"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 25 - 27
9. bis 23. März 1922


25

Verschiedene Nationalhymnen - Großvaters Stulle - Wandervogelwoche - Keine Berliner Studentenspeisung mehr - Reklameausrufer und Schlepper - Hermes und die anderen - Ledebour im Lichterfelder Kreiskrankenhaus

Zu einer richtigen wirklichen Nationalhymne hatten wir es, als das Kaiserreich zerbarst, immer noch nicht gebracht. Und das in dem Lande, in dem seit Simon Dach die wunderherrlichsten Volkslieder und seit Johann Sebastian Bach die herzgewaltigen Melodien nur so dahinströmten! Es ist eigentlich eine Schande. Wenn wir Deutschland über alles, über alles in der Welt priesen, so taten wir es nach den Klängen "Gott erhalte Franz den Kaiser". Und wenn wir das im Grunde ganz undeutsche, dem Lateinischen entlehnte "Heil Dir" - Salve Imperator - dem Herrscher des Vaterlandes zuriefen, so nickten die Engländer uns gönnerhaft zu. Denn das ist ihre Melodie des "God save the Queen" oder, wie die Berliner während des Burenkrieges sangen: "Gott seef' die Kwien mit Schmierseef' und Terpentin!" So recht ins Gemüt ist uns, der Volksgesamtheit, weder die eine noch die andere Weise gedrungen. Das Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden ist viel inniger, die Wacht am Rhein viel hinreißender, als Kaiserhymne und Deutschlandlied es je waren. Das Ausland sieht in diesen Dingen klarer. Dort gilt der "Ruf wie Donnerhall" als der richtige wirkliche Sturmgesang der Deutschen, deutsch in Noten, deutsch im Text. So sollte es auch sein. Es gibt nichts geschichtlich Deutscheres als diese Wacht am Rhein, die wir alle Jahrhunderte hindurch, seit den ersten großen Kämpfen mit den eben erst zum Volke gewordenen Franzosen im Jahre 876 nach Christo haben halten müssen. Immer in der Verteidigung, zurückgedrängt von Maas und Schelde, die ehedem rein deutsch waren, betrogen und beraubt um rein deutsche Städte, wie Toul und Verdun, später Metz und Straßburg. Die Marseillaise. der Sambre-et-Meuse-Marsch, auch das "Rule the waves" der Briten sind aufpeitschende Trutzlieder. Unsere Rheinwacht aber - und gerade darum ist sie so ganz deustch - ist nicht welterobernd, sondern stemmt nur gegen feindlichen Einbruch die versammelte Kraft.

Und nun wieder die Schande: in der Arbeiterschaft deutscher Großstädte ist dieses Lied heute ganz verpönt, von der neuen Schulobrigkeit wird es auch den Kindern überall verboten, aber - im polnischen Korridor singen es die ehedem preußischen Kaschuben! Singen es sogar, wenn sie polnische Einquartierung haben, diesen polnischen "Brüdern" zum Trotz. Auf dem Asphalt gedeihen derweil bei uns die Gassenhauer. Berlin hat jedes Jahr eine andere Nationalhymne. Die von 1921 hieß:

"Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht?"

Und die von 1922, noch blödsinniger, lautet:

"Wer hat dem Großpapa
Aufs Brot statt der Butter Lanolin geschmiert?"

Unser Jungvolk, soweit es tief innerlich noch deutsch empfindet, wendet sich freilich von diesem Geplärre ab. Da strömen die alten reichen Borne. In Berlin-Wilmersdorf gab es dieser Tage einen - Landsknechtsabend. Man sang die Weisen aus der Zeit unserer fahrenden Gesellen und großen Schlagetote. Man las aus dem "Wallenstein" von Walter Flex vor. Man ließ längst vergessene urdeutsche Schattenspiele über die Leinwand huschen. Das war schön. Das Erträgnis allerdings nur gering: rund 400 Mark Überschuß zugunsten der Jugendherbergen. Die ganze Woche galt diesem Werk, ganz Berlin wimmelte von märkischen Sandalenbeinen, dickgestopften Rucksäcken, zirpenden Klampfen.

Der Laie kann nicht immer entscheiden, ob die Wandervögel "eingetragen" sind oder nicht, ob sie mit oder ohne Ibykus-Kranich am Busen herumlaufen. Was er aber jetzt während der Jugendherbergswoche mit freudiger Genugtuung feststellt, ist der große äußere Unterschied im Bilde der Wandervögel, je nach dem, ob das Thermometer 28 oder, wie augenblicklich, nur 8 Grad Wärme anzeigt. Die Mädels haben so gesittete Zöpfe, sehen so sauber aus, tragen so wohltuend ganze Strümpfe. Man sieht keine schweißverklebt hängenden Haarsträhnen und keine zerkratzten Mückenstiche an kahlen, schmutzigen Beinen. Und an den Buben fällt einem nur auf, daß sie zum Teil über die holde Jugendzeit längst hinaus sind, mitunter sogar das schwarzweiße Bändchen im Knopfloch tragen und ständig ruckweise den Kopf in den Nacken werfen. So wie der alte Grieche oder der heutige Anatolier, wenn er "nein!" sagt, was dort nicht durch Kopfschütteln, sondern Kopfbäumen ausgedrückt wird. Unsere Wandervögel aber wollen damit lediglich die rebellischen langen Haare nach hinten werfen, wenn sie immer wieder in die Stirn fallen. Diese Modeverächter huldigen selber einer Mode, noch dazu einer ganz unpraktischen, die sie zudem mit den Modegecken der Tauentzienstraße teilen, nur daß diese sich die Haare beim Friseur glatt anlegen lassen.

