"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 1 - 3
1. bis 15. Oktober 1920


1

Die ausgestorbene Wache - Demonstrationen - Adolf Hoffmanns Kinderkreuzzug - Stadionfest - Der Herzog beim Justizrat - Fürst Bülow ohne Pudel - Wie man "abbaut" - Ulrich Rauschers diplomatische Sehnsüchte - Frau Ebert und Frau Meißner - Zu Max Bruchs Tode

Totenstill liegt die Brandenburger-Tor-Wache da. Auf dem Postament steht kein strammer Grenadier, der - ruck, zuck - den Präsentiergriff klopft. Mittags gegen 1 Uhr überkommt den alten Berliner das Gefühl des Ausgestorbenseins, denn da war er doch früher gewohnt, daß mit Kling-Klang-Gloria die Wache die Linden hinunter zum Schlosse zog, an dem historischen Eckfenster des alten Herrn, Wilhelms des Einzigen, vorbei, begleitet und gefolgt von einem Schwarm von Menschen, - Berlinern, Deutschen aus dem Reiche, Ausländern, wobei auch die sogenannten "Fremden von Distinktion" nicht fehlten. Wenn dann die Kompagnie mit Trompetenschall und Paukenschlag und Beinwerfen in den Schloßhof einmarschierte, gab es zwischen den altersgrauen hohen Mauern ein ungeheures kriegerisches Getöse, und den Fremden wurde gar "fritzisch" zumute: sie begriffen, wie dieser eiserne Staat des Alten Fritz groß geworden und schließlich in einem machtvollen Alldeutschland aufgegangen war.

Heute ist der Schellenbaum mit den Roßschweifen aus dem Stadtbilde verschwunden. Statt der militärischen gibt es andere Aufzüge. Nicht der lange Troddelstock des Tambourmajors wird in der Luft gewirbelt, sondern gelassen und stumpfsinnig schwanken, wie Kamele in der Karawane, weiße Inschrifttafeln an Stangen vorüber. Man denkt, es seien aus irgendeinem öffentlichen Park herausgerissene Stangen, und auf der Tafel stehe wohl: "Das Betreten des Rasens ist verboten." Auf der ersten im Zuge steht aber gewöhnlich: Knorr-Bremse A.-G. Also der Name der Firma, deren Arbeiter, wo es zu demonstrieren oder zu protestieren gibt, immer vorneweg sind und immer ein bißchen links heraus, zuerst links von den Mehrheitlern, jetzt links von den Unabhängigen, demnächst vielleicht links von den Kommunisten. Auf den weiteren Tafeln ist die Visitenkarte anderer Industriewerke oder Handelsgesellschaften aufgepinselt. Manchmal auch ein Kraftspruch : "Hoch das Proletariat!" oder "Friede, Freiheit, Brot!" Das Ganze ist zumeist sinnlos, da man mit Demonstrationen doch nie Weltgeschichte macht, und ästhetisch jedenfalls kläglich. Da hatte die große französische Revolution doch mehr Farbe, mehr Sinnenfreude, da gab es einen Umzug mit der Göttin Vernunft, da wurde auf offenem Markte in buntem Gewühl noch die Carmagnole getanzt. Man sollte mal ein paar lustige Leute mit Karnevalserfahrung aus dem Rheinland und aus Süddeutschland nach Berlin berufen, damit diese traurigen Umzüge endlich ein wenig reizvoller arrangiert würden. Auch der Kinderkreuzzug Adolf Hoffmanns zum Lustgarten konnte nur Mitleid erregen. Da mußten die Hosenmätze und die dünnbeinigen kleinen Mädchen, die früher am Paradetag so gerne ihre schwarz-weiß-roten Fähnchen schwenkten, feierlich und fast bekümmert diese greulichen Tafeln tragen, den von der Domtreppe herab gegen die Religion wetternden alten Zehn-Gebote-Hoffmann anhören und eintönig dazu plärren: "Wir wol-len kei-nen Pfaf-fen!" Oder: "Wis-sen ist me-her als Glau-ben!" Um Wissen und Glauben ringen Männer im innerlichen Titanenkampfe; davon ahnen die kleinen Steppkes Gott sei Dank noch nichts. Ich habe während der ganzen Demonstration nur einmal ein Aufleuchten der Kindergesichter gesehen, - als ich nämlich eine der einstudierten plärrenden Gruppen mit meinem eigenen Spruch übertönte: "Wir wol-len lie-ber Mur-meln spie-len!" Arme Kinder. Man lehrt sie hassen, statt ihnen Liebe zu geben, und man versperrt ihnen jedes Paradies. Dieser Tage fand im Stadion, der klassisch gebauten Riesenarena im Grunewald, eine große Turnaufführung sämtlicher Berliner Volksschulen statt. Wochenlang hatten die Kinder, die Backen rot vor Freude, auf das Fest hin geprobt, konnten ihre Reigen- und Stabübungen und alles andere am Schnürchen, und nun, im letzten Moment, kam "die Partei" und veranlaßte die zielbewußten Eltern, viele der Kinder von dem Feste zurückzustellen, - weil man nicht dazu da sei, der Bürgerschaft ein Schauspiel zu bieten.

