"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 22 - 24
16. Februar bis 2. März 1922


22

Große Tage - Wirth stimmt sich selber zu - Mosbacher Aktien - Was ein Küchenchef verdient - "Der gedeckte Tisch" - Die Neureichen und das Theater - Marquis Posa auf der Treppe - Unsere Kunstkritik - Auf dem winterlichen Schlachtensee

Zu den ständigen Berliner Attraktionen neben dem Zoologischen Garten und der Schreckenskammer des Panoptikums zählt in erster Linie auch der Deutsche Reichstag. Besonders an sogenannten großen Tagen, wo alle seine Abgeordneten und Minister fast vollzählig zu sehen sind. Das Dagewesensein ist dann einfach gesellschaftliches Erfordernis. Beim nächsten Vier-Uhr-Kaffee-mit-Schlagsahne läßt sich so schön davon erzählen:

"Denken Sie sich, meine Liebe, wie fabelhaft interessant! In der Loge saß links von mir ein japanischer Botschaftsattaché mit Türkisenarmband! Und rechts ein Novemberlandrat mit Tätowierung auf der Hand!"

Die Parlamentarier sind an solchen Tagen, wo sie in ihrem eigenen Restaurant kaum Platz finden, ebenso entrüstet, wie auf Reisen im Wagen erster Klasse, wenn Leute mit bezahlter Fahrkarte sich hereindrängen. Und doch auch wieder ein bißchen geschmeichelt. Denn sie machen doch Weltgeschichte vor den Augen des Publikums. Es geht dabei freilich etwas anders her, als in einem beliebigen Verein, jedenfalls viel ungenierter. In einem Verein darf man doch nicht immer "Hundsfott!" zum Vorstandstisch hinüberbrüllen. Und wenn in einem Verein ein Mitglied die Vertrauensfrage stellt, geht es in ein Nebenzimmer und wartet dort die Entscheidung der anderen ab, hier aber hat an diesem Mittwoch Herr Wirth auch selbst seine weiße Ja-Karte in die Urne geworfen und sich höchstselbst sein höchsteigenes Vertrauen bestätigt. So amüsante Sachen erlebt man anderswo nicht.

"Und dann denken Sie sich, meine Liebe, auf der Rechten ging als einziger Heinze raus, um nicht gegen Wirth mit der Fraktion stimmen zu müssen! Solch ein weichherziger, guter Kerl ist wirklich nur versehentlich als Mann erschaffen, was für eine entzückende, liebenswerte Frau gäbe der doch ab!"

Am selben Abend noch ging Herr Wirth zum Diner beim belgischen Gesandten und wurde dort lebhaft beglückwünscht. Er kommt jetzt aus dem Frack kaum mehr heraus, so viele diplomatische Essen und Bälle macht er mit. Manche Mutter heiratsfähiger Töchter mag schon ihre Blicke auf den hübschen rotbäckigen Junggesellen geworfen haben, der freilich, auch wenn er diesmal noch prolongiert worden ist, nicht ewig Reichskanzler bleiben, aber jedenfalls nicht arm wie eine Kirchenmaus aus der Reichskanzlei scheiden wird. Er hat eine glückliche Hand auch im privaten Erwerbsleben. Er hat sich kürzlich mit 100 000 Mark an der Gründung der badischen Lokomotivenfabrik in Mosbach beteiligt. Eine gute Sache. Lokomotiven braucht das Reich immer, und daß Gröner aus Feingefühl etwa die Mosbacher zu Lieferungen nicht zuließe, weil sein Chef Wirth daran persönlich interessiert ist, wird jedenfalls an der Börse nicht angenommen. Kurz und gut, die hundert Aktien Wirths sind heute schon 450 000 Mark wert; er hat also in wenigen Monaten mehr als eine Drittelmillion gemacht. Noske und andere Novemberlinge sind ihm in ihrem Bankkonto freilich noch über. Immerhin, auch Wirths Anlagen lassen sich sehen. Solch einen Schwiegersohn gibt es nicht alle Tage.

Wählerisch darf man ja überhaupt nicht mehr sein. Ich kenne ein prächtiges altes Fräulein, eine Lehrerin, die einst in jungen Jahren einen Arzt gern geheiratet hätte. Er sie auch. Aber ihre Mama, die Frau Oberlandesgerichtspräsidentin, sagte nein. Aber nein! Die Tochter der ersten Dame der Stadt dürfe keinen Arzt heiraten; allenfalls einen Regierungsassessor oder Oberleutnant. Im Laufe der Jahre hat Tantchen Lehrerin die Sache ja verwunden, aber traurig ist es doch. Wenn sie heute selber Mutter einer erwachsenen Tochter wäre, so würde sie vermutlich nicht nur einen Arzt, sondern sogar einen Hotelkoch genehmigen. Denn der Arzt saugt in neun von zehn Fällen heute Hungerpfoten, der Hotelkoch aber kann seine Frau zum Wintersport nach Partenkirchen schicken. Der Küchenchef der Tonndorf-Betriebe, Unter den Linden in Berlin, bekommt neben freier Verpflegung 200 000 Mark Jahresgehalt. Alles, was denen dient, "deren Bauch ihr Gott ist", verdient heute gut. Berlin ist ja, im ganzen genommen, durchaus keine schlemmende, sondern eine arbeitende Stadt. In mancher Kleinstadt wird im Durchschnitt besser gelebt. Aber es sind so viele Fremde da, und schließlich auch noch jene angeschwemmten Zehntausend, die bei dem sinkenden Markkurse das Wort "Spare in der Zeit, so hast du in der Not", längst als veraltet abgetan haben und statt dessen nach der Berliner Lesart eines bekannten Spruches leben:

Glücklich ist, wer verfrißt,
Was nicht zu versaufen ist!

