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Tante Malchens Ilse - Alles spekuliert - Die neuen Betonhäuschen - Bettler und Schutzmann - Ein "volles" Glas Bier - Ruderfest am Kleinen Wannsee - Der Oberlehrer - Zur Bekämpfung der Schuldlüge
Tante Malchen aus Ostpreußen ist eigentlich erst im Oktober für Berlin fällig. Trotzdem ist sie heute schon da, mit einem neuen Kapotthut sogar. Alles sieht sie fragend an.
"Ja, liebe Kinder," erklärt sie den Wißbegierigen, "Ilse hat neulich gejungt!"
Alles ist starr. Ilse hat gejungt? Das achtzehnjährige kleine Bäschen in Insterburg? Und was ist das überhaupt für ein Ausdruck! Noch dazu - aus Tante Malchens Munde! Unsere Blicke sind schon nicht mehr fragend, sondern entgeistert.
"Aber tut doch nicht so, ihr Berliner," sagt die Tante jovial, "wenn ich einmal in eurer Sprache rede!"
Nun haben wir es. Nun kommt auch die Lösung des Rätsels. Tante Malchen ist ganz modern geworden. Tante Malchen spekuliert, Tante Malchen hat, wie sie sagt, ein schönes Stück Geld verdient, als das letzte Mal - junge Aktien der Ilse-Bergbau A.-G. herauskamen, auf die sie ein sechsfaches Bezugsrecht hatte. Daraufhin ist sie sogar Liegewagen 3. Klasse nach Berlin gekommen.
"Über mir lag ein Herr," erzählt sie, "da hatte man doch ein Gefühl der Sicherheit!"
Nein, diese Tante in ihrer Naivität ist ganz unmöglich. Was fangen wir bloß mit ihr an? Ich geniere mich ja fast, von ihr zu erzählen. Aber Tanten dieser Art sind ja heute Legion; man hört es von allen Seiten. Sie sind ein Kreuz für die Vorsteher aller Depositenkassen, mit denen sie, während das übrige Publikum, darunter auch viele andere Tanten, bedrohlich murrt, halbe Stunden lang konferieren.
Ob sie Meinung für Vogel Phönix hätten?
"Vogel Draht, gnädiges Fräulein!"
"Nein, Vogel Phönix!"
"Also Phönix Bergbau, bitte sehr!"
Tante Malchen wirft alles durcheinander. Ihr Pompadour, der mit dem neuen grauseidenen Futter aus ihrer alten Bluse, enthält außer Schlüsseln, Geldbeutel, Riechfläschchen, Hustenbonbons und Kuchenkrümeln noch eine Anzahl Zettelchen, auf denen die verschiedensten Aktien und Kurse notiert sind. Sie sucht immer nach dem richtigen Zettel, über dessen Angaben sie sich bei dem Bankvorsteher vergewissern will, und findet ihn nie. Im April hatte die Familie - einschließlich der beiden Amerika-Neffen - sich zusammengetan und Tante Malchen 25 Dollars gestiftet, damit sie sie bis zum Juli aufbewahre (Dollars sind ja wertbeständig) und sich dafür eine ausgiebige Sommerfrische am Strande in Rauschen oder auf der Nehrung in Kahlberg gönne. Natürlich hat Tante Malchen die Dollars sofort verkauft, um mit dem Erlös in Effekten zu spekulieren, was sie nach langem Überlegen und mehrfachen Konferenzen 14 Tage später denn auch tat. Seither hat sie immer "verdient", sich dafür u.a. den neuen Kapotthut und den Liegeplatz 3. Klasse nach Berlin geleistet, aber wenn sie heute die Effekten verkaufte und - das geht unter der Hand immer noch - wieder gegen Dollars eintauschte, hätte sie nur noch 11 Dollars.
Das kann man ihr aber nicht klar machen. Unzählige Familien in Deutschland haben eine solche Tante Malchen, die an einem Punkte begriffsstutzig sind. Und die Banken verdienen trotz verhältnismäßig kleiner Anlagen an diesen Tanten reichlich, weil die Tanten rudelweise auftreten und weil sie ihr Kapitälchen immer wieder von Tag zu Tag umsetzen, bis es einmal zu weiterer Spekulation nicht mehr langt und von der Familie aufgefüllt werden muß oder durch Verkauf der kleinen goldenen Schnupftabaksdose des Urgroßonkels neu gebildet wird.
Für die Banken ist jedenfalls andauernd Erntezeit. Um alles bergen zu können, brauchen sie Filialen über Filialen. In Berlin erstehen immer noch weitere kleine Betonhäuschen mitten auf dem Fahrdamm der Straßen und erhalten die Aufschrift: "Bank. Change. Exchange." Auch auf ungezählten Hinterhöfen, in Extra-Verschlägen von Zigarrenläden, ja in Kiosken irgend einer Toreinfahrt etablieren sich junge Bankleute und wechseln fremde Valuta in deutsches Papier oder nehmen Aufträge für die Börse entgegen. In ihrer Nähe treiben sich dann auch immer Gentlemen herum, die umgekehrt für deutsches Papiergeld Gulden und Pfunde und Franken verkaufen, natürlich zu einem aschgrauen Kurse. Das ist ein richtiger neuer Beruf mit Schleppern und Agenten. Vor dem Betonhäuschen steht vormittags immer eine ganze Schlange Menschen. Man mauß warten, man vertreibt sich die Zeit zeitgemäß, man spricht Kurse.
"Ich will 100 schwedische Kronen wechseln, was kriege ich heute wohl dafür?", fragt der nervöse dicke Herr.
Ein Langaufgeschossener zwei Plätze vor ihm sagt, er glaube, so und so viel.
"Ich bin das Warten satt, wollen Sie mir die 100 Kronen abnehmen und dann für sich einwechseln?"
Meinetwegen, sagt höflich der Lange. Beide treten aus der Reihe, um das Geschäft abzuschließen, - und siehe da, der eine oder der andere der Zuhörer tritt auch aus und bittet, ob man ihm nicht, gegen Provision für die Gefälligkeit natürlich, 10 oder 20 von den Kronen überlassen wolle.
