"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 31 - 33
20. April bis 4. Mai 1922


31

Ein Stinnes-Theater? - Die Kinder im "Tell" - In Berlin vor 110 Jahren - Feminine Herrenmoden - Die Archipenko-Ausstellung - Frühling in Sanssouci - Was uns die Grenadierstraße beschert

Die Kunst geht nach Brot und schreit nach Stinnes. Selbst eine so gesunde und von reinen, starken Idealisten geleitete Bühne wie das Steglitzer Schloßparktheater in der umgebauten Villa des alten Feldmarschalls Wrangel kommt um eine Sommerverpachtung für französische Schundschwänke nicht herum. Man will eben leben. Und der Brotkorb hängt hoch.

Aber im tiefsten Innern aller unserer Darsteller reckt sich die Sehnsucht nach etwas Besserem, nach einer Kunst, die von dem Geschmack des Berliner Amüsierpöbels, der Geschäftsreisenden aus dem Reiche, der Ententeoffiziere in Zivil nebst weiblichem Anhang unabhängig ist. Es ist Sehnsucht nach einem preußischen Bayreuth. Der Versuch, durch Geldbeträge vieler Begeisterter wie einst im Richard-Wagner-Verein eine nationale Bühne zu schaffen, mißlingt immer wieder. Begeisterung ist da, aber kein Geld. Da richten sich denn die Augen auf den großen deutschen Industriekapitän. Stinnes macht alles, vom Bergwerk bis zum Hotel, vom Dampfer bis zur Zeitung, und alles gelingt - warum sollte er uns nicht auch aus dem Theaterelend erlösen können? Es ist doch unerhört, daß just in Berlin unsere deutschen Klassiker nur sehr sporadisch zu Worte kommen und daß in dieser Zeit der Knechtung der Freiheitsodem vaterländischer Dramen erstickt wird. Als Ulrich Haupts Freilichttheater mit Kleists "Hermannsschlacht" in die Binsen ging, hoben sich zuerst die Hände zu Stinnes. Ihm müsse es doch eine Kleinigkeit sein, ein oder zwei gute Berliner Theater hinzustellen, von denen ein belebender Strom nationalen Stolzes ausginge. Nun ist er auch gar nicht abgeneigt. Aber erst, wenn sich die rechten Werkleute zusammengefunden haben. Auch er empfindet es wie wir alle als eine Schmach, daß sogar im besetzten Wiesbaden eine wundervolle "Tell"-Aufführung über die Bretter gehen kann, in Berlin aber seit Jahren die großen Bühnen sich ihr verschließen. Das letzte war der übliche und üble Treppenwitz im staatlichen Schauspielhaus: "Durch diese hohle Gasse muß er kommen!" sagt Tell und zeigt auf die den ganzen Raum ausfüllende - Treppe. Da wendet sich der Gast mit Grausen.

In einer Zeit wie der heutigen kann man aber unsere Jugend unmöglch ohne "Tell" heranwachsen lassen. Man liest ihn zu Hause mit verteilten Rollen. "Ans Vaterland, an teure schließ dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen!" Und dann geht man schließlich in das sogenannte klassische Theater, eine Organisation von leider recht mäßigen Darstellern, die zweimal wöchentlich nachmittags auf irgendeiner Bühne mimen; die Eintrittskarten werden in den Schulen zu billigem Preise vertrieben, und den "Tell" gibt es in diesem Schülertheater mindestens alle vierzehn Tage einmal, und immer ist es pfropfenvoll. Der Berliner nennt das das Zopfbandtheater. Sitzt man im Oberring etwa im Schillertheater in Charlottenburg, so sieht man auf ein Meer von Zopfbändern und Haarschleifen in Rot und Rosa und Blau und Braun hernieder, so viele kleine Mädchen im Alter von 8 bis 12 Jahren sind da versammelt. Auch noch kleinere Bübchen. Viel zu wenig dagegen heranwachsende Jünglinge, und gerade die müßten doch her. Man sieht: es geht den Eltern nur darum, daß ihre Kleinen "auch schon im Theater" gewesen sind. Allenfalls schickt man der Bildung wegen das Fräulein mit. Das muß dann den Jungen oder das Mädchen - überhören. Hinter mir dauernd dieses Gewisper.

"Wem sind die Augen ausgestochen?"

"Dem alten Mann."

"Welchem alten Mann?"

"Der da sitzt."

"Aber Kind, das ist doch Stauffacher!"

"Ja."

"Also welchem alten Mann?"

"Ich weiß nicht, Fräulein!"

Das ist eine Qual. Vor hundertundzehn Jahren war es anders in Berlin. Da überließ man die Kinder nicht irgendeiner Demoiselle, wo es um das Höchste ging, sondern die Mutter selbst setzte ihnen die Gemüter in Flammen. Das war damals, als zwei fremde Gesandte in Berlin ihren Regierungen übereinstimmend berichteten, die Stimmung des Volkes inmitten der französischen Überwachung sei ganz unbeschreiblich; wenn dieses Volk nicht in den Krieg gegen die fremden Unterdrücker geführt werde, dann mache es sicher Revolution. Das war damals, als die Waldenburger Bergleute von ihrem Lohn einige hundert Taler sammelten, um für einundzwanzig der ihrigen die Ausrüstung zu kaufen und sie zu den Freiwilligen stoßen lassen zu können; damals, als Arbeiter und Gesellen, nicht etwa nur die sogenannten Gebildeten, freudig Gold gaben für Eisen. Nach einer solchen Gesamtstimmung sucht man heute in Berlin noch vergeblich, darüber dürfen wir uns keinerlei Täuschung hingeben. Erst vor wenigen Tagen ist es einem lieben Logierbesuch bei uns, einer jungen Dame aus Wernigerode, passiert, daß in der Wannseebahn ein betrunkener Arbeiter, ohne daß er von den eingeschüchterten Mitreisenden niedergeschlagen wurde, sie angröhlte:

"Rücken Sie bloß nicht aus, Fräulein, ich schieß ja nicht! Ich schieße bloß auf Unteroffiziere und Offiziere, wenn uns einer wieder einziehen will! Wir sind Proletarier, und die Franzosen sind unsere guten Freunde!"

Das ist nicht der Geist von 1812, sondern Geist von 1918; nicht Geist von Stein und Arndt, sondern Geist von Scheidemann und Haase.