Ob die neue Haartracht, in ihrem Widerspruch gegen das militärisch-Kurze, den Pazifismus fördern soll? Er wird in der Jugendbewegung auf andere Art sowieso mit ungeheuren Geldmitteln gefördert, die der neudeutsch-republikanischen Propaganda ja reichlich zur Verfügung stehen. Die Hamburger Zeitschrift "Junge Menschen" ist ein solches Organ. Da verkleidet sich der rote Mephisto gemütvoll altdeutsch, bringt schöne Bilder von Schwind, schöne altdeutsche Geschichten, aber immer wieder auch Aufsätze in sozialdemokratisch-pazifistisch-kommunistischem Sinne. Das ist schlimm in einer gärenden Zeit. Die wirkliche Jugend "merkt den Teufel nie und wenn er sie beim Kragen hätte". Sie fällt auf den angeblichen Idealismus, auf den Kampf gegen Altes und Erstorbenes immer wieder herein, auch wenn er in Wahrheit Materialismus ist, Kampf gegen jede Wiedergeburt im Sinne der Jugend von 1813. Schon finden sich als Ehrenpräsidenten Leute, die niemals jungnational waren, immer nur die ihnen Anvertrauten in den Klassenkampfpferch hineinführten. Auch an der Spitze der Berliner Jugendherbergswoche steht der sozialdemokratische Stadtschulrat Paulsen. Die praktische Arbeit, die Schaffung der ersten Berliner 70 Herbergsbetten, ist dabei gar nicht sein Verdienst. Das sind freie Gaben.

Die Stadt Berlin ist filzig geworden, weil sie sparsam sein soll; sie wirft immer noch ungeheure Summen für Arbeiterräte hinaus und für sonstige überflüssige Leute in Sinekuren, aber die große Studentenspeisung von täglich rund 2000 armen Berliner Musensöhnen, oft deren einzige Tagesmahlzeit, geht am 1. April ein, weil Berlin den Zuschuß von annähernd 2 Mark für jedes Mittagessen nicht mehr zahlen will - eine Lappalie von, die Ferien abgerechnet, noch nicht ganz 12 Millionen Mark jährlich. Da kostet ja schon der Betrieb der zahlreichen Dienstautos für die roten Stadträte und Stadträtinnen im Jahre erheblich mehr.

Glücklich der Student, der noch ein Elternhaus hat, das in ein er Universitätsstadt steht. Da hat er doch seine Bleibe und sein Essen, und wenn es knapp wird, kann er sich durch Nebenverdienst helfen. Aber im Hauptverdienst sich allein durchzubringen in einer fremden Stadt, ohne helfende Verwandte, ist für unsere jungen Leute heutzutage ein Ding der Unmöglichkeit. Im alten sogenannten lateinischen Quartier, Gegend Artilleriestraße, steht allabendlich ein Student als Reklameausrufer. Drei Stunden lang schnarrt er unermüdlich die Adresse eines Lokals in der Nebenstraße herunter und rollt die Konsonanten so, daß lachend die eine oder andere Bummelgesellschaft tatsächlich den Weg nach der empfohlenen Kneipe einschlägt. Dafür darf sich der junge Mann einmal täglich dort satt essen. Das ist noch ein sehr anständiger Beruf. Aber auch unter den Schleppern, die nächtlicherweile irgendeine üble Stätte empfehlen, befinden sich der Philologe, der des Rechtes oder der Medizin Beflissene. Einen traf ich im Westen in der Joachimsthaler Straße, wo nachts so um 3 oder 4 Uhr Zuhälter und Elegants, nicht voneinander zu unterscheiden, durcheinanderfluten, wie er von der Menschheit ganzem Jammer gepackt seine Verzweiflung mit Galgenhumor hinausschrie. Er aß eine Schrippe mit Kaiser-Jagd-Wurst - "Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Wurst", sagt der Berliner - und sang in den Kaupausen mit hellem Tenor: "Bin ein fahrender Schüler, ein wüster Gesell - was küßt mich die Dirne so traut?" Der hat sicher auch irgendwo in der Kleinstadt eine sorgende Mutter, die nicht ahnt, was Berlin ist, das Berlin nach 1918, und die getröstet ist, weil ihr Junge "als Reklamechef für ein großes Unternehmen" sich den Lebensunterhalt verdient. Um zu werden, was der Vater war und wie er war: ein hochgebildeter Mann, ein pflichttreuer Beamter, ein angesehener Staatsbürger.

Die Mutter darf guten Mutes sein. Wer sich so durchringt, der wird wetterfest. Auch wenn er Scheffelsche Lieder vom Rhein und vom Wein nicht singen mag, weil ihm selber der grüngoldene Römer nie in den Händen blinkt, wird er sich in der "unwürdigen" Gelegenheitsarbeit der Großstadt sein fröhliches Jungenherz bewahren. Man braucht heute nicht mehr nach Newyork, um Tellerwäscher zu werden. Wir selber sind schon ganz amerikanisch geworden. Auch darin, daß der politische Schieber, der "Boß", bei uns die größte Rolle spielt. An jenem Studenten fahren und torkeln nicht nur Ausländer vorüber, sondern auch deutsche Novembergrößen. Von dem kommunistischen Abgeordneten Reich, dem Vorsitzenden des Reichsbundes der Vorbestraften, wird gerade eben in der Presse erzählt, wie er als Organisator "polizeisicherer" nächtlicher Orgien auftritt. Und die rote Linke wiederum trieft von sittlicher Entrüstung, weil ein Koalitionsgenosse aus der Zentrumspartei, der Ernährungsminister Dr. Hermes, im vorigen Frühling auffällig billig 110 Flaschen Wein vom Trierer Winzerverein bezogen habe, zu 3 Mark statt etwa 45 Mark die Flasche, wofür er sich durch eine amtliche Mehrzuweisung von rationiertem Zucker erkenntlich gezeigt habe. Hermes klagt. Wegen Verleumdung. Also das Gericht wird entscheiden. Ganz abgesehen davon hat aber die Öffentlichkeit wohl ein Recht zu der Frage, woher die sittliche Berechtigung der Ankläger zu ihrer Entrüstung stammt. Ist es doch in unserer jungen Republik bei den koalierten Regierenden überhaupt Mode gewesen, sich "billig einzudecken". Der Demokrat Schiffer hat sehr billig, gegen eine lächerliche Anerkennungsgebühr, als er nicht mehr Minister war, einen völlig ausstaffierten Regierungspalazzo bewohnt. Der Sozialdemokrat Scheidemann hat für wenige hundert Mark königliche Möbel entlehnt. Der Unabhängige Simon, einst kurze Zeit preußischer Finanzminister, hat um ein Spottgeld dem königlichen Keller die besten Kabinettsweine entführt, darunter alte Steinberger Jahrgänge, hat es auch im Landtag offen zugestehen müssen und sich nur damit entschuldigt, daß er sie "zur Repräsentation" nötig gehabt habe.