An Schauspielen aber sind wir doch so arm, trotz der Hunderte von Kinos in jedem Stadtviertel. Es fehlt sogar an den stadtbekannten Berühmtheiten, die man sonst einander Unter den Linden zeigen konnte. Der alte Perponcher mit dem aufgewichsten dünnen Schnurrbart in dem faltenzersägten Gesicht und der in die Schläfen gekämmten Sechs, der meist, pünktlich wie eine Normaluhr, zu bestimmter Stunde mit dem wippenden Stock auf dem Rücken bei Adlon vorbei und über den Pariser Platz ging, braucht die Verödung Berlins nicht mehr zu konstatieren. Er ruht schon längst. Auch alles, was mit der Hofgesellschaft zusammenhing, ist zerstoben. Oder hat - den Beruf gewechselt.

Kommen da zu einem bekannten Notar dicht am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin neulich zwei elegante Herren, um mit der üblichen Einlage von 20 000 Mark den Vertrag über Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu schließen. Der eine stellt sich als Graf vor, so daß der Notar schon stutzig wird und an Hochstapler denkt, der zweite aber sagt, er sei Herzog. "Nanu schlägt's dreizehn!", ruft der alte Justizrat. "Aber bitte, ich will mich gern legitimieren!" erwidert gelassen der Angeredete. Er ist tatsächlich ein wirklicher Herzog. Derselbe, der unter abenteuerlichen Umständen als "Seine Hoheit, der Kohlentrimmer" sich 1914 aus Mexiko nach Deutschland durchschlug, um hier seiner Dienstpflicht zu genügen. Heute gründet er eine pomphafte Osteuropäische Handelsgesellschaft mit Beziehungen nach Polen und Ungarn. Er wird wohl Salvarsan oder Kokain schieben, brummt der Justizrat. Nicht jeder von den Herren aus der "guten alten Zeit", als die uns die vor 1914 erscheint, hat es freilich nötig, den Handelsberuf zu ergreifen. Es gibt immerhin noch einige Pensionaäre, die so eben von ihrer Pension und ihren Zinsen leben können. Auf demselben Wege, den früher der Graf Perponcher regelmäßig beging, begegnet einem jetzt zuweilen der Fürst Bülow. Er hat noch immer sein joviales Grübchen, sein bekanntes Lächeln, seine feine Art, schüttelt wohl auch mal Bekannten die Hand und tauscht mit ihnen die eine oder andere Erinnerung aus. Aber nur wenige erkennen ihn. Nicht etwa deshalb nicht, weil er, der früher so Volle, beim Altern doch ein schmales Greisengesicht bekommen hat, sondern: weil der Reichspudel fehlt. Ein kleiner Fixköter trottet nebenher, der gerne Dackel genannt werden würde. Das ist Bülows Tarnkappe für die breite Masse. Nun ist er sicher.

Ich schlendere durch die Behrenstraße, dort, wo einst der riesige Hülsen-Haeseler als Chef des Militärkabinetts hauste. Heute sieht man natürlich überall die Schilder von Kriegsgesellschaften und ähnlichen Einrichtungen. Aber es wird wirklich "abgebaut". Seit einigen Tagen ist meine größte Freude dahin, das Schild an einem vornehmen Treppenaufgang in der Behrenstraße, das mir immer wieder die Kraft gab, das Leben humorvoll zu finden, das Schild: "Reichsaufsichtsamt für Seemuscheln". Was werden die Seemuscheln in ihrer neugewonnenen Freiheit nun vor lauter Übermut anfangen? Es ist überhaupt nicht auszudenken, was aus unsern guten und aus unsern Ersatznahrungsmitteln wird, wenn solche Zügellosigkeit einreißt und kein Diktator mehr im Klubsessel, eine echte "Bock" (29,50 Mark das Stück) zwischen den Lippen, sie registriert und kontrolliert und rationiert. Auch die sozialen Folgen sind unübersehbar. Ich meine nicht die Arbeitslosigkeit der Herren Meyer I bis Meyer XXXII von den verschiedenen Klubsesselbehörden, denn allzuviel Arbeit hatten sie auch bisher nicht. Aber die Gehaltlosigkeit, das ist das Problem. In allen Ständen. Wir haben in Berlin 2300 Briefträger zu viel, so daß mehrtägige Feierschichten eingelegt werden mußten, obwohl auch die diensttuenden Briefträger heute die Post für Schulzes, die im vierten Stock wohnen, der Einfachheit halber bei Müllers im Erdgeschoß abgeben, die sich sowieso für Schulzes Korrespondenz interessieren. Nun könnte man ja die Überzähligen entlassen, das würde bei dem großen Fehlbetrag der Post vielleicht gut tun. Aber nein; dann fiele doch ihr Gehalt weg, und das ist die Hauptsache.

