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Knorke - Roter Osterausflug - Die Jung-Bismärcker in Friedrichsruh - Sonnenbad in Werder - "Kreislers Eckfenster" - Tanzfeste
Einfach knorke. Wer das nicht versteht, der muß eben, wie Luther bei seiner Übersetzung der Bibel sagte, dem Volke aufs Maul schauen.
Du bist in Berlin und stehst vor der Auslage eines Sportgeschäfts, in der Fußballstiefel, Hockeygeräte, Boxerhandschuhe, Ruderertrikots zu sehen sind, und neben Dir bemerken ein paar Obertertianer ernst und sachgemäß: "Knorke!"
Oder Du triffst vor der Admiralsbar ein jüngeres Wesen weiblichen Geschlechts, dessen Unschlüssigkeit Du durch die freundliche Einladung, mit hineinzugehen, behebst, worauf es Dir hoheitsvoll antwortet: "Knorke".
Schon bist Du dem Verständnis des neuberliner Deutsch, letzte Ausgabe Frühling 1923, nähergerückt, denn Du begreifst, daß dieses sonderbare Wort einmal die Bezeichnung für gut oder sehr gut ist, das andere Mal dasselbe oder auch "einverstanden" bedeutet; im älteren Vorkriegsjargon pflegte man auch m. w., machen wir, zu sagen. Nach dem Kriege hieß es: dobsche. Das Wort war mit den "Panjepferden" zugleich aus Polen gekommen. Es wurde bald wieder abgelöst, alle neun Monate durch ein neues, denn dem Berliner ist seine Sprache nicht geehrter Urväter Hausrat, sondern ein ständig wechselnder Überwurf. Dobsche. Dufte. Schnieke. Schnafte. Wumpe. Knorke.
Wer knorke sagt, der ist ganz modern. Von keinerlei früheren Sentimentalitäten angekränkelt. Weniger fortgeschrittene Quintaner oder Auslaufmädchen sagen allenfalls noch wumpe, schnafte, schnieke. Es müssen schon sehr konservative Leutchen sein, die dufte oder dobsche sagen. Wer aber noch m. w. sagt, der hat sicher schon 1897 gedient und war seither in der Provinz verschollen. Man lacht über ihn. Er ist nicht knorke.
Vor den Ostertagen hat Jung-Berlin natürlich Pläne gewälzt. Findet einer so weit Zustimmung, daß man erklärt: "Det machwa! Schiemwa los!", so ist das noch nicht durchschlagend. Aber alles ist elektrisiert, wenn es im Hintergrunde trocken ertönt: knorke. Wie wäre es mit einer Wanderfahrt und Übernachten im Walde? Einfach knorke! Es sind 26 Grad Wärme in der Sonne. Um Mittag nämlich. Ganz wilde Wandervögel mit Sowjet-Einschlag schwirren also ab. Strumpflos. Sandalenbehaftet. Die Knie der Buben und Mädel haben noch bleiche Winterfarbe. Außerdem: vor Ostern wäscht man sich. Umso röter ist der vorangetragene Wimpel mit Sowjet-Stern, mit Hammer und Sichel. Bis Ludwigsfelde geht es mit der Bahn. Man fährt an Großbeeren vorüber, das in der Ferne sichtbare Denkmal der Schlacht, der weiße Turm, gibt Veranlassung, die Mitreisenden über die Greuel des früheren Militarismus aufzuklären. Einer der jungen Aufklärer hat bald eine Backpfeife weg, da wird's stiller. Das Volk von 1923, das Volk aus der Zeit des Ruhreinbruchs, hat nämlich vielfach schon umgelernt. Eine zweite Backpfeife könnte es nach dem Aussteigen in Ludwigsfelde beim Förster auf dem Weinberg geben. Man marschiert also stolz vorbei und singt statt dessen Proletarierlieder am Knesebeckschen Gute. Man fällt in Trebbin ein und bringt das stille Landstädtchen in Aufruhr. Draußen im Chausseegraben am Schützenhaus wird Abendrast gehalten. Nichts mehr von 26 Grad Wärme. Es geht auf 0 zu, der kalte Glotzmond guckt über die Dächer und grient recht höhnisch. Man trabt sich wieder warm, wieder nimmt der Wald das Schienbeingeklapper auf, schließlich kuschelt man sich aneinander ins Gestrüpp, die Kleinen schlafen ein wenig, obwohl es schon 2 Grad unter Null sind, die dicke Anna Schulze wärmt ihre Finger in dem dichten Kraushaar von Leiser Poree, und Emil Müller läßt sich die blaugefrorene Nase von Lydia Rabbinowitsch behauchen. Nein, es geht nicht. Man muß wieder aufbrechen. Der Versuch, mitten in der Nacht in eine Bauernscheune einzubrechen, scheitert an agrarischer Dickköpfigkeit. Am Ostermorgen steigt ein Häufchen Unglück wieder in die Bahn. Der Sowjet-Wimpel weht nicht mehr. Lydia braucht ihn als inneres Busentuch, denn sie hustet stark.
