"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 4 - 6
22. Oktober bis 5. November 1920


4

Kaviar - Hänisch und Parvus - Frau Adolf Hoffmanns Grundbesitz - Der Nationale Klub - Stresemann-Rießer im Reichsklub - Kein Fraktionsstammtisch mehr - Bülows Kakao - Die Lieblingsfrau des Maharadschah in der Friedrichstraße - "Haremsnächte" - Im Faun

Schon lange vor dem Kriege haben die Deutschen nicht nur den größten Fleisch-, Bier- und Zuckerverbrauch von allen Völkern der Erde gehabt, sondern auch mehr als andere in Feinkost geschwelgt. Eine lehrreiche Tatsache: von dem gesamten Kaviar, den Rußland alljährlich verfrachtete, ging fast die Hälfte, 44. v. H., nach Deutschland. Sämtliche Erdteile - und Kaviar auf Eis wurde doch in den vornehmen Gaststätten in New York und in Tokio, in Kapstadt und Melbourne wie bei uns serviert - verbrauchten also zusammen kaum mehr als wir. Und die köstlichen grauen Perlen waren in Deutschland, besonders in Berlin, schon ganz demokratisiert. Nicht nur bei Kempinski, dem Riesenrestaurant, das man "Freß-Wertheim" nennt, war Kaviar billig fürs Volk, sondern auch sogar für 20 Pfennige in den Aschinger-Bierstuben zu haben. Den letzten Kaviar habe ich vor zwei Jahren in Konstantinopel im Pera Palace Hotel - gesehen; da kostete er 500 Mark das Pfund. In Berlin ist er aus den Speisehäusern verschwunden. Nur einige knallrote Umsturzkapitalisten, die direkte Kurierverbindung über Moskau nach Astrachan haben, können ihn sich leisten. Um einer totsicheren Berichtigung vorzubeugen, will ich aber von vornherein bemerken, daß der preußische Bildungsminister Hänisch nicht zu den Kaviarschlemmern gehört. Er war in seinen Genüssen immer bürgerlich bescheidener als die roten Geschäftsgrößen. Parvus-Helphant hat viele Millionen gerafft. Unser Minister Hänisch aber bekam von ihm für literarische Mitarbeit nur 6000 Mark jährlich als Ehrenhonorar. Da war er dankbar und froh. Man weiß es eigentlich noch heute nicht, wie es kam, daß dieser gute Junge, der jetzt so gehorsam auf dem von Adolf Hoffmann im Ministerium gespannten Seile tanzt, einst von dem Stuttgarter Gymnasium geschaßt werden und dem Rauhen Hause bei Hamburg zum Aufbügeln seiner angeblich verwahrlosten Seele übergeben werden mußte. Die wirklichen Verbrecher und Genießer hat dieser diensteifrige und kurzsichtige Spießer immer nur von ferne ehrfürchtig angestarrt. Der aufgeschwemmte Parvus-Helphant ist für ihn eine Art Cesare Borgia. Hänisch schnüffelt Wildgeruch, Hänisch wittert Renaissance; und so kriegt er es - der preußische Kultusminister - auch fertig, von diesem seinem großen Bewunderten öffentlich zu erklären, er sei mit anderem Maße zu messen,als mit dem eines Konsistorialrats; und seine wüsten Weibergeschichten preist er - der preußische Kultusminister - mit behaglichem Schnalzen.

Es ist eine krause Welt. Man ist erstaunt, daß der schlichte deutsche Arbeiter dieser Gesellschaft seiner Führer nicht den Garaus macht. Selbst Adolf Hoffmann,der einst Abend für Abend gegen ein Vortragshonorar von 3 Mark und ein paar Glas Freibier die mühsam ihm eingetrichterte Rede über "Die zehn Gebote und die besitzende Klasse" in kleinen Dörfern herunterschnarrte, ist heute einer von denen, die er früher verrissen hat. Er ist reich geworden und hat einen Teil seines Besitzes versichtig in Grundbesitz angelegt. Vor Gericht kam dieser Tage die Tatsache zur Sprache. Da wurde aber auch festgestellt, daß Adolf Hoffmann die neue Villa - seiner Frau überschrieben hat, weil, wie er selber angab, "vor mir in meine Stellung als Ajitator der unabhängigen Sozealdemokratie det nich paßt, det ick als Besitzer einjedragen werde". Er und seine Leute haben jahrzehntelang gegen die sogenannten Kreise von Bildung und Besitz geeifert. Jetzt bilden sich neue Kreise, eine neue Gesellschaft: Besitz ohne Bildung. Und gut gelebt wird da, Wetter noch einmal, und auf die "Zehn Gebote" pfeift man.