Auf die Kultur des Essens kommt es dabei gar nicht an, sondern auf seinen Geldwert. Bismarck lehnte einmal auf einem diplomatischen Diner mitten im Winter einen Teller wundervoller frischer Gartenerdbeeren ab: er wolle nichts nehmen, was nicht in der Natur gewachsen sei. Heute versucht man in gewissen Kreisen gerade dadurch zu imponieren. Erdbeeren im Blumentopf sind totschick. Frische Artischoken sind unentbehrlich. Krebse müssen just in den Monaten mit "r" auf den Tisch, obwohl sie ihren feinen Geschmack nur im Sommer haben. Etliche Kunstgewerbehäuser tun allerdings so, als wollten sie ihr neues Publikum wieder ein wenig kultivieren. Das ehemalige Hohenzollern-Kaufhaus in der Budapester Straße, das sich jetzt schlicht republikanisch nach Übermalung des alten Schildes nur noch "Friedmann und Weber" nennt, veranstaltet eine Ausstellung: Der gedeckte Tisch. Für 19½ Mark Eintrittsgeld soll man sich dort darüber belehren, wie der feine Mann seine Tafel liebe. Der Hochzeiter mit seiner jungen Frau bei der ersten Einkehr ins eigene Heim. Der Jagdherr mit seinen Gästen. Der rechtgläubige Russe zu Ostern. Die Dame von Welt beim Tee an ihrem Jour fixe. Und so weiter,die Reihe aller derer durch, die in der Lage sind, tüchtig etwas springen zu lassen. Die einzelnen gedeckten Tische mit ihrem zum Teil hübschen Schmuck und gutem Porzellan stehen aber verstreut durch alle vier Stockwerke des Kaufhauses, so daß man sämtliche Säle durchwandern muß und bei hundert anderen Dingen stehenbleibt, und das ist auch der eigentliche Zweck der Übung. Schließlich bleiben Herr Großverdiener und Frau Knallprotz und Fräulein Neureich doch vor dem Lotterbett im ersten Stock stehen, über dem sich ein duftiger Thronhimmel wölbt und an dessen Fußende - ein riesiger drehbarer Spiegel zwischen Messinggreifern hängt. Der alte Sünder Horaz pflegte sein Liebeslager mit Spiegeln zu umstellen. Das galt uns schon als Gymnasiasten, wenn wir im Lessing seine Ehrenrettung nachlasen, im Grunde als gemein und nur aus der Dekadenz der römischen Kaiserzeit erklärlich. Heute steht alles um solch ein Bett bei Friedmann & Weber herum, stundenlang herum, macht Stielaugen und kauft schließlich aus Verlegenheit, nebenbei viel zu teuer, einen japanischen Morgenrock oder ein Meißner Figürchen. Doch zur Ehre unserer Berliner Kriegs- und Revolutionsgewinnler sei es gesagt: nicht sie in der Hauptsache stehen hier herum, sondern in der Hauptsache Fremde. Italiener, Franzosen, Amerikaner. Auch Zugereiste aus dem reich, die nachher ihrem Stammtisch vorlügen, daß sie solch ein Bett im Schlafzimmer einer Dame der Gesellschaft gesehen hätten. Wirklich, ein dolles Berlin! Dem Stammtisch läuft das Wasser im Mund zusammen.

Man hat geglaubt, unsere Neureichen seien für den schlechten Theatergeschmack von heute verantwortlich. Eine Umfrage bei den Berliner Theaterdirektoren hat das aber nicht bestätigt. Die Herren erklärten übereinstimmend, daß sie ein neues Publikum zwar hätten, daß das alte, bildungshungrige, wenn es überhaupt noch komme, auf die billigen Plätze abgewandert sei, aber das neue Publikum diktiere nicht den Spielplan. Es sei völlig unvoreingenommen und nehme dankbar alles hin. Das klingt plausibel.