Natürlich hat auch die Jugend von rechts keinen Extra-Celsius gehabt, soweit sie über Ostern ausgeflogen war. Der Jung-Bismarck-Bund in Berlin und in der Mark, die von den Deutschnationalen organisierten Heranwachsenden, hatte von dem Fürsten Otto Bismarck, dem Enkel des Kanzlers, eine persönliche Einladung nach Friedrichsruh erhalten. Da ist manch einer aus Bureaus und Werkstätten und Fabriken darunter, also nicht etwa lauter Gymnasiasten, die nur einen kleinen Bruchteil ausmachen. Und der Maxe und der Fritze, zwei fünfzehnjährige Lehrbuben aus unserer Straße. Sie alle sind mehr für Wickelgamaschen als für nackte Waden, solange wir noch herben Vorfrühling haben, überhaupt mehr für militärische als für Wandervogeltracht, aber weidlich gefroren haben sie im Sachsenwalde, wo sie in aller Herrgottsfrühe ankamen, doch, und in der Nacht darauf in den Scheunen der Umgegend auch. Am Ostermontag früh wurde dann auch wohl nur ein Zipfelchen des Handtuchs naßgemacht und damit das Gesicht abgewischt; und von der Zahnbürste machte niemand einen ausschweifenden Gebrauch. Aber von einer anderen deutschnationalen Organisation, der "Matrosenschule Jung-Deutschland", wurde man da arg beschämt, denn diese Jungen zeigten, daß sie feste Hunde seien, zogen sich das Hemd über den Kopf ab und wuschen sich den ganzen Oberkörper mit dem eiskalten Wasser. Schnafte. Knorke. Nicht alle die 1500 Jungmannen konnten hören, was Fürst Otto Bismarck vor dem Mausoleum zu ihnen sprach, obwohl seine Stimme weithin hallte, aber gesehen haben sie ihn, und sie erzählen: ganz so einen Vierkantschädel, wie der Altkanzler nach den Bildern, hat der Enkel nicht, aber doch einen mächtigen Kopf mit dunklem vollen Haar, der einen fast südländischen Eindruck macht (daselbe fast südländische hat mir einst der alte Graf Keyserling von dem jungen Otto v. Bismarck etwa von 1840 bestätigt), und vor allem die Augen, die Augen sind "einfach doll groß", ganz, wie man sie sich vom Großvater vorstellt. Die schwarzweißroten Fahnen rauschten im frischen Ost, jede einzelne Gruppe wurde nacheinander in das Mausoleum geführt, in dem "ein treuer Diener seines kaiserlichen Herrn" begraben liegt, es war alles in allem eine erhebende vaterländische Feier und eine gute Herzstärkung für die jungen Menschen. Nachher ging es noch nach Hamburg, wo den Bismarck-Jungens eine Hafenrundfahrt neue Wunder erschloß, denn die meisten dieser Berliner und Märker hatten ja noch nie so etwas gesehen. In der Nacht zum Dienstag kam man daheim erst wieder an, müde und verfroren, aber stolz und begeistert. "Und saure Lunge gab's in Hamburg für nur 800 Mark! Knorke!" Den Proviant hatten die jungen Menschen im übrigen von Hause mitbekommen. An Bargeld hatte die ganze Osterreise nur 6900 Mark einschließlich der Dampferfahrt erfordert. Heißen Kaffee und hie und da wohl auch noch ein Stück Weißbrot hatte mancher Bauer seinen Scheunengästen gespendet. Also alles war wunderschön. In der Werkstatt freilich spottet nun mancher von der roten Couleur, vom Fichte-Turnbund oder der kommunistischen Jugend: "Wat habta davon jehabt? Nischt! Ne blaue Neese!" Tut nichts. Natürlich, der eiserne Kanzler ist nicht auferstanden. Der junge Otto ist auch weiter nichts als Referendar und Kürassierleutnant a.D.; und daneben mit seiner Mutter getreuer Hüter des Erbes. Und doch, und doch . . .
Wer keine Nacht außerhalb bleiben konnte oder mochte, der hat wenigstens an einem der Ostertage das sonnige Wetter draußen genossen. Man muß doch wenigstens feststellen, wie lange es wohl noch bis zur Baumblüte in Werder hin ist. In diesem Obstparadies wird überall fleißig gearbeitet, der Knospenansatz ist sehr reich, aber noch kein grüner Schimmer breitet sich über die winterbraunen Gärten. Auf einem Klappstuhl liegt in der prallen Sonne ein Flieger. Wenigsten hat er die bekannte wattierte Hemdhose in Feldgrau an. Man besieht ihn sich näher, aber da ist es ein Fräulein Doktor aus Berlin, das hier von der Berufsarbeit aufatmet. Das Gesicht ist schon richtig rotgebrannt wie nach einer Gletschertour im Hochsommer. Die Temperatur ist ja auch sehr ähnlich.