Der nervöse Dicke und der gutmütige Langaufgeschossene sind unter einer Decke. Sie kaufen und verkaufen den ganzen Tag freihändig auf der Straße Valuta, sie verdienen unter dem Regenschirm mehr als manche andere unter dem Kronleuchter eines Luxusladens. Die Betonhäuschen aber sind neben Vorortvillen und Bankaufstockungen heute das Gangbarste in der Berliner Bauindustrie. Der Fremde, der hier ankommt, glaubt zunächst, sie dienten ganz anderen Zwecken. Aber diese "anderen" nützlichen Häuschen verschwinden immer mehr, weil die Stadt kein Geld dafür hat. Man kann in seiner Not lange darnach suchen. Man stößt immer wieder nur auf Kleinbauten, in denen man sein Geld loswerden kann, nichts anderes.
Wo das Geld so rollt oder vielmehr flattert, fällt manches ab. Man ist gedankenlos gebefreudig. Und gegen die Bettlerplage, die nachgerade bei uns orientalisch wird, kann die Polizei nichts machen, weil das Publikum in seiner Sentimentalität dagegen aufbegehrt. In der Königgrätzer Straße, gegenüber dem Völker-Museum, sitzt auf dem Bürgersteig ein kräftiger junger Mann in verschlissener Uniform, das eiserne Kreuz erster Klasse auf der Brust, und zeigt sein künstliches rechtes Bein, über dem die Hose aufgekrempelt ist. Er sieht gesund und wohlgenährt aus. Er "bettelt" nicht, er singt nicht, er spielt nicht Mundharmonika, er trägt kein Schild mit Leidensgeschichte auf der Brust, er sagt garnichts, er steckt nur das Geld ein, das ihm in den Schoß fliegt. Es fliegt reichlich, sehr reichlich. Deutschen dankt der Mann nicht einmal. Nur wenn "Valuta" kommt, läßt er sich allenfalls zu einem kurzen Zwiegespräch herbei. Am vorigen Sonnabend erscheint nun ein Schutzmann und fordert den Kriegsinvaliden auf, ihm zur Wache zu folgen. Da kommt der Grüne aber schön an! Im Nu ist schimpfendes, drohendes Publikum beisammen. Der eingekeilte Schutzmann wird blaß, faßt den Bettler aber an der Schulter und sagt: "Aufstehen!" Da springt der, blaurot vor Wut, auf seinem einen Bein auf und haut den Schutzmann mit der Faust ins Gesicht.
"Recht so, immer druff auf den Hund," sagt das Publikum, "erst läßt der Staat die alten Krieger hungern, dann will er sie auch noch verhaften!"
Noch ein Faustschlag. Der Schutzmann, der selber vielleicht alter Soldat ist, wird nun förmlich grau. Er läßt ab von dem Mann. Er wird weggedrängt. Er geht ab, um "Meldung" zu machen. Ich gebe ihm meine Visitenkarte, um nötigenfalls für ihn zu zeugen, während der Invalide inzwischen viele Dutzende von Namen solcher Leute notiert, die umgekehrt für ihn eintreten wollen. Als sich alles verlaufen hat, komme ich mit dem Inhaber des Tabakladens ins Gespräch, vor dem der Einbeinige zu sitzen pflegt. Der sei vollkommen arbeitsfähig, höre ich. Er nehme aber keine Stellung an. Etwa Bahnsteigschaffner - das sei ihm viel zu poplig. Er kaufe täglich bei ihm, dem Tabakhändler, Zigaretten zu 300 Mark das Stück in großer Zahl und rühme sich, täglich durchschnittlich 120 000 Mark zu verdienen. Das Eiserne Erster habe er sich selbst angebammelt, verliehen worden sei es ihm niemals, das habe die Polizei bereits festgestellt.
Ich glaube, ähnliche Fälle gibt es zu Hunderten allein in Berlin. Und dicht daneben verhungert vielleicht ein altes Ehepaar, nimmt sich irgend ein verzweifelnder geistiger Arbeiter das Leben, kann eine vielgeplagte Waschfrau die Kartoffeln für ihre Kinder kaum erschwingen. Wenn man doch alle die Leute bestrafen könnte, die gedankenlos an falscher Stelle geben, nicht einmal aus wirklicher Menschenliebe, sondern lediglich um des momentanen Kitzels wegen, vor den übrigen Passanten den Großherzigen zu spielen!
Bescheidener sind wir wohl alle inzwischen geworden. Auch in Familien, in denen der Hausherr dank seiner Arbeit noch etwas draufgehen lassen kann, ist es nicht so wie früher, wo der Vater kaum je nach Hause kam, ohne ein paar Apfelsinen in den Manteltaschen zu haben. So etwas wünschen sich die Kinder kaum mehr. Sie kennen ja die Preise. Verirrt sich doch mal die köstliche Frucht ins Haus, so nehmen sie das als unerwartete Gnade. Da haben neulich unsere beiden Untersekundaner für ihren Geburtstag die Speisekarte entworfen. Auch angegeben, wieviel Kuchen zum Nachmittagskaffee dasein müsse, wenn "die anderen Junx" zum Besuch kämen. Die Hauptsache aber, doppelt unterstrichen, war zum mittäglichen Schweinebraten "ein volles Glas Bier". Dazu die mündliche Erläuterung: für einen Untersekundaner, der schon "Sie" genannt werde (dabei ist der unserige gerade est dreizehn Jahre geworden), sei der Fingerhut voll - etwa ein Fünftel Teeglas -, den es bei solcher Gelegenheit mal für die Kinder gebe, einfach entwürdigend; dann schon lieber süßes Saftwasser! Na schön. Also ausnahmsweise zu diesem Geburtstag ein volles Glas Bier. Es ist doch nett, daß die Herren Untersekundaner nicht gleich ein Glas Champagner verlangen, obwohl das Dienstmädchen ihnen erzählt, sowas habe es schon oft getrunken. Was war denn früher deutscher Schaumwein? Bei Kempinski kriegte man sein halbes Fläschchen für 1,75 Mark und noch einen Pfirsich dazu! Und als im "Clou" in der Mauerstraße während einer Ausstellung einmal ein Wettkochen für Berliner Komiker veranstaltet wurde, wobei Guido Thielscher - einen Brathering buk, waren als erster Preis 6 Dutzend Flaschen Champagner ausgesetzt. Kleinigkeit. Lappalie.
