" usw.) werden schon die Aussichten erörtert, ob nicht Amerika geschlagen werden könnte. Vorläufig spricht man freilich nur scherzweise davon. Aber es ist nichts so dumm, daß es nicht in Newyork unternommen - und in Berlin nachgemacht werden könnte. Nächstens werden unsere sehr fortgeschrittenen höheren Töchter sich noch einen Kursus im Bauchtanz wünschen. Bauchtanz ist totschick, hat Herr Meyer gesagt. Und Herr Meyer war doch sogar einmal in Egypten.
3.Mai 1923 (Donnerstag).
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Vom Rauchen und Biertrinken - Berlin wird dürftig - Die möblierte Witwe - Straßenbahn-Humoristen - Japanischer Tanzabend - Das Ende der Hermelin-Stola
Ein Mann, der raucht und Bier trinkt, ist nicht fähig, die feineren Probleme auch nur aufzufassen, sagt Nietzsche. Vielleicht hat ihm darnach Fürst Bismarck im Elysium launig auf die Schulter geklopft und ihn um Wiederholung dieses Urteils gebeten; und da ist Nietzsche denn doch das harte Wort in der Kehle stecken geblieben. Das Rauchen und Biertrinken hat sich inzwischen, seit wir Bismarck in Weimar abgeschworen haben und nach Eberts Worten, "von der Weltmacht zu geistiger Größe" hinübergewechselt sind, sehr verringert. Sogar in dem schlemmenden Berlin, das ein Engländer einst die Stadt ohne Nacht nannte. Nur warten wir immer noch vergeblich darauf, daß nun Nietzsches feinere Probleme wirklich aufgefaßt werden; Diogenes war bedürfnislos, aber nicht jeder Bedürfnislose ist ein Diogenes. Besonders, wenn es bei ihm nicht von innen her kommt, sondern Zwang der äußeren Umstände ist, wie neuerdings bei so vielen an sich recht lebenslustigen Reichshauptstädtern. Der Konsum überhaupt an sämtlichen Genußmitteln geht einfach deshalb ständig zurück, weil wir verarmen, und wenn in solcher Zeit, wo manch einer auf ein Gläschen in die Likörstube geht, weil er sich die paar Schoppen Bier nicht mehr leisten kann, im Reichstage eigens ein neues Antialkoholgesetz vorbereitet wird, so klingt das wie Hohn.
In der Familie, wo man für gute Freunde immer noch eine gute Zigarre und einen guten Tropfen vorrätig hat, merkt man es noch nicht so sehr, wie sich Berlin verändert hat, nicht allein im Rauchen und Trinken, sondern in jeder Beziehung. Man muß dazu erst richtig auf Entdeckungsreisen ausgehen. Also tun wir mal so, als ob wir hier fremd seien, und "strömen" wir morgens nach dem Anziehen, ohne erst gefrühstückt zu haben, Unter die Linden!
Da waren sonst um diese Zeit die Balkone der großen Kaffeehäuser an der Ecke Friedrichstraße schon voll von Besuchern, während sie jetzt überhaupt erst um 11 Uhr zugänglich sind. "Die Putzfrauen kommen neuerdings immer erst so spät!" heißt es entschuldigend. Also bestellt man sich unten sein Frühstück und da man nun einmal - als fiktiv Zugereister - Fettlebe markieren will, wünscht man zum Kaffee noch zwei Eier im Glas. "Bedauere sehr, das ist vormittags verboten!" Je nun, so muß es eben eine Buttersemmel auch tun. "Butter dürfen wir zum Frühstück nicht reichen!" Hörnchen gibt es natürlich auch nicht, kurz, auch der wirklich Fremde muß gleich am ersten Morgen den Eindruck haben, daß die üblichen mittel- und westeuropäischen Bedürfnisse bei uns stark gedrosselt werden. Was man da tut, ist klar: man tröstet sich. Man greift eben schon in aller Herrgottsfrühe zur Zigarre, zum Gläschen Likör, zum Schoppen Bier - und fängt an, die feineren Probleme der Neuzeit zu lösen.