Während die Altsozialisten als Revolutionsgewinnler aus Berlin N. mit den Neukommunisten der Kriegsschieberzunft aus Berlin W. in Schlemmerlokalen zusammentreffen, kehren - nicht nur notgedrungen, sondern aus Überzeugung - die Gesellschaftsschichten, die früher führend waren, zu einfachster Lebenshaltung zurück. Man braucht nur einen Blick in das Berliner Klubleben zu tun, um das zu erkennen: je weiter nach rechts, desto schlichter der Stil. Um von den Klubs des Konfektionsviertels und der Gegend am Pariser Platz gar nicht erst zu sprechen: schon im "Kaiserlichen" Automobilklub neben Wertheim machte sich das kulinarische Protzentum der mitunter stark galizischen Achtzigpferdigen übel bemerkbar. Jetzt ist der Name verändert, die Sache geblieben. Auch der Äroklub hat die Krone übrigens abgelegt. Von den "kaiserlichen" hat einzig und allein der Kaiserliche Yachtklub in Kiel Mannesmut genug gehabt, seinen Namen, der eine Geschichte ist, beizubehalten. Neu aufgetaucht sind eine Reihe von politisch-geselligen Vereinen, darunter am weitesten rechts der "Nationale Klub", der mit dem Münchener Herrenklub im Kartellverhältnis steht, aber nicht so exklusiv ist wie dieser und unter seinen norddeutschen Mitgliedern alles umfaßt, was zum alten System im besten Sinne des Wortes gehört. Seine schönen Räume hat der Klub in dem mächtigen Renaissancebau in der Sommerstraße Nr. 6; aus den Portalen III und IV des Reichstages braucht man nur über die Straße zu gehen, und man ist da. Hier kennt man keine Diners von fünf, sechs Gängen, wie sie sich heute unsere Revolutionsgrößen gönnen; man ißt hier für sage und schreibe acht Mark seine Suppe und das Fleischgericht mit Gemüse. Aber geistig hochragende Männer aus der glücklichen Kaiserzeit Deutschlands sieht man rundum. Und von den Wänden grüßen die Bilder aus entschwundenen Tagen, vor allem ein wundervolles Gemälde Wilhelms I. in Lebensgröße, dazu andere Porträts aus dem Zollernhause, auch vom alten Franz Josef, ferner eine Bronzestatue des Großen Kurfürsten, ein Riesenbild der Erstürmung von St. Privat und andere historische Erinnerungen. Sie stammen fast alle aus den früheren Kasinos zweier Gardegrenadierregimenter, wie auch ein Teil der behaglichen sonstigen Einrichtung. In wenigen Tagen wird dieses neue Heim eröffnet, während der Klub bisher nur nüchterne Hotelräume in der Prinz-Albrecht-Straße zur Verfügung hatte. Gedacht war er als Sammelpunkt aller Angehörigen der Rechten. Die beiden Vorsitzenden sind der deutschnationale General v. Hutier und der deutsche Volksparteiler Exzellenz v.Richter. Nachträglich hat aber der Abg. Dr. Stresemann einen eigenen "Reichsklub der Deutschen Volkspartei" begründet, in dem er selber an der Spitze steht, und hat einen Teil der Mitglieder, namentlich auch die zahlungsfähige Gruppe Jakob Rießer, mitgezogen; geblieben sind im Nationalen Klub dagegen die Rechtsliberalen um Richter und Vögler herum. Alles, was ganz auf die republikanische Neuorientierung eingeschworen ist, und darunter besonders jüngere Regierungsmitglieder, zieht den dritten politischen Klub vor, "Die Deutsche Gesellschaft von 1914", in dem vornehmsten Privathause der nördlichen Wilhelmstraße, eine Gesellschaft, die während des Krieges stark vaterlandsparteilichen Einschlag hatte, aber in ihrem Mitgliederbestande allmählich nach links rückt. Die Vorgänger der politischen Klubs, die alten Fraktionsstammtische bei Siechen und anderswo, sind eingegangen. Jeder Versuch zu ihrer Wiederbelebung scheitert, nicht nur wegen der teuren Preise, sondern auch, weil eben die alte Stammtischgemütlichkeit dahin ist. Wir von 1920 sind abgehetzte Leute. Die Flut von Gesetzen, von Ausschüssen, von Reden verschlingt alles. Als noch der "alte" Reichstag in der Leipziger Straße stand, da kannten seine Besucher den gänzlich interfraktionellen "Bowlenklub", der nach dem meistkonsumierten Stoffe benannt war, und in dem die Diplomaten und Parlamentarier, Minister und Tagesschriftsteller den Becher schwangen, Bismarck und Georg v. Huhn von der Kölnischen Zeitung und Windthorst einander einträchtig zutranken, - vorbei, vorbei. Heute werden schon Jugendklubs für Proletarierkinder der vier verschiedenen kommunistischen Richtungen gegründet. Alles spaltet sich.

