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Roller statt Holländer - Asphaltjugend - "Wenn ich groß bin" - Hausse im Standesamt - Aus Gerhart Hauptmanns Familie - Kleine Valutaspekulanten - Der Oberst a.D. bei der Müllabfuhr
Vor etwa 10 Jahren war es der große, der einzige, der Lieblingswunsch jedes kleinen Stadtjungen, einen "Holländer" zu haben, diese kleine Hand-Draisine, die einem dann mitsamt ihrem Fahrer auf dem Bürgersteig immer zwischen die Beine geriet. Aber das ist nur eine Mode gewesen. Wenn heute irgendein guter Onkel aus Tolkemit oder Backnang seinem Berliner Neffen einen Holländer verspräche, so würde er ein langes Gesicht sehen.
"Och - Holländer . . . das ist doch nur für Mächens!"
Was ein rechter Junge ist, das holländert nicht, sondern das rollt. Einzeln oder zu zweit oder herdenweise. Fahrräder kosten viel, aber ein "Roller" besteht in der Hauptsache nur aus zwei Brettchen, zwei Rädchen, einem Gelenk und einem Griff und kann von jedem Vater für seinen Jungen selber gebastelt werden. Der Roller lehnt sich an die Urform des Fahrrades an, wie der Freiherr v. Drais es konstruiert hatte: man saß auf dem ersten Fahrrade wie heute rittlings, bewegte sich aber durch ständiges Abstoßen mit den Füßen von der Erde vorwärts. Auf dem Roller nun steht man mit einem Fuße und stößt mit dem anderen ab.
In Berlin rollen kleine Volksschüler und "Vorschulklepper" so zur Schule, wo sie dampfend eintreffen; aber auch dann, wenn die Mutter den Jungen nur um die Ecke in den Grünkramladen schickt, wird gerollt - und wenn das stolze hölzerne Rößlein dazu vier Treppen hinunter und wieder herauf muß. Vorbedingung für diesen Kleinkindersport ist natürlich der Asphalt. In Tolkemit oder Backnang kann man nur an wenigen Stellen rollen, in Berlin fast überall.
Unserer Asphaltjugend entgeht dafür unendlich viel, was anderswo die Buben haben. Solch ein Berliner Junge hat wohl kaum je die zarte Löschblattschichtung eines Wespennestes bewundert; hat vielleicht nie einen Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang gesehen; weiß nichts von dem atemlosen Interesse, mit dem andere Kinder den Kampf zwischen einem Dutzend Ameisen und einer dicken Raupe verfolgen; kennt einen Hasen nur aus dem österlichen Schaufenster des Schokoladengeschäftes; hat niemals aus einem frischen Erlenzweig sich eine Trillerpfeife geschnitzt; und fragt wohl gar, wenn er ein Kind an der Brust der Amme sieht, in seinem gänzlich naturentwöhnten Stumpfsinn: "Kommt da Kaffee raus?" Kinder, sagt man, sind überall dieselben und haben überall die gleichen Freuden und Leiden. Ganz stimmt das doch nicht; wenigstens der Anschauungskreis ist ganz verschieden.
In Berliner Volksschulen lautet ein beliebtes freies Thema für die Aufsätzchen der Zehnjährigen: "Wenn ich groß bin." Der Rektor einer hiesigen Mädchenschule, der im Felde als neugebackener Kriegsleutnant meiner Truppe zugeteilt war und meine Vorliebe für das Studium der Psyche der Großstadtkinder kennt, schickt mir die Hefte seiner Besten. Hier liegen sie vor mir. Vielleicht läßt sich einer meiner Leser einmal den gleichen Aufsatz von Kleinstadt- oder Dorfkindern geben, dann eröffnen sich ihm beim Vergleich Einblicke, die vielleichgt wertvoller sind, als ein kulturgeschichtliches Kolleg. Da schreibt die kleine Hertha aus der Oranienstraße:
"Wenn ich groß bin, möchte ich Butterverkäuferin werden, denn man kann Butter essen. Ich wünsche mir ein hübsches Mädchen, und soll rote Backen haben, denn ich möchte gern, daß es Rosa heißt. Wenn das Kind groß ist, dann lasse ich sie Baletänzerin werden. Dann wünsche ich mir einen reichen Bräutigam, und eine weiße Kücheneinrichtung. Ich muß aber vorher zwei Jahre mit ihm zusammensein, damit ich ihn kenne und er kein böser Mann ist. Dan gehen wir oft aus." |
Fast in allen diesen Klassenaufsätzchen kommt zuerst das Kind und dann der Bräutigam; doch das kann vielleicht nur eine rein kindliche Metathesis sein, die möglicherweise ebenso der kleinen Unschuld vom Lande unterliefe. Alle Mädels möchten Verkäuferin oder etwas Ähnliches werden, alle bevorzugen die "nahrhaften" Betriebe, besonders häufig natürlich die Konfitürenläden. Worauf aber das Kind aus irgendeinem kleinen Nest, wo jeder jeden kennt, nicht so leicht verfiele, das ist die häufige Forderung, daß man, ehe man sich offiziell einen Bräutigam zulege, längere Zeit "mit ihm gehen" müsse, was etwas anderes ist, als das gleichfalls häufig wiederkehrende "ausgehen" ins Kino oder in das Kaffeehaus. Bräutigam ist die zweite Stufe. Und dritte Stufe: Verlobter. Das kommt gleich nach der Kindtaufe und kurz vor der Hochzeit.