Man kommt darauf, die Reize des eigenen Heims, wo keine Regierung einem Vorschriften machen kann, doppelt zu schätzen, und man beschließt, seinen Söhnen als wichtigste Mahnung im Testament diese zu hinterlassen: "Heirate baldmöglichst eine möblierte Witwe!" Selbst dieser Artikel, in dem früher das Angebot bei weitem die Nachfrage übertraf, wird neuerdings rar. Jedenfalls sind in manchen Städten die jüngeren Jahrgänge schon ausverkauft. Gute abgelagerte Ware, so zwischen 50 und 60 Lenzen, findet man in den Berliner Zeitungen noch leidlich angeboten. Mit eingerichteter Zwei-, Drei- und Vierzimmerwohnung. Herz, was willst Du noch mehr? Aber es gibt Glückspilze, denen noch mehr in den Schoß fällt. Da habe ich einen lieben Freund, einen frischen Junggesellen, dem am kommenden Dienstag bei seiner Hochzeit diese Zeilen hoffentlich zu Gesicht kommen. Er heiratet auch eine möblierte Witwe, aber sie ist noch ganz unwahrscheinlich jung, hat noch einen sehr weiten Weg bis zu den 50 und 60, und besitzt aus der Hinterlassenschaft ihres ersten Gatten, der im Hamstern Hervorragendes leistete, noch - mir klopft das Herz vor Erregung - 50 000 gute Zigarren. Und der neue Gatte ist Nichtraucher! Wenn er mich fragen sollte: ich weiß einen guten Hausfreund für ihn. Eine Berliner Zeitung veranstaltete jüngst ein Preisausschreiben, eine Suche nach "unmöglichen" unter ihren kleinen Anzeigen, unter die beispielsweise eine eingeschmuggelt war, in der ein angeblich vermögendes Mädchen - Besitzerin einer dritten Hypothek von 20 000 Mark - einen Ehekameraden suchte. Im Jahre 1913 wäre das garnicht so unmöglich gewesen. Umgekehrt stand damals eine möblierte Witwe sehr niedrig zu Buch, während sie heute als vielfache Millionärin sich empfehlen kann.
Freilich hat ja heute schon jeder Straßenbahnschaffner ein Einkommen von etlichen Millionen jährlich. Vielleicht sind manche dieser Schaffner deshalb so vergnügt. Einer ist zu seinem eigenen und der Fahrgäste Spaß ein bekannter Stegreifdichter, und man weiß wahrhaftig nicht, was er zuerst war, Schaffner oder Dichter. Ein einziges Mal habe ich ihn erwischt, schon hatte ich einen Pentameter am Kopf, aber da mußte ich wieder abspringen, denn es war die falsche Straßenbahn. Dafür fährt auf der Stadtring 1 ein zwar nicht reimbegabter, aber sonst sehr lustiger Gesell. Ein Gymnasiast springt auf. "Immer rein, mein Junge, such' Dir gleich das beste Sofa aus!" Eine junge Dame fragt, ob der Schaffner zum Anhalter Bahnhof fahre. "Für Sie gern, mein Fräulein!" Ein Herr erklärt, er möchte zum Brandenburger Tor. "Das können Sie bei mir umsonst haben, wenn Sie einen Umsteigeschein besitzen!" Tausend kleine Sprühteufelchen zucken in den Augenwinkeln dieses Schaffners, sein kleiner blonder Bürstenschnurrbart wackelt fortgesetzt vor Vergnügen. Er amüsiert sich den ganzen Tag - über die verdutzten Gesichter seiner Fahrgäste. Jeder ist im ersten Augenblick fassungslos. Und es muß schon ein ganz ausgekocht richtiger Berliner sein, dem gleich der passende Antwortscherz einfällt. Dann aber macht der Schaffner ein ernstes Gesicht; denn auf Konkurrenz ist er nicht geeicht. Es entgeht ihm auch sonst nichts Bemerkenswertes in der Umgegend. Ein Zug Demonstranten mit roten Fahnen begegnet uns. Der Schaffner weist mit dem Daumen über die Schulter: "Der Batzefismus marschiert in die Schlacht!" Wandervögel kommen mit ihren Zupfgeigen daher. "Das ist verkappte Militärmusik, nun wird zur Strafe der Spreewald besetzt." Flink wandern die frohen Äuglein umher, die ganze Welt scheint nur zur Lust für diesen Schaffner der Stadtring 1 geschaffen zu sein, - und die Leute im Wagen und auf der Plattform machen erstaunt finstere Gesichter. Das ist doch nicht in der Ordnung, meinen sie, daß sich hier Johann der muntere Seifensiedler so "entréelos" auftut. Wenn man vergnügt sein will, so geht man doch irgend wohin, wo es was kostet.
