"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 25 - 27
8. bis 29. März 1923


25

Der Herr Portier - Die Friedrichstadt zu Chamissos Zeiten und heute - Im Mieter-Parlament - Die Mark wird besser - "Akute Genesungskrise" - Was unser Papiergeld kostet - Das Landekreuz für Eberts Flugzeug - Theater nicht für Kinder - Prozeß Morvilius

"Mutta is in Kientopp, Vata is in de Kneipe, Schwesta liecht ins Bett!"

Also nichts zu machen. Der jüngste Knirps in der Portierwohnung sagt es kategorisch. Es ist zwar erst 8 Uhr abends, und bis 10 Uhr muß der Portier vertragsgemäß den Fahrstuhl bedienen, aber nun kann ich die vier Treppen doch hinaufkeuchen. Das tat man früher lachend, mit Wonne, immer 3 Stufen auf einmal. Aber zwei böse Abstürze 1914 und 1918 haben einem die rechte Körperseite so zerschlagen, zerschunden, gequetscht, daß der rechte Nervus ischiaticus, der beide Mal gröblich entzündet war, noch immer grollt. Er sticht. Er bohrt. Und noch ärger sticht und bohrt die stille Wut: da zahlt man so und so viel Mietaufschlag, erhält gemeinsam mit den übrigen Einwohnern die ganze sechsköpfige Portierfamilie, die die Nase rümpft, wenn andere Leute nicht echte Butter kaufen, und kann nun nicht einmal den Fahrstuhl benutzen! Am nächsten Morgen ist ein Briefchen vom Hausverwalter da. Er ersucht um "sofortige" Zahlung der Kosten für die Zentralheizung, die ebenso schlecht und ebenso unentrinnbar ist wie der Versailler Friede. Es geht nach Quadratmetern bewohnten Raumes. Leider haben wir noch mehr Familienmitglieder, als Portiers sie haben, in unserer Wohnung. Leider hat sie sehr viele Quadratmeter. Wir wären ja längst in eine kleinere Behausung geflüchtet, wenn nur der Umzug nicht Millionen kostete. Im vorigen Monat haben wir 74 300 Mark Heizungskosten gehabt. In diesem Monat - nun zittern mir doch die Knie - soll ich "sofort" 267 915 Mark bezahlen. Im kommenden Vierteljahr sicher an die 5 Millionen. Nun loht meine bis dahin stille Wut prasselnd empor, und genau so ist es bei den neun übrigen Vordermietern und bei den Inhabern der Bureaus, Großgeschäfte, Läger, Werkstätten, Fabriken im ersten, zweiten und dritten Hof.

Das ist ja jetzt die typische Art aller dieser Steinkästen in den ehedem besten Straßen des eigentlichen Berlins. Früher gab es hinter der Wohnfassade nur große Gärten. In der ganzen Friedrichstadt zirpte im Sommer die Meise, pfiff der Pirol, der scheue Vogel, der jetzt kaum mehr im Tiergarten zu finden ist. Neben uns wohnte einst ganz ländlich Chamisso. Und als Humboldts nahe am Leipziger Tor - gegenüber dem heutigen Kaufhaus Wertheim - einzogen, war es ihnen eigentlich "schon zu weit draußen". Man braucht aber garnicht einmal so weit zurückzudenken. Unsere alte Waschfrau war in ihrer Jugend Stallmagd bei 32 Kühen - in der Wilhelmstraße Nr. 31. Damals gab es keine vierstöckigen Häuser, man stieg behaglich die höchstens zwei Treppen. Damals gab es auch keine Zentralheizung und keine Rechnung über 267 915 Mark. Weiß der liebe Himmel, wann und wie ich das bezahlen soll. Ich weiß es vorläufig noch nicht. Ich bin jedenfalls noch nicht so weit wie irgend ein Agenten-Jüngling in Spiralfedern, Schmierseife, Osterhasen oder Heftklammern, der hochmütig erklären kann: "Für eine dreckige Million lege ich mich im Bett noch nicht mal auf die andere Seite." Auch den Mitmietern scheint das bleiche Entsetzen nahe zu sein. Am selben Tage wird schon eine Versammlung einberufen. Mieterparlament. Protestaktion. Im zweiten Hof, bitte, im Vorführungsraum der Filmkopieranstalt.

Nun sitzen wir alle da. Ich lutsche inbrünstig an meiner Kummerzigarre, die einen wohlhabenderen Eindruck macht, als ich selber. Die anderen reden. Punkt 1 der Tagesordnung: der Portier. "Bei mir hat er sich nie besoffen!", schreit entrüstet, obwohl das noch keiner behauptet hat, der Destillenmieter von parterre rechts. Aber darüber ist man einig, daß der Portier säuft. Und daß er schlecht heizt. Und nie, auch seine stellvertretende Gattin oder Tochter nicht, am Fahrstuhl ist. Und daß die ganze Familie klaut. Es stellt sich heraus, daß bloß eine Familie bisher unbestohlen geblieben ist, und es wird ruchbar, daß sie mit regelmäßigen großen Geschenken sich sozusagen loskauft. Allgemeine Entrüstung. Im Stillen aber sagt sich jedermann: mach' ich nächstens auch! Man will übrigens dem Portier kündigen. Aber man kriegt ihn nur dann fort, wenn man ihm eine andere Bleibe besorgt, sagt das Gesetz; und mutlos verläßt man den ersten Punkt der Tagesordnung. Punkt 2: die Heizung. "Ich kann keine 10 Millionen bezahlen, ich nehme ja selber kaum was ein, der Absatz stockt!", barmt der Inhaber der Beleuchtungskörperfabrik im ersten Hof. Er ist der zweitstärkste Quadratmeterinsasse unseres Blocks. Die übrigen lächeln wehmütig. Schön, er könne ja aus dem Heizverband unserer Wohnrepublik austreten, könne die Röhren sich absperren und plombieren lassen, aber - einen Teil seines Anteils müsse er nach wie vor tragen, sage das Gesetz. Nun wird er ganz kleinlaut. Und wir Vordermieter? Wir haben in den Zimmern keinen Schornstein! Wir können garnicht, selbst wenn wir wollten und Millionen besäßen, Ofenheizung einrichten. Und mit meinen 267 915 Mark habe es auch seine Richtigkeit, beweist mir der Verwalter aus den heutigen Kokspreisen. Philister über dir, Simson! Wir sind verraten und verkauft.. Tausenden und aber Tausenden in der Großstadt geht es so wie uns. Man hat nicht die Möglichkeit wie andere Familien, in einem einzigen geheizten Zimmer tagsüber zusammenzurücken und die übrigen Räume vergletschern zu lassen. Man ist an die Zentralheizung angekettet wie Prometheus an den Kaukasus. Und alltäglich fressen uns die Rechnungen wie des Prometheus Geier an der Leber. Aber nichts zu machen. Auch Punkt 2 der Tagesordnung wird ergebnislos verlassen. Die große Protestaktion ist verpufft.