Übrigens haben die Berliner Standesämter alle Hände voll zu tun. Es wird mehr denn je geheiratet. Der Hochzeitstag richtet sich gar nicht mehr nach den Wünschen des Brautpaares oder der Eltern, sondern nach der Lücke im Achtstundentag des Standesbeamten, in die man einschlüpfen kann. Schon wochenlang vorher muß der Termin auf Stunde und Minute ausgemacht sein, denn der Andrang ist so groß wie bei den Steuerämtern, den Kartoffelhändlern und dem Ufa-Film "Fridericus Rex". Es wird sozusagen rücksichtslos geheiratet, als drohe schon der Torschluß aller Paradiese. Ein mir bekannter Leutnant der Reichswehr - Monatsgehalt: 1950 Mark - hat eine junge Dame geehelicht, die auch keinen Pfennig besitzt. Ein kaum mündig gewordener kunstgewerblicher Zeichner - ganz Zehlendorf ist darüber chokiert - erschien zu seiner Trauung in der Kirche im Wandervogelkittel und mit entblößten Knien. Wenn dergleichen schon in Berlin passiert . . . Wirklich, alle Achtung vor dem Mut dieser Jugend, die alles Konventionelle und Finanzielle für nichts erachtet! So könnten wir wieder ein großes Volk werden, und letzten Endes entscheidet unsere Zahl. Im Jahre 1910 schrieb ein französischer Oberstabsarzt unter dem Titel "L'hydre pangermanique" eine hoffnungslose Broschüre, auf deren Umschlag zwei Ziffern dick schwarz eingerahmt waren:
Deutsche in Europa: 80 Millionen. |
Wie jener klassischen Hydra wüchsen auch der deutschen immer neue Köpfe nach, so viele man ihr auch abschlüge. Soweit ist also alles herrlich und gut und schön für uns, und der Mut der in die Ehe stürzenden jungen Leute zu loben. Aber nun die Kehrseite: Kinder - ja, Kinder "kann man sich nicht leisten". Oder höchstens eins. Zwei Menschen paaren sich, sterben irgendwann einmal, hinterlassen einen einzigen neuen Menschen: das ist also schon ein Minus. So können ganze Völker schnell aussterben. Steckt vielfach nicht Mut, sondern - Angst hinter dem jetzigen Schnellheiraten? Eltern, die ihre Töchter vom mageren Familientisch weghaben möchten, fragen den jungen Mann heute kaum mehr, ob sein Beruf schon die Gewähr dafür gibt, daß er einen Hausstand begründen kann. Da wird eine Sechzehnjährige mit einem Zwanzigjährigen verlobt. "Wird schon werden." Beide jungen Leute stammen aus bester Familie. Ich habe kürzlich in eine solche Ehe hineingesehen, wo der Mann vom frühen Morgen bis zum späten Abend sich abrackern mußte, um nur das Notdürftigste zu schaffen. Er kam eigentlich nur zum Schlafen nach Hause. Ein Kindchen, jetzt 1½ Jahre alt, ist schon da. Die ehedem so frische Mutter des Kindes ist verbittert. Es ist erschütternd, wenn man sieht, wie sie es füttert: "Mensch, so friß doch!" Und das sind auch Leute aus sogenannten ersten Kreisen.
Glücklich, wer da "in Valuta" ausbezahlt wird. Der zweite Sohn Gerhart Hauptmanns aus dessen erster Ehe ist solch Gutbezahlter. Er ist in der holländischen Handelsniederlassung der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft angestellt und hat vor wenigen Tagen in Berlin geheiratet. Er hat die Reife dazu und die wirtschaftliche Grundlage. Seine Frau, eine königliche Erscheinung von 1,78 Größe, ist die Tochter eines ehrenfesten kleinen Bankbeamten in Berlin, der früher preußischer Landgendarm war. Der erste Sohn Hauptmanns ist mit einer Tochter des Generals v. Schele verheiratet. Der dritte hat das Problem der Rassenkreuzung mit einer Tochter des Münchener Justizrats Bernstein zu lösen versucht. Zu der diesmaligen Trauung waren die Hauptmannschen Eltern nicht erschienen. Das Hochzeitsmahl im Hotel Adlon zählte nur fünf Teilnehmer und war trotzdem königlich. Vielleicht wird die junge Frau in ihrer natürlichen Eleganz und guten BHildung der Schwiegermutter noch einmal imponieren. Frau Gerhart Hauptmann, das ehemalige Rautendelein, ist nicht so leicht zufriedenzustellen, ärgert sich wieder einmal schwer darüber, daß der geistvolle, fein modellierte Kopf ihres Mannes während der Frankfurter Goethe-Woche auf ein und dieselbe photographische Platte mit dem nicht so ganz vergeistigten Antlitz Fritz Eberts gekommen ist und hat an den Söhnen erster Ehe überhaupt sehr wenig Interesse, lebt nur für ihren Mann und den eigenen Sohn, ihren Benvenuto Hauptmann. Von wirklichen Disharmonien kann man aber nicht sprechen. Der soeben vermählte zweite Sohn aus Hauptmanns Ehe besucht häufig das Elternhaus. Im Kriege war er als Leutnant der Reserve zuletzt Führer der Feldluftschiffer in der Türkei. Das war dem alten Herrn in Agnetendorf sehr lieb. Im fernen Kleinasien konnte der Junge wohl für die letzte große Leidenschaft des Vaters, seine Sammlung altgriechischer Münzen, einiges aufkaufen.