Auch die Höhe des Gehaltes darf man freilich nicht außer acht lassen. Ein beurlaubter Pressechef der Reichskanzlei bekommt sicher nicht so viel, wie ein aktiver deutscher Gesandter in Athen, sagte sich mit Recht Herr Ulrich Rauscher und wollte also Gesandter in Athen werden. Er ist doch Literat. Er hätte so gut zu der Akropolis gepaßt. Er tat denn auch alles, was man in unserer modernen Zeit, wo vieles "hinten herum" geht, tun muß. Er war nett zu Meißners. Meißners sind Kabinettssekretärs bei Eberts. Und Frau Meißner, eine kluge und hübsche Frau, ist bei Frau Ebert eine Art Zeremonienmeisterin, etwa das, was die Gräfin Voß am Hofe Friedrich Wilhelms III. war. Also Frau Rauscher mußte auch nett zu Frau Meißner sein. Aber Frau Meißner, die aus guter Familie stammt und, wie gesagt, nicht nur hübsch, sondern auch klug ist, hat für Frau Rauscher, die von diesen drei Eigenschaften erheblich weniger besitzt, wohl kein allzu großes Faible. Auch macht Frau Ebert gar nicht in Politik. Ihr Mann, je nun, der redet in Nauen bei der Funkstation "Marksteine", wie nur je der ob seiner Marksteine von Harden genügend begeiferte Wilhelm II. Aber Frau Ebert ist nur Frau Ebert. Kurz und gut, das Auswärtige Amt tut der Öffentlichkeit kund und zu wissen, daß Ulrich Rauschers Ernennung zum Gesandten in Athen keineswegs in Aussicht stehe. Bei Eberts hat man auch ganz andere Sorgen. Gelegentlich auch kleinen Ärger, wenn beispielsweise die frühere Kammerfrau der Kronprinzessin, die man engagieren möchte, antwortet, daß sie - zu ihresgleichen nicht gehe. Immerhin: Herr Ulrich Rauscher, der nicht nur die schönen Reden verfaßt hat, die Ebert in Weimar hielt, sondern auch vom ehemaligen Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung sich zum überzeugten sozialdemokratischen Politiker entwickelt hat, kann's nicht fehlen. Nur Mut. Er wird schon noch Exzellenz werden.

Einen weiß ich, der hätte um alles in der Welt nicht einen Titel von den neuen Herren sich geben lassen. Es ist Max Bruch, der Altmeister unserer Musik, der soeben zur ewigen Ruhe heimgegangen ist. Als Gerhart Hauptmann im November 1918 seinen bekannten Aufruf "An die deutsche Ritterschaft vom Geiste" erließ, sie möge sich der Umwälzung anschließen, und viele Künstler im ersten Taumel unterschrieben, lehnte Bruch aufrecht und klaren Sinnes jede Teilnahme ab, weil - so schreibt er wörtlich mit fester Hand in einem vor mir liegenden Briefe - "derartig öde, erbärmliche, kosmopolitisch-internationale Phrasen" im stärksten Widerspruche zu seiner deutschen Überzeugung ständen.
1. Oktober 1920 (Freitag)


2

Wie die neue Gesellschaft lebt - Eberts und Noskes - Fräulein Ebert, die Schulhelferin, und Fräulein Ebert, die Nackttänzerin - Der Wandervogel als Tanzreformator - Berliner Lehrerinnen im Trikot - Zirkus Reinhardt - Godiva auf der Bühne

Das, was der Königliche Marstall und der Königliche Weinkeller enthielten, ist schon vor längerer Zeit billig versteigert, zum Teil ohne Aufsehen und noch billiger "freihändig" verkauft worden. Zu gesund, pflegen die Schieber zu sagen. Item: der sozialdemokratische Finanzminister a. D. Südekum reitet im Tiergarten schöne Pferde, und andere Genossen erfreuen sich an Steinberger Kabinett Auslese; Herr Scheidemann und Erzbergers Freund Strauß aber sind auf ähnliche Art sehr preiswert zu antiken Möbeln gekommen. Es ist aber nicht richtig, was Frau Fama wissen will, daß nun etwa ein allgemeines Geschlemme an der republikanischen Futterkrippe tagtäglich üblich ist. Die Feste oder Orgien, die der rote Herr Parvus-Helphant in seiner Schweizer und in seiner Havel-Villa zu geben pflegte, sind ja bekannt, aber deren Unkosten werden aus den Gewinnen bezahlt, die der Gedunsene als Kriegsschieber gemacht hat, also schon vor der Revolution. Im übrigen gibt es unter den führenden Genossen, denen der November zu kapitalistischer Lebensführung verholfen hat, nur einen einzigen Alkoholiker, nämlich Scheidemann. Auch Noske hat zwar in Weimar einmal in sogenannter vorgerückter Stimmung mit einer Hellebarde, die er aus der großherzoglichen Waffensammlung entlehnt hatte, in öffentlichem Lokal herumgefuchtelt. Aber so etwas ist bei ihm keine Alltagserscheinung. Einen geradezu trübseligen Eindruck beim Weine macht der des Trinkens ungewohnte "Reichskanzler a. D." Herr Bauer; und einer der nüchternsten und solidesten Menschen ist der zu Unrecht als Trinker ausgegebene Landesvater Fritz Ebert. Sein Bäuchlein und seinen Speckhals hat er nur vom guten Essen. Auch seine Frau hat keine besondere Emporkömmlingssucht, sondern hält sich mit natürlichem Takte zurück. Sie hat auch ihre älteste Tochter nun nicht etwa gleich als Prinzessin umerziehen lassen, sondern sie der Anstalt des deutschnationalen Fräuleins v. Gierke, die soziale Schulhelferinnen ausbildet, übergeben; allerdings hat die junge Ebert es dort nicht lange ausgehalten. Nur von ihren Autos machen die neuen Herrschaften reichlich Gebrauch. Das der Landesmutter steht häufig stundenlang in entlegenen Gegenden, wenn sie irgendeine Freundin zum Kaffee besucht. Auch wenn Noskes aus Hannover mal herüberkommen - sie, die überlebensgroße stattliche "Exzellenz Frau Oberpräsident" im Schwarzsamtnen - stehen ihnen Staatsautos und Staatsbenzin zur Verfügung. Fräulein Noske aber kann sich jede Woche einmal die teure Berliner Reise leisten, weil sie zu ihrer gesanglichen Ausbildung in Hannover angeblich die geeigneten Lehrkräfte nicht finden kann.