So oder ähnlich geht es ja heute in allen Parlamenten zu. In tausenden von Mieterversammlungen Berlins nicht nur, sondern auch bei den Abgeordneten des Bezirks, der Stadt, des Staates, des Reiches. Willenlos wird man gestoßen. Immer hinter der Mark her in immer bodenlosere Tiefen. Nun hat es zwar plötzlich einen Halt gegeben für die Mark. Sie bessert sich, heißt es. Das merkt derjenige, der sein Monats- oder Vierteljahrseinkommen vorläufig in irgend einem Papier auf die Bank gelegt hat, daran, daß dieses Papier plötzlich auf die Hälfte oder ein Drittel seines Wertes gesunken ist. Fast alles andere ist noch teurer geworden. Nicht alles, nein, nicht alles. Schmalz beispielsweise ist billiger. Wir haben also das erhebende Bewußtsein, den Strick, an dem wir uns nötigenfalls aufhängen, preiswert einfetten zu können. Immerhin, wenn Cuno Recht behält, der die gegenwärtige Krise ehrlich vorhergesagt hat, so ist es ja nur eine akute Gesundungskrise, während wir uns bisher in einer schleichenden Verfallskrise befanden. Der Laie spricht das nur zagend nach. Der Laie weiß nur, daß jetzt zum zweiten Mal jeder, der eisern gearbeitet und gespart hat, seinen Notgroschen verliert. Zuerst wurde die Papiermark immer wertloser und damit auch die Kriegsanleihe und was der Rentier am Ende seines Lebens sonst noch haben mochte. Nun flüchtete alles in die Effekten - und jetzt stürzen auch die. "Ich versteh' die Welt nicht mehr!", sagt Meister Anton bei Hebbel, aber die heutige Welt gibt einem doch noch ganz andere Rätsel auf als die damalige. Weil man in Bayern und anderswo noch sorgsam mit Kleingeld rechnet, läßt die Reichsbank, auf Veranlassung süddeutscher Handelskammern, immer noch Millionen und Millionen von Zweimarkscheinen drucken; die Herstellung eines solchen Zweimarkscheines aber kostet, wie mir ein Fachmann erzählt, - 4,70 Mark. Was würde da erst Meister Anton sagen! In dieser irrsinnigen Welt bekommt jedes Ding einen so aufgeplusterten Papierwert, daß heute ein Mensch, der tagsüber die Bürgersteige Berlins nach weggeworfenen Zigarettenstummeln absucht, aus denen dann wieder "feinster türkischer Tabak" nach der nötigen Entlaugung gemacht wird, davon tatsächlich leben kann.

Es lohnt sich schon, alles mitzunehmen. Gestern ist der Reichspräsident Fritz Ebert nach Leipzig geflogen worden. Dazu hatte man Tags vorher auf dem Tempelhofer Felde, wo er einsteigen sollte, ein Landekreuz für die aus Johannisthal kommenden Fleugzeuge ausgelegt. Gestern früh war es weg. Geklaut, einfach geklaut. Das erste heranschwirrende Flugzeug mußte erst ein paar Schleifen fliegen und durch Abschießen von Rauchpatronen anfragen, was unten eigentlich los sei, warum man nicht landen solle, bis dann behelfsmäßig ein neues Zeichen ausgelegt wurde. Das gehört also wohl auch zur akuten Gesundungskrise. Ich hätte nichts dagegen, wenn ich während dieser Krise bis zur wirklichen Gesundung von Volk und Wirtschaft scheintot in irgend einem Kühlraum aufbewahrt würde. Nach dem Wiedererwachen möchte ich dann meinen alten Wunsch ausführen und im Sommer für 14 Tage den angeblich "wärmsten Ort Europas" (Kinder, Ihr kennt Mazedonien nicht!) aufsuchen, nämlich Malaga. Nicht etwa nur wegen des spanischen Südweins oder wegen der dortigen Bananen oder wegen der Nähe von Granada oder um unterwegs in Tanger Ansichtskarten zu schreiben, sondern: überhaupt und so! Ich möchte mal die mitteleuropäischen Elendsbazillen mir von der dortigen Sonne ausglühen lassen. Aber nach einer vorsichtigen Anfrage bei Hamburger Freunden, was wohl "auf einem gewöhnlichen Frachtdampfer" die Reise dorthin einen Menschen kosten würde, der nur mit der Feder umzugehen versteht und nicht einmal Hilfssteward spielen könnte, habe ich zum zweiten Mal in dieser Woche Kniezittern gekriegt. Bleibe im Lande und nähre Dich kläglich. Weiter hinaus dürfen nur Wagnersängerinnen, Meisterboxer und in der Diplomatie gelandete sozialdemokratische Genossen.

Auch in Berlin den Weltuntergang und die Neuschöpfung abzuwarten, hat ja seine Reize. Man hängt die materiellen Sorgen an den Nagel und hofft auf den kommenden moralischen Frühling. In den Theatern ist er nicht so bald da. Eines dieser Theater zeigt, wohl schon zum mehrhundertsten Mal, ein Stück an, dessen Schlüpfrigkeit durch die Notiz betont wird: "Personen unter 18 Jahren ist der Eintritt nicht gestattet." Ich warne Neugierige! Solche Notizen bedeuten in Wirklichkeit, daß das Stück nur für Personen unter 18 Jahren von Interesse sein kann. Im Pubertätsalter mag man noch irgend eine Erregung, die nicht nur Widerwille ist, dabei empfinden, erwachsene Menschen von Geschmack aber, das kann ich bezeugen, fühlen sich durch die Ausgezogenheiten nachgerade gelangweilt.