Die Berliner Asphaltjugend hat für solche Münzen kein Interesse. Aber auch nur sehr bedingtes für deutsche Markscheine. Um die großen Hotels mit ihren internationalen Besuchern herum flattern jetzt immmerzu diese kleinen industriösen Bengel und machen Valutageschäfte. Mit dem Verkauf von Streichhölzern fängt es an. Sie werden den Ausländern unter dem Namen ihrer großen Männer angepriesen. So, wie vor zwanzig, dreißig Jahren die Eseltreiber in ägyptischen Städten, wenn sie treffsicher einen Deutschen erkannten, ihren schönsten Reitesel vorzerrten, auf ihn deuteten und "Bismarck! Bismarck!" riefen, so laufen diese Berliner Steppkes neben dem Hotelgast her und rufen: "The best Lloyd George!" oder dergleichen. Bei verarmten, verlumpten Völkern aller Erdteile findet man ja immer dieselben Erscheinungen. Kauft einer den Jungens etwas ab, so sagen sie "No, no!", wenn sie deutsches Papier erhalten, und fragen schmeichelnd:
"Havent you a six penny piece?"
Manch einer gibt ihnen solch englisches Fünfzigpfennigstück. In deutschem Papier sind das jetzt 37 Mark. Dafür lohnt es sich also schon, sich die paar englischen Phrasen zu merken. Oder italienischen, holländischen, schwedischen, dänischen, ja, sogar tschechischen oder serbischen. Nur Französisch lohnt nicht. Es gibt nichts Filzigeres auf Gottes Erdboden als Jacques Bonhomme und Tartarin. Einzelne der kleinen Berliner Valutaschieber haben vorzeitig reife Gesichter, wie man sie etwa jenen Newyorker Milliardären in ihrer Kindheit, als sie auch als Zeitungsboy oder Stiefelputzer anfingen, in Gedanken andichtet. Diese Jungen denken immerzu nur an die Vermehrung ihres Betriebskapitals. Andere aber sind leichtsinniger und lassen sofort etwas springen. Sehr beliebt ist das Ziehen von Wahrsagezetteln aus dem Automaten in der Lindenpassage. Da stehen diese Zehnjährigen um den Zettel herum und machen verschmitzte Gesichter, während einer vorliest: "Sie sind unter einem günstigen Stern geboren. Nach Ihrem Horoskop können Sie ein Alter von 82 Jahren erreichen. Ihre gegenwärtige Nervosität rührt nur von Ihrem ausgebreiteten Liebesleben her. Hüten Sie sich vor einer großen Blonden, die Sie mit einem Freunde betrügt. Eine bevorstehende große Reise bringt eine Wendung in Ihr ganzes inneres und äußeres Leben. Merken Sie sich 322 481 als Ihre Glücksnummer."
Ob sich der also Anprophezeite, gedruckt Anprophezeite, die Nummer merkt? Weit eher wird er merken, daß er - wie überhaupt das Gros der Menschheit - auf die Dauer nicht von Valutageschäften leben kann, sondern von Arbeit leben muß. Auf Schritt und Tritt sieht man jetzt, rotgelb verstaubt, in schwerer Arbeit die Leute der Technischen Nothilfe, Studenten vor allem, aber auch Leute aller anderen Berufe, die die streikenden Müllkutscher ersetzen. Auch das will gelernt sein. Wo früher zwei Mann den gefüllten Eisenkasten, den sie eben vom Hofe geholt, zum Wagen emporwuchteten, da muß heute vielfach ein Dritter helfen. Es sind doch manchmal noch Jungchen, diese Studenten, mager und unterernährt. Aber ein paar Wochen Müllkutscherarbeit, das bedeutet ein weiteres Semester Studienmöglichkeit. In diesem Betriebe arbeitet jetzt auch ein Oberst a.D., der letzte Kommandeur des Infanterieregiments Nr. 20 in Wittenberg. Seinen Namen habe ich gerade vergessen, er heißt Jablonski oder so ähnlich. Er wohnt in Berlin-Halensee und arbeitet in Berlin-Weißensee, hat also schon einen Anmarsch von fast zwei Stunden mit der Straßenbahn. Mit ihm arbeiten nicht nur Studenten, sondern auch "richtige" Berliner Arbeiter, ganz rote, darunter ein enragierter Unabhängiger, der mit ihm gut Freund geworden ist. Der kommt am letzten Montag mit einem stattlichen Paket an, wickelt es aus und reicht es:
"Da, Herr Oberst, von meiner Ollen! Sie hat gestern Kuchen gebacken!"
Der Oberst dankt, beißt hinein und sagt:
"Ganz famos! Wissen Sie, meine Olle hätte nicht so viele Eier dazu genommen!"
30. März 1922 (Donnerstag).
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April, April! - Internationale Sozialistenkonferenz - Wanjka-Wstanjka - Woran sind Neureichs kenntlich? - Schrekers "Schatzgräber" in der Staatsoper - Neue Moden
Der erste April ist doch der schönste Tag im Jahre, auch wenn es da abwechselnd schneit und regnet und greulich geschwollene Rechnungen ins Haus flattern.
Denn am ersten April kann man sich doch einbilden, diese ganze lächerliche Welt von heute mit ihren winzigen Eine-Mark-Semmelchen und dem Kultusminister a.D. Adolf Hoffmann und den französischen Soldaten auf Berliner Straßen und dem Müllkutscherstreik und den schwer vergitterten Schaufenstern sei nur ein dummer Witz, und am nächsten Tage komme die Aufklärung.