Unter den Linden macht noch immer Fürst Bülow seinen täglichen Spaziergang in der Sonne, läßt sich von seinem Dackel, der den Reichspudel ersetzt hat, an der Leine ziehen und blinzelt in die verwandelte Welt. Jetzt wird er auch schon wieder mehr vom Publikum erkannt. "Bülow mit Kakao", sagt der Berliner; wegen der Farbe des Dackels. Vor allem aber grüßen die Fremden, die Bernhard v. Bülow irgendwo in der Welt auf diplomatischem Parkett begegnet sind. Berlin ist von ihnen ja übervoll. Die Stadt ist internationaler denn je. Auch die "coloured gentlemen", die Farbigen, nehmen zu; nirgends in Europa oder Amerika werden sie so umschwänzelt, spielen sie eine solche Herrenrolle. Zum Teil gehören sie zu dem ständigen Personal irgendeiner Filmstätte aus Gips und Rabitzputz um Berlin herum oder privatisieren als freie Filmkünstler. Darunter auch die schlanke und raffiniert einfach elegant gekleidete Negerin, die in ihren Kreisen den Beinamen Lieblingsfrau des Maharadscha trägt. Wenn sie nicht gerade filmt, was verhältnismäßig selten der Fall zu sein scheint, zeigt sie sich in der Friedrichstadt am Arme irgendeines weißen Freiers, alle Tage eines anderen. Der Begriff der Rassenschande scheint auch dem männlichen Deutschen unbekannt zu sein. Das geölte Kakaogesicht mag noch angehen. Aber das Mundwerk ist so breit, daß man ruhig eine Hypothek darauf aufnehmen könnte. Draußen auf der Friedrichstraße: Sie. Und drinnen im Apollotheater: Er. Man führt in diesem Friedrichstraßen-Varieté eine Pantomime auf, Haremsnächte genannt. Ein herkulischer Neger zwischen mehr oder weniger, meist weniger, schleierumhüllten weißen Mädchen. Also etwa ein Haremsleben im Stile der Bilder auf Zigarettenschachteln, ein Leben, wie es nirgends im Orient sich findet, wo fast durchweg wie bei uns die Einehe herrscht und die wenigen mehrfach verheirateten Moslim für jede Frau einen vollkommen eigenen Hausstand unterhalten. Aber davon weiß die junge Welt, die ins Apollotheater strömt, natürlich nichts. Unter wohlwollender Duldung unserer republikanischen Aufsichtsbehörden sieht sie lebende Bordellbilder, wird "international" verseucht und verliert den Stolz auf die eigene Rasse.

Zwischen vier und sechs Uhr nachmittags bevölkern die Internationalen, auch die fremden Überwachungsoffiziere in Zivil, diese natürlich in "angenehmer deutscher Begleitung", alle unsere Kaffeehäuser. Im "Kaiserhof" und anderswo gibt es ja Schlagsahne, die die Berliner Mädchen sich bezahlen lassen, und im "Faun", Ecke Friedrich- und Taubenstraße, bessere Musik, als man sie in Paris oder Brüssel an solchen Orten hören kann. Übel wird es am Abend, wenn die Pfropfen knallen und die Musik abwechselnd Tänze - für die vom "Faun" bezahlten Paare im Mittelraum - und deutsche Sentimentalitäten vom Rhein und vom Wein und von Frauen spielt. Die Besucher schlagen den Takt mit dem Hausschlüssel an das Glas und singen mit: "Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein!" Da gröhlt ein besoffener Schieber: "Se ham ihn ja schon!" Gelächter rundum. Der lange ernsthafte Ire mir gegenüber, ein englischer General in Zivil, dem sein deutsches Mädchen vergeblich zutrinkt, wird rot im Gesicht vor Ekel, und der zitronengelbe Japaner drüben, der ebenfalls von seiner Begleitung "Deutsch lernen" will, läuft grau an. Ein Dokument von unserer Zeiten Schande. Man sagt, daß der preußische Schulmeister Königgrätz gewonnen habe; vielleicht gelingt es dem deutschen Lehrer in diesen Jahrzehnten der Schmach, die wir noch zu durchleben haben, das deutsche Volk wiederzugewinnen, das sich verloren hat, nachdem ihm fünfzig Jahre lang durch die sozialdemokratische Partei das nationale Bewußtsein wegagitiert worden ist.
22.Oktober 1920 (Freitag)


5

Die Sache mit Lola - Fritz Ebert und Henny Porten - Die Bettkarten der Regierung - Die Großherzogin, das Dienstmädchen und die neuen Herren - Die Vakanz für Rauscher in Tiflis - Klawunde als Polizeihauptmann - Nacht- und Nepplokale - Trarbachs Weinstuben der Entente versperrt

Alltäglich und allnächtlich wird in der Reichshauptstadt, bald hier bald da, ein Ding gedreht. Ein Ding ist keine Sache. Man soll nicht sagen, was 'ne Sache ist. Aber "die Sache mit Lola", das ist ein Ding, das muß man gesehen haben. Sache.