Wer heute ins Theater geht und viel Geld bezahlt, ist schön dumm, sagt man sogar schon in der sogenannten Gesellschaft. Man könnte sich - und ganz umsonst - viel besser in Gerichtsverhandlungen amüsieren. Keine Première hat daher je einen solchen Zulauf gehabt, wie in diesen Tagen der Prozeß Röber und Genossen, in der Öffentlichkeit als "Prozeß Morvilius" besser bekannt, obwohl dieser Morvilius selbst, einst Direktor bei der Reichstreuhandgesellschaft, Protegé des sozialdemokratischen Schatzministers Bauer, jetzt Direktor des Lunaparks, freigesprochen worden ist. Er hat eine Schwiegermutter, eine Frau, eine Schwägerin und sonstige Versippte, die wie die Raben stehlen, geradezu Könige auf dem Gebiete des Ladendiebstahls sind. Sie haben für Millionen (für Millionen bei einem Dollarstande, wohlgemerkt, von 350) in allen Berliner Kaufhäusern zusammengerafft. Ganz systematisch. So unter anderem in 27 Diebesgängen allmählich ein ganzes Service für zwölf Personen Stück um Stück. Dazu Pelze, Seidenstoffe, Ledertaschen, Bronzen, Uhren, - kurz, alles. Was kann Herr Morvilius dafür? Betrunkene sehen bekanntlich oft doppelt. Er aber sieht stets nur in Bruchteilen. Wenn in seinem Schirmständer eines Tages fünf seidene Herrenschirme stehen, so sieht er nur einen. Oder er denkt: die Freunde seiner Frau haben die Schirme stehen lassen, wie auch noch manches andere. Also er ist gereinigt aus dem Prozeß hervorgegangen, und der Reichskanzler und Schatzminister a.D., der ehemalige Bureaugehilfe Bauer, braucht sich dessen nicht zu schämen, daß er im Reichstage so warm für die Unbescholtenheit dieses Morvilius sein Zeugnis abgegeben hat. Die Frauen allerdings, das ist eine dufte Gesellschaft. Frau Röber erklärt lachend, ob sie "Liebling" oder "Zuhälter" sage, das sei bei ihr dasselbe; und ihrem Anwalt, der ihren Stehltrieb auf periodisch wiederkehrende Zustände zurückführen will, ruft sie kordial zu: "Setz Dich, Jungeken, davon verstehst Du nichts!" Die Frau Morvilius, die erheblich stiller ist, hat ein zartes hübsches Gesichtchen in kostbarer (vielleicht auch geklauter) Umrahmung, die anderen haben die Diebsvisagen des gewöhnlichsten Mittelstandes, an sich ganz unauffällig, ohne das Faszinierende der angeblichen Dame von Welt, auf das Verkäuferinnen der großen Spezialgeschäfte sonst wohl hereinfallen. Sie sind bloß unglaublich fingerfertig gewesen. Mutter Wolffen in Gerhart Hauptmanns Biberpelz stechen sie sicher aus. Die paar Jahre Gefängnis werden sie gut überstehen und später, wenn sie in die Arme ihrer liebenden freigesprochenen Männer zurückgekehrt sind, ein großes Haus machen. Und sicher in Berlin bleiben. Erstens gibt es hier in den "besten" Kreisen von heute Vorbestrafte, mit Gefängnis Vorbestrafte, darunter sozialdemokratische Minister a.D., die nächstens vielleicht wieder einmal Minister sind; und zweitens fragt in der Riesenstadt niemand nach der Vergangenheit, wenn nur die Gegenwart eines Menschen mit genügendem Kapital ausgepolstert ist. "Wer er ist? Weiß nicht. Aber er hat!", - das ist heute die beste Empfehlung in diesem Berlin, dessen moralische Genesungskrise noch in weitem Felde steht. Wer hat, der hat.
8. März 1923 (Donnerstag).


26

Die Kleine - Bei Bülows auf dem intimen Diner - Bernstorffs Milliarden - Mitford-Kühlmann-Friedländer - Die geschundene Kirchensteuer - Preisreiten im Sportpalast - "Wieder einen gelernten Kaiser!" - Die Dame auf der Journalistenbühne

Das unerwartete Zusammentreffen mit einer Jugendgeliebten nach jahrelanger Trennung hat seine wehmütigen Reize. Ein befreundeter nationaler Verleger hat mir die Kleine wieder zugeführt. Unsere Beziehungen waren abgebrochen, nun ja, nicht etwa deshalb, weil ich sie nicht mehr gemocht hätte, o, im Gegenteil, sondern einfach aus dem Grunde, weil ich ihr finanziell nicht mehr genügte. Aber nun das Wiedersehen war wirklich einzig schön. Ich brachte die Kleine, die in ihrer tiefbraunen gewickelten Robe und dem roten Gürtel mit Goldspitze entzückend aussah, nur, daß sie seit 1914 doch schon ein bißchen dürr und eingetrocknet geworden war, entzückt in meinen Familienkreis, zeigte sie herum und sagte einfach und edel: "Laßt Euch ihren Duft durch die Nase ziehen!"

Es ist nämlich die kleine Bock. Vor dem Kriege kostete sie 85 Pfennig, heute viele tausend Mark. Neben der Upman, der Garcia, der Rosa aromatica und vielen anderen stand sie früher kistenweise in den Herrenzimmern nach jeder Gesellschaft. Zu diesen exotischen Schönheiten aus Habana gesellte sich die heute aus Deutschland längst entschwundene Queen, die wirkliche Königin der Zigaretten, zu 10 Pfennig das Stück, die sich als Ägypterin ausgab, aber von der Balkanhalbinsel stammte, aus der jetzt griechischen Gegend von Seres und Drama. In Ägypten wächst solch' Tabak überhaupt nicht. Die kleine Bock, um wieder auf sie zu kommen, hatte auch prächtige große Schwestern bis zu der allerteuersten von 2,20 Mark. Es gab nur noch eine kostbarere in der Welt. Die ließ King Edward eigens für sich in Habana für drei Schilling fabrizieren. Die war schon mehr Riesendame. Marke Meerfrau. "Da hat mich das unglückliche Weib vergiftet mit ihren Tränen." Nein, eine Kleine zu 85 Pfennig genügte vollkommen, um einen in das Nirwana der weiteren Wunschlosigkeit zu versetzen. Und beim Rauchen ordnen sich immer wundervoll selbst meine chaotischsten Gedanken.