So können die Leiter unserer Schaubühnen nach Herzenslust experimentieren. Jeßner vom Staatstheater hat's mit der Treppe. Beim "Tell" fing es vor zwei Jahren an. Die ganze Szenerie, ganz gleich, ob See, Rütli, Hütte, Palast: immer nur Treppe. "Durch diese hohle Gasse muß er kommen!" sagt Tell und zeigt auf die Treppe. Auch jetzt bei der Neueinstudierung des "Don Carlos" füllt die pyramidenförmig himmelragende Treppe die ganze Bühne aus. Wenn König Philipp oben steht und zu beiden Seiten, als lange Schenkel des Dreiecks, Stufe für Stufe seine Schergen oder seine Mönche sich aufbauen, so ist das ein Bild, ein eindrucksvolles symbolisches Bild. Schiller ist aber weder Symboliker noch Bildermacher. Sein daherbrausendes Wort ist seine Kunst. Das ist bei Jeßner Nebensache. Wenn Herr Deutsch, an dem außer dem Namen nichts Deutsches zu entdecken ist, den Posa mimt, so ist das nicht der "sonderbare Schwärmer", sondern ein Volksversammlungs- und Kaffeehausredner wie Erich Mühsam. Aber es ist merkwürdig, wenn auch nicht mehr sonderbar, daß die Berliner Kritik, für die nicht jede Kunst ein Experimentieren, aber jedes Experimentieren Kunst zu sein scheint, über die Treppe allmählich sich in Begeisterung redet. Jeßner hat schon fast gewonnenes Spiel, nur weil er Niegeschautes, Niegescheites bringt. In der Malerei ist es mit den Kubisten, Futuristen und sonstigen Stammlern aus Gehirndefekt ja ebenso gegangen. Sie wurden von der Kunstkritik hochgelobt. Wenn ein Besteller ein ihm ähnliches Porträt verlangte, so wurde er für einen ungebildeten Banausen erklärt, der sich lieber photographieren und dann übermalen lassen solle; verstehe er aber etwas von Kunst, so müsse er damit zufrieden sein, so gemalt zu werden, wie der Künstler ihn sähe. Oder noch mehr: ein Bild zu erhalten, das - den Denkvorgang versinnbildliche, der sich in dem Maler beim Blick auf das Modell vollziehe. Selbst wenn nachher nur ein paar Kleckse und Ringe die Leinwand zieren. Dieser von der zünftigen Kritik in der Malerei angestiftete Massenbetrug greift nun auch auf das Theater über. Die Treppe ist Kubismus ins Szenische übertragen. Die Natur zwingt sich nicht in Treppen. Vielleicht, Gott geb's, erleben wir noch einmal das Ende des ganzen Schwindels. In Ludwig Fuldas "Talisman" wird solch Massenbetrug geschildert. Er bricht in dem Augenblick zusammen, in dem die kleine Einfalt, die Rita, laut loslacht und sagt: "Der König ist ja in Unterhosen!" Unsere Zeit wartet auf dieses gesunde Lachen, dann ist der ganze Mumpitz entthront.

Es ist schön, daß man in all der Unnatur in und um Berlin doch noch hin und wieder auf köstliche gesunde Frische stößt, wenn die Natur selbst uns zu Gaste bittet. Am letzten Sonntag hatte sie noch einmal gelockt, mit knisterndem Schnee und goldener Sonne, ehe die Winterpracht im alljährlichen Matsch ertrank. Also hinaus mit der Wannseebahn bis Zehlendorf, wo es noch Schlitten in den Droschkenkutscherremisen gibt, dann mit Klinglingling in die Weite. Ein Spaziergang über die mächtige Breite der schneeglitzernden Havel, die Lungen vollgepumpt mit Sauerstoff, ein köstlicher Marsch durch winteliche Wälder zurück zum Schlachtensee. Unterwegs ein paar Skiläufer, die der Berliner freilich neidlos lieber den Bergen lassen sollte, denn hier kriechen sie doch nur daher wie die Fliegen über den Honig. Auf dem Schlachtensee, der eine kilometerlange gefegte Bahn aufweist, die Schlittschuhe untergeschnallt: hei, nun ist Neuberlin vergessen! Tausende wimmeln herum und brauchen Kilometer. Einzelne studieren sich auf dem Quadratmeter ab. Viel weibliche Jugend und weibliche Anmut darunter, also nicht mehr wie zu Urgroßmutters Zeit, wo der Jüngling zwar Klopstocks Ode auf den Eislauf nachleben konnte, die Jungfrau von dieser "unweiblichen" Übung aber streng zurückgehalten wurde und sich nur im Schlittenstuhl schieben lassen durfte. Aber auch hier auf dem Schlachtensee fordert die Modegöttin schon ihre Opfer. Verschiedene junge Damen erscheinen mit Knickerbockers, als ginge es zum Watzmann hinauf, mit ganz raffinierten Reithosen, wenn man so sagen darf. Und ich wundere mich nur, daß am nächsten Tage nicht unter den vermischten Anzeigen der hauptstädtischen Lokalpresse eine mit den Worten beginnt:

"Jene entzückende Blondine, Sonntags, Schlachtensee, in grünen Samthöschen ..."
16. Februar 1922 (Donnerstag)


23

Cäsar auf der Straße - Geeichte Rektoren - Im roten Räte-Berlin - Akademisch gebildete Diener - Das Oberlehrerinnengehalt von 780 Mark monatlich - Stiergefechte sind unmoralisch - Sechstagerennen - Auktion bei Castan

"Der Feldherr ... nachdem der Feldherr das Lager erobert hatte ... Mensch, sag' doch mal, wie war das bloß ... nachdem der Feldherr ..."

Frage und Antwort schwirrt hin und her, ich bin gerade bei Schulschluß am Askanischen Gymnasium vorübergegangen und bin nun umbrandet von dem Schülergewimmel, das den fremden Passanten überhaupt nicht beachtet. Der Feldherr, das Lager: aha, das sind offenbar Tertianer, die Cäsars gallischen Krieg lesen und soeben eine schriftliche Klassenarbeit hinter sich haben. Bis ans Ende aller Tage wird sie Cäsar und der alte Fritz mehr fesseln, als Gracchus und Rousseau. Die ganze Weltgeschichte wird ja von Feldherren und Staatsmännern gemacht, nicht von Sozialpolitikern und Philosophen. Was tut man nur gegen diese in heutiger Zeit fatale Erkenntnis? Die emporgekommenen Schildbürger des Freistaates Thüringen erklären darauf einfach, das Lateinische sei schon in der Sexta durch das Französische zu ersetzen. Dann sind die Jungen in der Tertia vielleicht so weit, daß die Geschichte der Pariser Courtisane Manon Lescaut sie mehr interessiert, als die Geschichte der Römerkriege. In der Reichshauptstadt möchte man den mitteldeutschen Schildbürgern natürlich noch übersein und packt das Problem von einer anderen Seite an, nämlich von der des Lehrpersonals; wie der Herr, so das Gescherr, also wenn man eine knallrote Lehrerschaft hat, dann verschwindet der Militarismus auch unter den Schülern!

