"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 7 - 9
12. bis 26. November 1920


7

Die Hutnadel der Postaushelferin - Warum haben wir so viele Diebe? - Klubsessel-Gesellschaften - Der Fall Hermes, Kohn und Possel - Die "heilige Franziska" und der Berliner Parlamentarier - Theater für Kammertanzspiele - Überall Nackttänze - Georg Kaiser - Die alte Zeitungsfrau am Askanischen Platz

"Wozu sind Hutnadeln da?" "Damit sie gesichert werden!" So oder ähnlich hat es im ungeschriebenen Katechismus der Vorkriegszeit gestanden. Dann erlebten wir nicht die Umwertung aller Werte, aber den Ersatz aller Persönlichkeiten, was ungefähr auf dasselbe herauskam; die den alten treuen Beamten ersetzende Postaushelferin, die fast aufsichtslos heranwuchs, schrieb nun in ihren Katechismus: "Die Hutnadel dient zur Untersuchung der Feldpostpäckchen!" Man sticht durch und zieht heraus. Ist die Nadel fettig oder süß geworden, dann lohnt es sich, das Päckchen in der Unterrocktasche verschwinden zu lassen. So zog die Untreue ein. Allein in Berlin hat es im letzten Jahre über siebenhundert Verfahren wegen Unterschlagung und Urkundenfälschung gegen Postunterbeamte gegeben. Darunter leiden die Braven und Ehrlichen, unsere für die ganze Welt vorbildlichen Stephansjünger, die noch in der Berufstreue des alten kaiserlichen Deutschlands erzogen sind, unsäglich. Wie es eine "Selbstreinigung der Flüsse" gibt, wie da die Sinkstoffe zu Boden gehen und die durch Fabrikwässer hereingeleiteten Bakterien von der Sonne getötet werden, so, hofft man, werde auch die moralische Verwilderung bei uns absterben. Aber die Republik duldet das nicht. Einem Bekannten von mir hat ein alter Geldbriefträger sein Herz darüber ausgeschüttet. "Wie soll es denn besser werden, Herr Major," sagte er, "wenn der Staat selber die Besserung verhindert! Wenn wir früher zehn Hilfsbriefträger brauchten, meldeten sich zweihundert, wir suchten die besten davon aus und erzogen sie. Und heute? Wir sind verpflichtet, nur das zu nehmen, was das Demobilmachungsamt uns überweist. Das sind dann zehn Lumpen und Banditen!"

Das ist eben die Kehrseite der sozialen Fürsorge. Heute glaubt jedermann den Anspruch darauf zu haben, daß der Staat ihn unterbringt und versorgt, während es früher eine Auslese der Tüchtigen im freien Wettbewerb gab. Wer ein fettes Pöstchen hat, will es auch dann nicht aufgeben, wenn das Pöstchen überflüssig geworden ist. Daher ist es auch so schwer, die sogenannten Klubsessel-Gesellschaften auszurotten. Die Reichswollegesellschaft hält Millionen Kilo Rohstoff zurück und gibt ihn sozusagen nur löffelweise her, damit die Preise nicht sinken. So kommt es, daß der Berliner einen wirklich guten Anzug nicht unter 1800 Mark bekommt, und daß die Armen - darunter Angehörige der besten, geistig führenden Schichten - ihre Blöße kaum decken können. Daneben gibt es noch in der Leipziger Straße 75/76 die Reichshaderngesellschaft. Warum heißt sie nicht "Reichsaufsichtsstelle über Hadern und Lumpen", oder, noch besser, "Aufsichtsstelle über die Reichslumpen"? Die täte uns doch besonders not. Wenn es einer dieser Gesellschaften, so der für Fette und Öle, dank einem energischen nichtsozialistischen Minister, wie es Hermes ist, einmal an den Kragen geht, so tun sich sofort die Ministerstürzer zusammen. Der ganze "Fall Hermes" ist im Grunde, wörtlich und buchstäblich, der Fall der beiden Direktoren Kohn und Possel, die nur ungern das fette Pöstchen aufgaben, das ihnen Villen in verschiedenen fremden Ländern eingebracht hatte. Wobei es sehr bemerkenswert ist, daß der Führer der sozialdemokratischen Preußenfraktion, der Abgeordnete Heilmann, journalistisch ihr Vorkämpfer ist. Unter manche Leute, die früher als bescheidene Berichterstatter mit violetten Hektographenfingern herumliefen, ist viel Geld gekommen, nicht nur Ämter- und Titelfülle. Der sozialdemokratische Journalist Bake - Verzeihung: Herr "Unterstaatssekretär a.D." Bake - ist heute Millionär. Nicht alle diese Reichgewordenen legen ihr Geld gut und sicher an, sondern sie verleben es, sie verlieren es. In Berlin ist dieser Tage ein Frauenzimmer von der Nachtseite der Großstadt, die in ihren Kreisen den Beinamen der heiligen Franziska führt, nebst ihrem sogenannten Gatten, einem Gelegenheitsarbeiter aus dem Metzgerberuf, vor Gericht zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Sie hatte die Spezialität, ihre Besucher, die sie von der Straße mitnahm, mit Chloroform zu betäuben. Beim Erwachen fanden sie sich dann - natürlich ohne Uhr, ohne Geldtasche, ohne Ring und Brillantnadel - irgendwo in einem Rinnstein. Die geschickte Franziska erbeutete so ganze Vermögen. Zu ihren Opfern gehört auch - ein Mitglied der Reichstagsfraktion der unabhängigen Sozialdemokratie.