Fritz Ebert sitzt als guter Hausvater geruhig seine Zeit ab, legt seine Präsidialersparnisse vernünftig an und denkt nicht daran, etwa vorzeitig seine Pfründe aufzugeben, auch wenn er keine Mehrheit des Volkes mehr hinter sich hat; sein Sitzfleisch ist das umfangreichste und dauerhafteste an ihm. Erheblich flatterhafter ist eine junge Dame seines Namens, die kürzlich kontraktbrüchig geworden ist und Berlin um eines auswärtigen Engagements willen den Rücken gekehrt hat. Dieses Fräulein Ebert ist Nackttänzerin. Seit die Celly aus Rheidt diesen Beruf, der nach großen Revolutionen immer aus dem Schlamm neu emporwächst, in Berlin populär gemacht hat, ist die Zahl der entblößten Hüpferinnen ins Gigantische gewachsen. Es gibt kaum mehr eine Straße, wo nicht, in irgendeinem "mondänen" Lokal, in dem heute neben Schiebern und Potokassenjünglingen auch das gehobene, klassenbewußte Proletariat verkehrt, solche Tänze aufgeführt werden. Abends Schleiertanz, nachts Nackttanz. Fräulein Ebert pflegte, wie man erzählt, zuletzt nur noch mit ein paar Haarnadeln bekleidet zu sein. Aber wenn ihre Reklameagenten behaupten, sie sei eine Nichte unseres dicken Landesvaters, der im Badetrikot ihr sehr ähnele, so ist das natürlich grober Unfug. In der Umgebung Eberts atmet alles die tiefste Solidität.

Wenn es auch richtig ist, daß nach Revolutionen die Tanzseuche stets ausartet, zuweilen - wie bei den Geißlern des Mittelalters - dabei die reine Sinnlichkeit auch die Formen sogar der religiösen Ekstase annimmt, so kann man doch nicht alles, was wir heute sehen, nur auf den Geist der Zeit nach 1918 schieben. Wir haben ein gar kurzes Gedächtnis. Maxixe und Foxtrott blicken bei uns doch schon auf eine fast ehrwürdige Vergangenheit zurück und waren nur während einiger Kriegsjahre scheintot; "gewackelt" und "geschoben" wurde 1914 mehr als genug, und im Tangoklub am Kurfürstendamm habe ich doch schon damals an manchem Nachmittag schwitzende Kommerzienrätinnen neben eiskalten Professionals und fröhlichen Tippmäuschen die hohe Kunst der neuen Figuren üben sehen. Uns, die wir noch aus der harmlosen Zeit des wiegenden Walzers stammen, berührt diese neue Art fremd. Sie ist nicht etwa dem rhythmisch beschwingten Menschen angeboren, sie ist nicht volkstümlicher Ausdruck freudiger Losgelassenheit, sondern sie verlangt Studium und Beherrschtheit; mit fast bekümmerten ernsthaften Gesichtern zählen diese Tanzpaare im geheimen krampfhaft jeden Pas mit, um ja nur nicht aus der schwierigen Rolle zu fallen. Die Schwestern Wiesenthal passen in diese Zeit nicht mehr hinein. An wirklich guten Berufstänzerinnen sind wir augenblicklich, weil eben der Tanz ausartet, sehr arm. Es ist übrigens interessant, festzustellen, daß sie und überhaupt die meisten Varietédamen gewöhnlich aus "der großen östlichen Völkerwiege" trotz ihrer englischen oder romanischen Decknamen stammen. Die Saharet, die mit diesem Namen und "with best wishes" auf dem entzückenden Bildchen, das sie mir einst gestiftet hat, unterzeichnete, heißt Klara Rose; die einst gefeierte "belle Otero" ist eine geboren Feitelberg; und die große Diseuse Yvette Guilbert, für ihre Person freilich aus Frankreich gebürtig, ist beim Einwohnermeldeamt als Frau Schiller richtig eingetragen. Eine gesunde Gegenbewegung gegen das Unschöne im heutigen Tanz ist übrigens schon längst entstanden, schießt freilich ihrerseits wohl wiederüber das Ziel hinaus: der Reigen kommt, der Reigen auf grünem Anger. Aus dem Wandervogel ist er geboren. Schon macht - in Thüringen fing es an, in Berliner Vororten sieht man es jetzt - die neue Bewegung truppweise im Umherziehen Propaganda. Da ist alles "kernig" und "volkstümlich", aber eben - ländlich. Braungebrannte Sandalenbeine und Leinenjoppen mit Schillerkragen sind auf der Wiese sehr schön, nur in den Ballsaal werden sie sich nicht verpflanzen lassen, und auf den sind wir nun mal in den Städten und im Winter überhaupt angewiesen. Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit sucht jetzt die Stadt Berlin nach dem neuen Tanzstil. Sie hat besondere freiwillige Tanzkurse für ihreTurnlehrerinnen eingerichtet, die nichts kosten. Verlangt wird von den Teilnehmenden nur, daß sie die vorgeschrieben Tracht mitbringen, die lediglich - aus einem schwarzen Trikot besteht. Ja, Groß-Rot-Berlin wird sehr modern; nur Zuschauerkarten zu diesem Kursus, nach denen große Nachfrage besteht, werden nicht ausgegeben.