An dem diesjährigen 1. April fehlten sogar die Kibitzeier in den Feinkostgeschäften; nur Bismarckheringe sind reichlich auf Lager und entsprechen der allgemeinen Stimmung. Es sagen immer häufiger selbst kleine Leute in Berlin, wie schön es war, als man noch Milch nach Belieben kaufen konnte, zweimal jährlich eine Kaiserparade hatte, eine einfache weiße Sommerbluse schon für 95 Pfennig bekam und Zuchthäusler als Ministerpräsidenten nicht einmal in Liberia, geschweige denn in Braunschweig für möglich hielt. Die üblichen Aprilscherze der Witzlosen, die einem fingierte Strafverfügungen, Alimentenklagen, Steuervorladungen ins Haus schickten, haben sich natürlich auch diesmal überall wiederholt. Und wie in der kleinsten Kleinstadt machen einen die Bengels auf der Straße auf angebliche Mängel an der Kleidung aufmerksam:
"Frollein, es blitzt hinten bei Sie!"
Unser Fräulein versteht Spaß, lächelt nur und sagt:
"Es heißt bei Ihnen, mein Junge, nicht bei Sie!"
Worauf er alsbald überlegen antwortet:
"Zu Jroßen sagt man immer Sie!"
Gegen einen Berliner Jungen ist nicht anzukommen. Man zieht immer den Kürzeren. Selbst wo es der Witz aus dem Großstadtsumpf ist, muß man lachen, so niederdrückend die schnoddrige Schonalleswisserei auch ist. An einer Haltestelle in der Potsdamer Straße steht, sichtlich in gesegneten Umständen, eine junge Frau. Ein vierzehnjähriger Lausbub streicht vorüber und nickt ihr verschmitzt-freundlich zu:
"Na, Frollein, ooch schon verlobt?"
Hin und wieder leuchtet aber auch am ersten April dieser deutschen Jammerzeit die Sonne der schalkhaften früheren Ritterlichkeit auf. Eine geplagte Hausfrau, die sich in Sorgen über ihre Monatsrechnung bückt, bekommt einen großen Fliederstrauß geschickt. Für die Nichte, die junge Braut? Nein. Der Bote aus dem Blumenladen zeigt die Anschrift vor. Scheinbar von fremder Hand, aber wirklich an die Frau gerichtet. Nun reißt sie den Umschlag auf und liest auf dem Kärtchen darin die von ihrem Manne geschriebenen Zeilen:
"Du denkst wohl, du hast heute Geburtstag? April, April!"
Der Osterhase kommt diesmal erst Mitte April, verstreut schon jetzt seine Süßigkeiten in den Schokoladengeschäften und wird für uns Deutsche in Genua wohl ein taubes Ei legen. Alle Tage gibt es in Berlin schon durchreisende Delegierte. Viele von ihnen gleichen mit ihren langen Löffeln selber einem Hasen. Einige haben noch schnell vorher an der Internationalen Sozialistenkonferenz im Oberstock des Deutschen Reichstages teilgenommen, die übrigens heute nacht ebenso geendet hat wie auch sämtliche Konferenzen der internationalen Staatsmänner: ohne wirkliches Ergebnis, nur mit dem Beschluß, daß eine neue Konferenz einberufen werden müsse. "Das muß man gesehen haben, meine Herrschaften, da muß man reingetreten sein!" kopiert ein Bekannter von mir den Rummelplatzausrufer und schleppt mich hin. Ob ich gerade in eine Gruppe der zweieinhalbten oder der dreieinhalbten Internationale geraten bin, weiß ich nicht, aber hübsch bunt ist das Gewimmel jedenfalls. Ein kaffeebrauner Malaio-Japaner steht neben dem Genossen Ulrich Rauscher, der seine jetzige Gesandtenwürde durch einen kostbaren Pelz markiert. Der Wiener Ministermörder Friedrich Adler gestikuliert lebhaft mit einem Moskauer und kann sich überhaupt mit ihnen allen auf galizisch-deutsch verständigen. Neben dem Brüsseler Multimillonär und Salonsozialisten Vandervelde taucht das typische Negergesicht des "Kronprinzen" Ebert junior auf. Auf den Tischen sitzen allerhand interessante Sowjetmädchen und rauchen; die Augen des einen, rothaarigen, bleichgesichtigen, das sich auf einem Tisch an einen Genossen lehnt, wie auf dem bekannten Ballestrierischen Mondscheinsonatenbilde "Beethoven" die Bohémienne an den Bohémien, geistern funkelnd aus einer dunklen Ecke hervor.