Noch ist er überwiegend, wenigsten in Berlin N und Berlin O, obwohl schon mancher Mann auch dort aus dem Irrwahn erwacht ist. Und in Berlin W fröstelt es einen aus einem anderen Grunde: weil man da so wenig Männlichkeit unter der männlichen Jugend sieht. Alles stolziert "auf Taille" umher - und mit wattiertem Weiberbusen, aus dem ein buntseidenes Taschentüchlein kokett hervorlugt. Die Mode effeminiert uns und maskuliniert die Frauen, während ihr eigentlicher Zweck doch ist, das Geschlecht zu unterstreichen. Der Vorkriegsamerikaner mit den vom Schneider verstärkten Schultern und den vom Schuster verbreiterten Stiefeln hatte mehr Sinn. Heute aber verzierlicht sich die Herrenwelt und wird im Gegensatz hierzu die Frauentracht immer viereckiger, so daß einzelne Tauentziengirls von weitem aussehen wie ein pythagoreischer Lehrsatz auf Stelzen.

Natürlich haben sich das die Modeblätter nicht von selber ausgedacht. In der Formzertrümmerung ist die bildende Kunst vorangegangen, begeistert umheult von der zünftigen Kritik. Jetzt wird der Kritik selber bange vor dem, was da angerichtet ist, und sie stellt kleinlaut fest, daß ein starkes Drängen zurück zur Natur unverkennbar sei. Man sieht doch wieder erklärliche Bilder und verständliche Skulpturen. Aber einmal noch haben die Verdreher ihre Kraft zusammengenommen und nun in Berlin eine Gesamtausstellung der Werke Alexander Archipenkos veranstaltet. Dieser russische Bildhauer ist ja Idol aller Formzertrümmerer. Auf einem Riesenkörper der nur angedeutete Kopf eines Neugeborenen. Ein mächtiger Bauchnabel mit ein paar angeklebten verkümmerten Extremitäten. Überlebensgroß steile Bügelfalten als angebliche Beine unter einem zur Persönlichkeit erweckten Kropf. Das ist so seine Welt. Diese exzentrische Welt des Willens zum Verblüffen ist ja auch für die Mode kennzeichnend; Körperformen werden nicht mehr gezeigt, sondern gezerrt. Wir müssen das auch noch eine Weile erdulden, auch die Sturm-Clique, auch Alexander Archipenko und seinen ganzen Heerbann. Eine Entwicklung, die sich in allen Zeitaltern wiederholt, wird uns danach zu ganz ungekünstelter Einfachheit und Formenwahrheit führen: über kurz oder lang sind wir wieder reif für die klassischen Gewänder aus der Zeit der Königin Luise.

Der Weg zu ihrer Grabstätte im Charlottenburger Schloßpark wird dem Volke durch die Obrigkeit verrammelt, wie ja auch neulich den Staatsopernorchester das Spielen von Richard Wagners "Kaisermarsch" und Siegfried Wagners "Fahnenschwur" verboten worden ist. Aber auch alles Verrammeln und Verbieten hilft nichts: wir finden schon den Weg zu unserer Geschichte! Wir finden ihn trotz Berlin N, Brtlin O, Berlin W. Und zwar finden wir ihn durch die herströmenden Besucher aus dem Reich, soweit sie dem gebildeten Mittelstande angehören und nicht Berliner Nächte, sondern - den Potsdamer Morgen suchen. Sie bringen uns wieder bei, daß das Schönste an Berlin eben Potsdam sei, und mit ihnen zusammen genießen wir dann die Rückschau auf brandenburgisch-preußisch-deutsche Herrlichkeit von den Terrassen aus, die zu Sanssouci emporführen. Die bieten jetzt, wo die Magnolienbäume blühen, einen wundervollen Anblick. Nur soll man wirklich frühmorgens hin, auch nicht an Sonntagen, denn da wird man erdrückt in der Menge und empfindet auch nicht die ganze Weihe. Es gehört Stille und Ehrfurcht dazu. Der an sich laute Berliner ist aber heute an solchen Stätten unleidlicher denn je. In der Gemäldegalerie des Alten Fritz ist - selbstverständlich - das Rauchen verboten. Der Pförtner macht höflich darauf aufmerksam. Entrüstet aber wendet sich der Berliner Bürger zu seiner Frau um und kreischt ihr zu:

"Po'n Pochtjeh! Einfach oijinell! Haste Wochte?"

Mehr oder weniger wird es freilich wohl überall in der Welt so zugehen. Auch auf der Akropolis in Athen ist es peinigend, wenn man da in eine große Cook- oder Stangen-Reisegesellschaft hineingerät oder schon vorher durch die Gasse der einheimischen Händler mit gefälschten Antiquitäten Spießruten läuft, dagegen himmlisch schön, ganz einsam - vor offizieller Öffnung oder nach offizieller Schließung des Propyläen-Gitters - in den Marmortrümmern zu liegen und hinüber in die Bläue von Salamis zu starren. Sanssouci hat auch am späten Abend seine besonderen Reize, wenn rotgolden von Westen her die untergehende Sonne durch die Flügel der "historischen" Windmühle scheint, das Gezirp der Vogelwelt schon aufgehört hat und durch die klare Luft von der Garnisonkirche her, dem letzten Ruheort Friedrichs des Großen, das Glockenspiel "Üb' immer Treu und Redlichkeit" herüberklingt. Man hat diesen Text schon früher verballhornt, aber wenn jetzt jemand zu den abgemessenen Schlägen abgemessen mitsingt:

"Üb' immer treu Parademarsch
Bis an dein kühles Grab,
Und weiche keinen Finger breit
Vom Vordermanne ab!"

so ist man nicht entrüstet, sondern eher gerührt: auch das ist Geschichte, was da auf dem alten Exerzierplatz zwischen Garnisonkirche und Stadtschloß sich über hundert Jahre abgespielt hat, bis der Platz zu eng wurde und das Bornstedter Feld ihn ersetzte. Die Potsdamer durchaus nicht "reaktionäre" Stadtverwaltung hat die allerletzte soldatische Vergangenheit ihres Gemeinwesens auf Notgeldsheinen festhalten wollen. Da sieht man die Uniformen der "Stoobigen" (3. Gardeulanen), "Strippenjungens" (Leibgardehusaren) und der übrigen Potsdamer Regimenter. Aber das hat unsere hohe staatliche Obrigkeit sofort wieder verboten. Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, heißt es. Trotzdem versuchen es die Novembermänner, auch dieses Paradies uns zu verrammeln. Vergebliche Mühe! Noch einige Jahre weiter, dann werden sogar Drückeberger, Deserteure und heute noch knallrote "Pazifisten" ihren Kindern und Enkeln leuchtenden Auges von ihren Heldentaten im Kriege und von ihrem strammen Exerzieren davor erzählen, werden ihnen die alten Militärmärsche vorpfeifen und sich Mühe geben, mit einem Besenstiel den Kleinen tadellose Griffe vorzuklopfen. Man muß nur Geduld mit dem Volke haben. Es hat immer erst in tiefster Not die Augen sich öffnen lassen.