Das Erregendste für männliche Zeitalter ist: Macht über andere haben. Hier liegt die tiefste Wurzel der Leistung im Berufe, des Raffens im Erwerbsleben, des Sieges in der Liebe. In Zeiten femininer Schwäche hört dieser Wille zur Aktivität auf. Dann will man nur "sich ausleben", nämlich sich amüsieren lassen, sich hingeben, als Treibholz schwimmen; und so wird man dorthin geschwemmt, wo noch tiefinneres Triebleben seine Wirbel wirft: zum Tanz. Man kann ihn als Spießbürger bekritteln, als Moralist aufrichtig beklagen. Aber er war immer da und wird immer da sein. Er ist unmittelbarste Reflexbewegung des pulsenden Blutes, oder, wie seine Schwärmer sagen, der Seele. Der gewickelte Säugling schon tanzt mit klein-klein-Fingerchen, die freigeblieben sind, vor sich in der Luft. Die dreijährigen Kinder brauchen gar nicht den Anreiz etwa durch die Musik, denn sie haben sie sowieso im Blute: sie fassen sich an den Händen und drehen sich. Im Tanze löst sich alle Bedingtheit, werden wir wieder Urnatur; das linkische Ladenmädchen, das eben noch steife Grandezza mimte, vergißt alles Schauspielern und gleitet mit gesenkten Lidern wie traumhaft durch den Saal. Die Schwingungen des Blutes setzen sich in Bewegung um, schalten alles Intellektuelle aus, bringen nur das Triebhafte an die Oberfläche. Aber sie brauchen sich nicht in Hüpfen umzusetzen. Ich habe nubische Mädchen gesehen, die mit geschlossenen Füßen viertelstundenlang an derselben Stelle des Teppichs im Zelte standen, aber ihr ganzer Körper tanzte. Auch Vulkane stehen still und brodeln doch in ewiger Bewegung. Gegen den Tanz waren alle Konzile und alle mittelalterlichen Magistrate machtlos. Wer ihn etwa unseren Mädchen im Dorfe verbietet, der ist ein Narr. Aber der heutige Großstädter der femininen Sorte tanzt eben nicht: er läßt sich etwas vortanzen!

In der Bülowstraße, kurz vor dem Nollendorfplatz, ist ein eigenes Theaterchen für Kammer-Tanzspiele erstanden. Auf der kleinen Bühne wird von acht bis zehn nur getanzt; Sagte ich: getanzt? Ach, es wird mehr getölpelt, als getanzt; die babylonischen, assyrischen, indischen, orientalischen Tänze - mit deutscher Operettenmusik und raschelnden Papierrosen - geben uns nichts von der entfesselten, gelösten Urseele der fremden Völker, der "altdeutsche" Tanz ist eine Parodie auf bäuerisches Wesen, der russische Kasatschok ist an jedem Herdfeuer der ukrainischen Steppe nicht nur inniger, glühender, eruptiver, sondern auch von besserer Technik. Das "Eigentliche" sind die Eva-Tänze und die lebenden Bilder. Dafür bezahlt man die fünfzig Mark in den ersten Parkettreihen und nimmt den Rest der achtzehn Programmnummern in den Kauf. Einige leidlich gewachsene, splitterfasernackte Mädchen drehen sich und winden sich als bewegliches Aktmodell. Das Publikum sitzt als Fleischbeschauer da. Die löbliche republikanische Regierung aber plant, wie es heißt, strenge Durchführung einer Verordnung - gegen Animierkneipen. Wem der erste Parkettplatz und Brille und Opernglas noch nicht genügen, der geht nachts in irgendeine Weinstube des Westens, wo es von zwölf bis vier solche Nackttänze zwischen den Tischen und Stühlen gibt. Man braucht nicht einmal Eintrittsgeld zu bezahlen, sondern nur einen tüchtigen Aufschlag auf die Getränke; für einen mäßigen 1918er Oppenheimer werden da so fünfundneunzig Mark entrichtet. Die Schaustellungen beschränken sich nicht etwa auf die Wohnviertel der sogenannten oberen Zehntausend, dort, wo das "Taufhaus des Westens" steht, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, sondern finden sich ebenso in den reinen Arbeitervierteln im Norden Berlins. Wir sind auf einem Tiefstand der Tanzkultur angekommen. Die Internationalen aber, die Weltbummler, die früher in Paris oder Sevilla oder Kairo ihre Sensationen suchten, sagen heute, man könne alles zusammen in Berlin haben, wo für Zahlungsfähige alles erreichbar sei. Wir haben früher bessere orientalische Tänze gesehen. Die Sent M'Ahesa blüht unvergessen: ihren wirklichen Namen will ich nicht nennen, sie ist die Tochter einer alten Patrizierfamilie in Riga und hat sich beim Studium altägytischer Kunstgeschichte an der Universität München für ihren fast priesterlichen Tänzerinenberuf begeistert. Auch Nackttänze sind nicht etwa erst eine Erfindung der jetzigen Tage. Einst tanzte vor geladenem Publikum - es ging bis zu den Bundesratsmitgliedern hinauf - die Olga Desmond in Berlin hüllenlos zwischen spitzen Schwertern. Das war noch Tempeldienst wirklicher Kunst, wurde aber auch alsbald im Varieté verpöbelt. Der Vater der Tänzerin trug einen alltäglichen bürgerlichen Namen, war ein kleiner Buchdruckereibesitzer und hatte elf lebendige Kinder, für die nun die eine Tochter sorgen konnte.