Natürlich, es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken. Sogar die Deutschnationalen haben, obwohl sie es als Opposition gar nicht nötig hätten, Herrn Fritz Ebert wiederum eine Gehaltserhöhung mitbewilligt, weil man schließlich nicht verlangen kann, daß er noch in der Gastwirtsschürze herumläuft. Nur sollen die Leute dann nicht über ihre Verelendung zetern und über die Schlemmerei einzig und allein der "Burschasie". Sie verstehen - auch zu leben. Und gar nicht so schlecht. Dieser Tage wurde der unabhängige Abgeordnete Ledebour in Berlin, als er die Straße kreuzte, von einem Radfahrer angerannt und brach sich den Unterschenkel. Er ließ sich in das Lichterfelder Kreiskrankenhaus fahren. Bei der Aufnahme wurde er gefragt, in welche Klasse er wolle. Da hob er mit unnachahmlicher Bewegung seinen weißumbuschten Komödiantenkopf und rief: "Klasse? Was soll das heißen?" Nun, es gäbe eben verschiedene Klassen; erster läge man allein, zweiter läge man zu zweit oder dritt in einem Zimmer, dritter mit vielen in einem Saal; auch Einrichtung und Verpflegung seien verschieden. "Also erster!" befahl Ledebour. Sicherheitshalber bedeutete man nun dem proletarischen Führer, das sei sehr teuer, das koste täglich 130 Mark, und auch sehr angesehene Leute lägen zweiter. Worauf der unabhängige Abgeordnete die Unterredung mit den Worten schloß: "Das ist mir einerlei, der Kostenpunkt spielt keine Rolle!"
9. März 1922 (Donnerstag).


26

"Aoh, die Zuchthaus" - Die Republik macht Märtyrer - Das schwarzweißrote Richtfest - Museum im Schloß - Eitel-Friedrich und Frau - Nur noch halbnackt - Die wunderlichen Geschichten des Kapellmeisters Kreisler - Wissen Sie schon?

Bei Tisch in einer größeren Gesellschaft saß neulich links von mir eine junge Dame aus England. Offenbar guter Leute Kind. Aber was kann man heute wissen? Es wurden, nachdem man bei Braten und Wein in aufgeräumte Stimmung gekommen war, Früchte gereicht, und da platzte sie fröhlich heraus:

"Aoh, das ich habe gepfluckt in London in die Zuchthaus!"

Wie die Pest brach da plötzlich Totenstille aus. Man hat sich ja schon an allerhand gewöhnt, auch der eben erst erledigte Braunschweiger Ministerpräsident, der rote Oerter, hat ja unter seinen Vorstrafen etliche Jährchen Zuchthaus, aber nun dieses Mädchen der ersten Kreise, nicht etwa deutsch-republikanischer Kreise - kurz, man schnappte nach Luft. Bis im nächsten Augenblick ebenso schnell den Umsitzenden der Sinn aufging: die Eltern der jungen Dame "züchten" daheim in ihrem - Treibhaus solche Früchte. Wie mit Blut übergossen, weil eben erst von allen Seiten ganz entsetzt angestarrt, fragte die Miß verschüchtert: "Aoh, was das meint in Deutsch, die Zuchthaus?" Und eilfertig bemühten wir uns um die Erklärung.

Neben der offiziellen läuft eine inoffizielle her. Ganz Deutschland ist heute, man kann es so oder so nennen, ein Zuchthaus oder ein Treibhaus. Man züchtet Märtyrer der monarchischen Idee, das Dümmste, was die Republik tun kann. In Berlin-Zehlendorf wird ein Fest mit Aufzug aller Schulen gefeiert. Die Fahne einer Volksschule, seit Jahrzehnten in Gebrauch, zeigt Stickerei - und noch dazu nur auf einer Seite - auf schwarzweißrotem Grunde. Der einzige sozialdemokratische Lehrer der Gemeinde erhebt Protest; fahnenlos und verbittert ziehen nun die Kinder einher. Am letzten Sonntag beteiligt sich eine Gruppe vom Verbande der nationalgesinnten ehemaligen Soldaten an einer Riesendemonstration des Mittelstandes im Berliner Lustgarten und marschiert mit ihrer schwarzweißroten Fahne nachher heim; die Polizei veranstaltet eine Jagd auf sie, der Fahnenträger wird mit Gummiknütteln niedergeschlagen. Und das alles unter der "freiesten Verfassung der Welt", die selbstverständlich auch nur amtlichen Stellen die Führung bestimmter Flaggen vorschreiben kann; sonst kann doch jedermann mit jeglichen ihm angenehmen Farben herumlaufen - ob mit Sowjetstern oder mit Orleanslilien, das geht gesetzlich keinen Menschen was an.