Die mittlere Upman und die große Bock gab es früher als Selbstverständlichkeit bei wirklichen Grandseigneurs, nicht einmal so sehr bei den Raffkes von damals, die in Dingen des Rauchergeschmacks meist versagten. So denke ich mit Vergnügen an die sogenannten intimen Diners beim Fürsten Bülow zurück, etwa fünfzehn Jahre zurück, wo sich so 20 bis 24 Herren aus dem Bannkreise der Politik, "der leidigen Hexe", zusammenfanden und nach gutem Mahle in ernstem und tiefem Gespräch angeregt pafften. Bülow selbst weniger; und dann nur eine Zigarette. Wir anderen ließen uns etwa von einer großen Alvarez Lopez ins Märchenreich versetzen. Ich könnte diesen Kreis, in dem als schönster Männerkopf der des Grafen Vitztum, des sächsischen Gesandten in Berlin, auftauchte, noch heute aus dem Gedächtnis zeichnen. Es war ja auch sonst so, wie man es heute nur noch auf der Filmleinwand sieht. Die Diener in seidenen Kniestrümpfen und mit gepuderter Perrücke; der Haushofmeister, der sie durch Augenwinken dirigierte, sogar mit dem Galanteriedegen an der Seite. Dieser schon damals etwas barocke Prunk war wohl eine kleine Schwäche der Fürstin Bülow, der südländischen Prinzipessa. Unter Bethmann Hollweg wurde es gleich ganz landjunkerhaft schlicht und einfach. Der dunkelgrüne Jägerrock dominierte. Aber dafür, daß es Erlesenes zu rauchen gab, sorgte auch die neue Herrin des Hauses, Frau v. Bethmann, diese königlich imposante Erscheinung neben ihrem eher hageren Gemahl. Heute hat diese Art Geselligkeit bei den Menschen des alten Systems naturgemäß so gut wie völlig aufgehört. Freilich gibt es auch heute noch Reiche, die keine Neureiche sind. Der Demokratengraf, unser ehemaliger Washingtoner Botschafter Bernstorff, hat eine amerikanische Frau mit inzwischen freigegebenem amerikanischen Vermögen, deren - nicht Vermögen, bitte - jährliche Einnahme aus Zinsen etwa viezigtausend Dollars beträgt. Das langt also auch noch zu einer kleinen Bock. Graf Bernstorff, der sich einst von Wilson oder vielmehr nur von seinem Propheten, Herrn House, so bildschön einwickeln ließ, gegen unseren Tauchbootkrieg arbeitete und von unserer Heeresleitung als Kreuz empfunden wurde, ist den Amerikanern wohl noch mehr wert, als die freigegebene Milliarde jährlich.

Sicher nicht viel weniger hat ein anderer Exdiplomat in Berlin zu verzehren. Herr v. Kühlmann Bukarester Angedenkens, der allerdings keine Amerikanerin, sondern eine geborene Friedländer aus Berlin zur Frau hat. In dem Palazzo Kühlmann-Friedländer verkehrt die ganze internationale Gesellschaft einschließlich der fremden Ententeoffiziere. Eine ehemalige Hofdame der Zarin, die alte Gräfin Kleinmichel, die zu den höflichen Weltbürgern gehört, denen alle Menschen ohne Ausnahme ganz besonders sympathisch sind, äußert sich in ihren kürzlich erschienenen Memoiren auch entzückt über diese Friedländer, die russisch zu sprechen verstände und die die russische Literatur so gut kenne. Der verstorbene alte Herr v. Friedländer-Fuld, der Kohlen-Friedländer aus Oberschlesien, hatte es sich seiner Zeit eine Stange Geld kosten lassen, der Tochter das Russische beibringen zu lassen. Es war damals nämlich ein russischer Fürst als Gemahl für die Millionen ausersehen. Der zog sich zurück. Gemahl wurde statt seiner ein Beinahe-Lord, der Sir John Ogilvy Mitford, der in einem großen Hamburger Hause angestellt war und diese Stellung anscheinend nicht ungern gegen das vom Schwiegervater ihm geschenkte neue Palais im Berliner Westen vertauschte. Das war im Januar 1914. Aber nach wenigen Monaten mußte die Ehe schon geschieden werden. Von deutschen Gerichten. Eine nachträgliche nochmalige Ehescheidung findet augenblicklich vor dem Londoner Gerichte statt, da die deutsche Scheidung dort als nicht rechtsgültig erachtet wird. Inzwischen ist Lady Mitford-Friedländer schon 1920 Baronin Kühlmann geworden. Ihre Karriere verdankt sie nicht zuletzt - dem Segen der Sparsamkeit.

Der alte Herr, ihr Vater, gab nämlich zwar sehr viel aus, hatte in seinem Palais am Pariser Platz sogar einen derart großen Wintergarten, daß darin ein Tennis-Court angelegt werden konnte, war aber im Zahlen sehr genau. Man hatte ihm nie Kirchensteuer abgefordert. Da erfuhr die Berliner Stadtsynode eines Tages zufällig, daß er schon vor zehn Jahren sich in aller Stille habe taufen und in die christliche Kirche aufnehmen lassen. Daraufhin bekam er die Veranlagung und eine Nachforderung für die zehn Jahre. Das focht dieser neupreußische Edelmann und neuevangelische Christ - gerichtlich - wegen Verjährung an. Und bekam Recht. So erbaut des Vaters Segen den Kindern Häuser.

