"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 37 - 39
7. bis 21. Juni 1923


37

Argwohn an Spree und Isar - Der "Schupomann" - Häuserverfall - Zweiundzwanzig Operetten! - Alles spitzt den Mund - Matejkos Nachtbummel-Erfolge - Das Publikum in Böttchers "Tauroggen" - Oberammergau in Berlin

Es ist schon vorgekommen, daß jemand, der nachts nicht ganz kapitelfest nach Hause kam, auf sein eigenes Bild schoß, das ihm aus dem Flurspiegel entgegenflimmerte. Oder daß jemand sich auf seinen eigenen Schatten stürzte, weil er ihn für einen Einbrecher hielt. So ähnlich geht es gegenwärtig uns allen. Wir sind politisch betrunken; wir fiebern, wir schauen verglast. In einer Likörstube des Westens in Berlin, in der Motzstraße, stehe ich im Gedränge, mitten zwischen einer aufgeregten Gesellschaft. Ein etwas fremdartiger Geselle hält Volksreden. Die Bayern - siehe Prozeß Fuchs - verrieten Deutschland an Frankreich. Umgekehrt sehen natürlich auch manche Bayern in Berlin Gespenster: wir in der Reichshauptstadt, so heißt es, stünden unmittelbar vor dem Bolschewismus, vor dem Übertritt zu Moskau. Keine Spur! Wir versumpfen sozialdemokratisch, das könnte man allenfalls sagen, aber die revolutionäre Energie ist verpufft, die 1918 geklaute Munition ist inzwischen nicht besser geworden, die Machtmittel des Staates sind gestiegen und die freiwillig-nationale Gegenwehr wäre heute auch stärker wie je. Nur nicht auf das Zerrbild schließen, das der Gerüchte-Spiegel uns zeigt! Weder verkaufen die Bayern Deutschland an Poincaré, noch die Berliner Deutschland an Trotzki, solange hüben wie drüben eine kräftige Regierung wirklich gewillt ist, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Wir haben genug damit zu tun, abwechselnd das eine und das andere Bein aus dem Sumpf zu ziehen, um nicht zu versinken.

"Das Auge des Gesetzes wacht", hieß es einst. Seine Majestät der Schutzmann sorgte für Ordnung. Sumpfstellen wurden sehr schnell ausgetrocknet. In dieser Beziehung haben wir freilich jetzt kaum mehr etwas vor gewissen anderen Republiken voraus, auf die wir früher naserümpfend hinabsahen. In der besten Wohngegend von Berlin-Neukölln befindet sich ein Nacht- und Nepplokal in dauerndem Betrieb. Morgens um 5 Uhr werden die letzten Ausgeplünderten herausgeworfen und fallen den ersten Früharbeitern in die Arme. Die Polizei aber stellt sich dumm. Die Revierwache ist mit dem Lokal direkt verheiratet, heißt es. Hätten wir doch nur den alten blauen Schutzmann! Heute nennt man seinen Nachfolger in dem greulichen Nachkriegsdeutsch den Schupomann. Wir haben in neuen Namen reiche Auswahl. Sicherheitspolizei, Schutzpolizei, politische Polizei: Sipo, Schupo, Popo. Aber ein einziger königlicher Gendarm von ehedem hatte mehr Autorität als heute eine grüne Hundertschaft. Doch wird auch hier von den guten Elementen im Beamtentum eifrig gearbeitet, um allmählich wieder auf die frühere Höhe zu kommen. Es gibt "solchene" und "solchene". Auch in Berlin haben wir noch Schutzleute, die dem ehrenfesten früheren Unteroffiziertyp entsprechen. Im Ernstfall wird der Mob ihrer nicht Herr; das größte Hindernis für unsere vollkommene Gesundung sind nicht die kommunistischen Verbrecher, sondern die sozialistischen Regierungsräte.

Ihre Weisheit bringt überall Verfall. Am sichtbarsten tritt das an unseren Häusern in Erscheinung. Die Folgen der sozialistischen Zwangsmietwirtschaft sieht man schon, wenn man von irgendwoher mit der Eisenbahn in Berlin einfährt: der Putz fällt ab, nackte Mauerflächen starren, sodaß man sich die Feuchtigkeit innen vorstellen kann, der Schmutz nimmt überhand. Viele Ausländer, die in den letzten Jahren "auf Deubel komm' raus" Häuser kauften, lassen jetzt nichts von sich hören, es sei denn, daß sie inzwischen an andere Dumme die Grundstücke - weiter verkaufen. Inzwischen sorgen sie für nichts, verzichten sogar auf Einziehung der Mieten, weil die Lasten und Reparaturkosten höher sind, und hie und da haben sich schon die Mieter solch eines "herrenlosen" Gebäudes zusammentun müssen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten und nicht bei lebendigem Leibe zu verschimmeln. Es kommt sogar vor, daß die Verwalter in den Geldannahmestreik treten. In demselben Berlin-Neukölln, in dem das genannte Nacht- und Nepp- und Spiellokal in nächster polizeilicher Nachbarschaft floriert, nur in einer anderen Stadtgegend, Schillerpromenade 5, hat der Verwalter Günther folgenden wörtlichen Aushang angebracht:

"Da die Umlage des Portiers für März und April von 4874 Mark nicht erledigt ist, wo dieselbe bezahlt, da daß Verwaltungsgeld nicht ausreicht, ich aber aus meiner Tasche dieselbe zu zahlen nicht geneigt bin, werde ich bis daß geregelt ist, keine Miete kassieren und keine Rechnungen bezahlen und bitte ich bis dahin in Hausangelegenheiten mir nicht zu belästigen.
E. Günter."