Tanz und Kino absorbieren so viel Zeit, auch für die Zehntausende junger Männer und junger Mädchen, die heute schon um vier Uhr nachmittags aus den Bureaus auf die Straße strömen, daß für das Theater, unsere frühere Volksbildungsanstalt - Schiller nennt sie sogar eine "moralische Anstalt" - zu wenig übrigbleibt. Trotz immens hoher Eintrittspreise kommen unsere Bühnen nicht mehr auf ihre Kosten. Selbst der alte Hexenmeister Reinhardt muß für seine drei Unternehmungen - Deutsches Theater, Kammerspiele, Großes Schauspielhaus - jetzt mit einem Jahresfehlbetrag von rund einer halben Million Mark rechnen und hat sie daher an seinen Freund Holländer, der noch einige Hintermänner hat, abgetreten, sich selbst nur die Oberregie vorbehalten. Reinhardts Lieblingsidee, das Theater der Fünftausend, hat sich als verfehlt erwiesen. Heute erscheint schon ein "vernichtendes" Buch darüber unter dem Titel: Zirkus Reinhardt. Früher wäreein solches Volkshaus möglich gewesen mit einem Normalpreis von einer Mark für den Eintritt. Heute aber verlangt schon jeder Lampenputzer ein Generaldirektorengehalt, so daß die Eintrittspreise ganz unvolkstümlich werden müssen, um die Betriebskosten zu decken. Außerdem besitzen wir noch keine passende Dramenliteratur für das Große Schauspielhaus. Wer sich Shakespeare verekeln will, der mag sich dort den Hamlet oder Julius Caesar ansehen; in den Rahmen dieser Riesen-Gipshöhle passen vorerst nur die altgriechische Orestie und Rollands Danton. In der Orestie, für deren unbegreifliches Schicksalswalten wir Modernen kein Empfinden haben, die aber dem klassisch Gebildeten immerhin noch etwas sagt, hatte mich mein Schicksal in dieselbe Loge verschlagen, in der der Reichskanzler a. D. Herr Bauer und seine Gattin saßen. Er kapierte kaum ein Wort, sondern repräsentierte nur, aufs höchste gemopst. Sie aber tröstete sich mit den mitgebrachten Schinkenstullen, deren Speck sie durch die Zähne zog. Etwas anderes ist es mit dem Danton. Das ist lebendige, wildwogende Zeitgeschichte, da wird der Zuschauerraum mit zur Bühne, dank einem verblüffenden Reinhardttrick; ganz dumpf kommt es selbst der obersten Galerie zum Bewußtsein, daß die Revolution und das souveräne Volk noch nie so - verhöhnt worden sind, wie in dieser ernsthaften Künstlerarbeit des demokratischen Pazifisten Rolland. Ein Besuch dieses Danton ist allen Berlinpilgern nur zu empfehlen; er ist schon seit Wochen auf dem Spielplan und wird immer noch gegeben. Die Premieren der letzten acht Tage in den übrigen Theatern haben nur Spreu gebracht. Mit einiger Hoffnung sah man dem Versspiel Godiva entgegen, in beseligter Erinnerung an Tennysons und anderer Dichter Schöpfungen, die aus der alten Sage von der reinen auf einem Zelter nackt durch die Straßen reitenden Frau entstanden sind. Es war nur eine umständliche Enttäuschung. Auch diejenigen kamen nicht auf ihre Kosten, die etwas nervenprickelnd Entblößtes à la Monna Vanna erwarteten.
8. Oktober 1920 (Freitag)