Doch was sehe ich da? Die Tertianer haben sich zum Knäuel geballt, die "unnützen" Ranzen fliegen hinaus auf den Asphalt der stillen Hallenschen Straße, in wildem Handgemenge balgt sich die ganze Gesellschaft - stolz, bewundert, mit blutigem Ohrläppchen zieht schließlich der Hauptsieger ab. Zum guten Ton in allen Lebenslagen scheint der Pazifismus noch nicht zu gehören.

Aber wartet nur ab, ihr Buben. Ihr sollt noch allesamt zur Völkerversöhnung erzogen werden. In Berlin werden neue Direktiren und Rektoren von den zum großen Teil sozialdemokratischen Bezirksämtern gewählt, nachdem sie vor deren Bildungsausschüssen allerhand peinliche Fragen über ihre pädagogisch-politische Parteistellung beantwortet haben. Vor allem erwartet man von ihen offene Zustimmung zu dem Programm des berlinischen Unterrichtspapstes Paulsen: Fort mit der Religion, fort mit dem pflichtmäßigen Lernen, nur "Gemeinschaftsstunden" ohne Zwang, Parlamentarismus in der Schule! Wer dazu ja sagt, ist willkommen; darunter eine junge neunundzwanzigjährige Genossin, die einem erfahrenen Pädagogen von 48 Jahren mit Mittelschul- und Rektorprüfung vorgezogen wird. Die nötige Aufsicht darüber, ob die Lehrer auch wirklich eifrig gegen den Völkerkampf wider unsere Landesfeinde und für den Klassenkampf in der eigenen Nation wirken, können die Elternräte übernehmen, und zwar selbstverständlich gegen gute Tagegelder; denn es gibt ja noch immer gänzlich unbeamtete Genossen und Genossinnen, die noch nicht einen Platz an der öffentlichen Futterkrippe gefunden haben.

Dabei sieht sich die Stadt schon genötigt, an anderer Stelle die Futterkrippe zu verengern. Nachdem der Berliner Bevölkerung durch die Rätewirtschaft beim Berliner Magistrat jährlich so rund 4½ Millionen Mark Kosten aufgebürdet sind, scheint man endlich einzusehen, daß es auf dem bisherigen Wege nicht mehr weitergehen kann. Denn die Betriebsräte waren bisher die eigentlichen Herren. Sie hatten es sich so nett eingerichtet. Jeder städtische Betrieb hatte seinen eigenen Betriebsrat und kümmerte sich weder um die städtischen Körperschaften noch um den Magistrat. Die einzelnen Bahnhöfe der Straßenbahn wurden u.a. als selbständige Betriebe erklärt und durften natürlich einen besonderen Rat haben. So kam es denn, daß Berlin allein von rund 15 000 Betriebsräten kommandiert wurde, welche stattliche Körperschaft dann noch einen Zentralbetriebsrat schuf, dessen Mitglieder überhaupt nichts mehr taten, sondern in luxuriös eingerichteten Büros bei dicken Zigarren die Gelder der Bürger in Empfang nahmen. Der Straßenbahn allein erwuchsen durch ihre 268 Betriebsräte jährlich 750 000 Mark Kosten. Weil es nun beim besten Willen nicht mehr so weitergeht, hat die Straßenbahn den letzten Streik dazu benutzt, mit den Betriebsräten aufzuräumen. Künftig soll es nur noch 30 Räte geben, die jedoch immerhin noch jährlich annähernd 100 000 Mark Sitzungsgelder verschlingen werden. Doch es ist noch nicht aller Tage Abend. Die um ihre Posten gekommenen Räte protestieren energisch, und da in Berlin die behördlichen Klubsessel ebenso wacklig sind, wie die Pedale der Amtsinhaber, so ist ein Umfall des Magistrats und ein Sieg der Betriebsräte nicht ausgeschlossen.

Für Leute, die immer die Augen und das Maul offen haben, ist es heute in der Reichhauptstadt nicht schwer, irgendein Rätepöstchen zu ergattern, daneben noch irgendein vollbesoldetes Amt und schließlich noch gar Arbeitslosenunterstützung. Sogar ein richtiger roter Stadtrat hat sich diese, wie jetzt an den Tag gekommen ist, drei Jahre lang auszahlen lassen. Viel schlechter ist die Konjunktur für junge Männer, die nicht ihr Mundwerk kultiviert, sondern für ihre gediegene Bildung gesorgt haben. In dem Anzeigenteil der Täglichen Rundschau sucht ein solcher - "akademisch gebildet, Deutsch, Französisch, Englisch, durchaus zuverlässig, bescheidene Ansprüche" - eine Stellung als Diener. Vielleicht erbarmt sich seiner der rote Stadtrat, der Arbeitslosenunterstützung bezieht, und stellt ihn an. Als Stiefelputzer, Diener, Hofmeister, Hauslehrer, Privatsekretär. Er macht sicher alles zur Zufriedenheit, bringt auch wohl dankbar und diskret der Frau Stadtrat den feinen Umgang bei. Als Stubenmädchen aber könnte der Herr Stadtrat vielleicht eine Oberlehrerin von irgendeinem Berliner Privatlyzeum engagieren. Die sind auch akademisch gebildet, haben zum Teil im teuren Auslande ihr Französisch und Englisch erlernt und bekommen jetzt ein Monatsgehalt von 780 Mark. In den nächsten Tagen wollen diese Oberlehrerinnen mitsamt den Lehrerinnen einen Demonstrationsmarsch zum Kultusministerium unternehmen. In Mänteln, die allesamt sicher noch Friedensware sind; denn neben Brot, Margarine, Kartoffeln, Rübenmus, Ersatzkaffee und Kohlen können diese Damen doch schon seit Jahren sich nicht auch noch Kleider kaufen.