Elf Tage lang haben wir jetzt in Berlin die Gelegenheit, wirklich alte gute Gesellschaft zu sehen, die nichts mit den Neureichs von heute und von ehedem zu tun hat, - ein Wunder in Berlin. Elf Tage lang hat das mit dem Halbblut-Zuchtverein zusammengehende Sport-Kartell Berlin den Sportpalast inne, die Riesenhalle des letzten Sechstagerennens, und veranstaltet da die Preisreiten, Preisfahren, Preisspringen. Vor zwei Jahren, als dieselbe Veranstaltung, nur viel beschränkter, im Stadion stattfand, immer bis in die sinkende Dämmerung hinein, wo schließlich die Pferde sich vor den Sprüngen vertaxieren und unsicher werden mußten, glaubte ich nicht, daß die alte Gesellschaft noch so etwas fertig brächte. Reiten - ja. Aber Pferde besitzen - nein. Die Neureichs würden reiten lassen. Aber ich bin froh enttäuscht. Man hat großenteils aus eigener Kraft diese fabelhafte (für uns von 1923 fabelhafte) Show, deren Kosten 886 Millionen Mark betragen, zusammengebracht. Gänzlich leer, vollkommen leer sind diesmal im Sportpalast nur die Galerien, wo sonst bei Radrennen sich jenes Publikum drängt, das pfeift und "Schieba! Schieba!" ruft. Vollbesetzt dagegen mit gutem Publikum die Ränge und die Parterre-Tribünen der gewaltigen Arena. Viel Rittergut und Großgrundbesitz darunter. Scheltet mir die Agrarier, soviel Ihr wollt, ich aber freue mich schon rein aus ästhetischen Gründen, daß es doch noch eine Menschenklasse in Deutschland gibt, die uns alte ritterliche Kultur über die Sintflut herüberrettet. Ich liebe die edlen feurigen Tiere, auch wenn ich es mir, wirklich ganz neidlos, in der seit 1918 für uns so veränderten Welt versagen muß, jemals wieder eins zu besteigen; "höchstes Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde", das kann ich immer noch nachempfinden. Aber fast noch wohltuender als der Anblick des prachtvollen Tiermaterials ist der der Zuschauer. Viel gertenschlankes Jungvolk. Viel frische Farbe. Ein Strom von Gesundheit und Kraft, ein Strom auch von der heute so seltenen Wohlhabenheit. Aber nichts auffallendes. Bei den Damen nicht, wie sonst in Berlin bei großen gesellschaftlichen Ereignissen, das gleißende Brillantengefunkel; allenfalls große matte Perlen im Ohrläppchen. Alles schlicht und gut und kostbar. Die Männer keine flirtenden Salonlöwen an falscher Stelle, sondern ganz deutsch in dem Sinne, daß deutsch sein bedeutet, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Sehr vereinzelt erscheinen - und verschwinden bald wieder - die üblichen geschminkten Dämchen der Großstadt. Es fehlt nämlich der Gegenpart. Es fehlen die Herren vom Stamme jener Asra, welche zahlen, wenn sie lieben. Aber ein Freiherr v. Langen ist da, der vormittags nach einem schweren Sturz mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus transportiert wird, am selben Abend aber trotz aller ärztlichen Warnung seinen Gaul wieder, und zwar siegreich, über alle Hindernisse steuert. Und ein junger knapp siebzehnjähriger Herr v. Knobelsdorff ist da, ein rosiges Bürschchen, das die Renner des alten Generals v. Knobelsdorff in flotter Fahrt über die schwierigsten Sprünge zwingt; kaum einer weiß, daß dieser Junge - taubstumm ist, taubstumm geworden im letzten Kriegsjahr, wo er, zwölfjährig, bei er Ernte wie ein Großer mitschuftete und dann, als der letzte Wagen beladen und eingefahren war, sich glühend heiß in den See zum Schwimmen stürzte. Es sind aber nicht etwa nur die "von und zu" hier versammelt. Neben dem netten frischen Prinzen Friedrich Sigismund von Preußen, der in seiner schwarzen Leibhusarenuniform noch immer wie ein junger Leutnant aussieht und auch wie ein Leutnant reitet, sieht man den schlanken Herrn Pulvermann, auch einen unserer Besten in der Arena und draußen auf dem grünen Rasen, der aus einer angesehenen Hamburger Großkaufmannsfamilie stammt. Solcher Leute gibt es hier noch eine ganze Reihe. Und in den Heereskonkurrenzen ringen um dieselbe Palme die Rittmeister und die Wachtmeister: um die Sache, um die Sache allein geht es hier, und Stand und Geld versinken. Wie eine einzige große Familie das ganze große Haus. Ein "Ah!" der Erleichterung, wenn ein Gaul das enge Doppelgatter gut springt, teilnehmender Beifall auch für die Nichtsieger, wenn sie nur ihr ganzes Können eingesetzt haben, und über allem die helle Freude, daß es doch vorwärts geht mit unserer Zucht. Immer mehr Vollblüter wandern ins Ausland. Unsere großen Rennställe können bei der Valuta nicht mehr mit. Aber das edle Halbblut gedeiht, und Trakehnen ist noch immer unser großer Stolz.

Einst, so um 1800 herum, war die Eifel, damals ein reiches und glückliches Land, die Heimat unserer besten Campagnepferde. Sie wurden bis auf das letzte Fohlen requiriert und fortgeschleppt. Murat und andere Reiterführer Napoleons wollten gar keine anderen Pferde mehr besteigen, als diese prächtigen Eifler. Dann schlugen die Franzosen auch noch die Wälder in der Eifel nieder. Das abgeholzte und seiner Tierzucht beraubte Hügelland wurde das ärmste von allen deutschen Ländern; so arm, daß noch nach hundert Jahren Klara Viebig von seinen "Weiberdörfern" erzählen kann, wo das ganze Mannsvolk für lange Monate des Jahres weit, weit weg wandern muß, um Arbeit zu suchen, da die Arbeit daheim das karge tägliche Brot nicht mehr schafft. Die Weltgeschichte, scheint es, wiederholt sich immer wieder. Das Ab, aber auch das Auf. Jetzt erheben wir uns das Herz an dem Aufgang alter Zeiten. Im Sportpalast gibt es zwischen den ernsten Konkurrenzen gelegentlich auch ein Scherzo, einen Schleifenraub, eine Quadrille. Von neun Stallmeistern eines Berliner Tattersalls wird eine solche in den Uniformen der Zietenhusaren und der Seydlitzkürassiere aus der Zeit Friedrichs des Großen geritten. Da geraät denn alles außer sich; und der "Fridericus Rex, unser König und Held", den die Kapelle anstimmt, wird entblößten Hauptes von der Menge gesungen, und dann erdröhnt ein donnernder, immer aufs Neue rollender Beifall. Nicht nur von den schlanken Händen der Sportladies, sondern auch von derberen und ganz derben Fäusten; denn nicht nur Rittergutsbesitzer und Militärs sitzen um das große Halbrund, sondern auch Bauern, eisenfeste Pommern und Westpreußen, die auf der heimatlichen Koppel auch manch sportliches Halbblut zu stehen haben.