Noch ist sie nicht da. Irgendwo im Saarland vielleicht oder im Posenschen, aber nicht in Berlin. "Teuerung ist Not nur für diejenigen, die kein Geld haben", sagt der Berliner Bäckergeselle und steckt lächelnd 840 Mark Wochenlohn in die Tasche. Außerdem wird die Welt draußen allmählich grün, und die Hoffnung regt sich, daß "Genua oder sonst was" uns helfen werde. Zum Sommer zu ist dem Großstädter das Herz immer federleicht, auch wenn er fast gar nichts mehr vom Sommer merkt. Und doch hat er so einige Anzeichen dafür. Die Kinder auf der Straße stecken die Murmel - die bedeuten die Frühjahrssaison - weg und peitschen statt dessen Kreisel auf dem Asphalt. Die Theater werden an Gastgesellschaften verpachtet. Der Lunapark wird futuristisch neu angepinselt. Mutter holt das letzte Sauerkraut aus dem schon stark riechenden irdenen Topf. "Und denn, wissen Se, wat janz sicher is, det wissen wa aus'm Felde, nämlich, wenn de Wanzen 'rauskommen, denn is Somma!", sagt etwas elegisch der Mann aus Berlin C und Berlin N, wo die vielen zugezogenen Östlichen die Bescherung eingenistet haben. Von dort aus wird das ehedem so blitzsaubere, ungezieferfreie Berlin allmählich zum Großabnehmer für Insektenpulver gepreßt. Denn die Zuwanderer bleiben keineswegs in Berlin C und Berlin N. Sie machen Geschäfte und "verbessern" sich. Eine der unverschämtesten Zeitungsanzeigen, die ich je gelesen, kam mir dieser Tage vor Augen:

"Ein Zimmer mit Küche, Grenadierstraße, gegen Zehn-Zimmer-Wohnung, Westen zu tauschen gesucht."

20. April 1922 (Donnerstag).


32

Zwischen 1 und 4 Uhr nachts - Sumpfbummel - Valuta-Nackttänzerinnen - "Mutti, soll ich?" - Käthe Dorsch als Madame Unverfroren - Judith und Holofernes - Internationale Werkzeugsammelwoche

Ich bekomme leider sehr viele Briefe.

Ich beantworte leider nur sehr wenige.

Meist schreibt man mir, es müsse ja ein Vergnügen sein, sich meinen Spaziergängen durch Berlin anzuschließen, und da man nächstens ein paar Tage nach Berlin reise, möchte ich doch Namen und Adresse angeben, dann könne man gemeinsam was unternehmen, und auf einen Taler und fünf Neugroschen käme es im übrigen nicht an. Solche Briefe lasse ich kiloweise einstampfen. Herrschaften, ich weiß schon: daheim wollt ihr von "Berlin bei Nacht" erzählen können, und ihr glaubt es mir nicht, daß ich - wie überhaupt 999 von 1000 Berlinern - nachts zu schlafen pflege, nachdem ich tags tüchtig gearbeitet habe. Nicht der Berliner ist der Bummler, sondern der Auswärtige oder, wie man südlich des Mains zu sagen pflegt, der Hergeloffene. Die Leute, die in St. Pauli das meiste Geld verjuxen, sind auch beileibe keine Hamburger, und die Damen, die in Garmisch in Breeches einherstolzieren, sind auch keine bayerischen Sennerinnen. Ich kann den Briefschreibern, die durchaus zwischen 1 und 4 Uhr nachts "Berlin kennenlernen" wollen, nur raten, es ohne mich, am besten in Begleitung ihrer eigenen Frau, zu versuchen.

Also Sie gehen spät abends in die Weiße Maus oder in den Schwarzen Kater oder in die Libelle oder in die Rakete oder in ein anderes der Hunderte von Kabaretts, machen eine tüchtige Zeche, lassen merken, daß Sie dicke Marie - nämlich eine wohlgefüllte Geldscheintasche - haben, brüllen dann um ein Uhr nachts:

"Was schon Schluß? Wo geht man jetzt denn hin?" und können daraufhin sicher sein, daß Sie fortan, mit Hilfe des Portiers und anderer Menschenfreunde, die Trinkgelder für keine Beleidigung halten, richtig verfrachtet werden. Zuerst kommen Sie vielleicht nur eine Stiege höher oder einen Hof weiter in ein Lokal, in dem bei zirpender Musik ein paar dürftige Ladenfräulein paarweise in ihrem besten Ausgehkleidchen tanzen, der Schaumwein für die glotzenden und sich im Grunde langweilenden Besucher das Doppelte des Tagespreises kostet und jedermann eine Mitgliedskarte des "Vereins Frohsinn" nebst Einladung zu dem Kränzchen just dieses Tages erhält. Man kommt sich wer weiß wie verwogen vor, daß man so von Vereins wegen der Polizei anscheinend ein Schnippchen schlägt, hat aber vom Verein Stumpfsinn bald genug, da es hier noch weniger orgienhaft zugeht als im Rauchklub "Blaue Wolke" am hellen Nachmittag in irgendeiner soliden Weißbierkneipe. Wer aber dann seine dicke Marie noch weiter entfetten will, der findet sicher so zwischen zwei und drei Uhr nachts vor dem Hause Droschken und Schlepper, die ihn weiter verfrachten und nun wirklich an die Stätten bringen, wo man sich den Kneifer aufsetzen muß, damit einem nichts entgeht, und wo für die Flasche Schaumwein, deren Kauf das Honorar bedeutet, das Vierfache gefordert wird.