Also heute ist man (viele sagen: Gott sei Dank) bescheidener geworden, und das sieht man auch bei den gemeinsamen Volksfesten der Großberliner Gymnasialjugend. Die 30 Schüler-Rudervereine, die am Kleinen Wannsee ihre Bleibe haben, hatten dieser Tage zu einem großen Propagandafest geladen. Alles, einschließlich der Musik, der Kuchenberge, des "Zirkus", der Millionenuhr, war selbstgemacht. Der Kaffee - bitte sehr, "echter" Kaffee - durch Umlage von den Eltern erhoben: 16 Bohnen, wohlabgezählt, aus jedem Hause. Und nun kamen die turnerischen und leichtathletischen Vorführungen, der Ulk, das Wettrudern, das Schwimmen (brr!), das Fischerstechen, und Groß und Klein waren ein Herz und eine Seele und man freute sich an den sehnigen Gestalten unseres Jungvolks, das schon wieder so aussieht, als hätte es keinen Kohlrübenwinter im Kriege gegeben und keine Milchnot seither. Unter jeder Schar jeder höheren Schule glücklich und väterlich stolz der Herr Protektor, einer der Herren Professoren, der ein Herz für die Sache hat. In meiner eigenen Schülerzeit gab es in ganz Deutschland noch keine 10 Schülerrudervereine. Einen davon hatte ich natürlich erwischt. Der Horaz, den ich sowieso nicht mochte, litt etwas darunter, aber der alte Professor Muff, der Jahrzehnte später als Rektor von Schulpforta gestorben ist, nahm es mir weiter nicht übel. Ich danke es ihm noch heute; gehöre überhaupt zu den Leuten, die auf ihre liebe alte "Penne" nichts kommen lassen und den vielverspotteten deutschen Oberlehrer von Herzen schätzen. Jägerhemd hin, Jägerhemd her. Die darin nach Italien oder Griechenland pilgerten und uns nachher mit leuchtenden Augen von Roms und Hellas' Wunderwelt erzählten, waren im Grunde ganz großartige Idealisten. Außerdem kam schon zu meiner Zeit der Typ des Reserveoffiziers unter ihnen immer mehr auf, der patente, der röllchenlose. Natürlich bedingt der Beruf, das ständige Beisammensein mit Unmündigen, eine gewisse Überhebung, ein gewisses päpstliches Etwas, das manchem Außenstehenden auf die Nerven fällt. Ein Nichtdulden von Widerspruch. Ein Nicht-Debattieren-Können. Hier ein kleines Beispiel für diese Selbstherrlichkeit. Unter den vielen Tausenden am Kleinen Wannsee bei dem großen Sportfest, das schließlich 8 Millionen Mark ergeben hat, waren einige Hunderte, die sich die teure Eintrittskarte für den Begleitdampfer des Bootsrennens gekauft hatten. An Bord einer der Protektoren, ein Oberrealschuldirektor. Der sagte nun einfach dem Kapitän, das sei langweilig, immer hinter den Booten dreinzufahren, man wolle statt dessen lieber eine Rundfahrt um den großen Wannsee machen. Roma locuta, causa finita. Von dem eigentlichen Sportfest haben wir Hunderte auf diese Weise nichts zu sehen bekommen. Trotzdem tauchten wir froh in dem nachherigen Trubel unter. Gesegnet sei die wasserreiche Mark, gesegnet die deutschen Seen und Ströme! Auf ihnen wächst ein Geschlecht heran, das uns einst Verlorenes wiederbringen soll. Es gehört zu den schönsten Taten des Kaisers, daß er dem Verständnis für die Jugend auf dem Wasser die Bahn brach. Wie hat die braungebrannte, kraftgestählte Gesellschaft ihn oft umjubelt! Und der und jener unter den alten Professoren fühlt noch den Händedruck, den er einst von ihm empfing.
Jetzt haben die "Junx" neue Geschichtsbücher und sollen alles umlernen. Laut Verfassung erstens im Sinne der Republik, zweitens im Sinne der Völkerversöhnung. Unter sich aber singen sie - das Erhardt-Lied. Und was außerhalb der Schule geschehen kann, um sie zu aufrechten Deutschen zu erziehen, das geschieht. Am Dienstag haben wir im Opernhaus, veranstaltet vom Deutschen Frauenausschuß zur Bekämpfung der Schuldlüge, einen wundervollen Nachmittag verleben dürfen, der Bilder, Szenen, Chöre von deutschen Landen, deutschem Wesen, deutscher Geschichte brachte. Am Anfang Beethoven, zum Schluß wieder Beethoven: Egmont-Ouvertüre und Eroica. In der Mitte die kernige Ansprache einer kernigen deutschen Frau, Muttel Behm aus dem Reichstage mit dem Krückstock des alten Fritz. Als sie sagte, heute hätten wir den 26. Juni, also übermorgen den 28. Juni, da lachten die ganz kleinen Mädchen oben auf der Galerie. Hui, da kriegten sie es aber gesagt! Was, sie wüßten nicht, daß am 28. Juni die Schmach von Versailles unterzeichnet sei? Niemals ist die weißhaarige alte Margarete Behm so prachtvoll, als wenn sie im Zorn extemporiert. Viele tapfere Frauen, besonders wieder Auslandsdeutsche, machen in diesem Frauenausschuß mit. Neulich bekam Käthe Schirmacher, auch solch eine Lodernde, deren Bekenntnis lautet: "Lebe ich, so lebe ich Deutschland; sterbe ich, so sterbe ich Deutschland; ich lebe oder sterbe, so bin ich Deutschlands", eine große Spende für die Ruhrkinder von den deutschen Frauen Mexikos und dazu von dem Beauftragten die Zeilen:
"Sehr gerne benutzen wir diese Gelegenheit, Ihnen den Ausdruck unserer aufrichtigen Bewunderung und Hochachtung darzubringen angesichts der stets aufrechten und ins Schwarze treffenden Worte, mit denen Sie in Schriften und Kundgebungen am Gewissen des deutschen Volkes rütteln, um es zurückzurufen zu Ehre und Pflicht; fehlt doch leider dem deutschen Volke als Massentier - im Gegensatz zu anderen moralisch und kulturell weit niedriger stehenden Völkern - der gesunde Rasseninstinkt, welchen die Natur in Form des Selbsterhaltungstriebes nicht einmal der unvernünftigen Kreatur versagt hat." |
28.Juni 1923 (Donnerstag).