Als sie 1918 heimkamen, wählten auch manche unserer Bauernsöhne in dumpfer Gottverlassenheit, in ihrem Nicht-mehr-aus-noch-ein-Wissen, in dem allgemeinen Zusammenbruch rot. Heute ist das Land die Keimzelle des Wiederaufbaues. Und die Alten denken wie die Jungen. Ein Berliner bekannter Notar wurde dieser Tage hinaus in ein märkisches Dorf berufen, weil ein Altsitzer sein Testament machen wollte. Der tat es denn auch, verteilte säuberlich sein letztes Eigen, fügte dann Wünsche für Kind und Kindeskind, Land und Volk hinzu und schloß mit fester Hand und der Hoffnung, "daß wir bald wieder einen gelernten Kaiser bekommen."

Die meisten Menschen haben heute freilich zu solchen Wünschen und zu solchen Stoßseufzern keine Zeit, weil die Sorge um das tägliche Brot für die nächsten Angehörigen alles andere in ihnen übertönt. "Wo kaufe ich noch preiswert?" summt stärker als "Wie wird Deutschland wieder groß?" In den letzten Tagen eröffnete sich da den Pressevertretern auf der Tribüne des preußischen Abgeordnetenhauses eine glänzende Aussicht. Seit einiger Zeit war eine gut empfohlene junge Dame - in der Männerzeit vor dem Kriege gab es hier so etwas nicht - als Kollegin auf der Tribüne tätig. Weiß Gott, für wen. Man kam ins Gespräch, man erfuhr, daß sie noch Quellen wisse, wo man Kaffee für 4000 Mark das Pfund bekäme, also rein geschenkt, Zucker für - pst, still, nicht weiter sagen, aber mir, ja, mir besorgen Sie was, gelt? Und die junge Dame nahm Bestellungen über Bestellungen samt dem Gelde an, von einem Kollegen 120 000 Mark, von anderen annähernd ähnliche Summen. Ihr Ruf drang hinunter bis zu den Hochweisen des Vaterlandes, und da war der Zulauf noch größer, das Geld noch beträchtlicher. Nun ist die Dame verschwunden. Die vielen Millionen mit ihr. Niemand kennt sie. Strafverfolgung? "Um Gotteswillen, nein," barmen die Abgeordneten, "warum sollen die Wähler denn erfahren, daß wir die Dummen waren?" Unter den Hereingefallenen, behauptet die Fama, befinden sich auch zwei Minister.
18.März 1923. (Sonntag).


27

Im Esplanade - Brüderlichkeit und Gleichheit - Der Bannspruch gegen Prinzeß Hermine - Roßbach in der Verbrecherzelle - Presseball-Toiletten - "Wir tanzen" - Rumpelstilzchen als Hauptgewinner

Gelegentlich sucht man die Stätten auf, die einem in früheren Zeiten so vertraut waren. Das Hotel Esplanade in der Bellevuestraße hat immer eine eigene Note gehabt. Bei aller Eleganz haben besonders seine Eckzimmer etwas Heimeliches, garnichts Uniformes; die erhöhte Estrade im Erker ist sozusagen ein Stübchen für sich, in dem man es gleich behaglich hat. Aber auch nur als Tischgast fühlt man sich hier wohl. Unter dem Kaiserreich waren die Säle im Esplanade immer der Treffpunkt der ersten Familien des Landes am späten Abend nach Hoffesten. Da wurde auch wohl noch getanzt. Ein bischen legerer als bei Hofe. Das ist jetzt wie alles übrige verflogen, die früher ersten Familien sitzen entweder verarmt in der Stadt und können keine rund 50 000 Mark für ein gutes Souper zu zweien ausgeben oder sie sitzen vereinsamt draußen in der Provinz und bringen ihr Geld nur noch selten nach Berlin, weil eben die alles anziehende Zentralsonne hier nicht mehr vorhanden ist. Mehr oder weniger dominiert in dem schönen ovalen Saal hinter den Vestibülen das Ausland. Vorsichtig schiebt eine junge Italienerin das Halbgefrorene zwischen die blutrot geschminkten Lippen in dem kalkweißen Gesicht, das schier leichenhaft sich von den lachsfarbenen Portièren hinter ihr abhebt. Mein Gott, wie anders war es doch, als die frischen Jungmädchenblüten unserer märkischen, pommerschen, preußischen Geschlechter, untermischt mit mittel- und süddeutschem Hochadel, sich hier wiegten! Drüben an der Wand sitzen blaurasierte fette Sowjetleute und schlemmen an dem einen Abend eine Millionenrechnung zusammen. Und der Tisch neben uns ist von Exoten umringt, darunter der kleinen japanischen Baronesse, die einen Deutschen zum Mann hat. Sie ist noch die schlichteste und unauffälligste Erscheinung in dieser Welt der getünchten Lüge. Schöner, viel schöner war unsere Welt.

Aber sie soll und muß, so wollen es unsere heute Regierenden, getilgt sein. Wo man eine "gesetzliche" Unterlage dafür zu haben glaubt, spricht man den Bannfluch gegen die Oberen von damals aus. Im Gesetz zum Schutze der Republik werden die Mitglieder ehedem regierender Häuser, die zur Zeit ihren Wohnsitz im Auslande haben, verfehmt; sie dürfen, obwohl sie Deutsche sind wie wir, den Heimatboden nicht mehr betreten. Das Gesetz zielt natürlich auf den Kaiser und den Kronprinzen und zerreißt dadurch die grundlegende Bestimmung der Verfassung, daß alle Deutschen vor dem Gesetz gleich seien. Über die theoretische Gleichheit lacht erbittert heute schon das einfache Volk. Gerade eben erst, bevor ich heimkam und mich an den Schreibtisch setzte, hat an der Anschlagsäule, vor dem erschütternden Ruhrspende-Plakat Arthur Kampfs, das einen jungen Arbeiter mit blutigen Striemen im Gesicht darstellt, eine alte Frau mich angesprochen:

"Wat schmusen die da oben von Brüderlichkeit un Jleichheit? Ebert is noch nie mit mir in die Elektrische zusammenjekrochen!"