Zunächst lacht man und freut sich, daß man "ihm" mit Mietbezahlung nicht mehr zu belästigen braucht, zumal da es auch in solchen Fällen mit dem Exmittieren lange Wege hat, aber das dicke Ende kommt nach. Das Haus wird unwohnlich. An den eigenen Sachen zeigen sich Stockflecken. Vom Hof kommt pestilenzialischer Geruch. Treppenstufen faulen und brechen durch. Es zieht durch pappeverklebte Fensterlöcher. Allmählich wird der Zustand moskowitisch. Ganz so weit sind wir noch nicht, wie in dem Paradies des vollendeten Sozialismus, aber unser angefangener ist doch auch schon recht sichtbar.

Dafür kann man heute an 22 verschiedenen Stellen in Berlin sich eine Operette anhören; in der ganzen Stadt summt es von "Schlagern" wie in einem Bienenkorb. Sogar der alte Vörös Miska, der Zigeunerprimas, der in längst versunkenen Zeiten im Café Friedrichshof Walzer und Czardas fiedelte, ist unter die Operettenkomponisten gegangen. Man kann nachgerade nicht mehr auseinander halten, was da auf Bühnen und Bühnchen geträllert wird. Es ist ja alles so - ähnlich. Aus neun Operetten läßt sich immer noch eine zehnte destillieren, und wer heute Symphonien komponiert, der ist ein langmähniger Narr. Nur Musik, die in die Beine geht, rentiert noch. Sogar für ganz Unbeteiligte. Geht da unser Dienstmädchen dieses Tage zur "Süßen Susi" - auch so eine Operette - und strahlt seither und lacht und summt und setzt sich wahrhaftig gestern Abend, schon sozusagen nach Dienstschluß, freiwillig noch einmal hin und schnippt 8 Pfund grüne Stachelbeeren ab, immer rhythmisch, allegro vivace. Na, dann also meinetwegen Operette. Da es an nicht weniger wie zweiundzwanzig Stellen welche gibt und allabendlich alle Plätze ausverkauft sind, trifft man nur noch selten einen Menschen, der nicht mit gespitztem Munde herumliefe. Die jungen Mädchen sehen alle so aus, als wenn sie einen Kuß haben wollten. Aber "wat Sie denken, mein Herr, is nich," - sie wollen bloß leise und vergnügt pfeifen, irgend einen Schlager natürlich, und die älteren Damen machen dasselbe, weil das Mundspitzen ansteckt, nur denken sie dabei an frühere Schlager. "Männe, hak' ma mal de Bluse zu" und so.

In der Malerei geht es ähnlich wie in der Musik. Die Herren von Pinsel und Palette sollten nicht mehr auf den großen Schlag durch ein gewaltiges Kunstwerk spekulieren. Dafür gibt es bei uns keine Käufer mehr, und das Ausland will nur was von Leuten, die längst tot sind. Also bitte: operettenmäßig malen! Matejko hat neulich ein prachtvoll aufrüttelndes Ruhrplakat hingeworfen, einen mit dem Kolben dreinschlagenden Poilu, der so ein bißchen zitronenfarbig aussieht, der aussieht, als habe sich seine Mutter an einem Tonkinesen versehen. Das war den Gewerkschaften bei uns, die in solchen Dingen oberste Kunstbehörde sind, zu aufreizend. So erfanden sie denn den schäbigen Ablehnungsgrund, daß Matejko Ungar sei, also Ausländer und daher nicht konkurrenzberechtigt. Diese echt "internationale" Auffassung hat der Maler lächelnd zu dem übrigen gelegt und sich dafür durch einen Nachtbummel bis morgens um ½3 entschädigt, um mal zu zeigen, daß er auch ohne "offizielle" Aufträge existieren könne. Es ging durch eine Reihe von Berliner Weinstuben, Cabarets, Unterhaltungsrestaurants; Matejko (er zeichnete die Porträts aber schamhaft als "Mantelmann", da man ihm den "Schwindel" mit Matejko nicht glauben wollte) produzierte sich im Schweiße seines Angesichtes als Schnellmaler, warf eine Barmaid, einen Cocktail-Schlürfer, einen Geschäftsführer ("Jruß-August" nennt der Berliner diese Herren, die an den Tischen entlang sich verbeugen) und dann verschiedene Gäste aufs Papier - "in drei Minuten, bitte, ohne Radiergummi" - und hatte am Ende der Nacht, obwohl die Portiers und die Schlepper ihm Prozente abnahmen, schließlich rund 600 000 Mark beisammen. Wenn die Leute wüßten, wer sie gemalt hat, kriegten sie wohl das Zehnfache dafür, wenn sie diese Skizzen weitergäben. Das ist ja "direkt Valuta". Also hie und da lebt man noch in einem ganz lustigen Berlin. Der Taumel ergreift auch Leute, die nur noch vom Veräußern von Sachen und Sächelchen leben, die früher in der Rumpelkiste lagen, einer störrischen Taschen-Zylinder-Uhr, einem Konfirmationskettchen, ein paar alten Kupferstichen, einem Markenalbum. "Verkaufen und nicht Verzweifeln!"