3

Wir verrussen - Elias Trotzki als Villenbesitzer im Grunewald - Offiziere als Karrenschieber - Die "stellungslose" Fürstin Lieven - Im kurländischen Café - Botschaftsrat v. Bethmann Hollwegs Laden - Maria Orskas "Rausch" - Strindberg im Schwarzen Ferkel

Man hat sich oft gefragt, woher der Witz des Berliners, woher seine Schnoddrigkeit stamme. Seine Art ist doch so grundverschieden von der sonstigen norddeutschen Gemessenheit. Die Lust zum scharfzugespitzten Reden ist echt französisch: wir dürfen nicht vergessen, daß die preußische Hauptstadt allen Verfolgten, besonders den Refugiés und Emigranten, stets offen stand, und daß zuzeiten unter der Berliner Bevölkerung ein volles Drittel französischer Abkunft war. Jetzt aber sind wir auf dem besten Wege, zu - verrussen. Polizeilich gemeldet sind in Berlin augenblicklich nicht weniger als 92 000 aus dem ehemaligen Zarenreich stammende Personen, und viele "wohnen schwarz", sind überhaupt nicht registriert. Aber das ist kein einheitliches Volkstum, sondern ein östliches Nationalitätengewirr. Die größten Gruppen darunter sind Deutsch-Balten, Großrussen, Juden. In Berlin N., in der Gegend der Grenadierstraße, wohnen die letzteren zu Hauf, manchmal zu Dutzenden in eine Stube gepfercht. Einzelne aber, die sich schon in Sowjetrußland gesund gemacht haben, ziehen ihren Mitteln entsprechend den feinen Westen vor, wo manche der alteingebürgerten wohlhabenden deutschen Familien jetzt unter der Wirkung des Reichsnotopfers ihren Besitz verlassen muß. In der Jagowstraße 10, in dem vornehmen Berlin-Grunewald, bewohnte bisher ein Rentier Hermann Schmidt die schöne Villa; er hat sie an einen "Fabrikbesitzer" Moses Bres in der Tiergartenstraße 29a verkaufen müssen, und der hat sie, da er offenbar nur Mittelsperson war, sofort an den "Schriftsteller" Elias Trotzki, zurzeit in Kopenhagen wohnhaft, weiterbegeben. Das ist, so erzählt man sich, der Bruder des Sowjet-Gewaltigen in Petersburg. Es scheint, daß einzelne Ratten das sinkende Schiff verlassen. Sie sind gut gemästet; und so können sie deutsche Familien auskaufen.

Derweil stehen ehemalige deutsche Offiziere mit Karren am Anhalter Güterbahnhof und erbieten sich, ankommende schwere Kisten für ein paar Mark in jede Stadtgegend zu befördern. Unter den Führern von Autodroschken gibt es auch schon ehemalige Kompagnieführer. Einen traf ich, der hat in einer Kellerwohnung ein kleines Installationsgeschäft eröffnet und legt Licht, flickt Wasserleitungen, bessert Hausrat aus; er war schon als Fliegerleutnant sein eigener Monteur. Die meisten versuchen zunächst "in der Industrie" unterzukommen, werden als Vertreter mit winzigem Hungergehalt - im wesentlichen auf Provision - angestellt, stecken eigenes Geld, "um den Artikel einzuführen", in die Anzeigenreklame und scheitern schließlich als Ausgebeutete. Mancher alte Hauptmann a. D., der keinen Pfennig von dem sogenannten Kommißvermögen mehr hat und nur rund 700 Mark monatlich Pension, kennt mitsamt seiner Familie Fleisch nur noch vom Hörensagen und weiß nicht, wie er das Schulgeld für seine Kinder aufbringen soll. Unsere sozialdemokratische Arbeiterschaft ahnt nicht, welche Not heute vielfach in den sogenannten besseren Ständen herrscht, wie furchtbar sie besonders in den Kreisen der kleinen Rentner und Ruhegehaltsempfänger ist. Vor der Arbeit, wenn er überhaupt noch arbeitsfähig ist, scheut sich niemand. Nur findet man sie nicht auf Anhieb.

Vor mir sitzt, wie ein Bild von Gainsborough, eine Dame mit rosigem Gesicht und schneeweißem Haar, die Fürstin Lieven. Sie ist, wie andere Deutsche aus Kurland auch, von Haus und Hof gejagt, hat nichts mehr außer einem Koffer voll guter Toilette aus früherer Zeit, Toilette, die bald schon altväterisch sein wird. Ihre ehemalige Gesellschafterin, Frau v. Seck, hat bei einer Berliner Ärztin ein Unterkommen als Hausdame gefunden. Sie selbst, die Fürstin, war kürzlich überglücklich, als ihr eine Stellung als Gesellschafterin in einem prinzlichen Haushalt angeboten wurde. Das war beim Prinzen Joachim Albrecht, dem Adlon-Prinzen, jenem Mitgliede des Hohenzollernhauses, das schon lange vor dem Kriege aus der Armee ausgeschlossen wurde. Ein musikalisch Hochbegabter, aber aus der Art Geschlagener, Gatte der kleinen Brettl-Diva dritten Ranges Marie Sulzer aus Galizien. Also das, was im Habsburger Hause etwa der Leopold Wölfling war. Augenblicklich will er eine zweite Ehe eingehen, ebenfalls - sehr weit linker Hand; und diese zweite Frau sollte von der Fürstin Lieven chaperoniert werden, und das ging schließlich über deren Kraft. Jetzt ist der trotz ihrer weißen Haare noch verhältnismäßig jungen Durchlaucht im Berliner Auswärtigen Amt ein kleines Pöstchen als Sekretärin versprochen worden, wenn sie vorher tippen lerne. Und sehnsüchtig beäugt sie meine Schreibmaschine.