Das ist ein flüchtiger Eindruck im Hindurchschreiten während einer Verhandlungspause. Aber auch zu genauerem Studium der Welt des Ostens hat man in der Reichshauptstadt jetzt reichlich Gelegenheit. Heute stammt schon - jeder zehnte Berliner aus Rußland! Wie übrigens vor dreißig Jahren auch fast jeder zehnte Petersburger ein Deutscher war: von 930 000 Einwohnern sprachen 91 000 Deutsch als ihre Muttersprache. Seit dem verfehlten Attentat auf den alten Deutschenfresser Miljukow in der Philharmonie kehrt unsere Staatspolizei "mit eisernem Besen" die hervorragendsten, monarchisch gesinnten Russen aus Berlin, obwohl gerade diese in der Mehrzahl als Anhänger des altkonservativen Markow durchaus deutschfreundlich sind. Trotz der Ausweisungen werden ihrer nicht weniger. Einer der künstlerischen Mittelpunkte dieser Russen des alten Systems ist das Kabarett Wanjka-Wstanjka am Kurfürstendamm, dicht am Untergrundbahnhof Uhlandstraße. Wanjka-Wstanjka heißt auf Deutsch etwa Hermännchen-Stehaufmännchen. Also ein Spielzeug; in der gläubigen Hoffnung dieser Leute aber Rußland selbst, das durch alle bolschewistischen Püffe doch nicht niederzukriegen sei und wieder bolzengerade dastehen werde. Man ißt gut in Wanjka-Wstanjka. Auch nationalrussische Gerichte neben der allüberall üblichen sogenannten französischen Küche. Wir haben uns da einen Borschtschok in Tassen mit ein paar Piroggen, nachher am Spieß gebraten einen Schaschlyk mit Reis geben lassen: besser hat es auch in Tiflis nicht geschmeckt. Von ½9 bis ½12 Uhr wird auf dem Bühnchen gespielt. Meist drollige Szenen mit Gesang und Tanz aus der russischen Biedermeierzeit, die freilich im Hause eines altrussischen Moskauer Kaufmanns etwas anders sich kostümierte, als die unsrige uns auf dem ersten Überbrettl in Bierbaums "Ich tanz' mit meiner Frau" vorgeführt worden ist. Auch moderner Ulk wird uns geboten; so der Kampf des russischen Professors, zurzeit Flüchtlings, mit dem "Visum" der verschiedenen Nationen. Alles allerliebst und harmlos, von einem leisen Sehnen durchzogen, künstlerisch hochwertig und für Berlin insofern ein Wunder, als während der ganzen drei Stunden keine einzige Zote laut wird, keine einzige Ausgezogenheit oder auch nur Ungezogenheit sich bemerkbar macht. Nicht einmal da, wo die "Zigeuner" auftreten. Das ist einmal ein Wort von zauberischem Klange gewesen. Der Beamte in Wladiwostok am Stillen Ozean, der sechs Wochen Urlaub erhielt, reiste 14 Tage im sibirischen Schnellzuge hin und 14 Tage wieder her, um dazwischen 14 Tage lang in Petersburg "auf den Inseln" von Zigeunermusik und Zigeunertanz sich das Blut aufpeitschen zu lassen und möglichst schnell alle ersparten Hundertrubelscheine loszuwerden. Auch in Wanjka-Wstanjka ist die Musik hier eintönig, eindringlich, aufreizend, und wie die Smirnowa dazu tanzt, das ist schon ein Vermögen wert. Eine Kasernenhofszene, neun Kerls in Sommeruniform, der Einjährige, der Spielmann, der Feldwebel, ist die vielbejubelte Schlußnummer des Programms. Da werden den Russen die Augen feucht, wenn dieser Chor die alten Soldatenlieder singt, mehrstimmig, mit wilden Urlauten dazwischen und doch diszipliniert. Wer jemals russische Soldaten oder schwedische Studenten oder venezianische Bauernmädchen hat singen hören, der schämt sich, so hoch auch unsere Sangeskunst in den Vereinen steht, des Unisonogegröhls unserer eigenen Lieder. Und von Wanjka-Wstanjka, dessen Verständnis uns durch einen deutschen Erklärer und durch die gedruckte Übersetzung der Gesangstexte erleichtert wird, können wir allerlei lernen.
Die Mehrzahl der Besucher sind wohlhabende Russen, die bei ihrer Flucht ein paar Aktien englischer und amerikanischer oder sonst "hochvalutarischer" Industriewerke, in denen man früher drüben gern etwas anlegte, gerettet haben und nun von der Pfund- und Dollardividende bei uns gut leben können und uns außerdem dadurch Devisen verschaffen; daß die meisten von ihnen vom leichtsinnigen Verkauf ihrer "letzten Juwelen" existieren, ist sicher ein Märchen, denn fast durchweg - haben sie sie noch. Neugierige Deutsche aus den Kreisen der Kriegsgewinnler oder Revolutionsgewinnler tauchen auch bei Wanjka-Wstanjka auf, sind aber meist enttäuscht, denn ein Kabarett ohne ein- und zweideutige Schweinerei sei doch gar kein Kabarett.
Man fragt mich oft, woran man diese Neureichen erkenne, da der Witzblattyp doch offenbar falsch sei; sie seien gewöhnlich sehr gut und dezent gekleidet, sprächen ein korrektes Deutsch, wüßten mit Messer und Gabel umzugehen und fielen im Durchschnitt nicht einmal durch Fettpolster auf. Aber ganz untrüglich durch etwas anderes, meine Herrschaften, nämlich durch ihre gut gespielte Verwöhntheit und ihren offen zur Schau getragenen Abscheu gegen alles "Popelige". Kriegen sie keinen Logenplatz, so kehren sie um. In dem feinsten Restaurant, in dem äußerste Sauberkeit so selbstverständlich ist wie im guten Privathause, wischen sie an Tellern und Gabeln mit ihrem Mundtuch herum. Haben sie Henessy bestellt und gibt es nur Meukow, so sagen sie, derartigen Cognac trinke man nicht. Sie tun ewig leicht verärgert. Sobald der Kellner den Rotwein serviert hat, verlangen sie mit drohender Bestimmtheit nach dem Herrn Direktor. "Herr Direk-tor, bitte, fassen Sie doch mal die Flasche an! Herr Direk-tor, ist das eine Temperatur für Burgunder?" Das wird natürlich nicht geschrien, denn, wie gesagt, ungebildet im Witzblattsinne sind die Leute nicht, nein, es wird geflötet, gesäuselt - nur gerade so laut, daß wir am Nebentisch, die wir unverkennbar altes System sind, es merken müssen, daß auch neues System "zu leben versteht".