Ist die Not also in manchen Kreisen im Wachsen, so nimmt dafür die Moral auch zusehends zu. Man denke, welche Zumutung man den Berliner Behörden gestellt hat: sie sollten einem spanischen Stiergefechtsunternehmen die Veranstaltung einer richtigen Corrida auf dem Tempelhofer Felde bewilligen. Das haben sie abgelehnt. Aus Gründen der Moral, bitte. Die deutsche Volksmoral verabscheue solche Tierquälereien. Woher weißt du, löbliche Behörde? Ich taxiere, wenn diese spanische Arena, mit Fassungsvermögen für 15 000 Zuschauer, errichtet würde, daß dann acht Tage hintereinander lang 16 000 Menschen sich begeistert darin drängten. Es ist sehr bald zwanzig Jahre her, daß ich mein erstes Stiergefecht sah. Ich gestehe, daß ich zuerst enttäuscht, dann angewidert, schließlich hingerissen war. Trotz ihrer langen, fast lanzenartigen Hörner imponierten diese kleinen andalusischen Stiere zunächst nicht, auch nicht die affenartige Behendigkeit ihrer menschlischen Bedränger. Das Spicken der Stiere mit den Widerhaken der Banderillos und mit explodierenden Feuerwerkskörpern, die noch Brandwunden hinzufügten, war schon ekelhafter; als dann die Picadores auf ihren Schindmähren mit dem verbundenen einen Auge herumgaloppierten und eines der Pferde von dem Stier gespießt wurde, fühlte ich mich elend und bat leise auf Französisch den neben mir sitzenden Artilleriekapitän um einen Schluck Cognac. Aber erhebend war doch in jedem der sechs Akte die Schlußszene, wenn zwischen dem Matador und dem stoßbereit vor ihm stehenden Stier eine Zehntelsekunde über Tod und Leben entschied. Im ganzen: es ist mir schon recht, daß die Berliner Moral das verbietet. Dafür hat sie - das Sechstagerennen der Radfahrer.

Das ist einfach "das" Ereignis der Woche. Schon vor dem Kriege hat man es an derselben Stelle, im Sportpalast mit seiner 160 Meter langen Arena und dem Zuschauerraum für 7000 Personen, gehabt; einmal war sogar der Kronprinz, der keinem Sport fremd blieb, in einer Loge dabei. Auch hier kann man rohes Fleisch sehen. Ein Mensch mit völlig geschundenem Oberschenkel radelt wie besessen. Ein anderer hat ein ganz blutunterlaufenes verquollenes Gesicht. Das kommt von den Stürzen. Um der Stürze willen kommt der größte Teil des Publikums. Täglich in drei Acht-Stunden-Schichten ist das Haus ausverkauft. Also täglich 21 000, in sechs Tagen 126 000 Berliner sind dagewesen. Die Plätze kosten 50 bis 250 Mark. Namentlich der nächtliche Konsum an schäumenden Getränken ist ungeheuer. Ja, wir sind sehr moralisch - und sehr arm. Dieses 144-Stunden-Strampeln von soundsoviel Paar Beinen auf rasenden Zweirädern ist als Energieleistung natürlich fabelhaft. Im Altertum wollte man Maschinen bauen, die Menschen ersetzen könnten. So ging Gott Vulkan am Arme zweier mechanischer Jungfrauen. Heute macht man Menschen zu Maschinen. In der ungeheuren, fast gespenstisch dürftig erleuchteten Halle, da alles Licht nur auf die Fahrbahn geworfen wird, folgen 14 000 Augen aus brennend heißen Gesichtern der glitzernd bunten Räderschlange, die fast lautlos dahingleitet. Die verschiedenfarbigen Sporthemden, die verschiedenen Nummern lassen uns die Rubrizierung der einzelnen Fahrer zu. Ihre Beine bewegen sich wie die Pleuelstangen eines Kurbelgetriebes auf und ab, auf und ab. Immer auf und ab. Häufig sind sie eng beieinander. Wie eine Quecksilberkugel rollt dieser Haufen eilends in die Runde.

Da - da spritzt die Kugel plötzlich auseinander.

In lauter einzelne kleine Kügelchen.