Diese ganze Gesellschaft von Enterbten der neuen Zeit war an diesem Mittwoch im Theater in der Kommandantenstraße beisammen, in dem zum ersten Male Böttchers "Tauroggen" - früher hieß es "Vaterland" - gegeben wurde. In Hamburg hat das Stück vor ein paar Jahren Stürme nationaler Begeisterung ausgelöst. In Berlin sitzen wohl zu viel Verbitterte im Zuschauerraum. Unmittelbar vor mir ein alter Herr mit buschigem Schnauzbart, sagen wir etwa, Oberst a.D. von 1897, der dauernd knurrt: "Jawohl - und heute?" Hinter mir ein einarmiger jüngerer Herr, den seine Nachbarinnen als Herrn Major anreden, der ebenfalls dauernd sein Herz erleichtert. Überall erregte, ärmlich, aber sauber gekleidete Menschen, das große Leid im Gesicht. Einige ganz junge gut genährte Leute, freiwillige nationale Claque, versuchen zur Unzeit so etwas wie eine Demonstration. Es verfängt nicht. Hier ist man über Hurrapatriotismus hinaus. Hier frißt nur der Grimm. Meiner Frau glühen zwar die Backen, die begeistert sich an der knorrigen Figur Yorcks v. Wartenburg, die der alte Gregori gibt, aber ich selber habe ein Gefühl grenzenloser Leere in mir. Wo ist das 1813 in unserem Volke geblieben? Wo sind die Massen, die vor dem Theater Schlange stehen, um hineinzukommen? Warum sind nur die steinernen Gesichter unserer Herabkömmlinge hier zu sehen? Möglich, daß es in den nächsten Tagen anders wird; aber doch wohl nur, wenn ein Erdbeben die Operettentheater verschlingt.

Ein ähnliches Bild erleben wir jetzt im Riesenbau des Zirkus Busch, in dem das große Passionsschauspiel der "oberschlesischen Oberammergauer" vor einer erschauernden Menge gegeben wird. Hier tragen die Zuschauer ein anderes Leid. Auch, wenn man so will, um das Vaterland, - aber um das himmlische. Hernhuter-Schwestern, Nonnen, ganze Parochialvereine ringsum, dazwischen "Laien", denen der schmale Geldbeutel im vorigen Sommer die Fahrt nach Oberbayern nicht gestattete und die doch einmal in ihrem Leben das große Mysterium "vom Leiden und Sterben unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi" leibhaftig auf sich wirken lassen möchten. Die Berliner Kritik ergeht sich in einigen verlegenen Randbemerkungen. Das Volk, diese zuerst "Hosiannah!" und dann "Kreuzige ihn!" rufenden 600 schlesischen Gebirgler, die ganz wundervoll ihrer Aufgabe leben, trügen, sagt die Kritik, - keine richtig orientalischen Sandalen. Ach, wir anderen haben auf so etwas nicht geachtet. Für uns war es Offenbarung. Und viel, viel ergreifender noch als in Oberammergau. Die Hauptrollen sind wirklichen Schauspielern anvertraut, die man sorgsam in ganz Deutschland ausgesucht hat, sodaß sie schon äußerlich dem legendären Bilde entsprechen; darunter der Heiland in seiner strahlenden Milde wirklich "der schönste unter den Menschenkindern" und später, im Leiden nach der Geißelung, ein Ecce Homo wie aus dem Bilde von Guido Reni herausgeschnitten. Kreuzigung, Abendmahl, Auferstehung von einer hinreißenden realistischen Eindringlichkeit und doch voll strahlender Schönheit. Nichts störendes, kleines, menschliches in der ganzen Aufführung. Die Massenchöre ergreifen. Das ganze eine Bad für arme, kranke, müde, hoffende Seelen, wie es der Großstädter sonst nirgends findet. Am selben Abend habe ich zehn neue Eintrittskarten gekauft, um sie lieben Menschen zu schenken. Die große Passion allein lohnt heute eine Reise nach Berlin.
7.Juni 1923 (Donnerstag).


38

Meine kleine Bekannte - Dornröschens Reich in Berlin - Der Liliputaner als Staatsbibliothekar - Ein Republikaner-Denkmal am Brandenburger Tor - Vertrottelung - Der Herr Ober

Es fällt auf, wenn wir uns treffen, Fräulein Dörfler und ich. Meist in der Königgrätzer Straße. Ich gehe nämlich sofort in Hockerstellung, wenn ich nach der ersten Begrüßung mich mit ihr unterhalte, und das fällt natürlich auf. Aber es ist nötig. Sonst würde in dem Trambahnlärm und Autogetute Fräulein Dörfler mich doch nicht verstehen. Denn sie ist nur etwas über 80 Zentimeter groß.