Ein Tanzpoem ist in Reinhardts Großes Schauspielhaus eingezogen, Georg Kaisers "Europa". In dem Riesenraum wird es seiner Leichtfüßigkeit beraubt, wird es zu einer dickaufgetragenen Offenbachiade. Derweil streitet sich die Öffentlichkeit um die Person des Dichters, der bekanntlich als Häftling nach München verbracht worden ist, weil er unter Mithilfe seiner Frau Wertsachen im Betrage von mehr als einer Viertelmillion gestohlen und verschoben hat. Ob er ein Dieb oder ein Kranker ist, mögen Gerichte und Psychiater entscheiden. Die Berliner demokratische Presse aber duldet es jedenfalls nicht, daß einem Pazifisten, Antimilitaristen, Sozialisten ein Härchen gekrümmt wird, und überschlägt sich in Rettungsversuchen. Sie proklamiert - das Recht des Dichters auf Verbrechen! Tiefer geht's nimmer. Wir sprechen jetzt viel vom "Untergang des Abendlandes", weil wir vergessen, daß das Auf und Ab und Wiederauf sich ewig wiederholt. Das Abendland in seinem unzerstörbaren germanischen Keim ist gesund und stark, nur darf es eben nicht die asiatische Beulenpest auf moralischem Gebiete einschleppen lassen, die in Politik und Kunst den Trotzki und Kaiser jede Vergewaltigung des Abendlandes zuläßt.

Abseits von dem sinnverwirrenden Wirbel dieses Groß-Berlin gibt es in Groß-Berlin selbst noch viele stille und reine Wasser, an deren Rändern es kräftig sprießt und wächst. Unbekümmert um alle Verfallserscheinungen gedeihen kleine, biedere Familien in rüstiger Arbeit und senden ihre jüngsten Triebe wieder empor. An der Einmündung der Anhalter Straße auf den Askanischen Platz steht, ein Bild der Gesundheit, in jedem Wetter seit Jahrzehnten eine alte Zeitungsfrau mit rosigem Gesicht unter eisgrauem Haar. Ich hielt sie, wenn ich im Vorbeigehen ein Blatt bei ihr kaufte, nie weiter auf, kümmerte mich nicht um sie und dachte, es sei eben ein altes alleinstehendes Weiblein wie Tausende andere auch. Da steht nun gestern ein flachsblonder Kleiner, stramm und pausbäckig, neben ihr und sagt, er wolle mal wegen der Lateinaufgaben noch schnell herum zu einem Kameraden. Die Zeitungsfrau ist seine Großmutter, die ihn erzieht, nachdem der Vater gefallen und die Mutter gestorben ist. Sie erzählt mit leuchtenden Augen, daß dieser Sextaner mal etwas Tüchtiges werden solle. Aber man müsse natürlich dahinter sein: "Deutsch un Rechen un Jeojraphie, da kann ick ihn jut bei helfen, bloß det Lateinsch is so schwer, da muß ick feste schwitzen!"
12.November 1920 (Freitag)


8

Die Massary als spanische Nachtigall - Modenschau im Marmorsaal - Die ausgezogene Amerikanerin - Was heißt "Mode"? - Die gelehrten Schimpansen - Teure Bücher