Mitunter bezahlt man ja gern und hat doch nichts davon, so zumeist in unseren Theatern, wo das Primitive und die Dekorationslosigkeit überhand nehmen. Man macht aus der Not eine Tugend. Man hat nicht mehr das Geld für eine gute Ausstattung und so setzt man denn zu einer Faust-Aufführung ein Katheder in den leeren Raum und erklärt, das sei die modernste Auffassung von dem "mit Urväter Hausrat vollgestopften" Studierzimmer des Doktor Faust. Es scheint, daß das Ausland unsere verschämte Armut immer noch nicht kennt. Denn es beglückt uns, zu zeitgemäßen Preisen, jetzt immer mehr mit seiner Kunst, während wir kaum mehr das Geld für die unserige haben. So ist denn auch das an sich eigenartige Experiment, uns drei - japanische Tanzabende zu bieten, vor einem fast leeren Saale gescheitert. Das junge Ehepaar Ishii aus Japan kennt einen Maler in Berlin, der gut Klavier spielt, hat außerdem etliche tausend Yen in der Tasche, die bei uns Millionen bedeuten, und kommt also in Buddhas Namen hergereist. Die kleine Frau, o Mimosa San, ist ein reizend geschminktes Teepüppchen, ihr Mann ein untersetzter, stämmiger, muskelwulstbepackter, ostasiatischer Fratzengott, und was die beiden da im Blüthnersaal tanzen, das ist - ihnen selber unbewußt - so ein Stück aus der Urgeschichte des Tanzes. Tanz war nur in der höfischen Zeit namentlich des Rokoko etwas erklügeltes, springt sonst immer unvermittelt aus dem Triebleben hervor. Selbsterhaltungstrieb, Fortpflanzungstrieb. Es gibt nichts anderes. Also Krieg und Liebe. Selbst die Spartaner, die wahrlich nicht verweichlicht waren, tanzten, und da waren es natürlich kriegerische Tänze; und diese Japaner, so scheint es mir wenigstens nach den Darbietungen des Ehepaares Ishii, haben den Tanz als Liebeslockung noch nicht nötig - "das sowieso", sagt der Berliner -, sondern leben noch in der Zeit der primitiven Mannestugenden, wo man aufstampfte und klirrte, wo man ausfiel und sich reckte. Eine kleine Pantomime, "Der Blinde im Tempel", geben die Beiden voll zarter Poesie. Alles ist stark profiliert. Alles sozusagen zweidimensional. Man denkt an etruskische Vasenbilder. Das volle runde Leben fehlt, das Hervortollen etwa der Niddy Impekoven aus der Diagonale der Bühne, alles spielt sich auf dem einen Parallelstrich zum Zuschauerraum ab: starke, farbige, eigenartige, sehr poetische, aber flächenartige Bilder ohne Perspektive.