In der Stadt selbst haben die Theater vielfach schon die sommerliche Leere aufzuweisen, obwohl sie mehr denn je durch einen Saltomortale in das Geschlechtliche die Fremden anzulocken versuchen. Da ist es eine wahre Freude, wenn uns ein neues Theaterereignis fesselt, ohne zu dieser Kategorie zu gehören. In der Königgrätzerstraße ist unter Meinhard und Bernauer der zweite Teil der Kreisler-Tricks zur Aufführung gekommen, nach den "Wunderlichen Geschichten des Kapellmeisters Kreisler" jetzt "Kreislers Eckfenster", an dem besagter Kreisler alias E. Th. A. Hoffmann sitzt, auf den Berliner Gendarmenmarkt - dicht dabei ist ja auch der historische Weinkeller von Lutter und Wegener - herniederschaut und in der Phantasie oder in Erzählungen an seine Pflegerin noch einmal durchlebt, was er erlebt oder geschrieben. Berückend Schönes und schaurig Gespenstisches huscht durcheinander. Aus E. Th. A. Hoffmanns Leben selbst, aus seinem Märchen "Klein-Zaches, genannt Zinnober" und aus anderen Geschichten. Und nichts wird nur erzählt, wie sonst auf der Bühne, sondern alles sofort wirklich gespielt. Noch sieht man Kreisler - von Friedrich Kayßler, dem letzten Selbstporträt Hoffmanns täuschend ähnlich und erschütternd wahr gegeben - mit Schwester Else sprechen, die durch Lucie Höflich verkörpert und beseelt wird, deren blond-schlichte Güte und klingende Stimme immer noch nicht ihres Gleichen hat, - da verdunkelt sich allmählich dieser Erker in dem Bühnenausschnitt oben rechts, und ganz anderswo leuchtet die Szene auf und das Erzählte spielt sich ab. Kommt hierin wieder eine Erzählung vor, so sieht man auch das wieder lebendig vor sich. So mag die Erinnerung Kreisler-Hoffmanns hinhuschen, wo sie will, mag sich, denn er ist ja ein sterbender Mann, verwischen, mag den Obristen Wartenberg und den Professor Terpinus Masch verwechseln, mag in Delirien Grauenvolles erleben - oder in Atempausen Himmlisches träumen: stets, wie aus der Erde gezaubert, steht alles lebendig vor uns da, er selber, nur etliche Jahre jünger, mitten darin, und schnurrt fieberhaft gespenstisch ab oder verweilt in ruhig ausladender Poesie, kurz, während wir bis vor einiger Zeit nur von verfilmtem Theater wußten, haben Meinhard und Bernauer es verstanden, den Film zu vertheatern. Das habe ich schon bei dem ersten Teil der Kreisleriana, der inzwischen in Gastspielen auch dem jäh aufhorchenden Auslande gezeigt worden ist, als eine ganz eigenartig neue Idee festgestellt, die bisher schier Unmögliches auf der Bühne möglich macht. Es ist eine ganz neue Technik. Man starrt hin wie etwa bei dem ersten Überlandfluge auf Latham in seinem Antoinette-Eindecker damals in Berlin. Diese neue Technik gestattet jeden Spuk. Sie wird uns vielleicht einen neuen E. Th. A. Hoffmann - wegen der Konjunktur - bescheren. Nur ist es fraglich, ob er soviel Spiritus in sich haben wird, wie der historische alte, den aus der Oper "Hoffmanns Erzählungen" von Offenbach zuerst die große Masse kennen gelernt hat; die Geschichten selbst, von Kater Murr, von den Elixieren des Teufels, die vielen, vielen sonstigen Geschichten haben ja nur wenige wirklich gelesen. Dieser Hoffmann, der geniale Kerl, der mit 19 Jahren schon Referendar war, dann im damals preußischen Warschau verbummelte, in Bamberg als Kapellmeister und Opernkomponist auftauchte, schließlich in Berlin wieder Kammergerichtsrat wurde, vorbildlich in seinem Beruf, dieser Hoffmann, der, sobald die Akten zugeklappt waren, trank, um schreiben zu können, schrieb, um wieder trinken zu können, kommt so bald nicht wieder; und fände auch wohl so bald nicht eine Frau wie die seinige - in "Kreislers Eckfenster" ist eine Krankenschwester daraus gemacht worden -, die jederzeit mitten in der Nacht, wenn die "weißen Mäuse" kamen, aus dem Bette aufsprang, den Mann herzte und beruhigte und dann geduldig als Engel mit dem Strickstrumpf bei ihm Wache hielt, bis er in fliegender Hast seine neuesten Gesichte zu Papier gebracht hatte. Die Besetzung der Rollen in der Königgrätzerstraße ist übrigens sehr gut. Sie sind nicht leicht, da fast jeder Darsteller mehrere Rollen zu spielen hat, selber ein Spielball der Phantasie des Rückenmärkers am Eckfenster. Eine geradezu virtuose, stellenweise akrobatische Leistung bietet Hans Hermann als Staatsrat Purpur, als Der Kleine, als Der bucklige Fremde, als Zaches, als Zinnober. Eine nervenaufpeitschende Leistung. Das lebendig gewordene Grauen. Der Alb. Der Satan aus bösen Träumen. Hinreißend echt. Wenn nicht dazwischen wieder holdeste Poesie triumphierte, namentlich in den Jungmädchen-Szenen mit Erika Meingast oder in den Studenten-Auftritten mit Lothar Müthel und Heinz Stieda, wenn nicht gelegentlich toller Humor in der Professorengestalt Hermann Vallentins mit uns davonwirbelte, so wären die 41 zum großen Teil gespenstigen Bilder etwas zuviel für unsere Fassungskraft. Es gibt zur Zeit nichts Eigenartigeres auf den Bühnen von ganz Europa.
Man kann sich natürlich auch ohne Theater behelfen. Die Berliner holen jetzt im Tanzen nach, was ihnen im Januar und Februar verboten war. An jedem Sonnabend gibt es irgend einen großen Wohltätigkeitsball, in der Woche kleinere Feste. Diejenigen, die "zu so was" sowieso nicht hingehen, rümpfen die Nase. Die anderen sind dankbar und opfern noch extra für die Ruhrspende oder sonst einen guten Zweck. Dankbar und - verschwiegen. Auch in den Zeitungen wird vom Tanzen möglichst wenig gesprochen. Aber die Lehrmeister haben zu tun. Es wächst doch alle Jahre was heran, das geformt werden möchte, und das rhythmische Pulsen des Blutes läßt sich nicht auf die Dauer verbieten. Aber auch dort, wo es sich nur noch durch verkalkte Adern mühsam Bahn bricht, zollt man ihm Tribut. Noch nie tanzten soviele ältere Herrschaften wie heute. Jugendlich gekleidete Großmütter lassen sich von ihren Töchtern als Schwester vorstellen. Wieder auf Blond gefärbte Herren mit Gentila-Gürtel unter der Frackweste atmen schwer, tanzen aber.
Ja, ja. Alter schützt vor Shimmy nicht.
Knorke.