Dann verabreden wir ein ungestörteres Stelldichein. In ihrer Wohnung in der Wilhelmstraße bin ich noch nicht gewesen, obwohl ich die putzigen Sächelchen gern gesehen hätte, die sie und die anderen "kleinen Leute" umgeben, die 1 Meter langen Bettchen, die Tischchen, die Stühlchen, das Buffetchen, überhaupt das ganze Märchen, wie Dornröschen es einmal erlebt hat. Schon seit Jahren hatte ich den Eindruck, daß Berlin eine Art Hauptquartier unserer Gnomenwelt sei, denn immer tauchen hier, namentlich in der Gegend zwischen den Linden und dem Halleschen Tor, viele dieser kleinen Wesen auf, sind aber, kaum, daß man sich nach ihnen umgeguckt hat, schon in dem Gewühl entschlüpft. Dieses eine winzige Dämchen aber habe ich einmal gestellt. Wie in Berlin üblich: ich habe sie einfach "angequatscht". Darin habe ich Übung. Also ich besuche Fräulein Dörfler während ihrer Mittagspause an ihrer Arbeiststätte. Sie, die ursprünglich ausübende Musikerin ist, hat sich jetzt, einem alten nie gestillten Drange folgend, auf die Malerei verlegt und studiert vom Morgen bis zum Abend in der städtischen Zeichenschule, Tempelhofer Ufer 15. ich treffe Fräulein Dörfler auf dem fast unabsehbar langen Korridor mit den vielen Gipsmodellen und Naturpräparaten. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellt und den Arm nach oben streckt, kann sie gerade die Türklinke fassen. Wir treten ein, sie legt einen Stuhl um, der ihr dann sozusagen als Treppenstufe dient, und voltigiert von da aus auf den stehenden anderen Stuhl. Es ist ein schnelles Wippen. Es erinnert ein bißchen an Bachstelzen. Irgendwann und irgendwo - wir beide sind ja weitgereiste Leute - habe ich Fräulein Dörfler schon vor Jahren in einem großen Variété gesehen. Sie schlug das Xylophon. Die Faustphantasie. Die Spanische Serenade. Und, bitte sehr, diese Serenade mit dem ungeheuer schwierigen Schlußteil, also nicht etwa, wie es sonst fast alle tun, schon nach dem Walzer abgebrochen. Die Arme sind kurz, das Xylophon ist groß, das ganze kleine Persönchen muß sich also vornüber werfen, um mit den Hämmern die letzten Tasten zu erreichen. Das Publikum rast, so viel ist mir noch erinnerlich, über die sportliche Leistung. Die musikalische Leistung, namentlich im Creszendo und Decreszendo, vermag es nicht so zu schätzen. Und Fräulein Dörfler möchte doch so gern ihren Intellekt anerkannt sehen, nicht immer nur ihre Putzigkeit. "Diese Schaustellerei ist das Entsetzlichste in unserem Leben!", sagt sie. Glaub' ich gern. In Paris hat es mal, 1909, allerdings eine sehr nette Schaustellung von kleinen Männlein und Fräulein aus aller Herren Länder gegeben, eine richtige Liliput-Stadt war da im Jardin d'Acclimatation aufgebaut, mit Zementhäuschen, mit einem eigenen Polizei- und Postämtchen, einer puppenhaften Kirche, einer richtigen kleinen Trambahn, und das war ein Jubel und erlebtes Märchen für alle Kinder von Paris und die fremden Besucher, und auch das zur Schau gestellte Völkchen hatte seine Freude daran, daß es anderen so viel Freude machte. Dann, 1911, versuchte ein aus dem Osten stammender Unternehmer, Rustin, etwas ähnliches in Berlin zu machen, aber es gab schon vorher eine große Pleite; und von den von überallher zusammengetrommelten kleinen Menschen blieben dann eben die meisten in Berlin hängen. Da sind ein paar in der Großbeerenstraße, die machen feine Handarbeiten. Da ist einer am Halleschen Ufer, der filmt; er ist der Krösus unter den Seinen und läuft in Lackreitstiefelchen, Breeches und Sportpaletot herum wie ein neureichen Tiergarten-Gent. Da ist eine, die verkauft Blumen auf dem Leipziger Platz. Eine andere in der Wilhelmstraße ist brave Hausfrau und ihr Mann purzelt als dummer August mit dem Zirkus Busch herum.

Das ist übrigens der erste von allen Genannten, auf den das Wort "Zwerg" paßt, das ich im Geplauder mit Fräulein Dörfler ängstlich vermeide. Sie gebraucht es nie. Sie gehört zu den "kleinen Leuten". Das sind Menschen mit ganz normalem Kopf, geistig regsam, aber winzig gebliebenen übrigen Körperteilen. Dann gibt es Liliputaner, bei denen alles gleichmäßig klein ist, auch das Puppengesicht. Und schließlich Zwerge: die haben einen Wasserkopf. Sind dabei sonst ganz stämmige kleine Kerlchen, mitunter sogar - mit einer normal großen Frau verheiratet; denn es ist "sonst alles in Ordnung" bei ihnen, sie könnten sogar zu einer Figur des altgriechischen kleinen Gottes Priapos Modell stehen. Die niedlichsten sind natürlich die Liliputaner. Die für mich interessantesten aber die "kleinen Leute", deren Geistes- und Seelenleben wie das unserige ist, die, wie die kleine Dörfler, Mutterwitz und gesundes Urteil haben und mit aller Kraft aus dem Dasein als bloßes Schaustück hinausstreben. Ein paar Film-Ideen hat jetzt die regsame Kleine, die sind einfach köstlich; und wenn die Decla-Gesellschaft, der sie vorgelegt sind, mit Fräulein Dörfler daraufhin abschließt, so gibt das ein glänzendes Geschäft. Diese ehrliche Arbeit der kleinen Leute - Fräulein Dörfler erhält ihre noch kleinere Mama vollständig, hat schon seit ihrem 12. Jahr, wo der Vater starb, resolut alles Finanzielle übernehmen müssen - diese ehrliche Arbeit ist ein Stück Sklavenemanzipation. Man muß heraus aus den Tatzen der Schausteller. Da ist ein armes kleines Jungchen, der Seppel-Toni, der in einem stillen Alpental als umhergestoßenes Kind eines degenerierten Säufers aufgegriffen wurde. Jetzt wird er in der ganzen Welt herumgeschleppt. Von ihm leben sein Sklavenhalter, dessen "Braut", dessen Schwester, dessen Nigger-Socius; er selber aber, der Seppel-Toni, wird nur mäßig genährt und muß unter einem rüden Publikum trinken und dicke schwere Zigarren rauchen, bis ihm übel wird, bis er schmerzhaft sein Mäulchen verzieht und unter dem Gewieher der Zuschauer erbrechen muß. Über nichts amüsiert sich das Viechsvolk so sehr als über seine eigene Karrikatur.