Ich möchte wissen, ob irgend jemand, der weder Berliner noch Warschauer ist, diese fünf Sätzchen da oben versteht. Es ist kaum mehr Deutsch, sondern schon mehr Rotwelsch. Aber im Konfektionsviertel am Hausvogteiplatz schlürft man mit Kennermiene solche Wortkaskaden ein und wackelt dazu mit den Ohren vor Vergnügen. Seit der vorigen Woche ist das Komödienhaus am Schiffbauerdamm, wo "Die Sache mit Lola" über die Bretter geht, allabendlich ausverkauft, und auch in der nächsten Woche wird der gewöhnliche Sterbliche, der nicht Großkonfektionär oder Kurfürstendammschieber ist, keinen Parkettplatz erlangen können. Pallenberg macht die Sache. Schon den Titel des Schwanks, dessen Inhalt andere gedichtet haben, hat sicherlich er erfunden. Und nun sprudelt er los - man weiß nicht, was flinker und gelenkiger ist, seine Zunge oder seine Hände - und extemporiert noch was dazu und jongliert mit jedem Satz, bis sein Publikum vor Lachen nicht mehr kann und sich fast in Krämpfen windet. Wenn diesem Pallenberg in irgendeinem Stück auf der Bühne zugerufen wird, er solle deutsch sprechen, so antwortet er sicher: "Deutsch? Wieso Deutsch? Der Deutsch ist doch im Deutschen Theater bei Reinhardt, und ich bin hier im Komödienhaus!" Und schon prusten die alten Herren im Parkett, und die jungen Mädchen kreischen, als wenn sie gezwickt würden. Pallenberg ist der Liebling dieses Berlin. Wenn er als "unmöglicher" Provinzler mit einer noch unmöglicheren Gattin auf die Bühne kommt, sich in Lola aus dem Korsettsalon verliebt, seiner Gattin, um die Sache mit Lola zum Klappen zu bringen, einen Schlaftrunk eingießt, den er versehntlich selber austrinkt, so wird sein Publikum hysterisch vor Vergnügen. Mit Literatur hat das kaum mehr etwas zu tun, und die Kunst Pallenbergs gehört schon fast ins Varieté. Aber er ist eine Zugkraft ersten Ranges für zahlungskräftige Leute, denen das Lachen als eine Art Vibrationsmassage zur Verdauung nötig ist.

Wenn man lachen will, geht man doch ins Theater. Sache. Wer gerührt werden will, mag im Kino sitzen.

Das ist die landläufige Ansicht unserer Berliner. Auf der Flimmerleinwand wird Weltgeschichte gemacht, erschütternde Weltgeschichte. Da sieht man, wie Katharina die Große gelebt und geliebt hat, da sieht man, wie die schöne Anna Boleyn bei Heinrich VIII. ihr tragisches Dasein vollendet. Und das haben ja auch unsere höchsten Herrschaften im Entstehen geschaut. Von jedem illustrierten Wochenblatt grinst einem neben Anna Boleyn-Henny Porten die feiste Bonhommie des Landesvaters Fritz Ebert entgegen, der die Aufnahme draußen in der Filmstadt mitgemacht hat. Er wollte eigentlich gar nicht. Er ist mehr für das Häusliche. Frühstück ist die schönste Jahreszeit, sagt er sich, wenn es ihm von Reichslakaien im Palais Wilhelmstraße 73 serviert wird. Aber der Mann muß hinaus ins feindliche Leben, und man zerrt ihn. Bitte sehr: Staatsraison! Jeder Monarch muß aus Staatsraison tausend Lächerlichkeiten mitmachen. Und hier ist die Sache die, daß die Ufa, die Universal-Film-Gesellschaft, die während des Krieges zur deutschen Propaganda im neutralen Auslande herangezogen und dafür finanziert wurde, beim Reiche noch mit vielen Millionen in der Kreide steckt; dieses Geld möchte sie wieder durch Ausfuhr von Films aus der englischen Geschichte über den Kanal hereinbringen, und um das Ausland aufmerksam zu machen, braucht sie Eberts dralles Reklamegesicht. Bismarck hat sich mal mit der Lucca typen lassen. Warum nicht Ebert mit Henny Porten ? Immer noch besser als nackend mit Gustav Noske. Dabei ist doch gar nichts. Pallenberg würde sagen: "Zu den besten Importen gehört Henny Porten. Auch Hennessy und Port sind nicht übel. Aber diese Importen lieb' ich abgelagert, und die Henny Porten jung." Wer sich also darüber aufhält, daß Fritz Ebert Marksteine redet und sein Gesicht überall hinhält, der weiß nicht, wie ungern Friedrich der Behäbige das tut. Er ist nicht schuld. Man drängt ihn, man zwingt ihn. Auch die Republikaner wollen ihr Tschingtara.