5. April 1923 (Donnerstag).
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Es wird regnen! - Mode-Blödsinn - Das schöne Geschlecht - Kokoschka-Gesamtausstellung - Patriotismus-Epidemie in Kabaretts - "Das ist schon lange her" - Kapitän v. Müllers Witwe - Tanz und Likör
Nötig wäre es ja schon. Schon bei Eisenbahnfahrten sieht man, wie der Bauer in Staubwolken ackert. Besonders schlimm ist es in des heiligen Reiches Sandbüchse, der Mark Brandenburg. Die Leute machen sorgenvolle Gesichter. Die Gärten und Felder werden zu Wanderdünen. Die Pflänzchen verkümmern.
Ich meine aber mit der Behauptung vom Regnen etwas anderes, nämlich die ständig in den zeitungen sozusagen mit drohend erhobenem Finger stehende - Anzeige:
"Es wird regnen!"
Gewiß wird es regnen, aber ja doch. Für alle Fälle haben wir doch . . . nein, freilich, das stimmt nicht. Wir haben eigentlich nichts. Der Gummi im Regenmantel bröckelt. Der Regenschirm ist auch nicht mehr ganz auf der Höhe. Richtig: das "Es wird regnen" ist ja auch nur die Einleitung zu der Reklame eines Schirmgeschäfts. Eine wirklich suggestive, ganz ausgezeichnete Reklame. Unwillkürlich lenkt man seine Schritte zum Laden. Da stehen die modernsten Regendächer im Schaufenster. Aber - mein Gott - was ist denn das? Das sind ja Ungetüme, diese - Damenschirme! Da ist einer, der wohl aus einem prähistorischen Museum stammt; es ist sicher die abgelegte Keule des Herkules, mit der sich die Königin Omphale brüstete, als sie den starken Mann gekauft hatte. Da ist ein anderer, der einen noch massigeren Eindruck macht; irren wir nicht, so ist das eine der Säulen des Philistertempels, die Simson umgestürzt hatte, so daß die Tempeltrümmer ihn und die Philister erschlugen. Und nun schleppen sich unsere Damen damit, auf gebrechlichen Beinchen in Florstrümpfen! So irrsinnig ist die Mode noch kaum je gewesen. Ist sie irrsinnig, so braucht sie Irrsinnige, und die gibt es natürlich unter der Berliner Damenwelt reichlicher als anderswo. Sonst will das "schöne Geschlecht" doch seine Schönheit unterstreichen, seine Zartheit noch duftiger, seine Schlankheit noch ätherischer, seine Rundungen noch gepolsterter, seine Haarpracht noch wallender, seinen Teint noch rosiger, seine Füße noch kleiner machen, und alles drum und Dran muß damit harmonieren. Diese Schirme sind einfach Barbarei.
Ja, das schöne Geschlecht. "Was ist Wahrheit?", fragt Pilatus und zuckt die Achseln; sicherlich hat er die Relativitätstheorie als einer der ersten begriffen. "Was ist Schönheit?", fragen die Geistreichelnden von heute und finden auch nur relative Antworten: schön sei, was einem halt gefalle, und so sei schließlich die Lieblingsfrau des Senegalesenhäuptlings in ihrer Art auch schön. O Ihr Gedankenarmen! Man sollte Euch verbieten, jemals auf Festessen einen Damentoast auszubringen, wenn Ihr nicht mehr wißt. Es gibt doch einen Wertmesser, einen ganz untrüglichen. Die - anderen Rassen wissen das sogar besser als wir. In amerikanischen Zeitungen sind die Anzeigen, die den Negern ein Mittel zum Weißwerden empfehlen, so häufig wie bei uns die Anpreisungen von Bartwuchsmitteln. Eine ganze Schwindelindustrie baut sich darauf auf. Einmal bin ich im Renntierschlitten zu einem alten Lappenhäuptling gefahren, und der deutete mir ganz unverblümt an, daß man seine Frauen gern auf Zeit den germanischen Nordländern überlasse, um mal ein schönes Kind in die Familie zu bekommen. Der alte Lappe wußte also auch ästhetisch Bescheid. Und in der Berliner Tante Voß kann man bisweilen Inserate lesen, in denen ein Schadchen zur Eheanbahnung gesucht wird, wobei der Ehekandidat oder die Ehekandidatin aus israelitischen Kreisen hervorhebt, man sei "nicht Typ". Selbst diese verschämte Andeutung ist bezeichnend. Und da wissen wir Deutsche noch immer nicht, was die unbestreitbare Schönheit ist? Wissen am Ende nicht einmal, ob man weiter innerhalb einer Rasse das eine von beiden Geschlechtern "das schöne" nennen darf? Reden uns gar vor, der Apoll von Belvedere sei schöner als jede Venus?
Der schönste Mensch ist der, der am wenigsten dem Tiere ähnelt.
Daher die Scheu jedes ästhetisch gesund empfindenden deutschen Mädchens vor den gelben Vierhändern aus dem fernen Osten, so bewundernswert auch sonst ihre Klugheit, ihre Tapferkeit, ihr Bushido, ihr Kunsthandwerk, ihr Blütenzauber sein mag. Und wenn wir Männer von der "rassigen" Schönheit eines Weibes sprechen, so sprechen wir eine uns eingepaukte Lüge fremder Skribenten nach, die alles - fremdrassige rassig nennen. Womöglich gar die Südfranzösin mit der behaarten Oberlippe. Das schönste, dem Tiere unähnlichste Geschöpf auf Erden ist überall die Frau, während der haarige, sehnige, muskelbepackte Mann weit darunter steht. Die schönste unter den Frauen die weiße Frau mit ihrem edlen vergeistigten Antlitz ohne das tierische Gebiß oder die Kuhfladen-Plattheit der Farbigen. Und die schönste unter den weißen Frauen die germanische, wie sie langsam heranblüht und dann mitunter bis in hohes Alter allen Liebreiz behält, wo die fremdrassige längst zur Hexe geworden ist. Ihren Liebreiz selbst unter hundert Fältchen; denn das Auge in diesem Gesicht kann ewig Güte wiederspiegeln.