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Der kälteste Juni - Freibad und Lunapark - Möbliert mit Familienanschluß - "Ju kahnt flört" - Die Entweder-Oder-Berlinerin - Friedländer-Fuld und Goldschmidt-Rothschild - Entente-Offiziere in Berlin - In der Weißen Maus - Max Klante tritt auf - Neue Tänze
Den kältesten Juni seit 1733 hat Berlin nun glücklich überstanden. Die Feuerbohnen auf dem Balkon, die sonst um diese Zeit schon bis zur Brusthöhe sich emporgerankt hatten, stehen nur anderthalb Hände hoch in der Kastenerde. In der Obstkammer Berlins, in Werder, jammert alles über die verregneten und abgeschlagenen, geplatzten und verfaulten wenigen Kirschen. Und doch: so schön ist die karge, staubige Mark Brandenburg seit 1733 sicher nie gewesen wie heute. Es ist alles so verschwenderisch grün, daß man meinen möchte, man befinde sich auf Irland in der Gegend der Seen von Killarney. Und nun, wo der Juli so verheißungsvoll sommerlich einsetzt, hat man schon die Juni-Unbill fast vergessen. Es ist ja wahr, seit dreißig Jahren habe ich nie so viel Grog getrunken, wie in diesem Juni. Man schlief nachts unter der Winterdecke. Man überlegte, was man seiner Familie zu Weihnachten schenken wolle. Man dachte sich, so um diese Zeit herum, die man am Petroleumöfchen verlebte, müsse ein gut mit altem Portwein durchfeuchteter Stilton-Käse nicht übel schmecken; auch könne man sich wohl den Zylinder aufsetzen und nach altenglischer Hausherrnsitte den Plumpudding verrühren. Kurz, man mummelte sich auf den kommenden Winter ein.
Nur diejenigen, deren Gelderwerb von der Sonne abhängt, von viel Sonne, sind grämlich gewesen. Da sind die Freibadpächter. Gelegentlich schlich sich ja wohl auf leisen Indianersohlen einer dem Unternehmen zu, aber dann sicher nicht, um zu baden, sondern um ein bißchen Drahtzaun zu klauen. Na, und den Direktor des Lunaparks am Halensee hättet Ihr erst schimpfen hören müssen! Sonst hätte es um diese Zeit schon Milliardenumsätze gegeben, aber so drückte sich frierend hier ein Pärchen, dort ein Hagestolz, da ein Schülerkleeblatt vor den "Attraktionen" herum, und oft erreichte die Zahl der Besucher nicht die Zahl der Angestellten. Da sitzt nun der Direktor, im Ledermantel natürlich, und sieht trübselig auf das Feuerwerk, zählt jede Rakete und jede Leuchtkugel: "20 000 Mark futsch! 48 000 Mark futsch! 20 000 Mark futsch! Pf, pf, pf, pf, 90 000 Mark futsch! 30 000 Mark futsch!" Und so weiter. Das Eintrittsgeld deckt noch kein Dutzend Raketen.
Aber auch an den greulichsten Tagen mit Schnürl-Regen (und arg geregnet hat es in diesem Juni meist nur nachts) findet man eine gewisse Kategorie von Berlinern stets an solchen Vergnügungsstätten. Das sind die, die an irgend einen Ausländer nicht nur ein möbliertes Zimmer oder zwei vermietet haben, sondern auch Familienanschluß. Einwandfreien selbstverständlich. Weil der Effendi oder Mister oder Gospodin bequem Deutsch lernen will, was er zu irgend welchen geschäftlichen oder Studienzwecken braucht.
Nun geht der junge Mann also immer mit Familienanschluß aus. Die Mutter und Lotte und der Tertianer Karl und das kleine Lieschen. Daheim in den vier Wänden hört allmählich der Gesprächsstoff auf. Man braucht Anschauung, neuue Gegenstände, neue Themen. Lotte und die Mutter - "Karl, halt' doch den Mund!" - beraten täglich, wohin sich die Familie - ausführen lassen soll. Nur der Vater ist nie dabei. Dem geht's doch wider die Ehre. Mein Gott, früher hätte man doch um solch einen hergelaufenen Laffen nicht . . . nein, halt, nicht ungerecht werden; auch der Vater erkennt an, daß es nicht alles Laffen sind. Wenn sie nur wenigstens, nach unseren Begriffen, etwas manierlicher wären! Die Leute aus dem Süden und dem nahen Orient essen so, na, - ausführlich; nicht mit geschlossenen Lippen kauen sie, sondern klappen das Maul auf und zu wie ein Krokodil und schmatzen dabei laut und erbarmungslos. Der Vater quält sich. Ihm bricht der kalte Schweiß dabei aus. Aber die Mutter und Lotte sagen nichts, denn, schließlich, man soll dem jungen Mann doch nur Deutsch beibringen, nicht Manieren; er könnte es am Ende auch übelnehmen und - er zahlt doch so gut! Nur aus Umwegen bringt die Mutter einiges an. Der Umweg geht über Lieschens kleine rote Fingerchen. Da gibt es einen tüchtigen Klaps und noch einen und wieder einen.
"Man schnauft nicht, sondern nimmt das Taschentuch!"
"Man nimmt die Erbsen nicht mit dem Messer!"
"Man rekelt sich nicht bei Tisch!"
In der Öffentlichkeit werden diese indirekten Erziehungsversuche natürlich nicht fortgesetzt. Da hat sogar der Tertianer Karl, der sonst immer den Mund halten muß, das Ohr seiner Mutter. Der möblierte Herr, der immer zwischen ihr und Lotte sitzt, will alles mögliche wissen, nun, und wozu hat man denn einen Jungen auf dem Schymnasium? Der weiß Bescheid. Der sagt im Lunapark angesichts der mächtigen grün-patinierten Elch-Standbilder auf der Terrasse sofort, was das für Tiere seien und wo sie noch vorkämen, und daß früher der Kaiser sie geschossen habe und daß dies jetzt sozialdemokratische preußische Minister täten. Ebenso kennt Karl sämtliche allegorischen Figuren ganz oben und sämtliche technischen Tricks bei den einzelnen Attraktionen. Trotzdem unterhält sich der möblierte Herr - bis zum 1. Juni wars ein Slowake, seither ist es ein Kanadier - meist lieber mit Lotte, geht auch gern mit ihr im Lunapark und sonstwo ein bißchen abseits spazieren. Sie habe eine so deutliche Aussprache, sagt er. Und sie ist 17 Jahre alt und von 4 Uhr nachmittags ab immer frei, während Karl da noch manchmal lernen muß. Französisch hat Lotte auf der Handelsschule gehabt. Aber slowakisch konnte sie nicht und englisch kann sie nicht. Nun kommt sie vom Hausboot auf dem Halensee wieder herüber und springt, dem langsam schlendernden Kanadier weit voran, zur mittleren, der Bier-Terrasse im Lunapark, wo die Mutter sitzt und den Orange-Streifen in den violetten Jumper häkelt, und fragt die Mutter, was das bedeute, was unser Mister lächelnd immer wieder sage, wenn er eine Weile mit ihr allein sei.