Berühmte Leute werden immer zu Warenmarken verarbeitet. Jeder trunkfeste Deutsche wußte früher am Morgen nach einer ausgedehnten Sitzung den Bismarck-Hering zu schätzen. Heute grüßt uns von allen Anschlagsäulen Berlins die Reklame der Massary-Zigaretten. Wieviel Provision die Massary, unser großer Operettenstern, für die Hergabe ihres Namens bekommt, weiß man nicht, nur das weiß man, daß sie über Toilettensorgen längst hinaus ist. Allerdings auch schon über die Jahre hinaus, in denen jüngere Finanziers sich darum rissen, ihre Toiletten bezahlen zu dürfen; heute kann sie dafür von großen Modehäusern den nötigen Behang bekommen, um darin auf der Bühne Reklame zu spazieren. Singen kann sie eigentlich auch nicht mehr. Sie hat es aber im Blute, Couplets charmant herauszubringen. Wie sie selbst erzählt, hat sie schon als Sechsjährige sich Vaters Zylinder aufgesetzt und losgeträllert: "Ja, beim Souper erlebt man tolle Sachen!" Sie ist nun, wenn ich nicht irre, schon Großmutter, oder kann es dieser Tage werden. Und dennoch: wenn sie im Rampenlicht daherflirrt, balzt das ganze Parkett. Ninon de Lenclos war auch noch mit achtzig Jahren verführerisch. Da ist die Massary denn doch noch erheblich jünger, und wenn sie in raffinierter Aufmachung, gut konfektioniert, dabei sogar noch ohne jede Paraffineinspritzung. lächelt, girrt, schwänzelt, - seit gestern als "Spanische Nachtigall" im Berliner Theater -, so ist das Publikum hin. Einfach hin. Eine Atmosphäre glücklichsten Behagens wogt im Foyer. Hier ahnt niemand, daß wir in der Zeit nach einem verlorenen Kriege leben, wenigstens widerspricht dieser Ahnung der unerhörte Kleiderluxus der Premierenbesucher. Hier ahnt man übrigens auch kaum, daß man sich in Deutschland befindet; allenfalls in einem der geplanten Internierungslager für fremdstämmige Schieber.

Es ist heute schwer, derben, guten Sege als Futterstoff zu bekommen, aber die kostbarsten Seiden, Tuche, Brokate gibt es in Wagenladungen. Es erstehen täglich fast so viele neue Schneiderateliers wie Feinkostgeschäfte. Einen Triumphzug der Mode haben wir am Dienstag in dem Marmorsaal des Zoologischen Gartens gesehen, wo eine junge Tänzerin die mondäne Dame als Puppe und Falter vom Morgengrauen bis in die Nacht darstellte, zuerst sich aus ihren Cocons, einer duftigen Wolke von Spitzen und Tüll, vom Lager erhob, umschwirrt von einer tanzenden Schar gelockter kleiner Putten, dann die vielen Stadien der Geselligkeit in einer Umgebung ebenfalls gutgekleiderter Statisten durchlief, in leuchtend bunten Wintersportkostümen und schließlich in dem gewickelten Nichts der großen Abendtoilette sich zeigte. Atemlos folgte das Publikum der Modenschau. Soviel ich mich unter diesem Publikum aber auch umsah, ich fand keine bekannte Dame aus der guten alten Zeit. Viel neuer Reichtum, viel "Internierungslager", nahezu völliges Fehlen der Leute von Welt, dafür aber Neuwelt und Halbwelt - die letztere von der ersteren beneidet, weil sie zwar nicht einmal so verwegene Toiletten trägt und auch nicht besser polierte Fingernägel hat, aber gepflegtere Hände. Die Modehäuser hatten zu der Schau, die ein Bildhauer künstlerisch eindrucksvoll arrangierte, alles herbeigeschleppt, was heute "dernier cri" ist. Auch der nüchterne Volkswirt konnte eine Ahnung davon bekommen, was das als Exportindustrie bedeutet, und das ist schließlich das einzige versöhnende Moment. Sonst konnte ich nur bedrückt, während der eine und der andere Goldfasan im Gefolge des Paradiesvogels, der Tänzerin Albu, durch den Saal schwebte, an die Bilder aus Konstantinopel, aus der Großen Straße in Pera, denken, die im Kriege und im Frieden dort an mir vorüberglitten. Je dunkler die Armut, desto greller der Luxus: mitten im türkischen Elend die überelegante tändelnde Levantinerin. Wir machen jetzt dieselbe Entwicklung durch. Und doch wollen wir nicht bitter werden. Immer noch ist uns das Ausland um ungezählte Längen in der Extravaganz voraus. In der besten Gesellschaft von Berlin, in der Gesellschaft, die noch einen Unterschied zwischen der Bekleidung einer Dame und der Enthüllung einer Statue sieht, hat eine junge Amerikanerin dieser Tage Sensation erregt, eine Amerikanerin der obersten Fünfhundert. Ich bin leider kein Modeschriftsteller. Ich weiß nicht, ob meine Feder das Bild nachzuzeichnen vermag. Ich kann nur stolpern und stammeln, wenn ich es versuche. Also, um oben anzufangen: zunächst kommt eine lange Weile gar nichts, man sieht nur Schulter und Rücken, diesen fast bis über den Äquator hinaus. Dann ist ein blaßblau-seidenes Hängerchen da oder eigentlich Kleberchen, denn zum Hängen wären doch Achselbänder nötig, die nicht vorhanden sind. Dieses Kostüm hört überraschend schnell wieder auf. Man ahnt nicht etwa die Strumpfbänder, die sich eine gute Männerhand breit oberhalb der Knie befinden, sondern man sieht sie; sie sind weißblau gestreift, mit großen Amethysten geschlossen, und halten ein Paar "Strümpfe" aus durchsichtig silberweißem Spinnengewebe, das an den Außenseiten eine irgendwo hoch oben beginnende und in blauen Lackhalbschuhen verlaufende blaue Biese aufweist. Bei der Vorstellung vergaßen mehrere Herren den eigenen Familiennamen, hielten sich für eine Nordseeflunder und machten Stielaugen. Die Amerikanerin aber triumphierte. Mochte das alte Europa ihretwegen Kopf stehen . . .