Ich erzähle da der Frau das Neueste, das ich gerade erfahren habe. Auf Grund des Verbannungsparagraphen will man jetzt sogar der Prinzessin Hermine, der jetzigen Gattin des Kaisers, die Einreise nach Deutschland erschweren. Sie möchte in den Ferien ihre großen Kinder, die in Deutschland die Schule besuchen, sehen. Da aber saust der republikanische Schlagbaum nieder zwischen Mutter und Kind: nur mit besonderer Erlaubnis darf die Mutter nach Deutschland herein, sie muß eigens darum einkommen, daß der Schlagbaum emporgeht. Die Prinzessin hat nie zu den Regierenden gehört. Aber sie teilt Wilhelms II. grenzenlose Verlassenheit, und dieses Verbrechen muß bestraft werden. Es sitzen eben vielfach wahre Gemütsathleten in unseren Ämtern. Kürzlich ist der bekannte Oberleutnant a.D. Roßbach, dessen ganzes Leben und Wirken, mag er dabei vielleicht auch nach heute gültiger Ansicht in die Irre gehen, ein einziges Hohelied auf das Vaterland ist, verhaftet und eingesperrt worden. In eine schmutzstarrende Verbrecherzelle. Schon am zweiten Tage war er völlig verlaust. Seine junge Frau suchte nun entsetzt den Leiter unserer politischen Polizei auf, den nachnovemberlichen Oberregierungsrat Weiß. Und sein Bescheid an die Dame lautete:

"Da wird Ihr Mann die Läuse wohl selber mitgebracht haben!"

Aus der Welt von früher hat ein Fest sich herübergerettet, das so etwas wie Gesellschaft wenigstens noch vortäuscht: der Berliner Presseball. Auch heute noch ersheint dazu in buntem Gemisch Diplomatie und Literatur, Hochfinanz und Kunst, Regierung und Presse. Dazu ein Flor von Damen in jeweils "der" sieghaftesten Toilette ihres Lebens. Zweifelhafte Damen können nicht hin. Es ist alles sehr solide, bis zu der Gattin des kleinen Mannes herab, der irgendwie Beziehungen zu einem Pressemann hat und ihm die Einführung verdankt, woraufhin er alles, was er entbehren kann, auf die äußere Aufmachung zu diesem einen Tage verwendet. An einem solchen Abend sehen wir nicht wie arme Leute aus. Gewiß, die Amerikanerinnen in der zweiten Parterreloge links im Marmor saal des Zoo, die überstrahlen viel durch ihre Perlenketten. Die unsrigen sind längst in der Juwelenankaufsstelle odert schon vorher während des Krieges dem Vaterland geopfert. Wir behelfen uns mit irgend einem Halbedelstein an fadendünnem Goldkettchen. Aber dafür zeugen die Gewänder unserer Damen von gutem Geschmack und beleben in der wiedererwachenden Farbenfreude das ganze Bild. Überall die flammend bunten Tupfen zwischen dem Frackschwarz. Unter den männlichen Besuchern fehlen nur die vielen fröhlichen Uniformen von früher. Es gibt keine Gardekavallerieleutnants mehr. Überhaupt sind die paar Offiziere an den Fingern abzuzählen. Auch Staatsmänner von Bedeutung glänzen durch Abwesenheit. Hier hat man einst - lang, lang ist's her - mit Herbert Bismarck geplaudert. Diesmal war "Exzellenz Ebert" der höchste erwartete Trumpf; und der blieb aus. Auch Cuno. Manch einem mochte es, auch wenn es doch ein Wohltätigkeitsfest war, als nicht passend erscheinen, in der jetzigen schweren Zeit bei Ballmusik zu verweilen. Mit geradezu "nationalistischer" Wucht, die man dem alten Tiergarten-Freisinnigen garnicht zutraute, hat Hermann Sudermann in einem Gedicht, "Wir tanzen", in dem gedruckten Ball-Almanach, den jeder Besucher erhielt, sich dazu ausgesprochen:

"Wir tanzen zu düsterer Stunde,
Und rings ist Bangen und Weinen
Und jeder Bissen im Munde
Müßte uns ekel erscheinen.
          Wir tanzen.
 
Wir tanzen in keinem Gewitter
Und nirgends ist Leuchten und Drohen,
Denn Wotans Speer ging in Splitter,
Und seine Raben entflohen.
          Wir tanzen.
 
Wir tanzen auf keinem Vulkane,
Denn ruhig stehn Mauern und Herde
Und Scharnhorsts Flammenfahne
Verkroch sich unter die Erde.
          Wir tanzen.
 
Wir tanzen um Tröge von Trebern,
Als böten sie köstlichste Gaben -
Wir tanzen auf unseren Gräbern,
Die wir uns selber gegraben.
          Wir tanzen.
 

Die dröhnenden Verse stören aber kaum die gaukelnde Festfreude; nur wird diesmal nicht "offiziell" getanzt, nur so ein bißchen nebenbei; und es spielt sich das meiste als Defiliercour ab, wobei die Damen einander beäugen, bewundern, beneiden, verlachen. Die "gewickelte" Robe zeigt immer noch am besten die Vorzüge königlicher Figuren. Die Kleider werden im übrigen nach unten zu immer dezenter, oben das Gegenteil; in kühnem Schwunge wird manche entblößte Schulter etcetera erst sehr tief unter der Achsel, fast schon in der Hüfte, vom Stoff unterfahren. Gelegentlich, aber viel seltener als in den Modeblättern, sieht man auch das "Stilkleid". Da ich kein Fachmann bin, vermag ich mich populär nur etwa so auszudrücken: ein Stilkleid ist, wenn der Kü nicht hinten, sondern auf Draht zu beiden Seiten sitzt; oder: ein Stilkleid ist, wenn man Krinoline meint, aber nicht kann. Dann erblickt man auf dem Presseball auch manchen metallenen Schimmer, viel Gold, viel Silber, Spitzen und Pailletten; am auffallendsten darunter eine Dame, die in blitzendem Schuppengewande aus cuivre poli daherschlängelt. Es ist ein buntes, lachendes Bild, dieses ganze Geflirr in den vielen Riesensälen, Logen, Dielen, Galerien, das sich aneinander vorüberschiebt und umeinander quirlt. Man tanzt auf solchen Festen nur, um zu zeigen, daß man noch jung ist. Manche tanzen noch länger. Die meisten aber wollen nur sehen; und viele - gesehen werden. Diesmal ist der Film obenan. Langsam, aber unablässig schiebt sich eine zehn- bis zwanzigfache Menschenmauer an der Parterrebrüstung vorüber, an der Henny Porten sitzt. Beglückt ist, wen ihr Atem gestreift hat. Beneidet wird Klitzsch, der Generaldirektor des Scherl-Verlages und gleichzeitig der Deutschen Lichtbildgesellschaft, der "Deulig", der sie gerade für sein Unternehmen gechartert hat und den ganzen Abend neben ihr sitzt, während der Man der Porten, Kaufmann-Asser, irgendwo im Hintergrunde seinen Sekt schlürft. "Ist sie nicht süß? Ist sie nicht süß?" Vieltausendfach hört man immer wieder dieses Gemurmel in dem großen Erdrutsch der Menschenmassen. Lya Mara, die Rücken an Rücken zu Henny Porten in der Nebenloge sitzt, ärgert sich blaß und rosenrot.