Wie ich auf diese Abschweifung von den Berliner neuesten Damenschirmen komme? Je nun, ich habe mich, wie in fast jedem Frühling, ein paar Tage in der Sächsischen Schweiz ausgelüftet, die zwar viele lächerliche Wasserfällchen (die Klappe wird gegen Trinkgeld aufgezogen), aber auch den in Europa einzigartigen wildromantischen Pfaffenstein hat, bin dann - in fast wunschloser Entrückheit - ein paar Stunden in der Dresdener Gemäldegalerie vor den herrlichsten Frauenbildnissen alter italienischer und holländischer Meister gewesen und nach der Rückkehr in Berlin - in die Kokoschka-Ausstellung geraten. Bei dem Kunst-Kommunisten Cassirer natürlich, in der Viktoriastraße. Sämtliche Säle: nur Kokoschka. Aus allen Jahren seines Schaffens. Man hat also einen wirklichen Überblick über das Gesamtwerk dieses hochgelobten, von der Stilistik aller Kunstkritiker emporgezüchteten Expressionisten, vor dem sie schon bäuchlings lagen, als er im Alter von knapp 19 Jahren, um in der Sprache dieser Verstiegenen zu reden, "seine seelischen Eingeweide farbig herausstülpte." Kokoschka kommt von Osten her; Grund genug für alle mit Galizien Versippten, ihn über den Schellendaus zu schätzen. Aber wenn man so die ganze Arbeit seines Lebens durchgeht, bleibt dem Beschauer nur das niederdrückende Bewußtsein wie bei allen Malern seiner Art, daß er von Anbeginn an bis heute niemals auch nur das Handwerkliche seiner Kunst beherrscht hat. Er war eben mit 19 Jahren ein fertiger - Dilettant. Er patzte auf die Leinwand hin, was die Leinwand halten wollte; von zeichnerischer Disziplin keine Spur (es ist Majestätsbeleidigung, in diesem Augenblick an Dürer oder Menzel oder irgend einen anderen Großen auch nur zu denken) und aus dem vollkommenen Unvermögen heraus ein ständiges Tasten und Experimentieren von Manier zu Manier. Mal sollen es die flockigen Farbentupfen schaffen, mal die breit gepinselte Fläche, mal der blutige Hohn violetter Gesichter mit grünen Schatten. Darüber werden nun ganze Feuilletonspalten zusammengehimmelt. Es fehlt die kleine Rita aus Fuldas Talisman, die einmal ausrief: "Der König ist ja in Unterhosen!" Und dann müßte der ganze verlogene Spuk der geheimen Hofräte dieser Malerei, der kunstbolschewistischen Kritiker, verschwinden.
Diese Feststellung eines einfachen Menschen von gesundem Verstande hat mit unbedingtem Lobpreisen des Alten und Gewesenen nichts zu tun. Auch das wird jetzt Mode und Manier. Wir wissen, was wir auf jedem Gebiet verloren haben, aber wir wollen uns das nicht in jedem Variété vorplärren lassen. Wenn sich der sozialdemokratische Vorwärts, mit dem wir sonst nichts gemein haben, gegen den sentimental-patriotischen Überschwang fast aller heutigen Cabaret-Humoristen wendet, so hat er nicht Unrecht. Dem alten Otto Reutter glaubte man es. Aber wenn die fettesten, reklamiertesten, unabkömmlichsten, plattfüßigsten, importiertesten Bänkelsänger in nachgerade jedem Berliner Unterhaltungsrestaurant die deutsche Einigkeit und die eiserne Tat (welche?) preisen, den Alten Fritzen und den Fürsten Bismarck zu Couplets verwursten, in Lichteffekten militärische Szenerien baden, so ist das einfach ekelhaft. Nicht nur das Reich Gottes, sondern auch das alte deutsche Reich kommt nicht "mit äußerlichen Gebärden" zu uns, bei glucksenden Weinpfropfen und in sonst erotischer Cabaretsschwüle. Die Stimmung macht's nicht. Das widerwärtigste aber im Parterre des Publikums ist der Patriotismus-Prolet, der in jedem passenden oder unpassenden Augenblick das Deutschland-Lied oder die Wacht am Rhein verlangt und "Aufstehen! Aufstehen!" brüllt. Die weibliche Begleitung dieser Exaltierten singt natürlich mit, alles mit. Erst "Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen" und dann:
"Das ist schon lange her, schon lange her, |
um schließlich für den Rest des Abends, der ganz anderswo und weniger laut-patriotisch verbracht wird, sich auf die Fünfzig-Tausender ihres Galans zu abonnieren. Unzählige viel wertvollere Deutsche, so der jüngstverstorbene Kapitän Müller, der berühmte Kommandant der "Emden", haben sich die letzten Jahre über still, ganz still verhalten. Und sind still gestorben, nur mit dem großen Leuchten in den Zügen, das die Ahnung eines deutschen Morgenrots bedeutet. Müller hat erst nach dem Kriege, nach seinem Ausscheiden aus der Marine geheiratet; seine Witwe, für die der frühzeitige Tod des kernfrischen, rüstigen Mannes wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, hat also keinerlei gesetzmäßigen Anspruch auf irgendwelche Hinterbliebenenrente. Freunde bemühen sich darum, ihr aus einem für Sonderfälle bestehenden Fonds eine regelmäßige Unterstützung zu beschaffen. Vielleicht bekommt sie nun von dorther - 18 000 Mark vierteljährlich. Mit welcher Begeisterung, mit wie angehaltenem Atem hat einst das ganze Volk von Müllers Wikingerfahrten gelesen, wie schworen wir uns, solche Leute auf den Händen tragen zu wollen! Aus. Vergessen. Nichts.