Und nun gar jetzt die Affäre in dem Lichterfelder staatlichen Erziehungshaus, der ehemaligen preußischen Hauptkadettenanstalt! Es ist eine Roheit sondergleichen, wenn man etwa einen strenggläubigen Juden zwingt, Schweinefleisch zu essen. Auf ungefähr derselben Stufe der Gesittung aber steht es, wenn man den früheren Kadetten ausgerechnet einen Herrn Krakauer, genannt Carsen, zum Direktor gab, der sie in einen "Freiheitstaumel" versetzen sollte und denn auch tatsächlich binnen wenigen Monaten, bis er abberufen werden mußte, die alte straffe Dusziplin völlig ruinierte. Nun setzt man den an männliche Leitung gewöhnten Kadetten, nachdem sie außer Rand und Band geraten sind, republikanische Aufsichtsdamen hin, die sich nicht immer richtig zu benehmen wissen, die die jungen Leute bespitzeln und ostentativ reizen. Die eine, Frau Sorge, nennt die Primaner nicht "Sie", sondern "Ihr" und ranzt sie an, bleibt auch während der offiziellen, vom Kultusministerium angeordneten Reichsfeier am 18. Januar beim Singen des Deutschlandliedes, bei dem sich sogar sozialdemokratische Angestellte erheben, allein sitzen. Nun geraten die zwanzigjährigen Jünglinge natürlich in Weißglut. Daß junger Most sich oft "absurd gebärdet", wissen wir; es ertönen Spottlieder auf Frau Sorge, man nennt sie, ohne Grund natürlich, "das abgetakelte Verhältnis von Fritz Ebert" - und da hat die Behörde ihr Stichwort: die sittliche Unreife der Primaner liegt klar am Tage, ihrer 42 werden in einer summarischen Massenmaßregelung hinausgeworfen, am Donnerstag früh mußten sie die Anstalt verlassen, und die zum Teil von ihnen bereits bestandene Abschlußprüfung wird für ungültig erklärt. Neue Märtyrer. Nicht einmal des monarchischen, sondern des nationalen Gedankens, des alten straffen Deutschlands. Haben die Herren wirklich keine Ahnung, was ihnen in diesem gepeinigten Geschlecht heranwächst? In den Berliner Schulen wird jetzt, obwohl Elternhaus und Lehrerschaft zurüchhaltend bleiben und eher warnen, die Republik so heiß gehaßt wie sonst nichts in der Welt. Ein Bekannter von mir, der selber seinen Kindern dauernd Ruhe predigt, kommt dieser Tage unvermutet früh nach Hause. Die Tür zum Wohnzimmer ist halb geöffnet. Das Grammophon schmettert: "Aufziehen der Schloßwache in Berlin." Ausgerichtet, die Hand an der Hosennaht, stehen die drei Kleinen da, der Vorschüler, der Sextaner, der Quartaner, und starren stramm in die Trompete. Der Große, der Untersekundaner, steht zur Seite. Nun erdröhnt der Tritt der Grenadiere aus dem Apparat, nun geht die Musik zum "Heil dir im Siegerkranz" über. "Auf die Knie, ihr Hunde, wenn dies Lied ertönt!" ruft da der Große seinen Brüdern zu, und helle Tränen laufen ihm über die Backen. Was meinen Sie, Herr Hoffmann, Herr Hänisch, Herr Boelitz: Ist der Geist von Potsdam durch Relegation von 42 ehemaligen Kadetten wirklich zu ertöten?

Manchmal wird selbst den Sozialdemokraten vor der Entwicklung angst und bange. In der ehemaligen Kaiser-Franz-Grenadierkaserne in Berlin ist der Stall zu einem Wohnhaus umgebaut worden. Beim Richtfest hißt der Polier - man staunt: ein Maurerpolier - eine schwarzweißrote Fahne. Die Arbeiter aber machen vergnügt weiter mit, protestieren nicht und streiken nicht. "So is et doch imma jewesen!" sagen sie. Die sozialistischen Größen aber zetern, diese Leute hätten ihr Erstgeburtsrecht, das Klassenbewußtsein und den Klassenstolz, verraten.

Sie denken nicht daran. Nur imponiert ihnen das Schwarz-Rot-Gold und die ganze Republik schon längst nicht mehr, denn sie haben davon eine wesentliche Besserung ihrer Lebensverhältnisse erwartet, und das erweist sich als Täuschung. Es geht ihnen zwar im Verhältnis lange nicht so schlecht wie dem gebildeten Mittelstand, aber jedenfalls trotz hoher Löhne schlechter als unter dem Kaiserreich. Die Preise laufen schneller als die Löhne. Alte Erinnerungen bohren unablässig:

"Als ich Soldat war, kriegte ich nur 28 Pfennig täglich, aber dafür gab es zwei große Glas Bier und ein Ende Wurst!"

Wenn solch ein Mensch am Nationaldenkmal des alten Kaisers vorübergeht und sieht, daß da dem einen der großen bronzenen Ecklöwen der halbe Schwanz abgeschlagen ist, dann schämt er sich. Drüben im Königlichen Schloß, das jetzt in ein kunsthistorisches Museum umgewandelt wird, stauen sich Sonntags die Massen. Die Glaskästen mit zierlichen Schmiedearbeiten, die kostbaren Gobelins, die alten Pokale und die übrigen Museumsherrlichkeiten interessieren diese Leute wenig. Sie wollen sehen, "was von Kaisers nachgeblieben ist". Und wenn der Führer eintönig ein Möbelstück mit eingelegten Hölzern erklärt und leidenschaftslos eintönig hinzufügt, hier diese Ecke sei während der Revolution abgeschlagen und wohl als Andenken mitgenommen worden, sagt eine ganz schlichte Arbeiterfrau neben mir empört:

"Mit die Köppe sollte man se immer an die Wand schlagen, bis keen Kopp mehr da ist!"

Ich bin der Frau und ihren zwei Kindern unbeachtet und unerkannt - es war am vorigen Freitag - dann nachgegangen bis oben zum Weißen Saal, den man am wenigsten verändert hat und der noch immer überwältigend wirkt. Vor einem der Fenster mit ihren wundervollen alten Glasmalereien standen die drei und buchstabierten mühsam eine Inschrift von 1620:

"Hetend wir alle eine gloubenn
Gott vnd den gemeinen nutz vor ougen
Gut fründ vnd recht gericht
Ein elle maß vnd gewicht
Ein müntz vnd gut gält So stünd eß besser in der Wällt."

Lasen es und seufzten so recht von Herzen. Und gingen dann in der weißgolden glitzernden Pracht des Saales an den marmornen Zollernkönigen vorüber, blieben vor dem purpurnen Thronhimmel stehen, unter dem huete gähnende Leere klafft, und seufzten wieder. Auch solche Kinder werden nicht als Triarier der Republik erzogen.