Seit bald zwanzig Jahren - die Kriegsjahre, wo ich an der Front war und in Urlaubszeiten anderes zu tun hatte, davon abgerechnet - mache ich einmal jährlich einen Sumpfbummel durch Berlin, um den Pegel der großstädtischen Verlumpung festzustellen. Als Ehrendame nehme ich da meine Frau mit. Sicherheitshalber, verstehen Sie! Und weil sie mich überhaupt beruflich unterstützt, und weil vier Augen mehr sehen als zwei, und weil ich persönlich von der Hälfte des Schampus genug habe. Meine eigene Schwägerin, die zwar Ärztin, aber eine unbescholtene ältere Jungfrau ist, macht Stielaugen und sagt: "Wie kannst du bloß! Zu solchen Orgien!" Aber es ist wirklich nichts Orgiastisches dabei, soviel ich von Unverheirateten beiderlei Geschlechts auch danach gefragt werde, die es darunter nun man nicht gelten lassen - sondern im Grunde nur Beschämendes. Besonders jetzt, wo die Lebensnotwendigkeiten so teuer sind, gute seidene Strümpfe beispielsweise 800 Mark. Also ich überspringe als alter Berliner die Vorstufen des Kabaretts und des markierten Vereins und werde mitsamt meiner Frau von einem Schlepper an dem Portal einer Mietskaserne abgeliefert, wo gerade - das ist allnächtlich an Hunderten von immer wieder wechselnden Stellen der Fall - in einer Privatwohnung was los ist. Ein paar Morsezeichen mit der Knipslaterne. Das Portal geht auf. Aus der Finsternis zuckt ein Strahl auf und beleuchtet unsere Gesichter. Es ist gut. Der zweite Posten übergibt uns einem dritten. Auf dem Hof wird eine Tür aufgeschlossen, man geleitet uns drei Treppen empor. Nun sitzen wir in dem Speisezimmer der ziemlich ausgeräumten Wohnung. In der Mitte baumelt die Hängelampe über der Stelle, wo sonst wohl der große Eßtisch steht und wo nun getanzt werden soll, an den Wänden stehen verhängte Stücke - ich stoße mir den Ellenbogen an einer Singer-Nähmaschine ab - und Tischchen mit Stühlen, ein schwitzender Kellner gleitet einher und läßt Pfropfen knallen, zwei Musiker fiedeln leise und eindringlich, außer uns sitzen hier und im ehemaligen Salon noch einige Ehepaare, außer uns - lauter Ausländer.

Also da tanzt eine.

Das heißt: sie trollt und schlenkert sich nach dem Takt der Musik durch die beiden Stuben, hat von wirklichem Tanzen keine Ahnung. Sie läßt sich nur - sachlich, kühl, ein bißchen verekelt - von den Insassen hüben und drüben beäugen, während sie sich dreht. Im vorigen Jahr habe ich auf einer solchen Studienfahrt festgestellt, daß die Tänzerin nur mit - ein paar Haarnadeln bekleidet war. Diese mit überhaupt nichts mehr. Gelöstes Haar. Kein Lendenschurz. Platte widerliche Nacktheit; also nichts lüstern Verhülltes. Ein Däne, Typ Großkaufmann, der drüben mit zwei älteren Kopenhagener Damen der Gesellschaft sitzt, um die Zeit totzuschlagen, sieht zu, gänzlich ungereizt. Er wirft der Tänzerin ein paar Hundertmarkscheine hin, die für ihn ja nur wenige Kronen bedeuten. Sie kriecht - kriecht buchstäblich - an ihn heran wie ein Hund und küßt ihm die lässig über die Stuhllehne herabhängende Hand. Die Schamröte steigt uns ins Gesicht über diese deutsche Erniedrigung vor der fremden Valuta. Aber das schwarzhaarige Frauenzimmer scheint wenigstens keine gebürtige Deutsche zu sein; ihre Wiege hat wohl irgendwo in Galizien gestanden.

Dagegen links von uns steht an der Wand, ganz angekleidet, ein junges Ding mit silberblondem Haar, 15 - fünfzehn - Jahre alt, Stupsnase in dem ausdrucklosen Berliner Rangengesicht. Die tanze auch, sagt der Kellner, und viel besser. Wir fragen sie erschüttert, ob das wahr sei. Ja. Eigentlich habe sie heute schon genug. Sie müsse doch früh um neun im Geschäft sein. Was sie denn sei? "Ixpedentin!" "Ach so - Expedientin?" Ja. Sie habe gedacht, da lerne man auch Schreibmaschine und Buchführung, aber sie sei bloß Laufmädel. Tanzen habe sie drei Jahre lang bei einer richtigen Ballettmeisterin gelernt. Aber nun sei Vater tot und die Tanzstunde zu teuer. Ob sie noch einmal heute hier auftrete, fragen wir. Sie sieht uns ungewiß an, wahrscheinlich auf "dicke Marie" hin, und sagt dann:

"Aber nur mit Badehose, nich ganz ohne!"

Bitte sehr, wie sie wolle. Und nun kommt das Überraschende. Plötzlich quäkt ihr Stimmchen durch den Raum:

"Mutti, soll ich?"

Wir fahren herum. Wahrhaftig, da hinten rechts sitzt, ganz ehrpusselig, Frau Marthe. Sie holt sich das Kind heran, entkleidet es vor aller Augen bis aufs Hemd, zieht ihm darunter die schlotternde Badehose an, hebt das Hemd dann ab und läßt das magere Figürchen los. Das Silberblond wirbelt durchs Zimmer, die Kleine wiegt sich kunstgerecht nach der Musik, sie hat wirklich etwas Schulung. Die Mutter zählt derweil die Trinkgelder. "Ach, wie schön, 375 Mark, das gibt Strümpfe und Handschuhe für das Mädel!" Ich kann mir kaum ein Menschenvieh vorstellen, das an dieser Vorstellung sich ergötzte. Man ist ernüchtert, ist nur noch Soziologe. Das Weinen ist uns näher als alles andere.

So, Herrschaften, wenn Ihr nun noch Lust habt, Berliner "Orgien" euch anzusehen, dann kommt her, und wenn Ihr unsereins um solche beruflichen Feststellungen beneidet, könnt Ihr mir leid tun, und wenn Euch der Jammer über die deutsche Verlumpung nicht erschüttert, dann verdient Ihr nicht, in der ehrenfesten alten Zeit gelebt zu haben.