Man hat ja auch so wenig Zeit. Die anfangs unterdrückte Ballsaison hat verspätet mit voller Wucht eingesetzt. Noch kann man, jetzt in ganz warmem Frühling, an jedem Sonnabend "wohltätig" tanzen. Für die Bühnengenossenschaft, für die Ruhrkinder, für die Filmpensionskasse und sonstige humanitäre Zwecke. Es ist doch gut, daß dies alles sich sonst auf die Wintermonate zusammenschiebt. Jetzt macht man sich noch vor Laternenschein auf den Weg, und da sehen gepuderte Gesichter in Balltoiletten gespensterhaft aus. In den Arbeitervierteln hat man ein gesunderes Gefühl für Jahreszeiten. Selbstverständlich wird auch da getanzt. Feste sogar. Aber um diese Zeit doch nicht mehr auf "offiziellen" Bällen in der Stadt, etwa dem des Vereins der Laternenanzünder, sondern mehr im Anschluß an Ausflüge, sozusagen unvorbereitet draußen in den Vororten.
Man erkältet sich dabei weniger als früher, denn man schwitzt weniger, weil man - weniger Bier trinkt. Der Bierverbrauch im Volke hat noch lange nicht die Vorkriegsmenge erreicht. Dafür nimmt - wenigstens in Groß-Berlin - der Schnaps- und Likörkonsum gerade auch in den einfachsten Kreisen ständig zu, weil man auf diese Art "schneller den Anschluß erreicht". Und da der Berliner sich aus jedem Ding, auch aus Mampes Likörstuben, seinen Vers macht, kann man jetzt, in Anlehnung an das bekannte Optiker-Inserat "Sind's die Augen, geh' zu Ruhnke", singen hören:
"Sind's die Augen, geh' zu Mampe, |
12.April 1923 (Donnerstag).
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Die Tante - Tariflohn-Schwestern, Heimchen, Ersatz-Tanten - Verheiratete Unverheiratete und unverheiratete Verheiratete - Im Schlafwagen - Die abergläubische Großstadt - "Kewpies" - Die Frauen und der Humor
Die Tante stirbt aus. Vielleicht gedeiht sie noch in den vielen lieben Kleinstädtchen des Reiches, aber in Berlin und anderen Mammut-Kommunen ist ihre Zeit dahin.
Die Tante war früher immer da, wo man sie brauchte; wenn ein Kindlein ankam, wenn die Buben Keuchhusten hatten, wenn die Eltern sich eine Reise gönnten, wenn die Mutter auf der Totenbahre lag, wenn die Tochter die Aussteuer nähte. Sie aß mit, aber für ihre Kleidung und ihre sonstigen Bedürfnisse sorgte sie selbst, dafür genügte das kleine Erbteil, das sie vom Großvater hatte. Sie brachte sogar immer etwas mit. Nichten und Neffen stürzten sich sofort nach ihrer Ankunft auf ihr "Pompadurrche", denn da waren sicher ein paar Tafeln Schokolade binnen. Diese Tante stirbt heute aus; sie hat anderes zu tun. Tante Anni ist Lehrerin, Tante Mia Gärtnerin, Tante Sophie Ärztin, Tante Eva Porzellanmalerin, Tante Barbara Hortnerin, Tante Irmgard Wohnungspflegerin, Tante Else Chemikerin. Solch eine Liste verlorener Tanten kann nachgerade jede Familie des alten großstädtischen Mittelstandes aufstellen. Die Tante hat verschiedene Berufe, nur nicht mehr den Beruf, Tante zu sein. Sie ist wohl gar stolz auf ihre Selbständigkeit im Erwerbsleben. Wir aber haben keine Tante mehr. Die letzte starb während des Krieges aus.
Wenn jetzt die Hausfrau krank ist, wenn sie der Pflege und die Familie ihrer Arbeit bedarf, dann schreibt oder depeschiert man nicht mehr an die Tante, sondern man telephoniert an ein Schwesternheim. Dann kommt eine wildfremde Person in Stöckelschuhen und um so durchbrocheneren Strümpfen, je schlechter ihr Deutsch und ihre Kinderstube ist, packt aus der mitgebrachten Tasche ihre Pflegerinnentracht aus, vergewissert sich darüber, daß Butter und nicht Margarine auf dem Tisch steht, und sagt: "Unser Tariflohn macht 4000 Mark täglich, von der nächsten Woche ab wahrscheinlich 6000 Mark."
Man hat in Berlin Versuche gemacht, die Tante zu rekonstruieren und zu sozialisieren. Gelegentlich hörte man davon, daß irgend ein Verein Damen aus wirklich guter Familie zu diesem Zweck bereithalte, daß hochgebildete sogenannte Heimchen in Notfällen zur Verfügung stünden. Aber selbst dieser Tanten-Ersatz ist kaum je zu haben; vielleicht liegt das, ich weiß es nicht, an dem Mangel an Reklame für diese doch wohl segensreich bestehende Einrichtung. Oder es meldeten sich zu wenige, die Ersatz-Tante sein möchten. Alles drängt heute zur "festen Anstellung" womöglich mit Pensionsberechtigung. Zahllose junge Mädchen gehen, namentlich bei dem anstrengenden Überstunden-Dienst als Sekretärinnen in Banken, in wenigen Jahren gesundheitlich zu Grunde, aber bis dahin können sie eben "fein leben": aus dem Bureau in die Konditorei, aus der Konditorei zur Tanzdiele, von der Tanzdiele ins Theater. Und immer gut gekleidet. Das kann man sich weder als Hausfrau noch als Tante leisten. Von dem Gehalt gibt man für Nahrung verhältnismäßig wenig aus, obwohl es das wichtigste wäre, hier nicht zu sparen; man gibt ein verhältnismäßig bescheidenes Sümmchen dafür den Eltern ab, wenn man bei ihnen wohnt, oder dem Heim oder der Horde, oder man ißt billig, und meist fleischlos - up ewig Löffelerbsen ungedeelt - in einer Kochschule oder einem Privatmittagstisch oder bei Aschinger. Von dem Rest kann man sich dann freilich ausleben. Wo könnte man das in der Ehe haben? Wieviele Männer können denn ihrer Frau hunderttausend Mark monatlich als Kleider- und Taschengeld geben? Immer mehr Männer werden so vom Heiraten abgeschreckt.