Es nützt nichts, daß man sie gelegentlich mit erlogenem Klatsch gegen das Königshaus aufzubringen versucht. Jetzt wieder mit dem angeblichen Ehebruch der Prinzessin Eitel-Friedrich. Daß der Prinz und seine Frau, zumal, da sie kinderlos geblieben sind, nicht das höchste Glück errungen haben, weiß man. Er ist durch und durch Soldat. Sie hat nur künstlerische Interessen. Als beide von der Hochzeitsreise zurückkamen und auf dem Potsdamer Bahnhof von einigen Herren des 1. Garderegiments zu Fuß erwartet wurden, lief Prinz Eitel-Friedrich mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und rief: "Endlich wieder die alte liebe Uniform!" und trat begeistert am selben Tage den Dienst wieder an. Seit dieser Szene heftet sich der Klatsch an die Fersen des prinzlichen Paares. Aber mit Klatsch sind wir so übersättigt, wir glauben nicht mehr daran. Der Berliner ist helle geworden, er glaubt nur noch, was er sieht, und da hat er genug zum Augenaufreißen.

Noch immer gilt für unsere Zeit das Wort: le roi s'amuse. Nur daß unsere ehemaligen Könige sich weniger amüsierten als die Könige von heute, die Geldverdiener. Noch immer ist, wenn auch nicht mehr das völlig Nackte, so doch das Halbentblößte der Trumpf öffentlicher Vorführungen, soweit die Amüsierwelt sie besucht. Die blödesten, oft sogar in Paris durchgefallenen französischen Stücke halten sich in Berlin, sofern sie auch nur eine einzige verfängliche Szene haben. Warum laufen die Leute zur "Madame Chic" eigentlich hin? Nur deshalb, weil die Darstellerin einmal hinter einem sehr durchsichtigen Wandschirm ihre Konturen im Schattenrisse sehen läßt, dann einen Hermelinmantel umwirft, lose umwirft, vor den Wandschirm tritt und bei der Verbeugung - wieder etliches sehen läßt. Gutes Publikum geht da überhaupt nicht mehr hin. Auch gebildetes nicht mehr. Da lohnt es sich schon eher, das sogenannte Naturballett "Im Venusberg" sich anzusehen, das zur Tannhäuser-Musik über die Bretter des Apollotheaters, einer Variétébühne, wirbelt. "Alles prima Natura", sagte man in den Vorjahren, wenn gänzlich Entblößtes geboten wurde. Nun ist man - auch der tollste Taumel hört einmal auf, wenn der Ekel beginnt - wieder zu ein bißchen Gewand und Schleier zurückgekehrt. Sogar die Truppe der Celly de Rheydt tanzt im "Schwarzen Kater" in der Friedrichstraße so. Was insgeheim in Berlin noch allnächtlich zu sehen ist, weil valutastarke Ausländer unsere Verlumpung bezahlen, davon will ich gelegentlich nächstens erzählen, in der Öffentlichkeit aber werden wir wieder etwas sauberer. Das Ballett aus dem Venusberg ist schlechthin schön. So mochte Richard Wagner im lockenden Tongewoge es sich gedacht haben. die ruhende Göttin in klassischer Nacktheit wenigstens des Oberkörpers hat nichts Aufreizendes, der bacchantische Tanzrausch um sie herum entzündet nicht die Sinne, das Ganze ist ein reiner Kunstgenuß - wenn man sich das alles in eine Tannhäuser-Aufführung hineindenkt. In der Großen Oper wäre man begeistert. Daß aber nur diese eine "Nummer" aus dem Wagnerwerk herausgehoben und auf dem Variété nach Groteskkomikern und vor Parterreakrobatik gegeben wird, das eben ist das Schlüpfrige daran. Auch in der "Weißen Maus" tanzt Lola Bach, die in erster Instanz zu Gefängnis Verurteilte, allabendlich munter weiter, und die Geschäftsreisenden aus dem Reiche, die sich das ansehen, sind enttäuscht: für sie haben Lolas Mädchen zuviel an. Jene Saison, die während der großen Französischen Revolution mit dem Umzug der nackten Göttin Vernunft anhub, neigt sich anscheinend auch im revolutionierten Deutschland dem Ende zu. Ich glaube freilich noch an keine seelische Läuterung bei uns. Aber das Geld wird knapper, und die Polizei wird allmählich schärfer.

Das Phantastische hat bei uns mehr denn je seine Freunde, auch der Trickfilm hat das Publikum dazu erzogen, und da E. Th. A. Hoffmann, der Gespenster-Hoffmann, neuerdings nicht nur Mitfühlende findet, die seinen "Erzählungen" in Offenbachs Vertonung gern lauschen, sondern sogar wieder Leser, ist das Theater in der Königgrätzer Straße auf eine großartige Idee gekommen. Seine Direktoren Meinhard und Bernauer haben ein Trickstück geschrieben: "Die wunderlichen Geschichten des Kapellmeisters Kreisler." Mit Musik von Reznizek unter Benutzung von Motiven aus Hoffmanns "Undine" und Mozarts "Don Juan". Mit Tanz, Gesang, Marionetten, Zauberei, mit entzückenden Biedermeierbildern und Biedermeiersentimentalität, mit großen Gesellschaftsauftritten und auch schauerlichen Deliriumsphantasien, mit einem Vorspiel und nicht weniger als 42 aus dem Dunkel aufleuchtenden Szenen, deren schneller Wechsel durch eine - Sechsteilung der Bühne ermöglicht wird. Wir haben zwei Etagen mit je drei Zimmern vor uns. Nur ein Bühnchen steht aber jeweils im harten Scheinwerferlicht, und rundum ist tiefe Nacht, so daß man sonst nichts sieht, für große Auftritte und große Balletts aber dreht sich wieder die Vollbühne her. Atemlos folgt man der ganzen Hexerei, wird man hin und her geschüttelt zwischen Bildern von erlesener Lieblichkeit und spukhaftem Grauen. Meinhard und Bernauer haben auf einen Schelmen anderthalbe gesetzt. Wurde bisher das Theater verfilmt, so vertheatern sie den Film. Man sitzt wie vor der Filmleinwand, wenn hoch oben links oder rechts die Szene spielt: endlich ein ganz lebendiger Film, mit wirklich redenden Menschen, farbig, ohne Gezitter, gelegentlich ruhig ausatmend in reinste, holdeste Poesie. Ich bin erst in der 31. Vorstellung des wunderlichen Kreisler gewesen. Sie war genau so pfropfenvoll wie die Première, und dabei kostet der Platz im ersten Parkett doch 250 Mark. Man wundert sich über nichts mehr, pflegen wir zu sagen. Über die Preise sicher nicht. Aber über die Kühnheit dieser ganz neuartigen Auführung spricht Berlin nun schon seit einigen Wochen. Endlich einmal etwas Nichtdagewesenes.