Eine Gruppe ihrer Landsleute hat in Berlin W., am Prager Platz, ein Caféhaus eröffnet, die "Kurländische Diele", und findet bei tüchtiger Arbeit gutes Auskommen. Am Buffet sitzen zwei nicht mehr ganz junge Baronessen, die sich von der üblichen Barmaid nur dadurch unterscheiden, daß sie schlicht gekleidet sind und kein hellgelbes Wasserstoffsuperoxydhaar haben. Unermüdlich füllen sie Kaffeetassen und Biergläser, teilen den Kellnern vortreffliche Berliner Pfannkuchen und kurländische Speckpiroggen aus, hantieren mit ganzen Batterien von Geschirr. Ein Musiker steigt in der Pause vom Podium, begrüßt sie und küßt ihnen die Hand; es ist ein Freiherr von Grotthuß. Eine Baronin Hahn und ihre Schwiegermutter kochen und backen in der Küche, eine Gräfin spült. Der Geschäftsführer - in Berlin sagt man "Jrußaujust"- ist ein Baron Stromberg. Wenn dieser baumlange, bärenstarke Mensch mit leichter Verneigung an den Tischen der Besucher vorübergeht, begreift man es, daß er einst, als er in Riga nachts von drei Wegelagerern überfallen wurde, allen dreien mit bloßer Faust die Hirnschale einschlug. Ursprünglich waren auch die Kellner in diesem Kurländischen Café baltische Adelige, die in demselben Frack, in dem sie einst auf Ritterschaftsbällen getanzt hatten, nun zwischen den Marmortischen voltigierten, statt des Klapphutes die Serviette unter dem Arm. Manchmal machte diese ganze Gesellschaft den Eindruck eines Wohltätigkeitskomitees, aber mit vollkommenem Berufsernst taten die Kellner ihre Pflicht. Sie haben bloß hinter sich geworfen, was falsche Scham heißt. Ist doch auch ein Graf Keyserlingk Hausdiener in einem großen Hotel geworden und trägt, mit grüner Tuchschürze angetan, den Reisenden die Koffer. Die baltischen Kellner sind jetzt am Prager Platz verdrängt worden. Sie waren nicht gewerkschaftlich organisiert, wollten von Politik, zumal von sozialdemokratischer, nichts wissen, wollten nur durch ehrliche Arbeit ihr Brot verdienen. Da erklärte die Kellner-Gewerkschaft in Berlin, wenn diese Unorganisierten nicht hinausflögen, würde man dem Caféhaus die Fenster einwerfen; und so sind denn unter die ganze hochgeborene Gesellschaft eine Anzahl Berliner Dutzendkellner gekommen, die sich dort übrigens sehr wohl fühlen, weil sie - so menschlich behandelt werden, so ganz anders, als sonst von Cafétiers; weil wirklich ruhige Vornehmheit das Dasein in diesem Hause so angenehm macht. Gewiß hätten die beteiligten Kurländer lieber einen anderen Beruf ergriffen, der ihrer Bildung mehr entsprochen hätte, aber es ist alles überfüllt; und da zeigen sie eben, daß sie doch mehr können als der gewöhnliche Arbeiter, der seinen Beruf nicht wechseln kann: sie geben lächelnd auch ihre Kaste auf.

Daß ein Herr von Öttingen aus der bekannten Dorpater Professorenfamilie in der Budapester Straße ein Teppichgeschäft eröffnet hat, ist schon alten Datums. Jetzt scheuen sich aber auch Reichsdeutsche aus den "ersten" Familien nicht mehr, irgendeinen Laden einzurichten, wenn das Schicksal sie derb angefaßt hat. Der Neffe unseres früheren Reichskanzlers, der Botschaftsrat v. Bethmann-Hollweg, handelt jetzt in der Nürnberger Straße mit Antiquitäten. Früher hat er sich welche zu eigener Augenweide gekauft, als er sich das dank seiner reichen Frau noch leisten konnte. Von der und ihrem Reichtum ist er nun geschieden; sie hat in zweiter Ehe einen Herrn von Schubert, einen diplomatischen Kollegen Bethmanns, geheiratet. Ihr erster Mann aber macht Geschäfte mit früheren internationalen Bekannten. Ein Comte hat eben durch Bethmanns Vermittlung eine Sammlung wundervoller Amethyste und anderer Edelsteine gekauft. Auch dieser französische Graf und Diplomat tut es nicht auf eigene Rechnung, sondern handelt in amerikanischem Auftrage. Unser alter Kontinent wird ganz ausgekauft; Juden und Amerikaner nehmen das meiste.