"Na was sagt er denn, unser junger Herr?"
"Er sagt: ju dschörmen görls kahnt flört!"
"Flört hat er gesagt? Er meint, Du sollst 'n büschen nett zu ihm sein!"
"Och, Mutter, ich bin ja schon viel zu doll nett zu ihm."
"Ja, Kind, dann weiß ich auch nicht . . . ."
Schade, daß diese Lotte, die ich nur am Nebentisch sehe und höre, nicht mich um Rat fragt. Ich würde ihr gleich erklären, daß Mister Pouncefot sagt: "Ihr deutschen Mädchen kennt kein Schäkern!"
Es ist wahr. Dieses schelmische Flirten, das sich nichts vergibt und doch immer wieder nahe da vorbeistreift, wo die Liebe anfängt, ist uns selten gegeben. Auch nur als Einleitung zu etwas anderem selten gegeben. Unter den noch etwa drei Dutzend Entente-Offizieren, die Berlin als seine "Überwacher" beherbergt, obwohl sie nichts mehr zu tun haben, sind immerhin einige auch nach unseren Begriffen aus guter Familie. Sie sagen genau dasselbe. Sie haben deutschen Verkehr gesucht. Und niemals kam es, sagen sie, zu harmloser Neckerei oder ungefährlich-sprühendem Plaudern. Was man an Damen kennen lernte, das war entweder eiskalt reserviert oder sofort massiv erotisch.
Das mag schon stimmen. Sicherlich für die Kreise, in denen die fremden Offiziere Zutritt hatten. Der verengert sich aber jetzt immer mehr. Ein Haus nach dem anderen geht ihnen verloren. Herr v. Kühlmann hat nun auch wohl keine Gelegenheit mehr zu Festen für die Entente. Seine Frau, geborene Friedländer-Fuld, hat sich zum zweiten Mal scheiden lassen, diesmal von ihm, und hat in dritter Ehe dieser Tage ihre Milliarden - nun erst haben sie den richtigen Platz - Herrn Goldschmidt-Rothschild zugebracht, der auch nicht gerade zu unseren ärmsten Mitbürgern gehört. Vor etwas über zwanzig Jahren ist er mir einmal als junger Mann in Gesellschaft in Frankfurt begegnet, muß also jetzt schon in hochgradig besten Jahren sein und wird auch wohl nicht mehr den Dandy spielen und ein Monocle tragen. Das Stammhaus steht in Frankfurt. Ein neues Bankhaus der Familie ist vor Jahr und Tag in Berlin entstanden und hat, wie auch die Familie selbst, sehr viele ausländische Beziehungen. Aber wohl nicht gerade zu Offizieren.
Da ist unter ihnen ein dicker großer Franzose, der früher mal im chinesischen Seezolldienst angestellt war, ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen mit tausend Beziehungen, der alle möglichen Berliner Familien kennt. Aber man empfängt ihn nicht mehr. Er läuft - wie sie alle, jetzt nur noch in Zivil - in Berlin herum, amüsiert sich vom Morgen bis zum Abend, gibt sich aber überall als Amerikaner aus. Auch an Stätten leichteren Genusses, wo man mit Inbrunst aus einer neuen Operette ("Die Dame mit dem Monocle") die Verse singt:
"Ich hab' dich gern, mein Freund, weil du Devisen hast Und weil du's dann und wann mir schon bewiesen hast; Ob du nun Franken hast, ob du nun Gulden hast, Wenn du Verständnis nur für meine Schulden hast!" |
Übrigens sind solche und ähnliche Verse, die auf deustche Verlumpung schließen lassen, doch fast immer - zu unserer Ehrenrettung sei es gesagt - nicht von Deutschen, sondern mindestens von galizischen oder noch weiteren Dichtern ersonnen, manchmal auch nur aus dem Französischen übersetzt, denn die Lichtstadt Paris war ja stets das Babel für Schiebermäuschen.
Die genannten Stätten leichteren Genusses in Berlin, die Cabarets, wurden früher von den solidesten Ehepaaren aufgesucht. Wenn man den ganzen Tag scharf gearbeitet hatte. Wenn es für das Theater doch zu spät geworden war. Man trank dann zum Ausspannen noch seine Flasche Wein und hörte sich die paar Witze irgend eines sogenannten Conférenciers nachsichtig an; und die paar stark "verheirateten" Sachen, nun, die konnte die Frau ja auch vertragen, solange kein junges Volk dabei war. Inzwischen ist die Zahl der Cabarets Legion geworden. Um bestehen zu können, müssen sie ungeheure Preise nehmen und - einander durch irgend etwas Besonderes ausstechen. Da sitzen wir nun nach langer, langer Zeit wieder einmal in der Weißen Maus in der Jägerstraße. Der Eintritt kostet - nein, das will ich lieber garnicht sagen. Eine Flasche scheußlicher Surius 92 000 Mark; und der Kellner drängt unverschämt zu einer zweiten, empfiehlt eine Flasche Deutz u. Geldermann zu 450 000 Mark. Wahrhaftig, sowas wird rundum getrunken! Und es sind kaum Valutastarke da. Meist Deutsche, junge Deutsche. Zum großen Teil wohl Bankjünglinge nach eben vollbrachten Überstunden. Sie trinken eins. Ihre Begleiterinnen essen um so mehr. Ein Kotelettchen kostet schon 35 000 Mark. Hin und wieder verschwinden die Dämchen in einem Nebenraum, in dem angeschlagen steht: Benutzung 350 Mark, Händewaschen 550 Mark, Puder 750 Mark. Das Programm ist das übliche; süßlich, fade, schmutzig. Natürlich tritt auch Lola Bach, die glücklich Vorbestrafte, mit ihren umschleierten Halbnackten hier auf. Sie "tanzen". Das kann man auf dem Miniaturbühnchen freilich garnicht. Also sie recken die Arme, sie drehen sich, spreizen sich, wölben sich. Der Clou heißt: Max Klante. Wirklich und wahrhaftig Max Klante. Der Millionen-Wett-Schieber, der "vorläufig" aus dem Gefängnis entlassen ist. Er sollte in einem Sketch auftreten, er als Angeklagter, Lachpillen-Wolf als Verteidiger. Aber die Artisten - alle Achtung - haben sich geweigert. Nun steht Klante, da er doch nun mal engagiert ist, im Publikum herum und grinst. Gelegentlich macht der Conférencier auf ihn aufmerksam. "Klante, geh' mal aus dem Licht!" "Na ja doch!" Das ist alles. Man sieht ein schmächtiges kleines Kerlchen vor sich. So einen mickrigen Vorstadt-Friseur mit hohlen gepickelten Wangen und mit dichter schwarzer Tolle. Kinder, Kinder....