"Aber, was Sie da so erzählen, das ist doch wohl fast alles nur ausgedacht?", fragt mich Exzellenz v.Gallwitz, unser Geerführer aus dem Weltkriege, als ich ihm neulich bei Tisch gegenübersitze. "Bewahre!", antworte ich. "Nun ja, Sie gehen mal zu irgend einer Aufführung, das glaube ich, aber die Geschichte von der Hermelinstola, das war doch nur Spaß?" ich muß ihm zweimal versichern, daß ich nur Erlebtes wiedergebe. ich mache keine Spaß, das Leben selbst ist spaßig; ich sehe nur mehr, als manche andere, erlebe eigentlich garnicht so viel, bin im Grunde ein ganz "zurückgezogenes" Menschenkind.
Ähnlich fragen viele, auch brieflich. Da muß ich denn wirklich einmal auch das Ende von der Geschichte mit der Hermelinstola, dem Hauptgewinn vom Presseball, aus dem häuslichen Geheimnis an die Öffentlichkeit bringen. Mein verzweifelter Ruf, ob mir jemand das Ding umtauschen wolle, hat sehr bald ein Echo gefunden. Kommt da plötzlich ein verstümmeltes und gänzlich unverständliches Telegramm aus Hamburg: "Hermelinstola gonacht mein schatz 347! folgt." Dazu eine Unterschrift, die ich, da man mich zur Diskretion verpflichtet hat, nicht richtig wiedergeben will. Sagen wir einmal: Flink. Meine Frau setzt also die eigens für solche Zwecke ihr geschenkte goldene Stielbrille an und sagt: "Flink aus Hamburg? Was ist denn das wieder für eine?" Ich weiß es auch nicht. Aber der nachfolgende Brief klärt mich auf. Es ist einer, nicht eine. Aber er hat eine, er weiß eine, seine Frau natürlich, der die Stola wundervoll stehen würde. Er wolle gern das gewünschte Tauschobjekt besorgen. Wir möchten die Stola zur Ansicht bei Drecoll in der Budapesterstraße in Berlin hinterlegen. "Das muß man gesehen haben, da muß man reingetreten sein!", sage ich und mache mich selber mit meinem Midinetten-Karton auf den Weg. Also Budapesterstraße. Drecoll, Modelle. Im ersten Stock steht an der Tür: Inhaber Freiherr Christof von Drecoll. Ich weiß auch ohne Gotha in der Tasche die Wiener Herkunft des prächtigen alten Herrn, kriege ihn selbst aber nicht zu sehen, leider auch das nicht, was hinter einem großen Paravent sich abspielt. Von dorther höre ich nur eine Kurfürstendammer Stimme: "Gewiß, gewiß, das ist eine Neuheit, die Sie mir da zeigen, aber wenn ich bei Drecoll etwas kaufe, genügt mir das nicht, da will ich eine direkt verblüffende Robe haben!" Inzwischen bin ich entdeckt und fragend gemustert. Ich stottere den Namen des großen Hamburger Unbekannten, der nicht ganz Flink, aber so ähnlich heißt, und sofort steige ich in der Achtung des ganzen Chors der Damen. "Oh, Herr Flink, ja! Oh, eine vornehme Familie! Oh, draußen am Harvestehuder Weg! Oh, eines der größten Importhäuser nach Südamerika!" Das kann ja gut werden, denke ich. Was sich doch nicht alles aus einem Tombola-Los des Presseballs entwickeln kann! Und wahrhaftig, einige Tage später kommt ein neues Telegramm: das passende Tauschobjekt sei gefunden. Ich telegraphiere zurück: "ganze familie platzt vor erwartung, was ists für ein mantel". Tags darauf erhalte ich folgenden Bescheid in den Händen:
"wann ihr duerft erwarten ihn |
Himmel und Post waren gnädig. Der Pelz ist mollig. Die Stola legt hoffentlich auch Ehre ein. Und wenn ich nächstens nicht wieder den Hauptgewinn ziehe, schreibe ich einen Leitartikel gegen das Unmoralische des Lotteriewesens.
11.Mai 1923 (Freitag).
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