Sehr "anziehend" ist auf dem Presseball immer die Tombola. Es gibt da keine Kinkerlitzchen zu gewinnen, sondern gute Bücher, gute (auch ganz erschreckliche) Bilder bis zu echten Liebermanns, Nymphenburger Porzellane und allerlei sonst noch - und einen Hauptgewinn, diesmal eine Hermelin-Stola aus 66 Fellen des königlichen kleinen Tierchens, also ein Wertgegenstand von vielen Millionen. Was ein Kavalier ist, das kauft Tombola-Lose. Wohl kaum aus Gewinnabsicht. Sondern weils der Frau oder der sonstigen Dame des Herzens oder der Tochter oder irgend einer "zu verpflichtenden" Bekannten Spaß macht. Paul Oskar Hoecker hat diesmal einen Roman von Paul Oskar Hoecker gewonnen. Da kann er von Glück sagen, denn nicht jedes Buch liest sich so gut. Aber die meisten Tombola-Spieler starren natürlich nach der majestätisch herniederhängenden Stola. Ich habe mir schon immer gewünscht, das dumme Gesicht zu sehen, das einer macht, wenn er mit dem Haupttreffer herauskommt. Leider hatte ich keinen Handspiegel bei mir, sonst hätte ich diesmal den Anblick gehabt. Ich bin es nämlich selber. Stehe da mit etlichen Dutzend Nieten in der Linken und fünf Gewinnlosen in der Rechten eingekeilt in der Menge. Nach dreiviertel Stunden bin ich dran. Ein Buch. Noch eins. Zwei Porzellantäubchen, - und ich hasse doch alle "Nippes" und sogenannten Aufstellsachen, auch wenn sie künstlerisch wertvoll sind. Gelangweilt harre ich des letzten Gewinns. Ich schaue auf den expressionistischen "Sitzenden Mann" drüben an der Wand: um Gottes Willen, bloß nicht dieses Geschmier! Nun wird ein "Ah!" in der Menge zum Brausen. Was ist denn los? Ach, irgend wer hat die Stola gewonnen. Sie wird gerade losgenestelt. Von mir aus kann sie gewinnen wer will. Da bringt man sie - mir. Schon ruft hinter mir in der Menge einer - es ist der Biograph des Fürsten Bülow, Dr. Spickernagel - meinen Namen. Ich lege den Finger an die Lippen, raune ihm zu:

"Ach wie gut, daß niemand weiß,
Daß ich Rumpelstilzchen heiß'!"

und bin so, wie ich es einst den Eidechsen oben auf dem Ai Petri am Schwarzen Meer abgeguckt, huschdibusch im Gewühl verschwunden. Noch kriegt mich der Stola-Spender, der Inhaber eines großen Pelzmodehauses , am Frackschoß zu fassen, um sich zu vergewissern, daß - so etwas geschieht nur alle hundert Jahre - ein wirklicher Dachstubenpoet und nicht ein Ausländer oder Milliardenschieber den Gewinn gemacht hat, noch wird im Gang hinter den Parterrelogen, in den ich entgleite, die Portière zurückgerissen, starren Gesichter über Brillantknöpfchen oder über Perlenketten mich wie einen Raubmörder an, dann aber kennt mich kein Mensch mehr. Nun bin ich wieder in meiner Loge. "Kellner, zahlen!" Nur fort, nur fort, bloß nicht ausgefragt werden! Harmlos tauche ich ganz anderswo wieder auf und lasse mich wegen der drei Bücher und des Porzellan-Federvolks beglückwünschen. Alle Achtung vor mir selbst. Ich bin innerlich genau so ruhig geblieben, wie im Flakfeuer hoch über Dünkirchen. Ruhig erwäge ich das Weitere. Um 4 Uhr morgens ist der Entschluß gefaßt: die Hermelin-Stola, die doch nur für eine Filmprinzessin paßt, wird gegen einen einfachen Seal-Kanin-Mantel umgetauscht, den meine Frau so gut brauchen könnte; denn ihr Fehpelz von 1907 ist heute stellenweise schon mehr Leder als Pelz, und aus eigenem könnten wir Herabkömmlinge uns doch nie einen neuen kaufen. Aber der Pelzmodehausbesitzer, den ich am nächsten Tage aufsuche, will nicht tauschen. Und Hermelin kaufen - wer tut das heute? So sitze ich wie König Midas da, dem alles, was er anfaßte, zu Gold wurde. Jetzt warte ich nur noch auf das Schreiben vom Finanzamt, in dem - das ist seit Erzberger Rechtens - Einkommensteuer von dem Lotteriegewinn verlangt wird. Vielleicht tausche ich die Stola gegen eine Waschmaschine, zwei Paar Damenhandschuhe und ein Kistchen Importen um. Wo nehme ich aber dann bloß die Steuer her?

Ein lieber Kollege, der letzte wirklich echte Bohemien Berlins, Adolf Petrenz, der als Leutnant der Gardelandwehr im Westen gefallen ist, besaß nie viel mehr als einen Deut und als einen leidlichen Kredit beim Weinhändler. Eines Tages - schon lange vor dem Kriege - erbte er plötzlich 10 000 Mark von einer alten Tante in Ostpreußen. Die versoff er so schnell, daß er sich, als bald darauf die Erbschaftssteuer bei ihm erhoben wurde, das Geld dafür pumpen mußte.

Ich hab' so eine Angst vor der Stola. . . .
29.März 1923 (Donnerstag).



Glossen 22 - 24

Jahresinhalt

Glossen 28 - 30

© Karlheinz Everts