Wer jetzt zu ihrer Clique gehört, der hat es gut. Heute läßt sich alles durch Verbindungen schieben. Früher konnte jeder Mensch am Schalter eine Bettkarte für den Schlafwagen lösen. Wer jetzt die Nacht hindurch zu einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit nach Köln oder München oder Stuttgart und am nächsten Abend gleich zurück will, der mag zwei Nächte aufrecht sitzen, wenn er kein ärztliches oder sonstwie gewichtiges Zeugnis für Schlafwagenbenutzung vorweisen kann, denn 40 v.H. sämtlicher Plätze sind für die Regierung beschlagnahmt. Sie braucht die Plätze gar nicht. Sie schläft ja in den Bureaus in Berlin und nicht unterwegs. Aber so wird sie zur Gnadenspenderin: man muß Verbindung mit ihr suchen. Wer irgendeinen Novembersozialisten kennt, irgendeinen blaurasierten jungen Ministerialrat, der früher vielleicht Kommis im Konfektionsviertel war, der kriegt Bettkarten soviel er will. Der alte König von Württemberg aber steht Kette vor dem Schalter, wenn er eine Fahrkarte nach Friedrichshafen braucht. Diese "Despoten" muß man es fühlen lassen, sagen die neuen Herren. Bei der Großherzogin von Weimar heiratet ein Dienstmädchen, das jahrelang - auch jetzt "im Elend" - ihrer Herrschaft die Treue gewahrt hat. "Viel kann ich Ihnen nicht stiften," sagt die Großherzogin, "aber ein Bett, eine Kommode, einen Schrank von meinen alten Sachen im Schloß in Weimar sollen Sie für Ihre Aussteuer haben." Sagt es und schickt das Mädchen mit einer eigenhändig geschriebenen Anweisung auf die Sachen nach Weimar. Aber die neuen Gewaltigen dort, Männer von Würde und Takt, jagen das Mädchen wieder fort: "Was Ihre Olle da schreibt, ist uns ganz egal; wir rücken von den Sachen nichts raus!" So geschehen 1920, im zweiten Jahre der glorreichen Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit. Herr Scheidemann aber hat aus königlichen Beständen in Kassel Möbel im Werte von 70 000 Mark bekommen und zahlt dafür nur eine Anerkennungsgebühr von jährlich 300 Mark.

Die politische Ernte muß jetzt ausgedroschen werden; wer das Seinige in der Scheuer hat, kann zufrieden sein, denn wer weiß, ob nach den nächsten Wahlen die Futterkrippe sich noch füllen läßt. Auch der Presseagent und Redenentwerfer der neuen Herren, Ulrich Rauscher, hat richtig noch kurz vor Toresschluß sein Pöstchen ergattert. Zwar war es nichts mit der Akropolis in Athen. Aber er hat nun wenigstens verkünden können, daß er zum Gesandten "bei der sozialistischen Republik Georgien" ernannt sei. Tiflis an der schäumenden Kura ist auch nicht übel, zu dem über 5000 Meter hoch mit seinem Eiszuckerhut in den Äther ragenden Kasbek kommt man in wenigen Stunden, und die Bevölkerung ist, auch wenn sie sich nicht gerade kratzt, in ihrer malerischen Burka und Papacha, mit dem geschliffenen Kinshal im Gürtel, romantisch anzuschauen. Ich könnte Rauscher auch die Adresse manches Bärenjägers geben, mit dem ich dort in den Bergen herumgestiegen bin. Sicherlich wird in Tiflis, wozu man den Deutschen bloß gratulieren könnte, der Politiker Rauscher sich wieder zum Feuilletonisten Rauscher wandeln und uns ein unterhaltsames Büchlein aus des Prometheus Landen und dem neuerstandenen Reiche der sagenhaften Kaiserin Tamara bescheren. Aber noch tritt Rauscher nicht kaukasische Felsblöcke, sondern Berliner Asphalt, und macht, wenn man ihm begegnet, ein verhageltes Gesicht. Pech muß der Mensch nämlich haben. Not heißt die Amme aller großen Männer der Geschichte. Nun hat man dem guten Rauscher gesagt, er werde Gesandter in Tiflis, aber der neue Etat, den der Reichstag überdies erst genehmigen soll, - wirft nicht einen Pfennig Gehalt für diesen Posten aus, sondern verkündet trocken: "Die bisherigen diplomatischen Vertretungen für Albanien sowie in Kiew, Moskau und Tiflis fallen fort, da es unsicher ist, wann und in welcher Weise die diplomatischen Beziehungen zu diesen Ländern wieder aufgenommen werden können." Und doch, was gilt die Wette, schafft es Rauscher. Auch ohne etatrechtliche Genehmigung. Er wird schon noch Exzellenz. Man muß nur Geduld haben.

Oder einstweilen mit einem kleineren Pöstchen vorlieb nehmen. So vernünftig ist jedenfalls Herr Klawunde, der früher Inhaber eines Gemüsekellers war, im Januar 1919 plötzlich Stadtkommandant von Berlin wurde, also die Räume bezog, in denen der Graf Kuno Moltke und General v. Boehn gehaust haben, dort aber weniger saß, als in einem "intimen" Weinlokal in der Behrenstraße mit seinen lustig zechenden Freundinnen; er ist jetzt ganz zufrieden damit, daß Genosse Braun, der preußische Ministerpräsident, ihn - zum Polizeihauptmann in Potsdam ernannt hat. Das ist "der Geist von Potsdam", der heute herrscht; der, den im Reichstag Herr Scheidemann und in Paris Herr Poincaré zitierten, sieht seine Stunde noch nicht dämmern. Da muß erst die Generation Klawunde dahin sein, ehe wieder ein Geschlecht mit Gedanken Friedrich Wilhelms I. oder gar des Alten Fritz sich regen kann. Der alte Geist von Potsdam materialisiert sich nicht. Er lebt nur in einigen Herzen, die ihn hinüberretten in bessere Zeiten.