Irgendeiner der Fahrer ist plötzlich in mächtigem Spurt ausgerissen, um die Mitbewerber zu überunden, diese rasen nach, alles zieht sich auseinander, im Hui fliegen die Farbenkleckse, vollkommen wagerecht liegend, um die Kurven. Alle 14 000 Augen kreisen unermüdlich mit, Pfiffe werden laut, hysterische Schreie, wilde Zurufe; Prämien werden ausgelobt, einer setzt "einen Braunen" aus, einer fünf Flaschen Cognac, einer eine Nähmaschine, einer 10 000 Mark, einer eine goldene Uhr, einer eine Guinee. Alles ergreift Partei. Das bißchen Schieberpublikum im Innenraum zählt kaum mit. Die Tausende auf den Plätzen von 50 bis 250 Mark sind echtestes Berlin, Berlin N., Berlin O. Das hat seine helle Lust an der Ausbeutung der Menschenkraft da unten. Wie gebannt starrt es auf Saldow, auf Bauer, auf Lorenz, wenn sie nach einer Zeit des Bummeltempos plötzlich mit ihren Beinen auf die Pedale loshacken, wie die Nadel einer Singernähmaschine auf die Leinwand. Meine Augen, die schon manches gesehen haben, sind nicht so gebannt. Sie wandern zwischen Mannschaft und Publikum hin und her. O Publikum! Gerade erhebt sich ein Brüllen, als sei ein ganzer Viehzug entgleist. "Schieba! Schieba!" Am wildesten gebärden sich einige Gentlemen in feinen Pelzen und mit Brillantringen, die vielleicht schon mal in Monte Carlo gewesen sind, häufiger aber wohl noch "im Alex", dem Berliner Polizeipräsidium. Vor mir sitzt so einer mit einer erheblich auffallenden Begleiterin. Ihr Paradiesvogelschweif wackelt, so energisch winkt sie dem Kellner.

"Kellner! Kellner, bringen Sie meinem Freund endlich die Flasche! Er ist durstig, er kommt gerade aus dem besetzten Gebiet! In Moabit ist nämlich das ganze Kittchen besetzt!"

Man wiehert rundum. So viel Jahre Zuchthaus sieht man selten beieinander. Das sogenannte bessere Verbrechertum Berlins hat für nichts so viel Interesse, als für den Radsport, wo er anfängt grotesk zu werden. Gegessen und getrunken wird übrigens nicht nur im Zuschauerraum. Auch unten von den Radlern während der Fahrt. Ihre Wärter reichen ihnen ein Fläschchen, sie leeren es im Weitersausen und werfen es weg. Ist Gefahr im Verzuge, brennt einer der Konkurrenten plötzlich nach vorwärts durch, so werden die Ersatzleute alarmiert - es ist ja ein Mannschaftsfahren, je zwei Radler lösen sich stets ab - und müssen sich einschieben und mit frischer Kraft losflitzen, während der Genosse mit hämmernden Pulsen abfällt und die Koje aufsucht. Er wird bespritzt, massiert, "fit and well" gemacht und dann hingelegt, um alsbald wie ein Toter einzuschlafen. Vor der Koje thront vielleicht eine zärtliche Dame, ganz in Maulwurf oder Hermelin oder gar Zobel und überwacht die Ruhe ihres Champion mit der Miene einer Königin. Manch einer hat drei solcher Königinnen, die sich in Achtstundenschicht ablösen. Dazu kommen noch die Palastdamen zweiten Grades, die Impresarios, die Masseure, die Trainer, die Eunuchen, hätte ich beinahe gesagt: es ist ein richtiger Großbetrieb, solche Aktiengesellschaft, deren Vermögen aus zwei muskulösen Beinen besteht. Da sind auch die Honorare von 100 000 Mark und darüber für sechs Tage nötig. Nur über eins muß man sich wundern. Daß diesen Fahrern, die sechs Tage lang immer in die Runde sausen, immer in die Runde, das Gehirn schließlich nicht zu Buttermilch wird.

Unsere Tante in Ostpreußen kann sich so etwas natürlich nicht vorstellen. Seit fünfzig Jahren kommt sie immer etwa jedes fünfte Jahr nach Berlin und hat immer dasselbe sensationelle Vergnügungsprogramm. Erstens möchte sie ins Café Bauer. Kann sie haben. Zweitens das Aufziehen der Wache Unter den Linden sehen. Das gibt es jetzt nicht mehr. Drittens in Castans Panoptikum. Auch darauf muß sie das nächste Mal verzichten. Dieses große Wachsfiguren- und Raritätenkabinett wird versteigert, weil selbst zu dem billigen Eintrittspreise von 2 Mark nicht mehr genügend Provinzler als Besuch aufzutreiben waren. Der Schuster-Hauptmann von Köpenick, der General de Wet, der Reichspräsident Ebert, der Raubmörder Schernickel, der Graf Waldersee, der Kapitän Fritz Dreyfus und die vielen anderen, die hier im Laufe von 49 Jahren aufgestellt sind und in wächserner Glanzlosigkeit daherstarren, werden in der Mehrzahl von einem Herrn Becker ersteigert. Vielleicht hat er ein Wanderkabinett. Vielleicht macht er Kirchenlichte aus allen den "geschichtlichen" Männern in Wachs.

Heute werden echte Erinnerungsstücke verkauft. Eine Generalsuniform Kaiser Wilhelms I. für 3000 Mark. Ein Richtschwert, das "nachweislich" 50 Verbrecher geköpft hat, für 4200 Mark.

"Otto, reich mir mal die Weste Napoleons her!"

Sie wird befühlt, man prüft das Echtheitsattest, man kauft sie.

Eine weiße Kürassierreithose Bismarcks!

Sie wird beklopft, wie Puderstaub steigt Talkum auf. Der Auktionator reißt daran herum.

"Immer noch haltbar!"

Ein Unbekannter ersteht sie. Wie ein Scherzbold wispert, im Auftrage des Herrn Josef Wirth.

"Wenn sie man nur nicht zu groß ist!" sagt einer.