Es gibt natürlich weibliche Berufstätige, die sich schlicht kleiden, nicht alltäglich in Cafés laufen, sondern ihr Geld immer wieder in einem Stück Leinwand, ein paar Metern Stoff, etlichen Bestecken, einigem Tafelgeschirr anlegen und sich so eines Tages als gut ausgesteuert entpuppen, "gut" natürlich entsprechend heutigen Maßstäben. Aber noch ist die Konkurrenz sehr hart, besonders durch die Kriegswitwen mit Wohnungseinrichtung und Reichsrente, die am ehesten zu einem Mann kommen, wenn auch - ohne Standesamt und ohne Kirche. In Berlin nimmt die Zahl dieser wilden Ehen erschreckend überhand. Bei Wiederverheiratung zahlt das Reich den Frauen der im Kriege Gefallenen die Hinterbliebenenpension nicht weiter aus; um sich die Pension zu erhalten, verzichten diese also auf eine gesetzliche Heirat, sind zwar auch ohne staatliche und kirchliche Anerkennung treue Ehefrauen, wie ja auch ihre Männer die Gewissensehe wie eine reguläre halten, aber - diese Frauen verzichten darauf, das ist das Jammervolle dabei, jemals Mütter zu werden, denn "uneheliche" Kinder will man natürlich nicht haben. Das sind Dinge, die einem nicht etwa nur in der Arbeiterwelt auf Schritt und Tritt begegnen. Da stellt mir ein Kleinsiedlungsbesitzer im Vorort seine Frau vor. Ich stocke: sie trägt einen anderen Namen als er. Sie ist die verwitwete Frau Oberlehrer Soundso. Ihr Mann fiel für Kaiser und Reich als Hauptmann der Landwehr. Ihre Rente vom Reich und Staat beträgt eine erkleckliche Anzahl von Zehntausendern monatlich. Die Frau stammmt aus guter Familie, hat aber alle Beziehungen zu ihr abbrechen müssen und sagt nun, obwohl sie sich als rechtmäßige Gattin betrachtet, das erschütternde Wort: "Wenn ich ein Kind kriege, gehe ich ins Wasser!"
Es ist doch eine elende Zeit. Und neben diesen unverheirateten Verheirateten nimmt in unseren Großstädten auch die Zahl der verheirateten Unverheirateten ständig zu. Die Frau lebt weiter als Mädchen bei ihren Eltern, der Mann weiter als Junggeselle auf seiner "Bude", obwohl man gesetzlich ein Paar ist. Man hat sich nur deshalb standesamtlich verbinden lassen, um - als Anwärter auf die Wohnungsliste zu kommen. Das ist Vorbedingung. Über Jahr und Tag kriegt man vielleicht eine Bleibe. Dann läßt man sich kirchlich trauen, dann wird Hochzeit gefeiert, dann erst schließt man wirklich die Ehe.
Es liegt viel Tragödienstoff, es liegt auch viel Komödienstoff in diesen Verhältnissen. Täppisch und unbeholfen steht nur der Staat den Dingen gegenüber. Er weiß sich keinen Ausweg. Gelegentlich allerdings bekommt er den Sittlichkeitsfimmel, und das in einer Zeit, in der in Berlin fast in jeder Straße "Stundenhotels" zum Stelldichein laden, kenntlich daran, daß sie die ganze Nacht über ihr Eingangsschild elektrisch hell erleuchten und womöglich den Portier draußen vor der Tür stehen haben. Eine jungverheiratete Nichte von mir, deren Mann Rekonvaleszent nach schwerer Krankheit ist, reist mit ihm am vergangenen Sonntag in den Süden. Das Paar hat sich am Abend, kurz vor Abgang des Zuges, gerade in seinem Schlafwagenabteil installiert. Da erscheint - die Sittenpolizei und untersucht die Abteile "bezüglich Verheiratung"! Bitte um den Trauschein oder sonstige Legitimation, die einwandfrei eine gültige Ehe beurkundet. Wer das nicht kann, der muß sofort den Zug verlassen. Vor dem Nebenabteil grinst ein französischer Offizier in Zivil. Der ist samt Begleitung natürlich unantastbar. "Oh, Pardon, Monsieur!"