Hie und da kommt er freilich an ganz unerwarteter Stelle zum Vorschein. In Berlin spielen sonst der Dollar, das Pfund, der Franken die erste Rolle; dafür kann man Schlagsahne, Schampus und Mädchen kaufen, Stoffe, Möbel und alten deutschen Familienschmuck nach Hause in die Ententeländer schicken. In allen Nacht- und Nepplokalen dominiert der fremde Eindringling in Zivil und gibt mit lässiger Miene große Trinkgelder, die wir aus unseren Steuern aufbringen müssen. Die Polizei, die eben erst wieder - nach viermaliger bescheiden-dringlicher Verwarnung - in der Zimmerstraße ein Weinlokal geschlossen hat, in dem von nachts 12 bis morgens 5 Uhr Nackttänze vor Eroberern und Schiebern stattfanden, hat es sehr schwer, weil bei jeder Razzia sofort Dutzende von Ententeangehörigen auf ihre angebliche Exterritorialität pochen und ihr gutes Recht auf Lebensgenuß verfechten. Aber einen Gastwirt - wenn man den Inhaber einer der größten Weinfirmen so nennen darf - gibt es, der den Tanz um das goldene Kalb, den Tanz um Dollar und Pfund und Franken nicht mitmacht: den Inhaber von "Trarbach". Sein Haupthaus, ein wahrer Palast, befand sich früher in der Französischen Straße. Man aß und trank dort trefflich zu erträglichen Preisen - und man befand sich meist in guter Gesellschaft. Als dann die Ära der Kriegsschieber und der Revolutionsschieber kam, legte Herr Kreßmann seinen Betrieb still, mit der öffentlichen Begründung, daß sein altes Publikum die heutigen Preise nicht bezahlen könne, und daß er für das neue Publikum seine Weine nicht hergäbe. Um mit dem Rest des großen Lagers allmählich zu räumen, läßt er noch seine kleine Filiale in der Kantstraße, neben dem Theater des Westens, bestehen. In diesen gemütlichen Weinstuben aber prangt an den Wänden das Plakat: "Angehörigen der Entente ist der Aufenthalt hier nicht gestattet."

Ich glaube, der Mann hat seinesgleichen nicht in ganz Deutschland. Als vor zwei Jahren, im Felde unbesiegt, das Korps Lequis in Berlin unter den knatternden Preußenfahnen wieder einzog, als der Namenszug Fridericus Rex von ihrem zerfetzten Tuch grüßte, da habe ich zum ersten Male seit meiner Kindheit fassungslos geschluchzt. Als ich dann das schlichte Plakat in der Weinstube dieses deutschen Mannes sah, ist zum ersten Male seit 1918 wieder die alte Zuversicht in mein Herzgezogen.
29.Oktober 1920 (Freitag)


6

"Koks, bitte, gefällig?" - Morphium im Straßenverkauf - Die neue Ausstellung der Sezession - Weibliche Anatomie in der modernen Plastik - Das proletarische Theater - Otto Braun auf der Elchjagd - Der Fall Wartensleben - Kurse für Spioninnen - "Was heißt Tatraten?"

Die Hafenstädte, das weiß man, sind Lasterhöhlen. Es ist da alles zu haben, was den Menschen entnervt, aussaugt, ruiniert. Auf dem Wege von Konstantinopel über Port Said nach Saigon kann man sein blaues Wunder in Kokain und Haschisch und Opium erleben. Eine ähnliche Trift führt westwärts von Neapel über Lissabon nach Buenos Aires. Überall ernährt sich armseliges Volk von der Vermittlung des Giftes an rettungslos Sinkende in der Sterbewelt, die man fälschlich die Lebewelt nennt. In die Reihe dieser "Hafenstädte", wo man im Nirwana einschläft und im Siechen- oder Irrenhaus aufwacht, ist Berlin längst eingetreten. Seit zwei Jahren werden in der Reichshauptstadt die ruinierenden Reizmittel ohne Bemühung von Arzt und Apotheker freihändig angebracht. Die Morphiumseuche nimmt zu. Man trifft immer mehr verhältnismäßig junge Leute beiderlei Geschlechts mit ganz altem, eingefallenem, gelbem Gesicht, die dem Morphinismus frönen. Abends auf dem Alexanderplatz, dicht am Polizeipräsidium, ist der Markt: da kann man Morphium nicht nur für ein paar Einspritzungen von den dort umherwandelnden Bassermannschen Gestalten bekommen, sondern so viel, daß man damit eine ganze Kleinstadt ins Grab zu bringen vermöchte. Und wenn man abends in einem Kaffehaus des Westens sitzt, fragt einen in neun von zehn Fällen der Kellner: "Koks, bitte, gefällig?" Er meint aber nicht diesen notwendigen Stoff für unsere Zentralheizung, sondern Kokain. Und wenn wir uns umsehen, erblicken wir auch hier und da Pärchen, die das weiße Pulver schnupfen. Die kleinen Opiumkügelchen zum Rauchen sind auch überall zu haben. Deutchland tanzt an offenen Gräbern; und leichenfahle Leute, die nicht mehr tanzen, sondern nur noch Gifte schnupfen, rauchen, einspritzen, sinken hinein, häufen sich zu Bergen, wo eben erst Gruben waren. Angesichts dieser modernen Verheerungen erscheint einem der Alkohol gar nicht mehr als der Würgengel, als der er sonst immer abgemalt wurde, - er ist längst von Beelzebub selber abgelöst. Der zermürbt nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Der Morphinist wird zum konstitutionellen Lügner. Der ehedem bravste Bureaugehilfe, der Kokain zu schnupfen anfängt, bestiehlt die Portokasse. Seitdem Scheidemann vor zwei Jahren von der Reichstagsrampe aus rief: "Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt!", rutscht dieses Volk auf schiefer Ebene dem Abgrund zu. Immer schneller, immer schneller. Ohne Unterschied des Standes. Wenn wir nicht wüßten, daß es noch weite Schichten in unserem Volke gibt, die sich rein erhalten, so müßten wir an unserem Schicksal verzweifeln, - aber die gibt es noch, Gott sei Dank, sogar in Berlin. Auch die Sittengeschichte verläuft, wie die politische, in Wellenlinien, es gibt kein ständiges Auf oder Ab, denn sonst wären wir längst Engel oder Teufel, und doch bleiben wir, über Jahrhunderte gemessen, immer dieselben; nur augenblicklich sind wir im tiefsten Wellental.