Und nach dem Theater geht man in den Lutterschen Weinkeller, in dem vor einem Jahrhundert dieser E. Th. A. Hoffmann selber so oft saß, launig erzählte oder von Dämonen gepeitscht wurde, und findet dort noch einen 1893er Rüdesheimer, den es anderswo in der Stadt nicht mehr gibt. Allerdings zu "zeitgemäßen" Preisen. Und dann spricht man Zeitgemäßes, was heutzutage immer mit den Worten anfängt: "Wissen Sie schon die neueste Geschichte von Frau Ebert?" Das sind natürlich alles erfundene Geschichten, die auf alle Emporkömmlinge passen, und Frau Ebert kann man wirklich nichts nachsagen. Aber eine davon ist wirklich nett und verdient es, Kindern beim ersten französischen Unterricht zur Belehrung erzählt zu werden. Also bei Eberts ist Ball für die diplomatische Welt. An die Wand lehnt sich, ohne zu tanzen, Herr v. François.

"Nun, Herr v. Frankoa?" sagt Frau Ebert.

"Verzeihung, Exzellenz, ich habe ein Cedille unter dem "c" ", antwortet Herr v. François.

Worauf Frau Ebert - natürlich könnte man auch Frau Neureich oder Frau Großverdiener sagen - ihn bedauernd auf die Schulter klopft:

"Ja, wenn Sie etwas unterm Zeh haben, dann können Sie freilich nicht tanzen!"
16. März 1922 (Donnerstag)


27

"Das ist das Ende" - Friedensvertrags-Ausstellung - Pressewettbewerb um nationale Verlumpung - "Strelna" - Fürstliche Musiker für Schieberpublikum - Bei der Hellseherin - Sie kleiner Schäker - Bierabend bei einem Regierenden - Zwei Berliner Wunder

"Das ist . . . das ist . . ." - lallt keuchend, taumelnd, verstört der Kapellmeister Kreisler, als die Illusionen zerstieben und der phantastische Roman mit Julia, Euphemia, Donna Anna zerbricht. "Das ist . . . das ist . . ."

"Das Ende!"

Hart wie Peitschenschlag kommt die Antwort. Von dem Dämon in der Maske Cyprians. Ein Grauen packt den Zuschauer im Theater in der Königgrätzer Straße, wenn er die "Wunderlichen Geschichten des Kapellmeisters Kreisler" oder vielmehr die wundersamen Gesichte, die so viel Liebliches und rührend Zartes bringen, so zuckend abreißen sieht. Jetzt ist das Grauen auch draußen im Leben mitten unter uns getreten. In der Reichshauptstadt mag man noch so still für sich dahinwandeln, man stolpert doch immer wieder über die Politik; man begegnet Abgeordneten, Finanzgrößen, Diplomaten, Industriekapitänen, man hört an allen Ecken die Sensationsüberschriften der Zeitungen ausrufen, man spricht mit dem oder jenem London-, Cannes- oder Genuafahrer. Da: ein Donnerschlag! Alle Seifenblasen platzen, alle Illusionen sind dahin. Die Entente erklärt, daß sie fortan - und damit ist Deutschland als souveräner Staat zerbrochen - die Finanzkontrolle bei uns übernimmt. Die Steuern werden auf Befehl in dem befohlenen Umfange in der befohlenen Frist erhoben, zunächst ein "Zuschlag" zu den eben im Reichstag beratenen in Höhe von 40 Milliarden Mark bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Wieviel Beamte im Reich oder im Bundesstaat oder in der Gemeinde angestellt werden und was sie als Gehalt bekommen, das bestimmen nicht unsere "souveränen" Parlamente, sondern die Reparationskommission als unser Herr. Sollen Schulen und Universitäten eingehen: wenn es befohlen wird, wird es gemacht. Um die befohlenen Steuern aufzubringen, müssen wir ausverkaufen. Unsere Bergwerke, Fabriken, Güter, Wälder, Hotels und sonstige "Sachwerte" gehen zum großen Teil in fremde Hände über. Die Papiermark stürzt. Die Teuerung rast steil empor. In dieser Sintflut von Papier werden wir bald mit Nägeln und mit Zähnen um den letzten trockenen Platz kämpfen müssen. Mehr Arbeitslosenunterstützung verbietet die Entente. Noch in diesem Jahre wird die Flut auch die bisher gesichertsten Bollwerke, die der arbeitenden Lohnempfänger, hinwegschwemmen.

Das ist . . . das ist . . . das Ende.

Wir gehen, scheint es, alle hundert Jahre durch solch eine harte Schule, in der wir "Versöhnungspolitik" erfahren. Diesmal ist es härter denn je. Vielleicht können wir dummen Deutschen wenigstens diesmal bis zur Reife geschult werden. Noch wissen die wenigsten von uns, was der Versailler Friedensvertrag für uns bedeutet, den unsere Staatslenker der Nachnovemberzeit unterschrieben haben, um von dem Londoner Ultimatum nicht erst zu reden, um dessen "Erfüllung" sich wiederum diese Herren so angestrengt bemühten. In Berlin zeigt gegenwärtig die Liga zum Schutze der deutschen Kultur eine Ausstellung über die unheimlichen Wirkungen des Schmachdiktates. Diesmal hatte nicht Berlin die Première. Anderswo war man schon früher klug geworden. Schon in mehr als 40 deutschen Städten ist die Ausstellung gewesen. Ihre Zahlen und ihre graphischen Darstellungen sind einwandfrei und rein sachlich; von jeder Parteipolitik, von jeder aggressiven Spitze hält sie sich fern. Vor allem strömt natürlich die Jugend hin. Aber auch Leute jedes Alters, jedes Standes, sogar zahlreich Ausländer, besonders neutrale, sieht man zur Wilhelmstraße 34 pilgern. Alles ist aufs tiefste erschüttert.