Irgend ein Doktor Soundso, ein gelehrter Deutscher, soll eben ein Werk unter der Feder haben, das sich auch mit den geistigen Qualitäten der kleinen Leute und der körperlich Verkümmerten abgibt. Wenn es nicht Mikrocephalen sind, sogenannte letzte Azteken, kann man da vielfach seine helle Freude an ihnen haben. Mit einem Beinahe-Liliputaner zusammen bin ich als Gymnasiast in der gleichen Klasse gewesen. Vater und Mutter waren normal gewachsen, aber - blutsverwandt, waren Vetter und Base. Kriegten immer abwechselnd ein großes und ein klitzekleines Kind. Richard Schmidt war das kleinste. Noch als Student machte er den Eindruck eines ungemein zartgliedrigen, hauchfeinen fünfjährigen Kindes. Als wir beide Primaner waren, machten wir zusammen die erste große Seereise um halb Europa in vieler Herren Länder. Seine Eltern beschworen mich, auf den Kleinen Acht zu geben. Und meine Eltern beschworen ihn, auf mich Acht zu geben, da er der bei weitem Vernünftigere sei. So war es auch, meine Eltern hatten Recht. Während unser große Dampfer - Richard Schmidts Onkel war Reeder - in Newcastle lag, schwamm ich in Tynemouth weit ins Meer hinaus, wurde von der Strömung gefaßt und entführt und konnte nach anderthalb Stunden wilden Ankämpfens kaum mehr jappen, als man mich dann glücklich heimholte. Mein kleiner Freund aber hatte inzwischen über seinen geliebten Büchern gesessen. Er hat es als geachteter Gelehrter bis zum Posten eines Staatsbibliothekars in Tiflis im Kaukasus gebracht; während des Krieges kam er, weil deutscher Herkunft, ins Gefängnis und ist da gestorben. So weit, bis zum Staatsbibliothekar, bringe ich es nie. Ich gehöre zu den Dummen dieser Welt, die noch nicht einmal Republikaner sind und auch sonst gänzlich unmodern und aus der Art geschlagen.

Aber man darf auch als Nichtrepublikaner und Nichtrevolutionär nicht blind sein. Man muß doch wenigstens anerkennen, daß Revolution und Republik ein Teil - ein episodenhafter, hoffen wir - unserer deutschen Geschichte geworden sind, genau so wie um 1200 das sogenannte Interregnum, "die kaiserlose, die schreckliche Zeit", zur deutschen Geschichte gehört. Es ist daher auch nichts dagegen zu sagen, wenn die Träger des republikanisch-revolutionären Systems ihre Embleme und sogar ihre Personen in Erz und Stein verewigen, vorausgesetzt, daß sie das gleiche historische Recht der vergangenen Periode anerkennen und schützen. Man sollte endlich mit dem kostspieligen Abschlagen der Erinnerungen aus der Kaiserzeit aufhören. Das Geld, das man dann spart, könnte in einem "Nationalfonds der Revolution und Republik" zusammengetragen werden, aus dem ein November-Denkmal in Berlin zu errichten wäre, damit unsere Kinder, wenn sie sich wieder einen "gelernten" Kaiser holen, die gegenwärtige Zeit nachher auch in einer Art Anschauungsunterricht genießen können, wie sie früher in der Siegesallee die Brandenburger Markgrafen lernten. In diesem Falle wäre ich sogar für Platzschaffen durch Entfernung zweier monarchischer Denkmäler, nämlich des marmornen Kaiser Friedrich und seiner Frau am Eingang zum Tiergarten vor dem Brandenburger Tore. Künstlerisch sind die Figuren, darin hat Professor Max Liebermann, ihr langjähriger Anwohner und Kritiker, wohl Recht, keineswegs eine Bereicherung Berlins, und historisch werden sie nach 100 Jahren nur Ballast sein, da die drei Monate Regierung des kranken Helden. der auf den Kriegsbildern der Siegessäule und der Ruhmeshalle schon genügend verewigt ist, natürlich keine starke Wirkung hinterlassen haben. Erträglich wurden die beiden Denkmäler nur durch die sprudelnden großen Marmorbrunnen zu ihren Seiten, die silbernes Wasser gegen den grünen Tiergarten-Hintergrund warfen. Jetzt sind sie stillgelegt wie alle Wasserkünste in Potsdam und Berlin. Man hat nicht mehr das Geld dafür. Kein Wunder in einer Zeit, wo selbst die Töchter des berühmten Tierschilderers Alfred Brehm, dessen Werk in Zehntausenden von Häusern im Bücherschrank steht, in bitterer Not dahinleben, in einer Zeit, wo die Schwester eines anderen verstorbenen deutschen Gelehrten, um sich Brot beschaffen zu können, den Zinksarg des Bruders hat ausgraben, gegen einen fichtenen vertauschen und dann verkaufen lassen. Also geben wir die Springbrunnen und die Denkmäler Kaiser Friedrichs und seiner Frau preis und füllen wir die leeren Stellen mit allen seit November 1918 berühmt gewordenen Zeitgenossen! Zumal da Castans Panoptikum und das Passage-Panoptikum inzwischen eingegangen sind. Links wie rechts der Charlottenburger Chaussee würden sich im Mittelpunkt der neuen Gruppendenkmäler am besten ein paar Größen machen, deren Körper- und Geistesumfang sie hierfür prädestiniert, nämlich Erzberger und Ebert; flankiert würden sie, statt von Springbrunnen, von anderen Hervorragenden unserer Zeit, von Eisner und Groener, von Scheidemann und dem Prinzen Max. Gibt es noch charakteristischere Typen, so mögen die Vorschläge für sie gemacht werden. Jedenfalls meine ich allen Ernstes, daß so etwas gut und nützlich ist, erstens, wie gesagt, wegen des späteren geschichtlichen Unterrichts und zweitens wegen des allgemeinen Burgfriedens: niemand wird sich mehr bemüßigt fühlen, Zollernadler die Schnäbel abzuschlagen, wenn er für "seine" republikanischen Denkmäler Duldung und Achtung erwarten muß; und wer späterhin - wie unsereins heute vor Bismarck und Moltke schwarzweißrote - vor Erzberger und Ebert aus Pietät schwarzrotgelbe Schleifen niederlegt, um den Führer zum Verständigungsfrieden von Versailles oder den Führer im Munitionsarbeiterstreik von 1917 zu ehren, der kann dann sicher sein, daß kein Rohling der Rechten ihn stören wird. Man muß einander verstehen lernen, das ist alles.