In solchen Zeiten hat manchmal die Religion, manchmal die Kunst zur Aufrichtung beigetragen. Das religiöse Sehnen ist heute stark, schlägt aber vielfach in Aberglauben aus. Die Kunst läßt uns zurzeit ganz im Stich oder stößt uns noch tiefer ins Elend hinein. Dieser Tage hat die Berliner Sezession ihre neue Ausstellung eröffnet, nicht mehr im alten Heim am Kurfürstendamm, weil die dortigen Räume - 105 000 Mark Miete jährlich - von einem noch mehr zahlenden Kino in Besitz genommen werden, sondern weiter zurück zur Stadt zu, gegenüber der Joachimsthaler Straße. Man hat es dem Kaiser sehr verdacht, daß er so unmodern war, seinen privaten Geschmack beizubehalten und sich über die Sezession als "Rinnstein- und Elendskunst" absprechend zu äußern. Amtlich ist er der Moderne nicht in den Arm gefallen. Er hat einen Mann wie Bruno Paul zum Direktor des Berliner Kunstgewerbemuseums ernannt. Er hat sich auch schon vorher nicht gegen den sogenannten Jugend-Stil van de Veldes gesperrt, dessen schier altmodische Überbleibsel wir heute noch auf den Schlangenlinien der Einfassung unserer Germania-Briefmarken sehen. Wer aber heute in die Ausstellung der Sezession geht, diese Schreckenskammer, der gibt dem Kaiser tausendmal Recht - oder lacht sich schief über den ganzen Irrsinn. Wir sehen auf den Gemälden dort lauter Gesichter von Morphinisten im letzten Stadium, wenn man Gesichter überhaupt erkennt und nicht nur Kleckse. Fast weht einen Verwesungsgeruch an. Eine "Kreuzabnahme" Klaus Richters zeigt uns die gelbe ausgetrocknete Mumie eines am Hungertode Verstorbenen. Ein Bild von Fritsch, "Seefahrt", einen geschminkten Schimpansen in einer knallroten Bütte auf einer Wiese, über deren Staketenzaun Fische springen. Eine "Schneelandschaft in Litauen" ist eine Stube voll von Leuten, die offenbar einem Gasangriff erlegen sind und nun dem Jüngsten Gericht entgegenfaulen. Auch die Plastiken sind schon von der Verheerung ergriffen. Im Schnadahüpfl heißt es: ".. und ein Kind mit runder Brust" und reimt sich auf bayrisch Bier und Leberwurst. Danach kann man hier lange suchen. Die weibliche Brust hat die Gestalt eines Rhomboeders oder eines Pyramidenstumpfs, erfahren wir in der Sezession. Dazu gehört ein seitlicher Kropf, dazu gehören Affenfinger an den halbmeterlangen Füßen oder umgekehrt Elephantiasis, dazu gehört auch das Mikrokephalenhirn. Man schüttelt sich. Aber es soll Leute geben, die so etwas kaufen.

Wir Altmodischen suchen Erhebung in der Kunst. Selbst Hermann Obrist in München, der doch Wegkünder der Modernen ist, hat einmal den Beruf der Kunst mit den Worten umschrieben: "Sie soll uns mit gesteigert lebensanregenden Empfindungen entlassen." Das gilt von Malern wie Bildhauern, von Musikern wie von Schauspielern. Das gilt von der Kunst höchster wie minderster Gattung. Mein Leben ist gesteigert, wenn ich Beethovens Neunte höre. Andere Leute hören lieber: "Ach Ernst, ach Ernst, was du mir alles lernst!" Was aber vielfach jetzt sich als Kunst bezeichnet, das ist entweder vollendeter Irrsinn oder - politische Tendenz. In Berlin veranstaltet das "Proletarische Theater" in Arbeitervierteln seine Wandervorstellungen. In den Prospekten wird ausdrücklich gesagt, daß man auf die Kunst pfeife, daß die Hauptsache die "Propaganda der Tat" sei, das Einhämmern der Revolutionsidee. Der Leiter hat keine Konzession, keinen Ausweis über seine künstlerische Fähigkeit, wie man sie früher von Theaterdirektoren verlangte. Der preußische Ministerpräsident, Genosse Braun, drückt lachend beide Augen zu. Ein lustiges Berlin, dieses rote Berlin.