Gegen derartige polizeiliche Belästigungen und sonstiges Ungemach schützt man sich, wenn man nicht zu den Alliierten und Assoziierten gehört, sondern ein simpler Berliner Deutscher ist, am besten - durch ein Amulett oder dergleichen. Der Aberglaube, der früher eigentlich nur in England gentlemanly und ladylike war, wo man sich ja schon am liebsten für den ganzen Tag einschließt, wenn einmal ein Salznäpfchen umfällt, grassiert mehr denn je in unserer "aufgeklärten" Reichshauptstadt, hat neue Nahrung durch die Schauergeschichten von der Rache der Mumie gefunden, die jetzt durch alle Blätter gehen, und trägt außerordentlich zum Absatz von Amuletten und kleinen Götzen bei. Jawohl, Götzen. Man weiß ja schon aus den Jahren vor dem Kriege her, daß der Autofahrer unbedingt ein "Billiken", einen kleine Fratzengott, auf der Kühlerhaube sitzen haben mußte, um vor Vergaserbrand und Polizeistrafe sicher zu sein. Auch stieg kaum ein Flieger in Johannisthal ohne seinen Teddybär oder seine Glückspuppe auf. Neuerdings aber wird die Zuflucht zu den Götzen allgemein. In der Zeit unserer Väter trug man allenfalls ein kleines goldenes Hufeisen als Schlipsnadel oder nagelte ein gefundenes echtes auf die Türschwelle oder hatte Aschenbecher in Hufeisenform: das ist ein Rest altgermanischen Heidentums, denn das Hufeisen soll (ebenso wie die gekreuzten Pferdeköpfe an Scheunengiebeln) dem in Wolkenfetzen daherreitenden wilden Jäger, Wotan, künden, daß hier ein Anhänger von ihm sitze, kein Abtrünniger, der zum Christengott bete. Heute trägt man als Amulett egyptische Skarabäen oder grichisch-katholische Heiligenmedaillen, wie früher im Medaillon Locke oder Bild des Liebsten, und in den Warenhäusern stehen lange Reihen glotzäugiger kleiner Zelluloidpuppen, die made in Germany und ein lebhafter Ausfuhrartikel sind, aber auch in Berlin selbst reißend gekauft werden. "Kewpie" schreibt sich auf englisch, für den Export, das fratzenhaft-ostasiatisch aussehende Kerlchen, so - buchstabengetreu - wird es auch von der Verkäuferin genannt, aber "Cupi" soll es natürlich heißen, was eine Abkürzung von Cupido ist, also den kleinen altklassischen Liebesgott bedeutet, der hier nur ohne Bogen und Pfeil erscheint, weil er ornamentlos und nicht leicht zerbrechlich sein soll, - so sein soll, daß man ihn im Muff insgeheim herzen und streicheln oder gar an noch intimeren Stellen aufbewahren kann, ohne daß er kratzt.
Jede Dame, jede moderne Dame muß natürlich ihren Kewpie haben. Sonst wird der Liebste untreu oder die Polizei kommt in den Schlafwagen oder die Schneiderin verpfuscht das Kleid oder der Tanzpartner wird in eine andere Stadt versetzt. Dieses ist vielleicht das Schlimmste, was einer Dame passieren kann. Einst sagte man: "Welch ein schönes Paar!" Oder: "Ihre Charaktere passen so trefflich zusammen!" Heute heißt es: "Sie sind so gut auf einander eingetanzt." Sicher hat sie ihren Kewpie und er sein Amulett.
So ein bißchen Aberglaube gehört geradezu zur Bildung. Ich möchte den Jäger sehen, der nicht fluchend eine Haken schlägt, wenn ihm ein altes Weib begegnet. Er glaubt vielleicht garnicht an Vorbedeutung. Aber er ist es seiner Reputation als Jäger schuldig, so zu tun. Daher gehört auch der vergoldete Buddha auf den Salontisch des Neureichen in Berlin W., der Glückspfennig in die Börse der Dirne, die griechische Grammatik nachts unter das Kopfkissen des faulen Untersekundaners, die Ansichtspostkarte mit vierblättrigem Kleeblatt an die Wand über dem Bett der Dienstmädchenkammer, der Gebetsbrief für Unverwundbarkeit in die Brusttasche des Einbrechers.
Im Kriege habe ich Tote gefunden, die solch einen Brief in den erkalteten Händen hielten. Heute wird noch ganz anderer Hokuspokus gemacht, ehe einer beispielsweise in der Börse "hereinsteigt", und trotzdem rasseln dann die Papiere. Man könnte unbändig lachen, wenn man das Riesenheer der abergläubischen Großstädter, der ach, so aufgeklärten, aufmarschieren und von ihnen sich erzählen ließe, wie sehr jeder Einzelne "per saldo" hereinfiel, wenn er sich auf Systeme und Götzen, auf Amulette und Beschwörungen verließ. Aber wenn man lacht, so werden besonders die Damen böse, gerade die "aufgeklärten", die vom lieben Gott längst nichts mehr wissen wollen, denn, so meinen sie, man solle die Geister nicht reizen. Es könne doch am Ende etwas daran sein, Tut-anch-Ammon habe sich doch auch so furchtbar gerächt - nicht? Da kann man halt nichts machen, gegen Aberglauben kämpfen Götter selbst vergebens, und von der Mumie des alten Pharao spricht ganz Berlin W heute mehr, als von den Volksgenossen an der Ruhr und von der viel realeren Rache zwischen lebenden Nationen. Im tiefsten Herzenswinkel der Frauen schläft das Grauen vor dem Unerklärlichen. Das ist für sie viel wichtiger als das Klare und Unzweifelhafte vom lichten Tage, und sie begreifen nicht, daß unsereins gar darüber lachen kann. Diese Männer sind ja überhaupt so unausstehlich! Stets zum Prusten über irgend etwas bereit, ganz gleich, ob das Stichwort Tut-anch-Ammon oder Mikosch heißt. Und dabei bedauern sie noch die Frauen! Aber um die rechte Antwort sind die wenigstens nicht verlegen. "Warum hat Euch der liebe Gott eigentlich gar keinen Sinn für Humor gegeben?", fragte ein berühmter Schauspieler eine Kollegin, und sie erwiderte sofort: "Um es zu verhüten, daß wir dauernd über Euch Männer lachen!"
19.April 1923 (Donnerstag).
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