Nur fehlt es noch den meisten Leuten an der beschaulichen Ruhe zu solchen Plänen. Das Wettrennen zwischen Lohn und Preis absorbiert wieder einmal alle Gedanken. Man schuftet um sein bißchen Dasein. Nur wenige Illusionisten erhoffen noch von unseren Parlamentariern, den neuen Souveränen Deutschlands, eine Wende der Nöte. Ein Abgeordneter, der seit 20 Jahren im Reichstag sitzt, wurde heute von einem Wähler gefragt: "Merken Sie denn nicht, daß Sie bei diesem Betriebe allmählich vertrotteln?" Der schlagfertige Reichsbote antwortete: "Das merke ich schon längst, aber bei jeder Wahl kriege ich mehr Stimmen!" So ist es. Es liegt nicht nur an den Führern, sondern auch an der Masse. Es ist alles demokratisiert. Das heißt, es geht mehr oder weniger allen schlecht. Aber - man wird mehr "ästimiert". Das ist der große Fortschritt gegen früher. So ruft beispielsweise kein Berliner, auch wenn er schon die neuen Millionen-Banknoten und vieles "Kleingeld" von Hunderttausendern in der Tasche hat, wie ehedem protzig: "Kellner, zahlen!" Diese Barschheit überlassen wir anderen Völkern. Das Wort "Kellner" ist aus dem Berliner Sprachschatz völlig verschwunden. Der Engländer ruft in seiner Sprache: "Wärter!" Der Franzose: "Junge!" Der Russe: "Mensch!" Wir aber kennen weder Kellner noch Waiter, noch Garçon, noch Tschelowek, wir flöten nur: "Herr Ober!" Auch das ist schon fast überholt. Ein Ausländer, der in der Regina gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche nicht gleich bedient wurde, rief neulich schmelzend: "Bittäh, Herr von Ober!"
14.Juni 1923 (Donnerstag)


39

Der neue Fremden-Strom - Die Sehnsucht der Auslandsdeutschen - Palmarum-Brüder - Ein kommunistischer Leutnant a.D. - Landesverräter - Kartoffel-Polonaisen in den Markthallen - Arbeiten und nicht verzweifeln!

Es ist nicht wahr, daß in Berlin die Stachelbeeren stückweise verkauft werden und daß einem das Papiergeld dafür nach Gewicht abgenommen wird.

Aber was nicht ist, kann noch werden.

Trotzdem kann man von einer Teuerung eigentlich nicht sprechen, falls man nur genügend Geld hat. Im Gegenteil: es ist wieder mal eine ungeheure Verbilligung ausgebrochen. Der beste Beweis dafür ist, daß die Ausländer wieder scharenweise herströmen, obwohl sie in Berlin allein 80 Prozent Beherbergungssteuer zahlen müssen und die Presse aller Länder vor dem Besuch Deutschlands warnt, da es fremdenfeindlich geworden sei. Alles Unsinn. Die billige Mark lockt unwiderstehlich.

Die Schnellzüge namentlich aus den östlichen Ländern sind neuerdings so überfüllt, daß Reichsdeutsche, die etwa in Gumbinnen einsteigen, die Nacht hindurch bis Berlin meist stehen müssen. Und doch ist uns dieser Besuch nicht unlieb. Die Zeiten, wo im wesentlichen das feindliche Ausland uns überschwemmte, sind vorbei. Heute erlebe ich es nicht mehr, daß ein alter Mann (Typ: Farmer) mit kleinstädtisch angezogener Frau und etwas geschniegelterem Jungen ratlos und hilflos hier auf der Straße steht und sich wieder in die Heimat zurückwünscht, weil er kein Wort Deutsch kann, und mir dann fast um den Hals fällt, als ich ihm den Weg zum Hotel weise: er sei, sagte er, direkt "from Australia" gekommen. Heute sprechen fast alle Ankömmlinge gut Deutsch und kommen mit froh erstaunten Augen und heißem überquellendem Herzen her; es sind Grenzdeutsche und Auslandsdeutsche und Überseedeutsche, zum Teil solche, die schon seit den Kinderjahren die Heimat nicht mehr gesehen haben oder "drüben" schon geboren oder gar von den Vorvätern her dort angesessen sind. Sie suchen Deutschland im Leide auf. Und finden die schmerzgebeugte Mutter Germania doch über alle Maßen schön und trotz aller Revolutions-Verlumpung immer noch so sauber und ordentlich und arbeitsam, daß man wahrhaftig mit ihr Ehre einlegen kann. Aus den Randstaaten im Osten kommen die baltischen Stammesgenossen gleich familienweise auf ein paar Monate. Die große heilige Sehnsucht ihres Lebens geht endlich, endlich in Erfüllung, weil Letten-Rubel oder Eesti-Mark heute so hoch stehen, daß man sich die Fahrt in das gelobte Land der Väter gönnen kann. Die guten Leute können es im Zuge vor der Grenze kaum mehr erwarten. "Mammi, wann kommt denn Döitschland?" Und wenn sie die erste deutsche Uniform sehen, den knappen dunkelgrünen Waffenrock des Zollbeamten, purzeln ihnen die Freudentränen über die Backen. Und nun in Berlin, da möchten sie das Brandenburger Tor am liebsten streicheln. Und dann heißt es: "Mammi, wo wohnt denn der Keiser?"