Das ist aber schon nicht mehr Mode, sondern Ohrfeige mitten ins Antlitz der Kultur. Die Mode hat mit der Grippe das eine gemeinsam, daß sie irgendwo plötzlich entsteht und dann reißend wie eine Feuersbrunst sich über alle Erdteile wälzt. Aber sie hat bisher doch immer einen Sinn gehabt. Wenn ich den definieren soll, so sage ich: sie unterstreicht die sekundären Geschlechtsmerkmale. Durch einen untergelegten "Wilhelm" vergrößert sie die Haarpracht der Frau, durch kurze Handschuhfinger verkleinert sie feine Damenhände, durch das Korsett hebt sie die Brust und rundet die Hüften, durch die Tournure oder den "Kü" täuschte sie uns eine Venus Kallipygos vor, durch den hohen Absatz versucht sie (ganz vergeblich, wenn kurze Röcke getragen werden) den Fuß zierlicher erscheinen zu lassen, durch Tüllgewoge rundet sie eckige Arme. Heute scheint man auf diesen tiefen Sinn im kindischen Spiel verzichten zu wollen. Man enthüllt nur, man wickelt nur, "alles prima natura"; so wie der Papuaneger sein Papuaweib gern sieht.

Es ist eine wahre Erholung, wenn man die Modenschau im Marmorsaal des Zoologischen Gartens verlassen hat und im Zoologischen Garten selbst vor dem Affenkäfig steht. Da geht es lange nicht so affig zu, sondern viel menschlicher. Seit kurzem sind dort die fünf "gelehrten Schimpansen" eingezogen, die bisher das Beobachtungsmaterial deutscher Professoren auf Teneriffa waren, und sind nun das Entzücken von ganz Berlin; jeder Halbgebildete schwört von neuem darauf, daß der Mensch sicher vom Affen abstamme. "Seht da die Anfänge der primitiven Handelskultur!", predigt begeistert ein sogenannter Darwinist. Also sehen wir hin. Ein Besucher hat eine Nuß oder sonst etwas in den Käfig werfen wollen, der Wurf ist aber zu kurz geraten. Ein Affe, nicht faul, nimmt ein Bambusstöckchen und versucht damit den Leckerbissen zu ergattern. Es langt noch nicht. Da nimmt er ein zweites Bambusrohr und steckt es in das erste: nun ist der lange Löffelstiel präpariert. Unser Professor schluchzt fast vor Begeisterung. Das ist Überlegung, das ist Verstand, das ist handwerksmäßige Technik, das ist Menschentum! Ach, wenn es weiter nichts ist, mein Teckel ist noch viel klüger, nur daß er leider keine Finger hat. Und noch "menschlicher" finde ich jenen von einem bekannten Weidmann beobachteten Fuchs, der tagelang mit einem schweren Holzklotz im Maule auf einen Baumstumpf sprang und durch dieses Training so weit kam, daß er schließlich einer Wildsau, die hier mit ihren Ferkeln ihren Wechsel hatte, eines wegschnappen und damit in kühnem Sprunge sich hinaufschwingen konnte. Nein, die Affen bleiben Affen, die Menschen bleiben Menschen. Es gibt kein Hinüber. Der "Proanthropos" ist nicht gefunden, hat selbst Rudolf Virchow immer wieder festgestellt. Wäre eine Entwicklung vom Affen zum Menschen möglich, so müßte es auch eine Rückentwicklung vom Menschen zum Affen gegeben haben. Aber kein Robinson wird zum Tier. Und nun noch der letzte durchschlagende Beweis. Wesen derselben Art können sich begatten. Das Maultier stammt von Hengst und Eselin. Aber noch nie ist die in wüsten Zeiten von Schaubudenbesitzern versuchte Züchtung eines Affenmenschen gelungen. Die gelehrten Schimpansen von Teneriffa sind nicht der Anfang, sondern das Ende einer Reihe: die kultiviertesten Geschöpfe des greisen Affentums, eine feine Karikatur des Menschen. In dieser Rolle kann man sie freilich stundenlang beobachten und sich immer wieder an ihnen ergötzen. Der eine männliche Affe geht gelangweilt auf allen Vieren mit hocherhobenem Steiß in den Nebenkäfig. Ein Affenweibchen wirft blitzschnell hinter ihm die Tür ins Schloß. Das Männchen fährt herum, rüttelt an der Tür, läßt aber alsbald davon ab, winkt lässig und wirft mit geschürzter Oberlippe nur einen vielsagenden Blick herüber: "Äh, Weiber!" Es ist zum Quietschen. Hier können Schauspieler etwas lernen.