Auch die Provinz hat ja ihre Meriten. In Ostpreußen gibt es ehedem königliche Forsten, in denen der Elch noch haust. Er wird jetzt von Novembermännern gestreckt, auch Genosse Braun hat sich dieser Tage einen geleistet, denn Fahrt und Verpflegung hat er ja umsonst, ein Dienstauto steht ihm auch zur Verfügung, und die gezogene Kugelbüchse beschlagnahmt "Ihm" kein Entwaffnungskommissar. Schopenhauer hat einmal launig und zugleich bitter bemerkt, das Leben sei zeitraubend und kostspielig. Das finden unsere nueuen Regenten durchaus nicht; das Leben, das sie jetzt führen, sei jedenfalls unterhaltsam und billig.

Man muß nur, wie gesagt, die nötigen Beziehungen haben. Im Reichstage macht Hermann Müller Sensation mit der Mitteilung, eine Gräfin Wartensleben (sie selber stammt nicht von altem Adel, sondern von neuem Reichtum) habe ungenutzt eine Riesenwohnung in Berlin. Sie war freilich ihr schon abgenommen und beschlagnahmt, als er seine Rede hielt; doch dies nur nebenbei. Wir wissen, daß es nicht mehr angebracht ist, daß Landadelige noch ein pied-à-terre in Berlin unterhalten. Fast alle haben es ja auch schon längst aufgegeben. Graf Rederns Palais am Pariser Platz ist seit Jahren Hotel Adlon. In der Behrenstraße, in der Wilhelmstraße sind die alten Geschlechter verschwunden. Aber ein Geheimrat der neuen Regierung hat am Kurfürstendamm eine Wohnung von 22 Zimmern, die ihm nicht beschlagnahmt wird. Sie dient, wie er in einer amtlichen Bescheinigung am Stammtisch es lachend herumzeigt, staatlichen Zwecken, da er in seinen Räumen "Kadinen" ausbilde, in Liebes- und sonstigen Künsten erfahrene Damen zu Spioninnen und Lockspitzeln. Allzuviel kostbare Zeit scheinen sie dem kleinen Zyniker, unserem Geheimrat, nicht zu rauben. Nicht nur er allein braucht über Wohnungsnot nicht zu klagen. Man darf nur nicht verdächtig sein, reaktionär zu denken, die alte über die neue Zeit zu stellen. Denn dann kann man es sofort erleben, daß einem ein Küchenherd in den Salon gesetzt wird und dem Herde auf dem Fuße eine vielköpfige Kommunistenfamilie folgt. Wer sich der Zeit anpaßt, hat's gut. Der Bankier Markiewicz, der so zeitgemäß ist, daß er sogar für die Polen eine Anleihe emittierte, baut sich jetzt in der Markgrafenstraße eine Villa. Im Jahre 1914 versteuerte er ein Vermögen von 170 000 Mark, die Villa mit Innenausbau kostet über 5 Millionen Mark. Wo mag er das Geld nur herhaben? Die Kriegsgewinne, die Gewinne seit 1914, sind unseres Wissens doch weggesteuert . . .

Ja, der eine baut eben neu, der andere sieht abbröckeln, das ist der Lauf der Welt. Die wißbegierige kleine Frau des japanischen Attaché, die so eifrig Deutsch lernt, begegnet mir am Kurfürstendamm und fragt mich: "Was heißt Tatraten?" Ich bin ratlos. Da trippelt sie weiter neben mir her und weist auf ein Ladenschild. Wahrhaftig: "T..at.r.a.ten". Ich trete näher und sehe, daß ein Billethändler hier haust, aus dessen Schild "Theaterkarten" einige fußgroße Porzellanbuchstaben abgefallen sind, die er bei den heutigen teuren Preisen nicht erneuert. Ähnlichem Zerfall begegnet man auf Schritt und Tritt. Ich möchte nicht die Dessous unserer Tauentzien-Girls untersuchen, denn auch da sähe ich wohl Zerfall. Wir werden uns noch nach dem vielverspotteten Wollhemd des deutschen Italienpilgers zurücksehnen. Es war doch heil und ganz. Im Reichsetat gibt es aber heute nicht so viele Löcher als in den Strümpfen des heranwachsenden jungen Deutschland. Aus Seide sind sie freilich. Und in der richtigen Umgebung, das will ich übrigens nur gestehen, ist mir ein Pariser Seidenstrumpf auch lieber, als der von einem Heideschäfer gestrickte wollene.
5.November 1920 (Freitag)



Glossen 1 - 3

Jahresinhalt

Glossen 7 - 9

© Karlheinz Everts