"Die kann gar nicht groß genug sein!" lacht ein anderer.
23. Februar 1922 (Donnerstag)


24

Weltgeschichte der Lüge - Der Kaiser und Frau v. Rochow - Die Goethe-Rede des Dr.juris - In der Ära Ebert - Wegen Einbruchs geschlossen, wegen Kohlenmangels geschlossen - Zieh' doch dein Dirndl an - Immer noch Müllkutscherstreik - Republikanische Titelseuche - Minna als Nadelkissen

Schon um des Titels willen, auch wenn es nachher eine Enttäuschung sein sollte, muß ich mir das Buch von Professor Wolf kaufen, dessen Anzeige mir soeben in die Hände fällt. Es heißt: "Weltgeschichte der Lüge." Das könnte das erschütterndste Werk sein, das je durch die Presse gegangen ist. Von Esaus Bruder Jakob, und Judas Ischarioth bis zu Lord Northcliffe und Max von Baden. Ist denn nicht auch unser halbtausendjähriges Zollernreich uns einfach weggelogen worden? Wilson log, es gäbe, wenn wir uns der Monarchie entledigten, einen Versöhnungsfrieden mit Deutschland, und am 9. November setzte die deutsche Reichskanzlei den erlogenen Funkspruch in die Welt, der Kaiser habe abgedankt, was in Wahrheit erst nach Wochen geschah, als die Lüge schon alles umgestürzt hatte. Brüchig wurde die Disziplin erst, als wir kaiserlos waren. Alles Vorhergehende waren Revolten, die man hätte niedertreten können. Wie wird noch heute das Volk über den Kaiser betrogen! Überall taucht das Gerede auf, Wilhelm II. wolle bald wieder heiraten: eine Frau v. Rochow, deren Mann als Offizier im Kriege gefallen sei und zu der der Kaiser schon seit einigen Jahren freundschaftliche Beziehungen unterhalte, sei die Erkorene. Also zunächst: Herr v. Rochow ist nicht im Kriege gefallen, sondern erst im vorigen Jahre gestorben. Weiter: Frau v. Rochow ist eine Dame von - 62 Jahren. Und drittens: sie kam als gute Beraterin ins Haus Doorn, weil die Dame, der der Haushalt nach dem Tode der Kaiserin oblag, Frau v. Gontard, mit den verfügbaren verhältnismäßig geringen Mitteln nicht zu arbeiten verstand. Sie konnte ein Haushaltsbuch nicht auf dem laufenden halten. Sie machte Ausgaben ohne Belege. Sie verwirtschaftete so viel, daß mit einer finanziellen Katastrophe zu rechnen war. Das ist alles.

An die Fersen der jetzigen Beherrscher Deutschlands braucht sich die Lüge nicht zu heften. Ihnen folgt nur ein Lächeln. Wir vom alten geistigen Deutschland sind Herabkömmlinge geworden, aber ohne falsche Scham holt sich die Geheimratswitwe Freitags beim Schlächter im großen irdenen Topf die billige Wurstsuppe, und deren Witterung ist besser als die der heutigen republikanischen Emporkömmlinge. Welch erquickender Humor liegt doch, um nur ein Beispiel aus den letzten Tagen zu wählen, über dem Auftreten unseres Reichspräsidenten in der Frankfurter Goethe-Woche! Er hat da natürlich eine Rede geredet. Oder vielmehr abgelesen. Früher machte ihm so etwas der Genosse Ulrich Rauscher, die ehemalige Feuilletongröße der Frankfurter Zeitung und nunmehrige republikanische Exzellenz. Da gab es immer ein schönes Zitat von Uhland oder Keller oder Barbusse, und da staunte der Laie, wie gebildet unser Fritz Ebert doch sei. Nun ist Rauscher nicht mehr zur Verfügung in Berlin. Aber wozu hat man denn als Reichspräsident seine studierten Leute im Hofstaat? Also da ist - ich wette, er hat die Rede verfaßt - ein er darunter, der seinen Doktor juris vor Jahren summa cum laude gemacht hat, der ein trefflicher Jurist und Beamter ist, aber mit Dichtung und Philosophie nicht gerade auf dem Duzfuße steht. Er hat in dieser Rede - Goethe durch Herrn Ebert für Deutschland entdecken lassen. Jenen großen Dichter Goethe, der, wie Fritz Ebert gehorsam vorlas, "bisher nur einem kleinen Kreise von Fachgelehrten und Bewunderern bekannt war"! Und nun grienen sogar die Berliner Volksschüler, die weder zu den Fachgelehrten noch zu einem Grüppchen ekstatischer Bewunderer Goethes gehören, immerhin aber seinen "Erlkönig" oder seinen "Zauberlehrling" und noch manches andere von ihm auswendig kennen, und deren Eltern doch mal den "Faust" oder "Egmont" oder "Götz" im Theater gesehen haben.

Der arme Ebert. Wie er's macht, ist's falsch. Von der leutseligen Badehose an bis zur philosophischen Goethe-Rede.

Nun soll irgendwann einmal ein neuer Reichspräsident gewählt werden, da Eberts Amtszeit verfassungsgemäß schon im August 1919 abgelaufen war. Aber das geht nicht so schnell. Seine - Pensionsansprüche sind noch nicht geregelt, verkünden seine Freunde im Reichstag. Also ein Gesetz darüber ist vorerst nötig. Man kann doch nicht verlangen, daß er, wie es ehemalige Präsidenten in Frankreich oder Amerika tun, einfach wieder seinen früheren Beruf ergreift. Die haben es gut. Die sind meist Rechtsanwälte. Fritz Ebert aber steht im Berliner Adreßbuch von 1914 einfach als "Sekretär" verzeichnet, was beileibe nicht Staatssekretär bedeutet, und hatte damals in Berlin-Treptow, Defreggerstraße 20, eine kleine Wohnung im dritten Stock inne. Das kann man ihm jetzt nicht mehr zumuten, wo er so viele Dante-, Kant- und Goethe-Feiern mitgemacht und so viele vornehme Diplomaten bei sich im Palais in der Wilhelmstraße empfangen hat.