Im täglichen Leben hört das Schauspielern aber immer mehr auf. Das bekannte Couplet Otto Reutters "Alles wege de Leut", das in der Vorkriegszeit Lachstürme entfesselte, würde heute kaum verstanden werden. Daß einer, der zu Hause Pellkartoffeln und Hering ißt, im Restaurant mit Bekannten zusammentrifft und blasiert bemerkt: "Schon wieder Austern heut!" (alles wege de Leut), oder daß einer in zerrissener, unglücklicher Ehe lebt und doch wegen der Leute Jahr um Jahr Kindtaufe hält, - dieses und ähnliches ist doch schon längst nicht mehr wahr. Menschen von Bildung sind in der Not aufrichtiger und tapferer geworden. Man spielt nicht mehr den feinen Mann, wenn man es nicht dazu hat, man schränkt seine Geselligkeit ein und läßt sie schlichter werden, man verbirgt keine Knappheit, sondern scherzt über sie hinweg. Leberecht Hühnchen macht wieder Schule. Es geht nicht anders. Das Schlemmen überläßt der geistige Arbeiter heute den neuen Reichen und den bessergestellten Handarbeitern. In einem reinen Arbeiterviertel, dem nördlichen Berlin-Moabit, werden heute wöchentlich im Durchschnitt 2400 Mastgänse verkauft. So stark ist in Lichterfelde, Südende, Lankwitz, Zehlendorf, wo der gebildete Mittelstand wohnt, nicht der Verbrauch. Der Handarbeiter kann sich manches leisten, weil ihm sein Werkzeug umsonst geliefert wird. Der Kopfarbeiter muß es teuer bezahlen. Ich habe für eine wissenschaftliche Arbeit über gewisse kulturelle Probleme des Weltkrieges eine Reihe von Büchern nötig, die es in unseren verarmten Bibliotheken nicht gibt oder auf die man dort wegen des starken Begehrs monatelang warten müßte; ich muß sie mir also kaufen. Da habe ich mir nun ein englisches Buch bestellt, die Memoiren des Admirals Fisher, und denke beim Empfang der Rechnung, ich müßte in den Kniekehlen einknicken: 437 Mark 50 Pfennig! "Tja, die Falluta!", sagt mitleidig mein Buchhändler, als er mir den leichten roten Leinenband überreicht. Ich bin nun neugierig, bis zu welchem Betrage solche Ausgaben als notwendiger Berufsaufwand bei der Steuer abgezogen werden dürfen. Ich muß mal Erzberger fragen . . .
19.November 1920 (Freitag)


9

Mystizismus in der Großstadt - "Cäcilia mit dem Wimmerschinken" - Die Reaktion marschiert - "Bedrieft mir nich!" - Der Kronprinz und sein Ältester - Berliner Entwaffnungsspitzel - Der ehemalige Oberleutnant v. Fetter - Rehabilitierte und honorige Prinzen

Der Luxus und das Schlemmertum, die einem heute in der Großstadt so aufdringlich entgegentreten, sind nicht eine Ausgeburt nachrevolutionärer Zeiten. Sie sind zu allen Zeiten dagewesen, nur der Unterschied zwischen Prassen und Elend ist manchmal besonders grell. Der Ausgang des Mittelalters ist voll von Magistratsverordnungen gegen übertriebenen Aufwand, ohne daß damit ein wesentlicher Erfolg erzielt wurde; mitten in die Schwelger hinein aber raste der schwarze Tod, - und auf derselben Straße begegneten sich Nachtschwärmer und Geißlerzüge. Diese Kontraste berühren sich auch heute. In die Luxusbar von Berlin W. huschen pelzvermummte Gestalten - und gleichzeitig ziehen barhäuptig und mit offenem Schillerkragen junge Leute in die dunkelnde Kirche. Die freideutsche Jugend ergibt sich dem Mystizismus. Es gärt in ihr von Kummer und Zorn über das Versagen der "Alten" in der großen Weltenwende dieser Jahre, und da will sie, die Jugend, uns wieder verinnerlichen und von innen her aufbauen. Die Zeiten der großen Sehnsucht kommen wieder über uns, wie dereinst beim Sinken des Heidentums. Irgendwo lösen sich ein paar Gestalten aus dem Häuserdunkel und überqueren die Straße, schon sind es ganze Gruppen, man unterscheidet die helleren Mädchenstimmen von denen der Knaben und jungen Männer, mit umgehängten Zupfgeigen strömen die Leute einer Kirche zu und versammeln sich auf dem Chor. "Das ist die Cäcilia!" sagt einem geheimnisvoll der alte Küster. "Cäcilia mit dem Wimmerschinken!" spotten ein paar Gassenbuben. In der dunklen Kirche aber wird es lebendig, zirpend schwirrt ein leiser Ton zur Decke empor, Akkorde erklingen, aber immer noch in der dürftigen Bescheidenheit und gewollten Armseligkeit des Wandervogel-Instruments, junge Stimmen fallen ein, und ein geistliches Volkslied wallt durch den Raum. Das ist mittelalterliche Inbrunst, wie sie uns nur jemals aus den Blättern der Geschichte entgegenrauscht; viel Unklarheit in diesem ganzen Mystizismus, und doch schon ein Schwellen zu bewußter Stärke, auf die ein Adolf Hoffmann mit blöden Augen starrt, ohne sie zu begreifen.