Etwas weniger empfindsam sind die vielen Österreicher, die jetzt auch zu Hauf kommen. Für sie ist Binz oder Westerland, trotz der weiten Reise, jetzt billiger als Portrose oder Abbazia, wohin sie vor dem Kriege pilgerten; ja der Harz billiger als sogar der Semmering, Oberstdorf billiger als Steinach. Nebenbei machen sie meist Geschäfte. Kaufen in Berlin Häuser oder sonstwas. Auch diese Gäste sprechen alle Deutsch. Dazu kommt noch aus dem Reiche selbst ein stärkerer Zustrom als sonst, nicht nur von den Vertriebenen aus Ruhr- und Rheinland, sondern auch von Stellensuchern aus allen übrigen Gegenden. Unter den Linden und in der ganzen Friedrichstadt trifft man um diese Zeit auffallend viele Mimen, Provinz-Mimen, die daheim nur im Winter spielen und nun noch kein Sommer-Engagement haben. Man nannte sie früher "Palmarum-Brüder", weil am Palmsonntag ihr Zuzug einsetzte. Neuerdings, wo in den Mittelstädten das Vergnügungsbedürfnis stärker anhält, kommen sie meist erst um Pfingsten. Berlin ist keineswegs Kunststadt an sich, aber der große Börsenplatz der Kunst: von hier aus wird überall hin vermittelt. Nun kommen die Herren und Damen an und möchten, wenn nicht gleich ans Deutsche Theater oder das Staatliche Opernhaus in Berlin, so doch in eine neue Stellung in irgend eine deutsche Großstadt. So gegen Ende Juni werden die Gesichter länger und länger. Dann ist man froh, wenn der Agent einem eine kurze Bleibe während der Kurzeit am Sommertheater auf Helgoland oder in Zoppot anschafft. Auch jegliche andere Kunst trabt jetzt die Berliner Agenturen ab, um wenigstens eine Gastspielroute zusammenzukriegen. Sent M'Ahesa, die ehemalige Münchener Archäologie-Studentin, tanzt gerade in Bad Elster. Andere Koryphäen frieren im Strandhaus zu Deep oder warten in Harzburg auf den nächsten Schneefall. Man sollte meinen, daß das jammervolle Wetter dieses Frühsommers für alle Bühnen und Säle in Kurorten ein glänzendes Geschäft sein müsse, aber die Besucher der Vorsaison gehen eben nicht einmal zu den Aufführungen, sondern sitzen im Hotel mit einer wollenen Decke über den Knien und trinken Grog. Noch nie war Berlin so voll von Palmarum-Brüdern wie gegenwärtig. Man erkennt diese Provinzmimen - die aus Großstädten mit ständigen Jahrestheatern gehören natürlich nicht dazu - schon von weitem an irgend etwas Auffälligem, auch wenn Löwenmähne, Künstlerkrawatte, Havelock und Calabreser nicht mehr getragen werden. Irgend etwas an ihnen trompetet, seien es auch nur die allzu weit herausstehenden Manschetten. Und irgend etwas an ihnen ist zerknittert, sei es auch nur das gelbliche Gesicht. An den Damen läßt sich ähnliches feststellen. Schon frühmorgens flanieren sie in gänzlich unmotivierter Seide; aber in den flackernden Blicken liegt Müdigkeit. Die Sorgen, die Sorgen! Die Fassade ist ja noch in Ordnung, aber die Ernährung funktioniert nicht, denn das Leben gerade dieser Herumgeworfenen, die mit großem Gepäck immer wieder von einem Ende Deutschlands zum anderen sausen müssen und immer über Berlin, ist relativ viel teurer als das der Ansässigen. Mit einem bewundernswerten Idealismus hungern sie sich durch, immer in der Hoffnung, einmal "entdeckt" zu werden, wie ja auch unsere ganz Großen, die Höflich, der Pallenberg, die Massary, der Wegener, die Straub, und wie sie alle heißen mögen, einst in irgend einem kleinen Nest angefangen haben. Man hofft und man wartet, man wartet und man hofft, bis die ersten silbernen Fäden an den Schläfen erscheinen und man endgültig und für immer "der Provinz-Mime" bleibt. Im Café Viktoria oder in der Skandinavia oder sonstwo, wo die Palmarum-Brüder rudelweise auftreten, führen sie zwar auch dann noch das große Wort. Haben immer "glänzende" Kritiken über sich zur Hand oder in der Tasche. Vom Kyritzer Anzeiger. Vom Neuhäuser Boten. Vom Haynauer Wochenblatt. Schaust Du irgend einem dieser Wildfremden auch nur eine Sekunde in die Augen, dann sagt er schon: "Aber Servus, olter Freind!" - und reicht Dir die Hand, an deren Goldfinger ein Schlangenring ("von der letzten Geliebten des Herzogs Ernst, einem Fräulein v. Nordheim") funkelt, und wenn dann noch eine ebenso wildfremde Dame erscheint, gut zurechtgemacht, wirklich Dame von oben bis unten, redet sie Dich womöglich auch gleich mit "Grüß Dich Gott, Meister!" an, und schon das nächste Mal gehörst Du zum Bau.