Wenn solche Leute in eine Erstaufführung gehen, denn das müssen sie natürlich, da die zwölfte oder vierzehnte vielleicht schon zweite Besetzung hat, so bleibt in den Pausen die Gattin im Foyer stehen, während er sich an Gruppen von Kritikern heranzupürschen versucht. Im Vorbeigehen möchte er so gern ein Wort von Ihering oder Kerr, von Krebs oder Klatte erhaschen, um es alsbald als Scheidemünze weiterzugeben. Nun hat er jetzt in der Staatsoper Schrekers "Schatzgräber" über sich dahinbrausen lassen und hat aus einer halbverstandenen Bemerkung sein Urteil in der zweiten Pause schon fertig: "Durch Franz Schreker ist Richard Wagner nun restlos erledigt!" Hinter ihm ertönt leise ein silbernes Lachen. Jäh wendet er sich um. Entschweben nicht gerade die Rheintöchter dem gierigen Unhold? Die neue Oper Schrekers enthält alles, was man seit Jahrhunderten von ihr verlangt, Pracht und Farbe, Spuk und Märchen, Haupt- und Staatsaktion, auch ein bißchen mehr oder minder wohltemperierte Leidenschaft um die schöne Els herum, die Sphinx - oder Lulu, wenn Ihr wollt - mit ihrer Sucht nach Geschmeide und ihrem Gleichmut im Verraten der Liebhaber. Ein Halbtier, ein König, ein Spielmann und ein Narr, Bankettsaal und Hochgericht, Schranzen und Pöbel, alles ist auf der Bühne zu sehen, Schreckhaftes und Zartes, Mystisches und Derbes, und dazu - Schrekers reine Illustrationsmusik, die jedes Wort in Töne übersetzt, den Takt oft mitten im Satze wechselt und durch Schillern uns, fast hätte ich gesagt, zu übertölpeln versucht. Nein, noch braucht Richard Wagner sich nicht entthronen zu lassen. Noch immer ist alles, was nach ihm geschaffen wurde, in Musik gesetztes Textbuch, nicht - wie Athene aus dem Haupte Zeus - vollendet, dem Genie entsprungenes Musikdrama. Wagner ist Weihe, Schreker ist Fest. Sicherlich ein schönes, ein prunkvolles und wohlgelungenes Fest für satte Leute und auch feine Genießer, aber nicht Brot für die Hungernden, Wein für den Verschmachtenden, Ziel für den Irrenden, Gralsburg für den von Leidenschaften Gepeitschten.
Es war im übrigen eine Aufführung von fast unerhörtem Reichtum, und auch das gesellschaftliche Bild davor, leider nur dank den vielen Valutastarken, von einem sonst hierzulande seltenen Glanz. Unter den Damen gewinnt der unschöne, unten weit offene Talarärmel anscheinend immer mehr Anhängerinnen. Dafür wird das Kleid aber wieder etwas höher gegürtet als bisher. Die Hänger mit dem tiefen Gürtel, wie sie noch in diesem Winter bis vor kurzem getragen wurden, nehmen der Trägerin jede Schlankheit. Heute könnte Dehmel kaum mehr seine trunken schönen Verse stammeln:
Ich nenne dich Gerte, weil du so schlank bist |
Heute trippelt alles unterstrichen kurzbeinig einher. Und das gibt schon der heranwachsenden Jugend ein ganz falsches Bild. Steht da ein junger Mensch in der ersten Tanzstunde.
"So fass' doch die Dame um die Taille!"
Er wird puterrot und zögert und sieht ihr auf den Gürtel. Der Gürtel nämlich, der sonst die Taille deckt, umkreist nun viel südlicher die hügeligsten Gegenden.
6. April 1922 (Donnerstag).
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Mysterienspieler - Wer beherbergt Maria Magdalena? - Der Christusfilm im Gymnasium - Neuwahl im Filmklub - Die Nachtvorstellung in der Alhambra - Ein Eimer voll Papiergeld für Vollmer - Valutakäufer am Pariser Platz
Sowie alljährlich der Saft in die Baumäste schießt und die ersten Knospen treibt, kommt die Unrast über unsere Mysterienspieler, die in Kirchen und Scheunen ihre primitive Kunst zur Ausübung bringen. In Groß-Berlin hat ein junger Theologe die alten naiven Stücke hervorgeholt und aus den Kreisen der Wandervögel sich seine Darsteller zusammengesucht. Die ziehen landauf, landab herum, und anderswo in Deutschland gibt es ähnliche fahrende Gesellen. Darüber werden nun gelehrte Aufsätze geschrieben: wir kämen in eine neue Zeit des Mystizismus und mittelalterlich vertiefter Frömmigkeit hinein. Das liest sich besonders so um Ostern herum recht erbaulich, ist aber wohl nicht ganz richtig. Auch dieses neue künstlerische Vagantenleben ist ein Erbe aus dem langen Kriege, wo man, auf kurze Zeit der Front entrissen und ins Ruhe- und Exerzierquartier versetzt, mit ein paar Läppchen und Lümpchen einen richtigen Theaterzauber machte. Sogar in den jämmerlichen Gefangenenlagern Frankreichs war die Lust am Fabulieren groß. Die Theaterspieler in Feldgrau sind nun fast durchweg, soweit sie heimgekommen sind, im Berufsleben untergetaucht und haben keine Zeit mehr für "Kunstreisen", aber der eine oder andere ist noch dabei, und vor allem stellen die Wandervögel hierfür die neue Generation
In den Berliner Trupp bin ich einmal im vorigen Sommer hineingeraten, als er von Westerland über Helgoland nach Hamburg fuhr. Da lagen die jungen Komödianten, Buben und Mädel, seekrank wie ein paar Häufchen Unglück herum. Maria Magdalena, offenbar besserer Leute Kind und auch nicht so schlampig wie die anderen angezogen, hielt sich noch aufrecht und streichelte einem etwa achtzehnjährigen Apostel den schmerzenden Kopf. Judas, ein aus Bayern zu diesen Norddeutschen verschlagener Spieler, ächzte über sein verfehltes Dasein. Maria, die einzige ältere und sehr männliche Person, hatte die Kasse und die gemeinsame Wirtschaft; als man auf der Elbe angekommen war, verteilte sie große Schnitten Brot, und jedermann bekam außerdem bare 50 Pfennig. Am nächsten Tage wollte man in der Jakobikirche spielen, hieß es. Aber die Sache schien noch fraglich zu sein. Dringlicher war die Entscheidung, wo "gepennt" werden könne, da die Mittel offenbar auch für die bescheidenste Herberge nicht reichten. Die weitere Nacht - in Berlin - machte schon weniger Sorgen, denn dort hatte doch der oder jener daheim ein Sofa und konnte einen anderen aufnehmen. Um die Aufnahme von Maria Magdalena entspann sich ein edler Wetteifer zwischen zwei Aposteln.