Die Abkehr von den Götzen unserer Tage ist nicht auf Berlin, ja nicht einmal auf Deutschland beschränkt. "Die Reaktion marschiert", nur in ganz anderem, als dem Handgranatensinne, den die rote Presse ihr unterlegt. Auf seinen Schultern hat dieser Tage das Volk von Athen jubelnd die heimgekehrten Königssöhne wieder in ihr Schloß getragen. In Schweden hat die bisher herrschende Sozialdemokratie abdanken müssen. Mit sehnsüchtig gebreiteten Armen warten die Völker auf eine neue Zeit, auf eine neue Obrigkeit, nachdem sie erkannt haben, daß die für Hofschranzen eingetauschten Volksschranzen schlimmer sind als jene. Auf der Trambahn in Berlin, auf der Stadtbahn, auf den Vorortbahnen kann man heute - das erzählt bekümmert der Republikaner Hellmut v. Gerlach in seiner Zeitung - überall aus einfachem Arbeitermunde hören, wie enttäuscht man sei, und wie schlecht das Experiment vom November 1918 dem Volke gedient habe.

Die Allzueifrigen, die sich "auf den Boden der gegebenen Tatsachen" stellen, ihre Vergangenheit verleugnen und dem Baale dienen, kommen jetzt überall unter die Räder. Selbst der Oberbürgermeister Wermuth, eine immerhin eminente Arbeitskraft, muß es jetzt erleben, daß niemand seinen Fall bedauert, jedermann über seine Gesinnungsschwäche die Achseln zuckt. Was er im Stadthause hinterläßt, das ist ein rotes Parlament von Futterkrippenpolitikern, an dem Berlin noch zugrunde gehen kann. Da auf das wenig Vertrauen erweckende rote Gesicht hin der Stadt Berlin keine Großbank auch nur einen Heller leiht, wurde jüngst eine Aufstellung der zum Verpfänden geeigneten Liegenschaften gemacht. Das Aktenstück wurde von den alten Beamten, die es ausgearbeitet hatten, dem neuen Dezernenten, einem roten Stadtrat, überwiesen. Er sah es sich an, wurde nicht klug daraus, steckte es wieder in den großen Umschlag, schrieb mit Buntstift darauf: "Bedrieft mir nich!" und ließ es wieder zurückgehen. Natürlich betraf es ihn. Darauf große Beratung unter den Stadtbauräten, Magistratsassessoren und sontigen Fachleuten, wie man es dem neuen Herrn nur beibringen sollte. Kurz entschlossen schrieb einer auf den Umschlag: "Bedrieft Ihnen doch!", schickte das Aktenstück erneut hinein, und nun bekam es auch das Visum des braven Stadtvaters. Glaubt man nun wirklich, daß solche Erlebnisse nur an den Stammtischen der sogenannten Gebildeten weitererzählt werden? Nein, sie dringen doch in das ganze Volk! Die Mißstimmung über die Quacksalberei von Nichtskönnern in unserer Verwaltung nimmt reißend zu, und daß gerade die Großstädte das rote Joch über kurz oder lang abwerfen werden, das steht für den Kenner der Volksseele fest.

Es gibt dafür so allerhand kleine Anzeichen. Zwei Jahre lang waren in den Berliner Schaufenstern die Bilder aller Fürstlichkeiten verschwunden; noch im vorigen Jahre wären die großen Spiegelscheiben eingeworfen worden, wenn man hinter ihnen auch nur eine Ansichtskarte mit irgendeinem Prinzen darauf entdeckt hätte. Heute kommen sie im Zentrum Berlins wieder zum Vorschein. "Was wollen Sie", sagt der Papierhändler, "die Rosa Luxemburg kauft ja doch kein Mensch!" Was von dem Leben der Kaisersöhne in die Menge dringt, das gibt der Sentimentalität vielfach Nahrung. Sie haben es knapp. Aber sie leben voll ruhiger Würde. In Potsdam trabt täglich ein schlanker Junge zum Gymnasium, der weit über seine Jahre hinaus still und ernst ist und neben dem Lernen kaum Spiele kennt: der älteste Sohn des Kronprinzen. Der Vater weilt fern von der Heimat. Noch ist die Mutter da, aber auch sie wird fortziehen, nach Öls mit allen Geschwistern. Der älteste Junge muß seinen Weg allein finden. "Wann kommt Vater endlich?" Niemand kann ihm das beantworten. Und die Monarchisten, von denen es heißt, daß sie dauernd vom Einzug der Hohenzollern träumen, sind in Wirklichkeit keine Träumer, sondern harte Denker. Sie sagen dem Kronprinzen, den die Sehnsucht nach der Heimat und Familie verzehrt, er solle in seiner freiwilligen Verbannung - "interniert" ist er ja nicht mehr - so lange verbleiben, bis die Ordnung in Deutschland wieder gesichert ist. Noch spukt ja in roten Köpfen der Gedanke an Bürgerkrieg. Daß aber ein kommunistischer Aufstand niedergeschlagen, von neun Zehnteln des deutschen Volkes mit beispielloser Wut zertreten werden würde, erscheint bei der jetzigen Stimmung als sicher.