Nein, wir wollen lieber, wenn Besuch nach Berlin kommt, ins Theater gehen. Auch das ist freilich verlumpt genug, nährt sich noch immer von Pariser Abfall, aber gelegentlich kommt von drüben auch ein "anständiges" Stück. Im Lessingtheater wird jetzt Sardous alter Reißer "Madame Sans-Gêne" aufgeführt, nicht etwa aus künstlerischer Freude an diesem Napoleon-Volksstück, sondern nur deshalb, weil man eine ganz wundervolle "Madame Unverfroren" in Käthe Dorsch besitzt. Die Berliner Theater können nur leben, sobald sie einen Liebling des Publikums haben, das ist die ganze Erklärung des heutigen Starsystems. Es ist gar nicht einmal ein wirklich großer Künstler, eine wirklich große Künstlerin nötig. Nur halt ein "lieber" Mensch, von dem jeder entzückt ist und von dem jeder wissen will, wie sein Hündchen heißt, wie sein Schneider, wie seine Manikure. Noch vor wenigen Jahren war Käthe Dorsch kaum bekannt, nur dem einen oder anderen als eben "sehr lieb" aufgefallen, der dann wohl am Ausgang des Komödienhauses am Schiffbauerdamm auf sie wartete, wie solche Talententdeckungen überhaupt angefangen werden. Inzwischen ist Käthe Dorsch an das vornehmere Lessingtheater übergesiedelt, hat als "Flamme" ihren ersten großen Erfolg, in den "Müttern" von Hirschfeld ihre erste allgemeine Anerkennung und als Gretchen im "Faust" ihre erste schwere Belastungsprobe gefunden. Sie hat Harry Liedke geheiratet. Er filmt, sie spielt, beide sind Schwerverdiener, beide Liebling des Publikums. Ihr keckes Näschen und ihre Drolerie hat sie behalten, ist dazu inzwischen viel molliger geworden, kurz, "Madame Sans-Gêne" ist eine großartige Rolle für sie. Ich sehe dieses Wäschermädel, das es dann zur Herzogin bringt, darob aber ihr goldenes Herz und das Geradeherausreden nicht vergißt, wohl schon zum sechsten Male. Auf der französischen Bühne von der Réjane, die eine funkelnde kleine Katze war. Auf der englischen von Ellen Terry, die trotz des gut gespielten Temperaments mir zu alt und zu steifleinen erschien. Auf der deutschen unter anderen von Jenny Groß, die viele Brillanten zur Schau trug und so herzhaft zu küssen verstand, daß im Parkett die ältesten Greise lebendig wurden - den sogenannten Theaterkuß hielt sie für schäbigen Betrug an den Zuschauern. Aber so nett in einem Atem zu jubeln und zu schluchzen, jubelnd zu schluchzen, schluchzend zu jubeln wie Käthe Dorsch als "Madame Sans-Gêne", wenn sie ihrem Manne, dem ehemaligen Sergeanten und nunmehrigen Marschall Lefèbvre, an den Hals fliegt, das hat doch keine von den dreien fertiggekriegt. Jedenfalls die schwärzesten Kritiker schwärmen leise ihre Blondheit an. Es ist nicht das schwere Weizengelb der Haarkrone Lucie Höflichs, es ist ein ganz gewöhnliches Berliner Blond, aber schon das ist allmählich eine Seltenheit auf unseren Bühnen geworden. Käthe Dorsch hat auch die künstlerische Reife von Lucie Höflich noch nicht erreicht. Und doch: an ihren lachenden Augen wird man gesund. So ist denn kein Abend verloren, an dem man sie sieht, ob es nun auf den weltbedeutenden Brettern ist oder daheim im Hause Liedke. Über die Zeit, wo man den Theaterlieblingen die Pferde ausspannte, sind wir hinaus, denn heute fahren sie im Auto. Sonst könnte Käthe Dorsch auch das erleben.

Im großen Schauspielhaus Reinhardts fehlt die Intimität der Guckkastenbühnen. Im Großen Schauspielhaus kann man vielleicht berühmt, bestimmt aber nicht beliebt werden; außerdem ruiniert man sich da vor dem Vierthalbtausend die Stimme. Zu dem klassischen Massentheater gehört eben die - Verzeihung - Maulöffnung der Maske als Megaphon. Deshalb hat ja Agnes Straub, unsere gegenwärtig größte Menschendarstellerin, dem Reinhardtzirkus Valet gesagt. Statt ihrer hat man sich aus Hamburg Mea Steuermann für Hebbels "Judith" als Heroine verschrieben. Sie hat edlen, großen Ton, sie füllt als Heldin den mächtigen Raum, aber wo sie als Weib in Holofernes Zelt unter der Berührung des Welteroberers erschauert, wo sie flüstern, stöhnen, keuchen muß, da wird sie von der Riesenhalle verschluckt. Die Bühne selbst im Großen Schauspielhaus ist nun von der Arena fast ganz in den Guckkasten verlegt, Reinhardts ursprüngliche Idee also gescheitert; geblieben ist nur allabendlich das Plus von zweitausend verkauften Eintrittskarten mehr. Das Dichterwort aber versagt. Es wirkt nur noch, wie im Film, das Bild und der Vorgang. Wie Holofernes da, unnahbar auf hoch emporgewuchtetem Thron, in gleißender goldener Starrheit sitzt, ein furchtbar prächtiger Götze, das geht an die Nerven. Der Scheinwerfer tut ein übriges dazu. Wenn die Regisseure nicht, was schon in den "Räubern" auffiel, so symmetrisch die Massenszenen stilisierten, sondern das Volk von Bethulien mehr losließen, wäre man versucht, gleich eine Filmaufnahme zu machen.