Viele von ihnen landen im Cabaret und kitzeln dort allabendlich das Wiehern zahlender Fettwänste heraus. Immer mehr von ihnen geben den Beruf auch völlig auf und übertragen ihren Optimismus auf etwas Lukrativeres. Da ist mir auf meinen Kreuz- und Querzügen einer über den Weg gelaufen, der 1914 voll glühender Begeisterung sich als Freiwilliger meldete. Nach ein paar Monaten kam er schwerverwundet heim; die Mitteilung von seiner Ernennung zum Leutnant wurde ihm auf das Krankenlager gelegt. Man fragte ja damals nicht nach Stand und Beruf, während im Frieden die Schauspieler, die es zum Reserveoffizier gebracht hatten, an den Fingern zu zählen waren. Nach Kriegsende kam er unter die Räder. Kein Engagement. Monatelang kein Engagement. Zuletzt war er zerfranzt und obdachlos und schlief nur noch sitzend in Wartesälen. Schloß sich dann den Kommunisten an. Heute ist er wieder rangiert und schiebt Sowjet-Kaviar. In ganzen Gallonen zu 20 Kilo und märchenhaften Preisen. Ich frage ihn, ob er mir nicht mal ein viertel Pfund von seinem Abfall besorgen kann. Er schmunzelt. Wollen sehen. Auf der Sowjet-Botschaft get er aus und ein. Nebenbei ist er - er ist immer noch der Künstler-Weltbürger mit dem weichen Herzen geblieben - dick befreundet mit einem Verlagsbuchhändler, neben dem er 1914 mit hinausgezogen ist. Der hat die August-Stimmung von damals noch nicht verloren. Der ist im März 1920 sogar zu Ehrhardt nach Döberitz hinausgegangen, um sich da noch einmal freiwillig zu stellen. Die beiden bringt die Politik aber nicht auseinander. In meiner Gegenwart schließen sie lachend einen Rückversicherungsvertrag: siegt der Schauspieler, so stellt er dem Buchhändler eine rote Hundertschaft als Schutzwache; siegt der Buchhändler, so läßt er den Schauspieler unter der schwarzweißroten Flagge unbehelligt. Ich für meine Person verzichte. Ich würde lieber als letzter Royalist am Laternenpfahl baumeln, als erster Minister in einem Sowjetstaate sein.

Unser Kaviar-Schauspieler ist persönlich ein lieber netter Kerl, in jeder Beziehung bürgerlich wohlanständig, hat mit der Verbrecher-Gilde, die sich heute auch kommunistisch nennt, nichts außer der "Idee" gemeinsam. Aber außer ihm läuft noch mancher "Leutnant a.D." in Berlin herum, der völlig entgleist ist. Mehr als ein Kriegsleutnant (die alten aktiven natürlich ausgeschlossen) ist bei den Kommunisten gestrandet oder in französischen Diensten.

Im übrigen: wie die Grippe an den Landesgrenzen nicht Halt macht, sondern über alle Erdteile sich verpflanzt, so sind auch die Nachkriegs-Erscheinungen nicht auf Deutschland allein beschränkt. Vieles den Berliner Zuständen sehr ähnliche erzählt mir ein ehemaliger englischer Generalstabsoffizier aus London. Er selber hat vor etwa einem Jahre in Köln seinen Abschied genommen und - eine Gesellschaft zur Versicherung von Schäden gegründet, die durch französische Beschlagnahme deutscher Schmugglerware entstehen. Was es heute nicht alles für einträgliche Geschäftszweige gibt! Nur den gemeinsten, den des Landesverräters, hat man drüben nie gekannt. Ein deutscher Kapitän zur See a.D., der früher in unserem Admiralsstab den Nachrichtendienst leitete, bestätigt es mir. Von unseren Tauchbooten ist manch eines durch Verrat aus der Heimat zu Grunde gegangen. Trotz aller mit großen Geldmitteln von unseren Agenten unternommenen Versuche ist es aber in England während des ganzen Krieges völlig unmöglich gewesen, auch nur einem einzigen der 510 000 Angehörigen der englischen Flotte das geringste Geheimnis zu entlocken. Dergleichen Dinge dringen sehr langsam bei uns in das öffentliche Bewußtsein ein, aber es geschieht schließlich doch, und wer in der Reichshauptstadt mit ihrer zusammengewürfelten Bevölkerung, in der die Quersumme aller deutschen Stimmungen sich zeigt, herumhört, der weiß, daß wir jetzt endlich aus der eigenen Geschichte ein wenig zu lernen beginnen. Besonders, wo wir es am eigenen Leibe erfahren, wie wir uns durch den November 1918 geschädigt haben. Dieselben Frauen, die sich damals in Berlin auf den Straßen zusammenrotteten und schrien: "Frieden wollen wir haben! Unsere Männer wollen wir haben! Butter wollen wir haben!", denken und sprechen heute ganz anders. Die Butter ist unerschwinglich. Und trotz der reichen Kartoffel-Ernte des vorigen Jahres nehmen die Kartoffel-Polonaisen in den Markthallen kein Ende. Unser eigentliches Volksnahrungsmittel ist knapp, obwohl wir Frieden haben und der Anbau genügend war.

"Da stimmt wat nich!"

Es ist noch nicht so weit, daß nun etwa die Masse öffentlich erklärt, früher sei alles besser gewesen und seit 1918 seien wir in die Irre gegangen, aber der Zweifel ist jedenfalls da und bohrt unablässig. In den letzten harten Wochen hat nicht einmal der Humor den Alt-Berlinern mehr geholfen; auch er friert und hungert. Und vor dem Schaufenster eines Papierladens zwischen Anhalter und Potsdamer Bahnhof, in dem "paritätisch" Hohenzollern-Bilder und Revolutionshelden-Photographien in Postkartenformat hängen, staut sich das Volk. Viele gehen hinein und kaufen. Aber keine Revolutionshelden. Das hat man satt. Man will leben und arbeiten. Die Periode der Verluderung scheint im Wesentlichen überstanden zu sein.

Die Menschen sind auch nicht mehr so hochmütig wie unmittelbar nach dem Umsturz. Ein typisches Erlebnis habe ich da dieser Tage mit einer echten Berlinerin, die schlicht und recht vom Pinseln kitschiger Heidelandschaften sich ernährt, also dutzendweise Fabrikware produziert.

"Es muß doch schrecklich sein, wenn man Künstler ist und keine Aufträge hat!", seufzt sie.

"Aber Sie haben doch welche!", begütige ich.

Und sie antwortet ehrlich: "Das ist ja eben noch schrecklicher, wenn man Aufträge hat und kein Künstler ist!"
21.Juni 1923 (Donnerstag).



Glossen 34 - 36

Jahresinhalt

Glossen 40 - 42

© Karlheinz Everts