Noch bergen sich überall viele Gewehre, nur die Munition, das kann man wohl jetzt schon sagen, wäre auch für Spartakus knapp.Wie erfaßt man das Verborgene, ganz gleich, ob es bei "Linksputschisten" oder bei "Rechtsputschisten" liegt? Der Reichskommissar Dr. Peters hat bisher mit Zuckerbrot und Peitsche gearbeitet, mit Prämien und mit Strafandrohung, und nun beginnt er - auch mit Spitzeln zu arbeiten. Das Wuchern der Angeberei war von jeher auf republikanischem Boden besonders üppig. Unsere frühere politische Polizei wurde in Berlin, noch unter Eichhorn, aufgehoben und gleich darauf verzehnfacht wieder hergestellt. Auch das früher so gehütete Briefgeheimnis, das in der Verfassung von Weimar eigens verbürgt wurde, ist ja aufgehoben. Und ein Heer von Spionen aus allen Gesellschaftsschichten flutet durch Berlin; schon fliegen Kegelklubs und andere Harmlosigkeiten auseinander, weil unter den ältesten und den jüngsten Mitgliedern der eine oder der andere als Spitzel entlarvt wird. Zu einer der größten Organisationen wächst sich die des Entwaffnungskommissars aus, die überall - Pulver riecht. Es gibt da neun Ober- und Gentlemanspitzel, die eine Unzahl von Agenten beaufsichtigen, denen das Beschnüffeln der Privathäuser, der Kneipen, der Fabriken obliegt, und an der Spitze des Unternehmens steht der ehemalige Oberleutnant v. Fetter, der einst im Wertheimprozeß durch alle Blätter gezogen wurde, der Liebling von Mama Truth-Wertheim, geschiedener Pinkus, die ihm immer einen Hundertmarkschein unter den Teller legte, wenn er zum Essen auf Schloß Cladow erschien. Er hatte Chancen, obwohl ein "Graf" Metternich mit ihm um die junge Wertheim konkurrierte. Im Familienkreise Wolf Wertheims lief jedenfalls das Wort um: "Fetter - ja, Metter - nich!" Dann aber kamen die Enttäuschungen, Fetter mußte aus der Armee hinaus, Wolf Wertheim machte Pleite. Metternich heiratete ein Brettlmädchen und die hysterische kleine Wertheim einen Gastwirt in Tirol. Nun aber ist Fetter Ordnungsstütze der Republik, läßt unterschiedslos ehemalige royalistische Kameraden und ebenso knallrote kommunistische Arbeiter sich verpfeifen und zieht täglich neue Maschen in sein riesiges Netz.

Mag sein, daß er sich während des Krieges rehabilitiert hat. Es gibt manchen Gescheiterten, der sich erbot, mit seinem Blut früheren Leichtsinn wegzuwischen. Es hat in verschiedenen Familien bis hoch hinauf räudige Schafe gegeben. "Menschen, Menschen san mir alle, Fehler hat an jeder gnua; 's ist so von Natua!" singt der Wiener. Auch ein Hohenzoller war darunter. Der ehemalige Kommandeur der Schwedter Dragoner, Prinz Friedrich Heinrich, hat den ganzen Feldzug auf seine Bitte als gemeiner Soldat mitgemacht und auf jede Beförderung verzichtet, hat auch keine Extrawurst gebraten bekommen. Zwei honorige Neffen des Kaisers sind übrigens gefallen, der eine als Jagdflieger in Frankreich, der andere als Infanterieleutnant in Rumänien; und zwei Söhne des Kaisers wurden an der Front verwundet. Vom Prinzen Eitel-Friedrich weiß man, daß er wie ein Berserker drauflosging. Von persönlich rücksichtsloser Tapferkeit waren der Großherzog von Sachsen-Weimar, der Herzog von Sachsen-Altenburg, mehrere bayerische, mehrere lippische Prinzen, und der Kronprinz von Sachsen hat sich als Bataillonsführer auch nicht in seinen Unterstand verkrochen, wenn die "großen Koffer" angesaust kamen. Das alles sind Dinge, die nach dem fürchterlichen Rausch der letzten zwei Jahre jetzt auch den Leuten in den Berliner Arbeiterkneipen allmählich zum Bewußtsein kommen. Man kann Wunderdinge erleben, wenn man heute herumhört.
26.November 1920 (Freitag)



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© Karlheinz Everts