Eine Erholung in dem Großstadttreiben dieser Art sind die wirklich künstlerischen Tänze, die auf großen Bühnen uns Berlinern immer wieder geboten werden. Deutschland ist darin ebenso unbestritten führend wie in der Musik, der Medizin, der Chemie. Alles tänzerisch Neue geht von Deutschland aus. Nun haben wir auch Mary Wigmann mit ihren 20 Gespielinnen gesehen. Aber es ist fremd und maniriert und gesucht. Die "Szenen aus einem Tanzdrama" (Aufruf, Wanderung, Kreis, Dreieck, Chaos) erinnern an irgend einen Isis-Kult oder sonst etwas Exotisches, sind jedenfalls keine deutsche Musik mehr. Feierliches Gong-Dröhnen. Hartes Gong-Krächzen. Leises Gong-Wimmern. Die häßliche, aber biegsame, gelenkige, feurige Oberpriesterin tanzt und beschwört, ihre 20 Schülerinnen schreiten, zucken, versinken, entrollen sich wieder. Hokuspokus. Getanzter Expressionismus kühler Köpfe.
5.Juli 1923 (Donnerstag).
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Meisterschaftsboxer und Olympiasieger - Die weibischen Männer von heute - Simson Breitbart in der Ulap - Bergblau, Grünspahn, Cicero - Berliner Sonntagsfriede - Einmal nur hinaus aus dem Druck - Der Fall Bleichröder
Wer spricht noch von unseren Meisterschaftsboxern? Für Berlin sind sie heute "Provinz", Bädersache, kleine Atrtraktion für Sommerfrischen. Die Meister von 7 verschiedenen Nationen, darunter auch der englische Armeemeister, schlagen sich im Hotel Atlantic in Heringsdorf, wohin der halbe Kurfürstendamm übergesiedelt ist, auf die Kinnladen.
Wer spricht noch von unseren Olympiasiegern? Die Schwimmer und Springer und Ballspieler von Göteborg, die nun wieder in Berlin eintreffen, interessieren niemand mehr. Das ist heute schon sozusagen eine Mode von vorgestern, eine ganz kleinbürgerliche Sache, die man dem Trara der beteiligten Sportvereine ruhig überläßt.
Nach weit höherem tragen wir Verlangen.
Somson über Dir, Philister von Berlin! Er ist da, von dem die Ankündigungen sagen, er sei der "seit Urzeiten" stärkste Mann der Welt. Breitbart ist gekommen.
Die Damen unserer Reichshauptstadt, die zweifelhaften und die unzweifelhaften, sind in heller Aufregung. Darnach hat man ja gedürstet. Es ist alles so feminin geworden, so weibisch in der Männerwelt, die nur noch Taillenjacken mit Schnürfurche und gepolstertem Busen trägt, daß der Ur-Mann zum dringenden Bedürfnis geworden ist, der primitive, der Muskelmensch. Auch auf geistigem Gebiete ist das Heldische ja verschwunden. Unsere Staatsmänner sind soso lala, und unsere Dichter nicht mehr Marke Schiller und Schenkendorf, sondern Hauptmann und Hofmannsthal. Und Berlin W. macht Geld oder ist pervers. Unseren Damen geht es so wie einzelnen belgischen Aristokratinnen zu Beginn des Krieges, als wir in das Land stürmten. Auf einem Edelsitz dort traf ich eine junge Baronin, die unverrückbar treue und reine Gattin eines hypersensitiven feingliedrigen Mannes, die sich uns gegenüber nichts vergab, aber einmal doch bewundernd rief: "Enfin des hommes!" Endlich Männer! Die in der Augustsonne Braungebrannten, die Sehnigen, die Kriegerischen hatten es ihr rein ästhetisch angetan. Und nun haben wir Berliner endlich den Breitbart.
In Wien, wo er "gemacht" worden ist, hat es Skandale um ihn gegeben. Weil er halt a Jud is, sagen die Wiener. Törichte Leute. Sie sollten froh sein. Simson war auch ein Jude und ist doch unser ganzer Schwarm, während wir für die Erzväter schon als Schulbuben sehr wenig übrig hatten. Abraham benahm sich in Egypten recht feige; Jakob hat die Erbschaftssache schuftig geschoben; und aus der Königszeit sind uns der Uriasbrief und die 300 salomonischen Haremsdamen greulich genug. Aber Simson, das war doch ein Kerl! Wenn er auch der Dalila gegenüber sich als so schwach erwies, daß die Philister ihn übermochten, so hat er doch im Tode alles wieder gutgemacht. Hätten wir mehr Muskelmenschen und Sportfiguren als Börsianer unter den Juden, so wäre eine Menge Schwierigkeiten des Zusammenlebens behoben. Leute ihres Stammes sind ja schon vielfach Artisten. Vereinzelt auch Kraftartisten. Aber Breitbart ist geradezu ein Phänomen.
Ein prachtvoll durchgebildeter Körper. Wenn er in der "Ulap", dem Universum-Landesausstellungs-Park am Lehrter Bahnhof, wo die große Kunstausstellung im Glaspalast jetzt nur noch "nebenbei" dahinkümmert, als römischer Triumphator daherkommt, hält alles den Atem an. Schon sein Daherschreiten ist harmonische Kraft. Dann wirft der stattliche Mann die Toga ab und ebenso den Goldhelm vom blonden Krauskopf und beginnt zu arbeiten. Er stellt das rechte Bein vor und strafft es. Aus dem Oberschenkel springt plötzlich ein Muskelgebirge vor. Der sogenannte Schenkelstrecker. Der dient Breitbart als Amboß. Darauf biegt er eine 1½ Zoll dicke Eisenstange, an deren Echtheit nach öffentlicher Untersuchung vor dem Publikum kein Zweifel mehr möglich ist, zusammen, dreht sie dann in seinen Fäusten zur Spirale. Oder er nimmt sie zwischen die Zähne (rechts oben hat er einen Goldzahn; er packt das Eisen daher links) und reißt daran, während die Fäuste als stählerner Schraubstock dienen, so herum, daß Arabesken in van-de-Velde-Stil entstehen; wohlgemerkt, dieses da entstehende Balkon-Gitter im Jugend-Stil wird nach Zeichnung gearbeitet, die mit Kreide auf einer Tafel nach Belieben entworfen werden kann. Nebenbei zerbeißt Breitbart dicke Ketten. Und alles das ist nicht Schwindel, nicht Trick, nicht Show, sondern ungeheure konzentrierte Anstrengung. Im Moment, wo Breitbart das Eisen biegt oder die Kette durchbeißt, starren ihm die Adern wie Baumäste, brucht der Schweiß bis zum Triefen ihm aus.