An einer anderen Stelle würde Hebbels gewaltige Sprache so hinreißend wirken wie die Kleists, hier aber sieht man nur das Bild. Wie ein gepeinigtes Volk seine Retterin, seine Rächerin findet: wie sollte das heute in den Herzen nicht nachklingen? Die hungernden und verschmachtenden Bethulier stehen im Düster gegen die Stadtmauer. Als das Tor geöffnet wird, um Judith hinauszulassen, die den schweren Gang zu Holofernes tun will, flammt orangefarben der Himmel herein. Bilder, prachtvolle Bilder, aber nichts als Bilder. Ist diese Auflösung des gedankenmächtigen Wortes in unserer gedankenlosen Zeit am Ende gar Erfordernis? Es ist, als wolle das Volk von Berlin nicht zur Besinnung darüber kommen, daß auch wir in die Hand des Holofernes gegeben sind. Wir raffen und rauben, und das Schicksal der Nation wird vergessen. Wo jemand daran erinnert, wie kürzlich in der Versammlung des Jugendbundes "Bismarck", da schlägt kommunistische Jugend alles kurz und klein. Ihr liegt ganz anderes am Herzen. Ihr Reichskomitee der sogenannten Arbeiterhilfe veröffentlicht unter dem Motto, Rußland hungere nach Werkzeug, jetzt einen Aufruf zur Beteiligung an einer vom 1. bis 15. Mai stattfindenden internationalen Werkzeugsammelwoche, in dem es heißt:

"Bei euch liegt mancher Hammer, manches Beil, mancher Meißel, sonstiges Werkzeug und Nägel unbenutzt im Winkel herum! Sucht es heraus und bringt es zur Sammelstelle!"

Wo liegt das alles herum? Daheim beim Arbeiter? Sicherlich nicht. Sondern in der Werkstatt, in der Fabrik. Noch nie ist so frech öffentlich zum Diebstahl aufgefordert worden. Aber man riskiert ja nicht viel. Die Kriminalität hat sich im Berlin der Republik so vermehrt, daß man für die ertappten Einbrecher und Diebe, wenn sie nicht ganz hervorragend schwere Jungen sind, nicht einmal Platz in der viele hundert Zellen umfassenden Stadtvogtei hat. Man muß sie also, so unglaublich das auch klingen mag, nach der Personalfeststellung - "vorläufig" wieder laufen lassen. Im Jahre 1913 hatten wir rund 600 Einbruchsdiebstähle in Berlin. Heute - 5500 in einem Jahre.
27. April 1922 (Donnerstag).


33

Maifeier einst und jetzt - Das Fest der Schutzpolizei - Ein Wunder - Der 2. und 3. Mai - Radek und Bucharin agitieren ungestört - Die gehängte Minna - Bankbauten - Die ehemalige Hopfenblüte

"De-her Mai ist - gekommen . . ."

Wenn ich dem Jungen drüben am Fenster bloß den Mund stopfen könnte! Er singt immer wieder, daß die Bäume ausschlagen. In unserer Straße ist kein Baum. Ich glaube, vor der neuen Ära war einer da. Damals legten auch die Hühner viel frischere Eier, sagt unsere Gemüsefrau und schließt, wie gewöhnlich, ihren Morgenspeech an die versammelten Dienstmädchen mit den Worten: "Willem muß wieder zurück!" Die gute Seele. Sie täuscht sich natürlich, wie auch viele andere, über die kausalen Zusammenhänge. Die Rückkehr des Monarchen würde uns nicht gleich ein goldenes Zeitalter verschaffen. Aber was die gute Frau von der - Hühnerleiter heutzutage erzählt, das stimmt schon, und der Chorus derer, die ihr zustimmen, wird täglich größer.

"De-her Mai ist - gekommen . . ."

Verdammter Bengel, laß mich mit dem Mai zufrieden! Wenn ich ihn vor den Stadtmauern Rothenburgs erlebte oder an der Außenalster in Hamburg oder auf dem Blumenmarkt in Bozen, dann würde ich freilich besänftigt sein. Oder gar in alter Jugendseligkeit in Heidelberg. Ach ja. Man hat bei Menzer in Neckargemünd auf der Terrasse Mavrodaphne und Kalliste und andere griechische Weine zu märchenhaft billigen Preisen geschlürft, gleitet dann im Boot bei goldigem Abendrot flußabwärts, und wenn man um die letzte Ecke steuert, erstrahlt das Heidelberger Schloß in feuriger Lohe. Wissen unsere Großstädter überhaupt noch, was so eine richtige Maifeier der guten alten Zeit bedeutet? Er mußte Feierabend sein; tagsüber wurde wie immer tüchtig geschafft. Dann aber ergriff linde Fröhlichkeit jedermanns Herz, alle Menschen waren einem ganz besonders sympathisch, und bis in die laue Nacht hinein freuten sich Bruder Studio und Bruder Steinklopfer, freuten sich Dienstmädchen und Professor und Lausbub und Geheimrätin und Leutnant und Briefträger des neuen Frühlings über dem lieben Deutschen Reiche.

Der Asphalt-Mai ist leider ganz anders. Da wird zunächst, ob man will oder nicht, Arbeitsruhe befohlen. Diese Maifeier ist Dienst, da muß man demonstrieren, sonst holt einen der Teufel und der Terror der Genossen. Und so zieht man denn betrübt daher . . .

Nur einige Beobachtungen abseits der Reporter über den 1. Mai in Berlin seien hier vermerkt. Zum erstenmal hat in diesem Jahre auch - die Berliner Schutzmannschaft eine Maifeier versucht. Die Radikalsten unter den Grünen hatten vom Polizeipräsidenten, dem Genossen Richter, eigens die Erlaubnis dazu bekommen. Auf dem Hofe des "Alex" wurde eine Reihe weißgedeckter Tische aufgestellt, wo man schmausen wollte, auch eine Rednertribüne war dabei, und die Schutzmannkapelle sollte spielen. Rundum an den Fenstern aber standen, erbittert lachend über diese Narretei, die weniger Radikalen und hatten allerlei ungefährliche, aber zum Teil übel duftende Wurfgeschosse bei der Hand. Da erbarmte sich der Himmel und verhütete die interne Schlacht der Grünen: es tröpfelte, es troff, es goß, und uner homerischem Gelächter mußten die Feierwütigen schnell ihre Tische wegräumen.