Wenn erst die neuen Geschichtsbücher für die Schule herauskommen, an denen fieberhaft gearbeitet wird, werden wir erfahren, wieviel wir dieser ersten Periode des neuen Deutschlands verdanken. Nicht nur Friede, Freiheit und Brot zu 13,90 Mark das Stück. Besonders die Reichshauptstadt hat einen Riesenaufschwung genommen. Sogar ein Bedürfnishäuschen im Tiergarten trägt die Inschrift:

"Wegen Einbruchs geschlossen!"

Die Versicherungsprämien gegen Einbruchsdiebstahl sind überhaupt im ganzen Reiche außerordentlich in die Höhe geschnellt. Wie sagte doch Ebert in Weimar? "Wir sind vom Imperialismus zum Idealismus gekommen, von der Weltmacht zur geistigen Größe!" Wir haben nicht nur die Trennung von Schule und Kirche erreicht, sondern sogar die Trennung - von Schule und Unterricht. Seit vielen Wochen ist ein großer Teil der Berliner Schulen geschlossen.

"Wegen Kohlenmangels."

Auch jetzt noch, bei 10 Grad Wärme im Schatten; denn es könnte doch mit dem Deubel zugehen, daß es wieder kalt würde. Lehrer und Schüler können bummeln. Unterricht ist nicht. Also auch nicht Goethe. Jedenfalls scheint es nicht von Goethe zu sein, was heute schon die Kinder auf den Berliner Straßen trällern:

"Zieh' doch dein Dirndl an
Von Tegernsee,
Daß ich dich küssen kann
Im grünen Klee!",

wobei es nicht ganz erfindlich ist, weshalb das Dirndlkleid die Vorbedingung zum Geküßtwerden sein soll. Geht es wirklich nicht ohne? Aber in jedem Tanzcafé singen Jünglinge und Mädchen, während sie wackeln und schieben, den Blödsinn herunter, und von dort sickert er auf die Straße. Hin und wieder hört man ja auch noch richtige Kinderliedchen. Im Osten: "Ri-ra-rutsch, wir fahren mit der Kutsch", im Westen: "À Paris à Paris, sur mon petit cheval gris". Doch das ist selten. Die "Schlager" schlagen alles, schlagen auch Poesie und Phantasie tot.

Also das ist "geistige Größe", die wir erreicht haben. Ihr entspricht alles übrige. Da die Berliner Müllkutscher schon in der elften Woche streiken und die Unrathaufen auf den Berliner Höfen nicht mehr durch Frost zusammengehalten werden, fließt die bräunliche Tunke daher und bringt die neue Freiheit in guten Geruch. Aber wir kommen auch über diesen Rubikon hinweg, behauptet unser klassisch gebildeter Portier. "Wie schonst der mit Recht so verstorbene Julius Cäsar, wo er die jroße Schlacht jewonnen hat, rief: Beene wie die Mieze!"

In all dem Ungemach dieser Zeit, an dem selbstverständlich nur Ludendorff schuld ist, haben wir aber wenigstens den Trost, daß der einzige üble Paragraph der Weimarer Verfassung, in dem jede Titelverleihung verboten wird, auf allgemeines Verlangen stillschweigend als abgeschafft gilt. So sind unsere Landmesser zu Magistratsräten ernannt worden. Das kostet nichts und klingt nach was. Auch hat der Reichsrat allerhöchst entschieden, daß die Apothekerlehrlinge und Apothekergehilfen fortan Apothekerpraktikanten und Apothekerassistenten heißen. Daraufhin ist die Medizin gleich noch einmal so teuer geworden. Schade. Dem hochgebildeten Stande unserer Pharmazeuten hätte ich es eigentlich nicht zugetraut, daß er der Deckung hinter einem hochtrabenden neuen Titel bedarf, der doch genau dasselbe besagt wie der alte. Nächstens wird wohl noch die Zeitung zur Skripturenökonomie und das Tippfräulein zur Konfusionsrätin ernannt, damit die liebe Seele Ruhe hat. Seitdem Pastors Minna laut republikanischem Gesetz nicht mehr Dienstmädchen, sondern nur noch Hausgehilfin betitelt werden darf, dieselbe Minna, von der ich vor Jahr und Tag erzählte, daß sie "als Schokei" auf den Maskenball ging, fühlt sie sich jedenfalls zu Geist verpflichtet. Jockei und Spanierin und Königin der Nacht ist altmodisch. Außerdem kostet das Köstüm leihweise für einen Abend 200 Mark, dazu 1000 Mark Pfandgebühr. "Ick jeh als Nadelkissen!" verkündete am gestrigen Aschermittwoch - in Berlin hört die Saison nimmer auf - die Hausgehilfin Minna. Im vorigen Jahr hat man sie, als sie auf dem Kostümfest des Vereins der Berliner Laternenanzünder als Jockei erschien, zu sehr in die Reithosen gezwickt. Also nun: Nadelkissen. Ihre südliche Rückseite ist fabelhaft gepolstert. Da kann man einen dreizölligen Zimmermannsnagel unbesorgt hineinschlagen.
2.März 1922 (Donnerstag)



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Glossen 25 - 27

© Karlheinz Everts