"Hach, wenn er mir doch mal so drickte!"
Der fromme Wunsch ist halb wohl nur gedacht gewesen, aber in der Erregung formte er sich zu Lauten; und es ist so mäuschenstill, daß man ringsum sie hört. Eine dicke Frau im gefährlichen Alter hat den Seufzer ausgestoßen. Ihr Busen schüttert wie ein unter aufkommendem Winde erschauerndes Gewässer. Aber niemand lacht, nur wenige drehen sich um, und die Seufzer mehren sich.
Breitbart legt sich mit dem Rücken auf ein dicht mit spitzen Nägeln gespicktes Brett. Über ein zweites Brett, schon mehr Tischplatte, das auf ihn gelegt wird, marschieren ganze Prozessionen von Menschen; gleichzeitig stehen immer mehrere darauf. Nachher erhebt sich Simson und zeigt sich den Zuschauern, an die er herangeht, ganz nahe. Er ist hinten, von den Nägeleindrücken, über und über rot punktiert und gemustert. Aber durchbohren lassen sich diese stählernen Rückenmuskeln nicht.
Freilich müssen wir verraten, daß Breitbart schon Nachfolger gefunden hat. In Wien selbst. Angehörige verschiedener Nationen. Sie sagen: das Wesentliche ist die in einem Sekundenbruchteil geballte Energie. Machen ließe sich alles schon. Und sie machen es. So wie ja andere Leute auch über glühendes Eisen laufen und sich doch die Fußsohlen nicht verbrennen. Aber einstweilen ist Breitbart doch eben der Erste. Lange wird ihn unser Kontinent nicht halten, schon sind auf den Kisten und Kasten seiner Ausrüstung - und er reist angeblich mit 200 "Gladiatoren" im Gefolge - lauter schreiende englische Aufschriften angebracht. Amerika wird ihn schlucken. Vielleicht engagieren ihn Barnum und Bailey, die sich ja schon vor längerer Zeit mit Buffalo Bills Wild-West und anderen Firmen zu der "größten Schau der Welt" zusammengetan haben; oder er schöpft selber die Sahne Amerikas ab und geht als eigener Unternehmer hinüber.
Derweil müssen wir Berliner uns mit einigen weniger angenehmen Landsleuten von ihm auseinandersetzen. Nicht alle Galizier kommen in Berlin sogleich in den Himmel des Kurfürstendammes. Erst müssen eine Anzahl von ihnen die Hölle der Grenadierstraße, von der es allerdings fraglich ist, ob sie ihnen als Hölle erscheint, oder doch das Fegefeuer der Landsberger Allee durchmachen. Und erst, wenn die beiden Stationen, zu denen sich oft noch ein längerer oder kürzerer Aufenthalt in - Moabit gesellt, durchgemacht sind, gehen auch sie zu den vielfältigen Freuden des Kurfürstendamms ein oder gar zu seinen "Dollarwohnungen". Auch Bergblau oder Grünspahn - bitte sehr, die Namen sind nicht erfunden, sondern echt galizisch - werden, nachdem man sie auf Hehlerei für Taschendiebe, die zugleich ihre Landsleute sind, ertappt hat, für eine Weile in einem Raum mit schwedischen Gardinen vor kleinen Fenstern Wohnung nehmen müssen, man wird sich sogar vielleicht dazu aufschwingen, sie auszuweisen, aber nicht ist gewisser, als daß sie sich in ihrem Streben, einst Bürger vom Kurfürstendamm zu werden, nicht beirren lassen und eines Tages auf ihm landen werden. Man erinnert sich vielleicht, wenn man an seine Gymnasialjugend zurückdenkt, die zweite Rede wider Catilina gelesen zu haben, in der es ungefähr hieß: "Darum sollten Jene sich entweder davonmachen oder doch wenigstens sich ruhig verhalten, wenn sie aber in Rom und bei ihrer Denkungsart verbleiben, so sollen sie das Geschick erdulden, das ihen gebührt." Bergblau und Grünspahn aber bleiben in Berlin und sie ändern ganz zuverlässig ihre Gesinnung nicht und die kurzfristige Gefängnisstrafe schütteln sie ab, wie ein Hund das Wasser, es muß also da etwas nicht in Ordnung sein. Vielleicht gilt das, was damals Cicero sagte, in unseren so viel mehr fortgeschrittenen Zeiten nicht mehr. Oder gibt es doch noch jetzt Behörden, die "nicht, was ausgerottet werden muß, zum Verderben des Freistaates um sich greifen lassen", wie es gleichfalls in der zitierten Rede heißt? Man kommt unwillkürlich auf solche Ideen, denn gerade in die Zeit, da ein erschütterndes Bild von der Verhetzung und Roheit gewisser großstädtischer Massen in der Gerichtsverhandlung wegen der Krawalle vor dem Zirkus Busch entrollt wird, trifft das Begräbnis des jugendlichen Arbeiters Rudnick, der das Opfer eines Individuums aus jenen Massen geworden ist. Rudnick war Sohn eines sozialdemokratischen Arbeiters, aber überzeugt nationales Mitglied der Jung-Bismärcker. Die kommunistischen Strolche, die ihm einen Dolch in den Hals bohrten und das Mordinstrument in der Wunde noch umdrehten, sind noch nicht gefaßt. Die Bestattung des grausam Hingemordeten wurde zu einer riesenhaften Kundgebung der vaterländischen Jugend ganz Berlins, der sich auch Zehntausende Alter gesellten. Vielleicht hat das Schauspiel dieses Leichenzuges einen der augenblicklichen Regenten Preußens zum Nachdenken, wenn auch nicht - noch nicht - zur Besinnung gebracht, sodaß er sich an seine Pflicht erinnert, die, um den vielgenannten Cicero noch einmal zu bemühen, in Worte gefaßt lautet: "Daß Ihr in dauerndem Frieden lebt, dies, o Bürger, soll meine Aufgabe sein."