Wenn man diesen wunderlichen Primitiven, die ihren ganzen Theaterkram in ihren Rucksäcken bei sich führen, einmal so nahe gekommen ist, schreibt man keine gelehrten Aufsätze über ihren Mystizismus mehr. Es ist mehr Wanderlust als Mystik dabei. Ach in Oberammergau ist in diesem Amerikajahr die religiöse Ergriffenheit wohl nicht die Hauptsache. In einem Berliner Gymnasium ist kurz vor den Ferien die biblische Theaterei sogar von der Mherheit der jungen Zuschauer abgelehnt worden, und zwar - aus Religion. Im Schulkino wurde der Chrsitusfilm aufgeführt mit allen nur denkbaren schauspielerischen Tricks und mit der üblichen Stimmungsmache für Ahnungslose. Judas verdrehte auf der Leinwand die Augen kanaillenhaft wie Franz Moor, brach sich einen dürren Ast in Kreuzform und zertrat ihn mit verzerrtem Gesicht, lauerte hinter Büschen geduckt dem Heiland wie ein Wild-West-Räuber auf, kurz, es war richtiges Kino, auch wenn es manche - namentlich landschaftlich - schöne und ergreifende Stellen gab. Am nächsten Tage ließ der Direktor von sämtlichen Schülern des Gymnasiums in einem ganz kurzen Klassenaufsatz ihre Eindrücke niederschreiben. Durchschnittlich neunzig von hundert antworteten betreten, es hätte ihnen nicht gefallen; in ihrer eigenen Phantasie hätten sie sich die biblische Geschichte ganz anders vorgestellt, im Film komme sie einem völlig entgöttlicht und verpöbelt wie ein beliebiges Schauerdrama vor. Kurz und bündig schrieb ein Quintaner nur den einen Satz:
"Ich war im Christusfilm in der Aula, aber wenn Mutter das erzählt, ist es viel schöner."
Und nun noch von der Gegenseite ein ebenso Kurz-und-Bündiger aus der Sexta:
"Der Christusfilm hat mir großartig gefallen, besonders der Kindermord in Bethlehem war fein."
Der Film ist in Rom gedreht worden, von der Cines-Gesellschaft; den Monopolvertrieb für Deutschland haben Straßburg & Co. erhalten. Man riecht das Geschäft heraus, diesmal mehr als dreißig Silberlinge, nur dies Geschäft scheint mies, um in der Filmsprache zu sprechen. Aber sonst ist man noch wohlauf. Im Berliner "Klub der Filmindustrie" geht es hoch her, den die neue Saison hat manchen Schlager, nicht zuletzt "Fridericus Rex", herausgebracht, und die Exportziffer hat steigende Tendenz. In der kürzlichen Generalversammlung des Klubs wurden in den Vorstand und in das Ehrengericht u.a. folgende Herren wieder- oder neugewählt: Corell, Rosenfeld, Hanewacker, Dienstag, Jakobsohn, Likowetzki, Justiz, Grüneberg, Saklikower, Mark, Reichenberg, Sochaczewer, Kahn, Löwenthal, Schwab, Treumann, Wolff, Weitz, Bergemann. Was geschieht, wenn nun einmal im Klub der Filmindustrie eine Christenverfolgung ausbricht? fragt ein Witzbold nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses. Er kann sich beruhigen. Man ist in diesen Kreisen sehr tolerant, man verfilmt ja sogar den Messias und macht durch Fridericus Rex in Nationalismus, denn der einzige, der im Filmgeschäft einen "Standpunkt" haben darf, ist - der Kurbler.
Beim Theater wird lange nicht so viel verdient als beim Kino. Am schlimmsten hat es der greise Mime, auch wenn er Pensionär ist, denn jede ihm ausbezahlte Mark ist demnächst nur noch ein Pfennig. Für den alten Arthur Vollmer mit seinen 73 Jahren haben sich jetzt die Kollgen gerührt. Von diesen 73 Jahren hat er 41 am ehemaligen Königlichen Schauspielhause verbracht, als der erste Komiker, der ganze Generationen Berlins durch sein Augenzwinkern, seine Schalkhaftigkeit in jedem Mundwinkel, seinem lustigen kleinen Höcker auf der Nase und seine ganze sprühend elegante Art erheitert hat. Hans Waßmann, der jetzige Erste von ganz Berlin, wenn man die derbere Sorte Thielscher und Pallenberg für sich nimmt, ist sein Schüler. Solange der König von Preußen aus seinem Gehalt die Zuschüsse für die Hoftheater bestritt, brauchten auch die alten Pensionäre keine Not zu leiden, aber seitdem die Republik das Patronat über die nunmehr staatlichen Bühnen geerbt hat, müssen sie hungern, weil so sehr viel neue Beamte auch an dieser Futterkrippe herumstehen. Das staatliche Opernhaus und das staatliche Schauspielhaus zählen zusammen neben den Darstellern noch 535 Angestellte, während vergleichsweise die drei Max-Reinhardt-Bühnen - Deutsches Theater, Kammerspiele, Großes Schauspielhaus - mit nur 75 auskommen, und da ist es denn kein Wunder, daß die 535 mitsamt ihrem Beamten- und Arbeiterrat so viel brauchen, daß man für den seit fünf Jahren abgehalfterten Arthur Vollmer nicht mehr das Existenzminimum aufbringen kann.