Es goß nicht minder im Lustgarten, wo infolge Aufgebots auch aller "zielbewußten" - Kinder bis zu sechs Jahren herunter eine Riesenversammlung zustande gekommen war, so daß man die "Feier" ungeheuer beeilte und bereits damit fertig war, als die letzten Demonstrationszüge auf den Platz erst einschwenkten. Nicht ein einziges fröhliches Gesicht habe ich unter den Tausenden, die an mir vorüberdefilierten, gesehen, wohl aber jammernde kleine Mädchen, die den Ruin ihrer Lackschuhe beklagten und denen der rote Regensaft aus den Stoffblumen im Haar das Mullkleid bekleckste. Noch am nächsten Tage gab es Kinder mit einer Art Feuermal im Gesicht. Die Farbe hatte nicht weichen wollen. Vielleicht vier Fünftel der Demonstrierenden wären sicher zu Hause geblieben, wenn es nicht eben befohlener Dienst gewesen wäre und man bei Nichterscheinen allerlei Strafe hätte gewärtigen müssen. Die Maifeier ist als eine Kundgebung zur Erzwingung des Achtstundentages ins Leben gerufen worden, ist also heute, wo der Achtstundentag bei uns längst Gesetz geworden ist, ein Blödsinn. Tut nichts - was befohlen wird, wird gemacht; auch wenn im Grunde alles über den Blödsinn schimpft.

Aber das Publikum steht nicht mehr wie erstarrt, sozusagen mit den Händen an der Hosennaht da. Man weiß ja, wie entrüstet die Sozialdemokratie früher tat, wenn ein marschierendes Bataillon "den Verkehr hemmte", und da will es einem nun nicht in den Sinn, daß man einen kilometerlangen Zug von halbwüchsigen Gören mit roten Fähnchen und Blumen und Reifen ehrfürchtig abwarten muß. Ein Ordner schnauzt einen etwa sechzigjährigen Herrn, der eilig hindurch will, heftig an: "Sie da, hier geht's nicht durch, scheren Sie sich zurück!" Und nun geschieht das Wunder, das noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen wäre: der Herr, dem die Zornesader schwillt, ruft: "Ihr Ochsen mit eurer Weltrevolution!", haut dem Ordner zwei gewaltige Backpfeifen herunter, daß er zurücktaumelt, und geht durch die scheu und still zurückweichenden Demonstranten, wie die Kinder Israel dereinst durch das Rote Meer. Ein Wunder. Alles ist still. Und kein Pharao setzt mit Roß und Reisigen hinterdrein.

Das Publikum - bald wird man sagen können: die Mehrheit des ganzen Volkes - hat die überflüssigen Demonstrationen satt. Nur der Polizeipräsident, Genosse Richter, hat unbegrenzte Hochachtung vor Demonstranten. Am 2. Mai ging es vor dem Berliner Rathaus los. Die Demonstranten fühlten sich da "provoziert", weil sie am Halse eines Polizeioffiziers, des Hauptmanns v. Bernuth, den - Pour le Mérite entdeckten. Bernuth, einer der tüchtigsten und ruhigsten Beamten, hat der Menge nichts getan. Einerlei. Er hat provoziert. Er muß weg. Und schon stellt Polizeipräsident Richter ihn zur Disposition. Da der Appetit beim Essen kommt, verkünden nun die "Funktionäre" der Berliner städtischen Arbeiterschaft, die Erklärungen Richters seien ungenügend, und beschließen am 3. Mai einen vierundzwanzigstündigen Streik. Nun haben wir ihn. Die Straßenbahn steht still, das elektrische Licht versagt. Kerzen heraus, Karbidlampen heraus. Aber auch viele werkstätten stehen still, da der Strom fehlt. Diese allerneueste Demonstration kostet der Arbeiterschaft also viele Millionen an Lohn. Tut nichts. "Die Masse muß in Bewegung erhalten bleioben!" Die Berliner Sowjetrussen haben es befohlen. Der deutsche Arbeiter aber versteht zu gehorchen. Radek und Bucharin setzen trotz der Verpflichtung der Sowjetregierung, sich nicht in unsere inneren Verhältnisse einzumischen, ihre kommunistische Propaganda in regster Form weiter fort. So hat Radek am 28. April in der Brauerei Friedrichshain eine Rede gehalten, in der er die Kommunisten zur Herstellung der reinen Arbeiterregierung aufforderte. In letzter Zeit sind mehrfach Rundschreiben durch alle kommunistischen Stellen gegangen, die, wenn auch pseudonym unterzeichnet, mit Sicherheit von Radek stammen und eine Aufhetzung der kommunistischen Partei bezwecken, die zwar noch keine 100 000 Anhänger in ganz Deutschland zählt, aber auf das Mitfortreißen der Massen rechnet. Die Vorgänge vor dem Rathaus am 2. Mai sind auch mit Sicherheit auf die Aufhetzung Radeks zurückzuführen. Unsere Regierung hätte alle Veranlassung, dafür zu sorgen, daß die Sowjetregierung ihrerseits ihre Verpflichtung innehält; aber darauf kann man lange warten - in Genua befrühstückt man einander, und in Berlin haben wir einen sehr braven Polizeipräsidenten.

Am schlechtesten sind auf ihn die Hausfrauen zu sprechen, die eine große Familie nicht ohne Dienstmädchen betreuen können. Man schämt sich freilich fast, wenn man überhaupt eines hat. Immerhin: manche Frau hilft doch geistig ihrem Mann im Berufe, dient ihm als Sekretärin oder gibt den Kindern Nachhilfestunde, oder betätigt sich sonstwie derart, daß sie den Hausstand nicht allein besorgen kann. Selbst kommunistische Abgeordnete leisten sich einen dienstbaren Geist, also kann das doch kein Protzen- und Drohnentum sein. Hat man aber ein Mädchen, dann gnade einem Gott, denn bei der Polizei gibt es keine Hilfe mehr. Rückt die Küchenfee aus, so kannst du zum Schlichtungsausschuß laufen. Zertöppert sie dir dein ganzes Porzellan, so spiele den Leutseligen. Drohst du ihr aus sonstigen Gründen mit einem schlechten Zeugnis, so streckt sie dir höhnisch die Zunge aus; denn die polizeilich gestempelten Dienstbücher sind wie das ganze Gesinderecht ja seit der Revolution abgeschafft. Trotzdem werden sie gehandelt, wie in Rußland der Zarenrubel. Es ist doch was dran. Es gibt organisierte Diebszünfte in Berlin, die bis zu 2000 Mark für ein Dienstbuch bezahlen, um damit ein Mitglied in wohlhabende Häuser zu schmuggeln. Seit Berlin steht, ist hier noch nicht so viel gestohlen worden, wie heute. Geht eine Donna nur mit einer Garnitur Brautwäsche und sonstigen "Kleinigkeiten" auf und davon,so soll man die Polizei mit einer Anzeige nicht erst behelligen, man wird doch nur ausgelacht. Weil es aber so ist, werden auch die ehedem Besten vom Diebsgeist angesteckt. Mit welch innigem Behagen habe ich früher gelegentlich von Pastors Minna erzählt, wie sie, wenn sie "als Schokei" auf den Maskenball zum Verein der Berliner Laternenanzünder ging, sich zuerst bei Pastors in ihrer ganzen prallen Schönheit bewundern ließ. Und nun auch sie - es ist zum Herzbrechen. Also sie hat geklaut. Geld und anderes. Selbstverständlich auch Wäsche. Zuletzt, dreist geworden, auf einmal mehrere Mäntel und Pelzjacken, die im Korridor abgelegt waren,während die Besitzer im Zimmer bei Pastors saßen. Das wurde nun aber wirklich geklappt und gemeldet, die Polizei nahm den Tatbestand auf, ohne daß freilich ein Verfahren gegen das Mädchen eröffnet wurde, und Minna schrieb nun in ihrem Kämmerlein folgenden Brief an die Ihrigen, den ich hier buchstabengetreu wiedergebe:

"Meine lieben Eltern. Ich kann nicht mehr leben, und euch nicht wieder sehen, denn wie ihr jetz hören mus, was ich alles verbrochen habe, so schlägst du mich lieber Vater tod, oder schmeißt mir raus, das du mir nicht wieder sehen willst, was habe ich alles in letzter Zeit verbrochen, und weiß nicht wie meine Hand dazu kam, soll ja ohne Strafe davon kommen, der Polizeibeamte hab ich sehr viel zu danken, aber der Scham vor euch also ist mir ein Strick um Halse lieber, läßt mir begraben wie ein Hund, mehr bin ich nicht wert, Was hab ich für liebe Eltern und Geschwister, ich bin so ein Räuber, das ich mit Steinen geworfen werden muß, Gott las euch alle glücklich leben, und mir in die Hölle werfen, also lebt wohl eure gehängte Minna."

Dieser Brief, offenbar für das gute Herz des Pastors bestimmt, blieb in dem Kämmerlein liegen, ist nie abgeschickt worden. Minna selbst, die natürlich entlassen wurde, wirkt jetzt anderswo. Erhängt hat sie sich nicht. Das tun heute nur noch allenfalls die Bestohlenen, nicht mehr die Diebe, und gehenkt werden von diesen weder die großen noch die kleinen. Man läßt sie einfach alle laufen.

Im übrigen blüht nicht nur das Geschäft der offiziellen und inoffiziellen Langfinger. Auch sonst rollt und flattert Geld. Die Banken haben auch in der gegenwärtig flauen Zeit immer noch so viele Aufträge, daß sie ihr Personal vermehren und ihre Räume erweitern müssen. Eine Berliner Großbank hat augenblicklich nicht weniger als 70 halbfertige Bauten unter Aufsicht ihrer angestellten Architekten. Meist handelt es sich dabei um Aufstockungen. Ein vierter Stock wird auf ein dreistöckiges Haus gesetzt und darüber noch ein Dachgeschoß mit vielen kleinen Bürozimmern. Außer den Banken baut fast niemand - abgesehen natürlich von denen, die sich "gesundgemacht" haben und ihr Geld, wenn es durchaus anderswie nicht mehr unterzubringen ist, dazu benutzen, sich ein Landhaus im Vorort errichten zu lassen. Man hat ja sein Auto. Und das läuft doch über Geschäftsunkostenkonto.

Die Banken aber, die außer den eigenen alten Häusern imme noch weitere brauchen, machen selbst vor sozusagen historischen Berliner Stätten nicht kehrt. So ist die "Hopfenblüte", das alte Rieprichsche Bierlokal Unter den Linden, nun schon lange in Bankbesitz übergegangen und wird vorläufig als Kasino für die Angestellten bewirtschaftet. Wer jemals in Berlin studiert hat, der kennt natürlich die Hopfenblüte. Dort saßen junge und alte Akademiker, Offiziere in Zivil und Handwerksmeister - Kleinbürger aus dem Gefolge der Ahlwardt und Pückler zumeist - bunt durcheinander in den getäfelten Riesenräumen bei gutem Bier und ließen sich vergnügt, nicht immer stillvergnügt, von 36 Kellnerinnen bedienen, die - darauf hielt der wackere Rieprich - bei aller Appetitlichkeit doch über das kanonische Alter schon hinaus sein mußten, damit das Lokal so anständig bleibe, wie es die Bierstuben in München sind, und nicht auf die Stufe der Animierkneipen herabsinke. Das sogenannte lateinische Viertel, nördlich der Linden, war nahe genug, an Besuchern fehlte es nie, und wenn auch mal ein derber Scherz fiel, ein herzhafter Klaps auf Wohlgepolstertes traf, eine kosende Hand sich um eine Hüfte legte, so waren die 36 doch allesamt Manns genug, sich unerwünschter Zudringlichkeiten ebenso zu erwehren, wie ihre sonst unvergleichlichen Münchener Kolleginnen. Das märkische Mundwerk versagte nicht. Ein langer Deutschamerikaner saß kurz vor dem Kriege einmal mit mir in der Hopfenblüte und erlaubte sich, durch die vierte Maß befeuert, eine anzügliche Bemerkung zu einer der Heben. Als sie dann aber hoheitsvoll nur mit "Sie -, Sie fettgemachter Zwirnsfaden, Sie!" ihn anschmetterte, blieb ihm der Atem stecken.

Um ein halb zwei Uhr nachts mußten die Mädels abgerechnet haben. Dann stand schon eine kleine Schar Getreuer draußen am Nebenausgang in der kleinen Seitenstraße. "Man stand Flanellwache", hieß das. Heute ist es abends da ganz still. Auch vorn in dem großen maurischen Hof mit seinen bunten Fayencewänden. Nur mittags ein Gewimmel wie ehedem. Aber da wird von Kursen und Devisen und täglichem Geld und Bezugsrechten gesprochen, nicht mehr von Politik und Studium und Liebe. Im lateinischen Viertel sitzen heute Ostjuden. Und ein Lokal wie die Hopfenblüte ist heute auch anderswo nicht mehr möglich, weil die alte Biergemütlichkeit dahin ist.
4. Mai 1922 (Donnerstag).



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Glossen 34 - 36

© Karlheinz Everts