Ansonsten aber ist Berlin, wie immer, wenn die Berliner nicht in Berlin sind, seit einigen Tagen friedlich und schön. Welche Kleinstadtstille an dem letzten Sonntag, dem ersten sonnigen Sonntag des Sommers! Die Leute mit dem Auto drüben sind schon morgens weggefahren. Unser mehrstöckiges Haus bewohnen wir einen Tag lang ganz mutterseelenallein, denn aus den übrigen Wohnungen ist alles ausgeflogen. Auch der Fahrstuhl wird bestimmt nicht heraufpoltern, da Portiers "in die Heide" gereist sind, Blaubeeren pflücken. Wenn, selten genug, jemand unten auf der Straße vorübergeht, hört man, wenn er spricht, die Worte seltsam nah bis in unseren vierten Stock herauf, während an Wochentagen alles vom Straßenlärm überdröhnt wird. Nicht einmal das ewig quarrende kleine Kind in dem Nebenhaus links scheint dazusein, der Ingenieur schrägüber singt keine Arien zum geöffneten Fenster heraus, der Blüthner-Flügel beim Patentanwalt unter uns wimmert nicht mehr die Barcarole, niemand ruft auf der Straße den Börsenkurier aus oder beschwört uns vom Hofe her um Lumpen, Zeitungspapier, Wein- und Bierflaschen, altes Eisen, Metalle. Statt dessen höre ich zum ersten Mal nach langer Teit wider - die Schwalben. Sie flirren vor der Logia hin und her, gegn den blauen Himmel, von dem irgendwoher grüngoldene Strahlen unsere paar Pflänzchen durchleuchten. Aus dem Krankenzimmer ist mein Bett hier nah an die Fenster gerückt worden, sodaß ich mit Augen und Ohren Entdeckungsreisen machen kann. Sonst muß ich stocksteif liegen, kann auch nur sehr mühsam in der Horizontale schreiben, denn ein böser Unfall hat mir vor 14 Tagen das Bein arg mitgenommen.
Und dabei tanzt heute die Karsawina! Tanzt "das letze Mal in Europa". Geht natürlich auch nach Dollarica. Vielleicht ist es aber ganz gut, daß ich nicht hinkann, denn die Preise sind schon garnicht mehr europäisch, 300 000 Mark der Platz vorn im Parkett, übersteigen jedenfalls bei weitem die noch erträglichen Unkosten des üblichen Berliner Bummels, und nun kann ich um so beseligter an die Zeit zurückdenken, wo das ganze Kaiserlich-russische Hofballet bei uns in Berlin war und ich an vier Tagen in der Woche die damals noch so junge und zarte Pawlowa als Schwan schweben, flattern, sinken und sterben sah. Heute sagt uns diese Kunst doch nicht mehr viel. Über das Ballet im alten Sinne sind wir längst hinausgediehen. Es war der letzte, wenn auch durch die Petersburger Damen und Herren sehr poetisch verklärte Ausklang des Rokoko, der Potentätchen, der geschnittenen Taxushecken und der ganzen überpuderten Unnatur.
Wir haben andere Sorgen. Gerade unterhalten sich unten zwei anscheinend alte Damen - sie atmen beschwerlich, sie husten dazwischen - über notwendige Dinge. Daß es wieder Briketts beim Kohlenhändler gebe, allerdings zu dem mehr als vierfachen Preise im Vergleich zu damals, wo man gemäß der Kohlenkarte eigentlich an der Reihe war. Und daß man sich gegenwärtig Eimer zum Schleppen der Briketts leihen wolle. Und der Herr Geheimrat drüben habe auch schon persönlich sich zehn Eimer voll von dem Grobian von Kohlenhändler geholt. "Aber denken Sie sich, meine Liebe, bei der Milchfrau ist es umgekehrt, ich möchte gern meinen Viertelliter holen, aber die Frau gibt nur ins Haus ab, wenn man ihr tausend Mark extra bezahlt, nicht zum Selbstabholen!" Das alles klingt so weh durch die Stille herauf.
Es ist verständlich, wenn es Leute gibt, die sich sagen, sie möchten diesen Zuständen einmal nur entfliehen, einmal nur auf wenige Tage. Lieber auf die große Sommerfrische verzichten und dafür eine halbe Woche in einem ganz anderen Lande sein. Wo die Hörnchen zum Morgenkaffee eine Selbstverständlichkeit und jegliche Verkäufer von Berufs wegen höflich sind. Wo man nicht von Mark und Dollar und Index spricht und für die Papierserviette im Restaurant nichts extra zu bezahlen braucht, schon weil es solche garnicht gibt, sondern natürlich zu jedem Gedeck das nötige Leinen gehört. Wo die Menschen nicht mit steilen Sorgenfalten im Gesicht herumlaufen und die Portierskinder keine Kittel aus geklauten Zeltbahnen tragen. Wo man nicht täglich zwei bis drei Stunden mit gänzlich unproduktivem Rechnen und nicht Bauen, sondern Einreißen von Luftschlössern zu vergeuden braucht.
Trotzdem erwacht unser ganzer Trotz gegen Leute, die jetzt sich ganz als Weltbürger geben und das arme deutsche Reich beschimpfen. In einem der ersten Berliner Hotels hat dieser Tage der sattsam bekannte Baron Bleichröder sich laut schreiend das Spielen von Rheinlandliedern und der Nationalhymne als "unerhörte Provokation" verbeten, hat sich auch durch Kellner und Geschäftsführer nicht beruhigen lassen, sondern weiter getobt: er komme eben aus Paris und da habe man mehr internationalen Takt. Es hat einige Zeit gedauert, bis der Anfall des geschiedenen Gatten der Maria Orska vorüber war.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Der Vater dieses Hans Bleichröder stand 1878, am Tage nach dem Attentat Hödels auf den greisen Kaiser, mit einer "Dame" Unter den Linden vor dem öffentlichen Anschlage und machte darüber eine unanständige Bemerkung. Er wurde dafür von dem Publikum fast gelyncht, wurde angezeigt und dann nach ehrengerichtlicher Verhandlung aus dem Reserveoffizierkorps, dem er dank den Beziehungen seines Hauses zu Bismarck angehörte, ausgestoßen. Jetzt benimmt der Sohn sich ähnlich. Einige Holländer unter den Hotelgästen gingen auf ihn zu und erklärten ihm:
"Wenn Sie in Holland so etwas gewagt hätten, wären Sie nicht lebend aus dem Lokal gekommen!"
Es ist bitter, daß Ausländer in Berlin so etwas sagen müssen.
12.Juli 1923 (Donnerstag).
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