Da fingen kommunistische und unabhängig-sozialdemokratische Blätter an zu schimpfen. In der Wilhelmstraße wüchse Nationalismus empor. Das durfte nicht sein. Immer hübsch demütig vor der Entente! Dann schloß sich auch der Vorwärts dem Chorus an und schimpfte mit. Man lud Abgeordnete der Mehrheitssozialdemokratie und Gewerkschaftsführer zur Besichtigung ein - sie möchten ihre Beanstandungen kundgeben. Sie fanden nichts. Ja, warum denn dann der Vorwärts tobe, wurden sie gefragt. Und ihre Antwort, dreist und massenfürchtig, lautete:

"Nachdem Rote Fahne und Freiheit ihre abfällige Meinung geäußert, mußten wir aus Rücksicht auf unsere Parteimitglieder das gleiche tun!"

Also muß man mitmachen, aus Konkurrenzrücksichten mitmachen - in dem Wettbewerb um nationale Verlumpung.

Das ist . . . das ist . . . das Ende.

Es gibt freilich Leute, die immer oben schwimmen. Die Moskauer bolschewistischen Abgesandten der Herren Braunstein, Apfelbaum und Sobelsohn fühlen sich in Berlin sehr wohl. Im feinsten Westen, in Wilmersdorf, ist für ihre Bedürfnisse ein Weinlokal begründet worden, das sich "Strelna" nennt, wie die ehedem mondäne Vergnügungsstätte auf der Newa-Insel bei Petersburg. Eine Flasche Wein ist heute in diesem Lokal unter 250 Mark nicht zu haben. Das Publikum besteht aus russischen - oder sagen wir lieber: aus Rußland gebürtigen - Agenten des Bolschewismus und aus Schiebern in Politik, Spionage, Rauchwaren, falschen Stempeln und allerlei Krimskrams. Erst nach der Polizeistunde geht das eigentliche Schlemmen hier los, und eine jüngst gegen 4 Uhr morgens unternommene Razzia förderte sehr interessantes Menschenmaterial zum Alex. Aus dem Publikum natürlich, das Champagner zu 480 Mark die Flasche zecht. Die Bedienung in "Strelna" ist aus einer ganz anderen Schicht. Den Glanzpunkt dieser Schlemmerstätte bildet die kleine Musikkapelle, die ein Fürst Galizin leitet. Unter den Musikern wirken ein Baron Dellinghausen, ein Rittmeister v.Ruckteschell, eine Fürstin Suworow mit. Zu besonderem gaudium gestattet man der Fürstin gelegentlich eine Tellersammlung unter den halbbezechten Gästen. War nicht ein Suworow einst der Marschall Vorwärts der Russen, Kämpfer wider Napoleon, Überquerer der Alpen? Wie das die betrunkenen Wollköpfe von heute kitzelt, wie sie mit den Wulstlippen schmatzen, wenn die Fürstin sich vor ihnen verneigt! Eine königliche Bettlerin. Ihr Antlitz bleibt wie Stein, auch wenn sie lächelt. Und wer ihr mit rohem Lachen einen Hundertmarkschein auf den Teller wirft, der bleibt doch ein Vieh. Das Geld ist vielleicht der Erlös eines Ringes, der einem Ermordeten vorm Finger geschnitten wurde. Oder es stammt aus dem Verkauf von Möbeln einer ausgeraubten Wohnung. Ein deutscher Arzt, ehedem in Petersburg, konnte den Bolschewistengreueln entrinnen. Nun war er Gott sei Dank im "Auslande" in Sicherheit. Die aus Petersburg Stammenden kennen sein talent. Einer ihrer ruft ihn. Und bei dem ihm bisher völlig unbekannten Patienten sieht Dr. Egbert Koch - die ganze Einrichtung seines eigenen ehemaligen Petersburger Herrenzimmers. Es kommen immer noch, wenn auch spärlich, Waggonladungen geraubten - "beschlagnahmten" - Gutes aus Rußland über Reval oder Helsingfors in die weite Welt, auch immer noch manche kostbare kleine Antiquitäten. Ein Erbstück, ein Siegelring, den ein Vorfahr einst von Peter dem Großen zum Geschenk erhielt, wird von einem Fürsten Wolkonskij in Berlin an der Hand eines Mannes entdeckt, der wie ein Trödler aussieht. Er wird gestellt, aber die Polizei kann leider nichts machen, denn er ist bolschewistischer Agent und exterritorial. Nicht jeder hat so alles hinter sich geworfen, hat so "gelöschte" Nerven, wie der Fürst Galizin oder die Fürstin Suworow. Ich erzählte einmal von der Kurländischen Diele am Prager Platz, wo baltischer Adel auch fiedelte, bediente, Gläser abstrich und Teller spülte. Gedacht war das Unternehmen als Treffpunkt für sonstige vertriebene Landsleute. Aber im Publikum nahm, wie jetzt in der "Strelna", das Schiebergesindel überhand, der Ekel stieg den balten schließlich zum Halse, und sie verkauften das Lokal.

Die Bolschewisten aber mästen sich. Nämlich die an der offiziellen Futterkrippe. Von dem eigentlichen "Volk" verhungern buchstäblich Hunderttausende allmonatlich. Wohl denen, die schon vorher durch die Bolschewisten hingerichtet sind; die brauchen nicht mehr zu hungern. Das sind u. a. 355 250 Intellektuelle, 815 000 Kleinbauern, 193 350 Arbeiter. Nach den amtlichen seit 1917 geführten Listen. Wie viele Russen nichtamtlich ermordet sind, weiß man nicht.