Unter der Umschichtung aller Dinge leidet mehr als alle anderen der gebildete Mittelstand, der schon vor dem Kriege sich in Nahrung und Kleidung einschränken mußte, aber wenigstens geistige Genüsse sich reichlich gönnte. Heute werden Bücher für ihn unbezahlbar, solange noch Bettlaken geflickt werden müssen; und im Theater, selbst bei den immer seltener werdenden guten Klassikeraufführungen, sitzt ein ganz neues Publikum. Ein Volk, das im Kientopp groß geworden ist. Jetzt überträgt es die "Star"-Schwärmerei auf die lebende Bühne. Vom Dichter und seinem Werk weiß man nichts mehr, desto mehr aber von den einzelnen Darstellern und Darstellerinnen und ihren Toiletten. Neue Dramen, Komödien, Operetten werden ihnen "auf den Leib geschrieben"; das Repertoire aus alten aber stellt man nach den Darstellern zusammen, ob sie nun Lucie Höflich oder Max Pallenberg oder sonstwie heißen. Das Theater in der Königgrätzer Straße ist vor etlichen Jahren als Hebbeltheater gegründet worden, bringt aber grundsätzlich nichts mehr von Hebbel, sondern lebt so gut wie ausschließlich von Strindberg oder Wedekind. Warum? Weil die Maria Orska da ist. Eine Lulu sondergleichen. Die kleinen Mädchen, die mit ihren Freunden im Parterre sitzen, schauen verzückt zu, wie sie züngelt und schlängelt und Männer einwickelt. Die immer noch etwas harte polnische Aussprache des Deutschen fällt bei dem schillernden, vibrierenden Spiel der Orska gar nicht mehr auf, weil man den Bewegungen dieser gleißenden boa constrictor mehr folgt als ihren Worten. Und doch, wie kann sie girren! Tilla Durieux, die sich einst rühmte, es gäbe auf der Bühne keine zweite solche Satansbraut, wie sie selber es sei, ist geschlagen. Das Theater in der Königgrätzer Straße hat dieser Tage in einer Neueinstudierung wieder Strindbergs "Rausch" herausgebracht, mit dem es vor sechs Jahren seine großen Kassenerfolge hatte. Das Weib und der Weibesrausch war Strindbergs Leben und sein Zusammenbruch, vor dem Weibe hat er angebetet, geflucht, geschluchzt, dieser unbändig Starke, der doch so leicht zu knicken und zu betrügen war. Habt ihr wenigstens seine "Beichte eines Toren" gelesen? Ich kannte ihn selbst, als ich als blutjunger Dachs so um 1890 herum in den Kreis verschlagen wurde, der im "Schwarzen Ferkel" in der Neuen Wilhelmstraße sein Künstlerheim hatte: Strindberg, Ernst v.Wolzogen, Przybyczewski. Schon damals, während seiner Berliner Zeit, kamen über Strindberg dunkle Stunden, wie über weiland König Saul; und weder des Polen Kunst am Klavier noch das eigene Lautenspiel vermochten ihn in die Helle zu reißen. Lebte er noch, so würde er sich in süßen Qualen winden, wenn er in seinem "Rausch" die Orska sähe. So eine sah er nie, nicht in seiner nordischen Heimat, nicht in Paris. Das Publikum, das immer noch Mensch und Rolle nicht auseinanderhalten kann, denkt, Maria Orska spiele nur "sich selber", und dieses Publikum ist lüstern nach ihren Alkovengeheimnissen. Es weiß nicht, wieviel ernste Arbeit zu solcher darstellerischen Leistung gehört. Wo die Orska auch ist, überall studiert sie Menschen. So hat sie auch stundenlang, tagelang im Prozeß Erzberger gesessen und den fetten politischen Komödianten aus Buttenhausen in jeder Bewegung mit glänzenden Augen verfolgt, mit noch glänzenderen die Schnabelhiebe seines Gegners Helfferich.

Das "Schwarze Ferkel" aber ist längst keine Künstlerkneipe mehr. Es ist in die benachbarte Dorotheenstraße schon vor langen Jahren umgezogen und damals zur bevorzugten Weinstube namentlich alter Offiziere geworden; gab auch um ein Billiges seine Speisenfür die Kriegsakademiker her. Seit dem roten November haben wir keine Kriegsakademie mehr. In den beiden letzten Jahren pflegten Schieber in der alten Weinstube zu verkehren und fanden hier trotz aller Rationierung immer noch Butter und Fettkäse, Filets und Hammelkoteletts vor. Das athenische und das spartanische Zeitalter sind vorüber, haben nur einige historische Erinnerungen an Ort und Stelle zurückgelassen; heute haben die Böotier Recht, und die Böotier sind, wie man im Altertum sagte, "pingui ingenio": ihr geistiger Horizont umschreibt nur ihren Bauch.
15.Oktober 1920 (Freitag)



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© Karlheinz Everts