Um nun eine recht große Ehrengabe für ihn zu sammeln, hatten die Kollegen und Kolleginnen von den Bühnen, vom Brettl, vom Konzertsaal am verflossenen Sonnabend, nach Feierabend, eine Nachtvorstellung für ihn in dem Alhambratheater am Kurfürstendamm veranstaltet. Sie alle waren gekommen, soweit man sie überhaupt in dem vierstündigen Programm, von elf Uhr abends bis drei Uhr morgens, unterzubringen in der Lage war. In dem ersten, ernsten Teil "schmiß" die Branzell mit ihrem wundervollen Organ eine Carmen, daß alles elektrisiert wurde. Und Karl Armster von der Hofoper tat auch mit, obwohl er als frischgebackener Hochzeiter vielleicht lieber daheim geblieben wäre. Er hatte den Hochzeitsfrack sozusagen noch gar nicht ausgezogen. Ilse v. Gamp ist seine Frau geworden, die Tochter des verstorbenen freikonservativen Abgeordneten und Geheimen Oberregierungsrates a.D., der - er selber hatte einst in die Elberfelder Chemikerdynastie hineingeheiratet - seinerzeit durch seinen Verzicht auf jede Pension Aufsehen erregt hatte; wenn man wohlhabend sei, sagte er, so sei es skandalös, wenn man dem Staat noch Geld abnehme. Das waren damals eben andere Zeiten und andere Männer. In der Nachtvorstellung dirigierte Ignatz Waghalter, sangen und rezitierten auch noch andere erste Kräfte Berlins, bis sich endlich "Murren im Publikum" erhob und - zwei bekannte Konferenziers vom Brettl erklärten: nun habe man sich genug mit hoher Kunst gemopst, in der Zeitung habe "Nacktvorstellung" gestanden, und auf einmal gebe es Große Oper und so!
Nun war in fünf Minuten alles auf den Kopf gestellt, ein paar weibliche Kabarettsterne, an der Spitze die zwerchfellerschütternd rüde Cläre Waldoff, wurden auf die Bühne gelotst und traten in einen Sängerkrieg ein, in dem zwei Paar Wiener Würstchen als Ehrenpreis winkten. Mitten unter ihnen - den Sternen, nicht den Würstchen - Mädy Christians! Das in gutem Sinne eleganteste Mädel aller Berliner Bühnen, eine junge Dame von exquisitester Welt. Und die sang ein so unanständig süß-freches Lied, daß man erschauerte und dann wie rasend applaudierte. Aus dem Klatschen kam man fortan überhaupt nicht mehr heraus. Bei einem Radrennen mit Walzenuhr sah man sich die Augen aus dem Kopfe nach den eifrig strampelnden Harry Liedke und Hans Waßmann, und man wieherte und brüllte, als nachher der große dicke Diegelmann im Kostüm der Henny Porten (Anna Boleyn) - andere mimten Mia May und Fern Andra - auch zum Wettbewerb erschien. Schon regnete es Prämien, Hunderter und Tausender. Auch die Plätze bei der Wohltätigkeitsvorstellung hatten einen ganz anständigen Preis, 100 bis 600 Mark, und die Alhambra war knüppeldick voll. der ganze Kurfürstendamm mobil. Der alte Herr in Ballenstedt im Harz, dem alles gilt, kann wohl zufrieden sein. Er bekommt buchstäblich einen ganzen Eimer voll Papiergeld.
Wenn er sich nur rechtzeitig dafür etwas "hinlegt", sagten die bis zuletzt Ausharrenden in der Alhambra: Waren oder Devisen. Das Papiergeld allein macht nicht glücklich, man muß auch etwas dafür haben, und je länger man es aufbewahrt, desto weniger kann man dafür haben. Wer es noch kann, der legt sein Geld in Sachwerten an, aber da schnappen einem jetzt die Ausländer mehr denn je die besten Objekte vor der Nase weg. In ihrem Troß gewinnt der eine oder andere Mitläufer allenfalls etwas durch Spekulation in oberschlesischen Werten oder anderen Aktien. Auf dem Berliner Grundstücksmarkt kommt man schon nicht mehr mit. Ein Haus nach dem anderen kommt in den Besitz der Valutastarken. Das alte Preußen der Fridericus-Zeit hatte unter den Linden, in der Behrenstraße, in der Wilhelmstraße ein pied-â-terre neben dem anderen, wo der Landadel ein oder zwei Wintermonate während der Hoffeste zubrachte. Jetzt verschwinden die letzten. Am Pariser Platz wird das fürstlich Blüchersche Palais zu einer Bank umgebaut. Käufer ist ein Mister Zinding, ein in Amerika reich gewordener Lette. Gleich nach Ostern werden die Mörtelwagen vorfahren. Hier zu wohnen, wünscht die Valutaaristokratie durchaus nicht, sondern nur hier Geschäfte zu machen, und es dauert vielleicht gar nicht mehr so lange, bis auf dem Brandenburger Tor ein Ausschank für american mixed drinks eröffnet wird. Man sieht's, man fröstelt und man sagt: na, dann vergnügte Feiertage!
13. April 1922 (Donnerstag).
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