Die fetten Leute, die in der "Strelna" soupieren, wundern sich jedenfalls, daß man in Deutschland schon wegen eines einzigen Mordes sich aufregt. Ganz Berlin will durchaus wissen, ob Herr Peter Grupen auch seine Frau ermordet hat oder nicht. Den Leuten kann geholfen werden, sagte sich Grupens Anwalt, den ich mit Namen hier nicht nennen will, damit ihm der Verdacht erspart bleibt, er mache für sich Reklame. Im Verein mit einem Hellseher lud er zu einer spiritistischen Sitzung ein. Also man versammelte sich in den vornehmen Gesellschaftsräumen einer Privatwohnung des Westens bei gedämpftem rotem Licht zwischen Gobelins und Kelims mit eingewebten alten Ägypterfiguren. "O Isis und Osiris, o wüßtet ihr, wie mir's is!" raunt mir leise mein Nachbar zu, der ein Spötter ist. Ich heuchele noch Andacht. Die übrige illustre Gesellschaft ist ein bißchen fiebrig. Das Medium, eine reichlich imposante Dame, wird durch zirkelnde, streichelnde, befehlende Handbewegungen ihres Hellsicht-Managers in Trance versetzt, was man daran merkt, daß ihr Busen sich stürmisch hebt und senkt. Also sie hellsehschläft und kann befragt werden. Sie sagt, was sie sieht. Mal eine Bahnstation; nur kann sie den Namen nicht lesen. Mal einen Tunnel, durch den sie läuft; ob es der Elbtunnel in Hamburg ist, weiß sie nicht. Eine große Rolle spielt ein viereckiges schwarzes Loch. An einem Brunnen sieht sie den zerstückelten Leichnam einer Frau. Nun perlt den Zuschauern der Schweiß. Sie atmen erst auf, als sie ein Schiff in Newyork landen sieht, dem diese Frau entsteigt. Also wo ist Frau Grupen? Keine Ahnung. Das Medium hat nur wiedergegeben, was der eine oder der andere der Besucher sich sowieso gedacht oder kombiniert hat. Nun erwacht die imposante Dame. Vielleicht ergäbe eine neue Sitzung nach dem Mondwechsel mehr, sagt der Impresario. Ich danke. Da würgt die Dame am Ende noch "Teleplasma" aus, das sich gewöhnlich als Tüll erweist, während die Gläubigen sagen, es sei eine seelische Materialisation, sozusagen ein Aus-der-Haut-Fahren des Mediums. Ich kann mir nicht helfen: ich bin in diesen Dingen genau so ungläubig, wie der alte Schalk Hans Heinz Ewers, der seine Laufbahn als königlich preußischer Referendar einst aufgeben mußte, weil er trotz des der Gesellschaft vorher abverlangten Ehrenwortes, beim Tischrücken nicht schieben zu wollen, feste geschoben hatte. Ich glaube, es schiebt immer einer.

Am besten ist es, man erschiebt sich ein Pöstchen. Wenn man dann erst ein Dienstauto und ein Palais und die nötigen Repräsentationsgelder hat, kann man sich Freunde mit dem ungerechten Mammon machen. Da ist die Frau eines plötzlich zum Minister avancierten Genossen, die früher in den bescheidensten Verhältnissen gelebt hat, in einem Hause, in dem es stets nach Bratkartoffeln und schmutziger Wäsche roch, in einer Stube, deren besten Stuhl sie immer mit der Schürze abwischte, ehe ein Besucher sich setzte. Nun sitzt sie den ersten Tag im Ministerpalais. Der erste Besucher, ein Herr aus dem Ministerium, verneigt sich vor ihr und küßt ihr die Hand.

Da zieht sie sie sanft zurück, droht mit dem Finger und sagt: "Ei, ei, Sie kleiner Schäker!"

Aber allmählich lernt man alles, sogar den Stil bei Empfängen. Man ist nur ein bißchen reichlich gastfrei. Ein hoher Herr in Preußen - verschiedene wohlgesinnte Gäste bitten mich himmelhoch, seinen Namen nicht zu nennen, denn das sei noch der vernünftigste Sozialdemokrat - lud neulich zu einem parlamentarischen Bierabend ein. Aus diesem Bierabend wurde ein Schnapsmorgen. Erst um 7 Uhr früh trennten sich die letzten Besucher von der gastlichen Stätte. Es war auch wirklich zu gemütlich! Wenn man da in bunter Reihe, alle Fraktionen durcheinandergemischt, an kleinen Tischen gesessen hat, kann man einander nicht mehr böse sein. Und wenn man dann hört, der Gastgeber sei bei einer ähnlichen Gelegenheit in Hannover nicht mehr imstande gewesen, den Schnellzug zu erreichen, sondern habe im Dienstauto nach Berlin gefahren werden müssen, so zwinkert man nur mit den Augen. Jugend hat keine Tugend, sagt man sich, und diese hohen Beamten sind es doch allesamt erst seit höchstens drei Jahren.

Man erlebt heute die wunderlichsten Dinge. In Berlin hat gestern eine 24jährige Schauspielerin aus Nahrungssorgen Selbstmord verübt. Das ist noch gar nicht dagewesen. Eine junge Schauspielerin in diesem Babel, und dann Nahrungssorgen? Sie verdient wahrhaftig nach ihrem Tode ein Denkmal mit einer goldenen Tugendrose. Man ist so bitter geworden, daß man derartiges kaum glauben will. Aber es geschieht neuerdings allerlei Sonderbares. Da treffe ich mit einem Jüngling zusammen, der Monokel, goldenes Armband und lilaseidene Strümpfe trägt. Ich erstarre zur Salzsäule. denn ich verkehre nicht mit Schieberpack. Und was glauben Sie wohl? Das war wahrhaftig ein anständiger Mensch aus guter Familie!
23. März 1922 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts