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Großstadtwinter - Der Kokain-Schlepper - Bedienung: M.d.L. - Lukrative Berufe - Geistige Franzosenherrschaft in Berlin - "Über unsere Kraft" in der Volksbühne - Divisionsabend
Sowie man aus der Tür tritt, bellt der Frost einen an. Sonst merkt der Berliner nur selten etwas vom wirklichen Winter, er kennt nicht die Poesie des Rauhreifs, des Schlittengeklingels und der duftenden Bratäpfel. Aber diesmal ist's arg. Klirrend fegt der Ostwind über den Landwehrkanal hinein in die Stadt. In entzündete Augen dringt Staub, denn sprengen und schrubben kann man die Straßen nicht mehr. Am Steuerhäuschen vor dem Tempelhofer Felde liegt seit mehreren Tagen eine tote Katze. Wenn man sie mit dem Fuße beiseite stößt, erklingt sie wie gesprungenes Porzellan. Wenn die vielen Kopfschützer und Kniewärmer der ersten Kriegszeit nicht schon längst wieder aufgeräufelt und zu Strümpfen umgestrickt wären, könnte der Berliner sich besser einwickeln, so aber hastet er mißvergnügt und frierend einher. Es gibt natürlich auch Leute mit Valutapelzen und Filmdirektoren mit geheizten Autos, aber noch mehr andere Menschen, die in der Stadt- oder Trambahn sich in Ermangelung eines wärmenden Mantels in ihren fadenscheinigen Rock und in ihren noch fadenscheinigeren Hosenboden hineinkauern müssen. Sie haben als Häufchen Elend ihre alte Galgenvogelmiene ganz verloren.
Auch die sonst so bedächtig mit dem offen zur Schau getragenen "Gefühl der Wurstigkeit" daherschiebenden Landstreicher rennen verkniffen und böse um die Ecken bis zum nächsten Bouillonkeller. Und steuerzahlende Biedermänner, in deren Nähe man sich sonst immer geborgen fühlte, schreiten mit einem gewissen Zuge bitterer Entschlossenheit um die frostrote Nase einher, als wollten sie der nächsten begegnenden Dame den Pompadour entreißen. Der Berliner Winter macht unliebenswürdig. Er hat nichts von der Frische und Poesie seines kleinstädtischen oder ländlichen Vetters. Trotzdem gibt es Berufe, die ihm standhalten müssen. Nicht nur den des zähneklappernden Schleppers für Nacht- und Nepplokale. Vor mir auf der Friedrichstraße geht am lichten Tage in kurzem Sportpelz ein übel aussehender Jüngling mit finnigen, eingefallenen Wangen. Als ich ihn überhole, läßt er in widerlich-werbendem Fistelton halblaut ein einziges Wort langsam vernehmen: "Kokain!"
Da flüchtet man denn doch lieber in die kleinbürgerliche Wohlanständigkeit, in irgendeine warme Kutscherkneipe, in der es schon während der Notzeit 1917 immer noch einen guten Happen gab. In der Köthener Straße Nr. 46 winkt ein Schultheißschild; ein eisiges Glas Bockbier am rotglühenden Ofen und nachher ein siedeheißes Glas Grog gegen den Zug von der Tür her mag den Stoffwechsel wieder auf den Schwung bringen. Am Ladentisch steht die Wirtin, dieses Konservenfleisch von 1½ Meter Höhe und dito Umfang, und säbelt den überschäumenden Schmand von dem Biere. Wenn sie sich über den Tisch neigt, hat ihr gewaltiger Busen endlich eine Stütze; man prallt zurück, denn man fürchtet einen Bergrutsch. Das ist die Frau Dr. Paula Türck, preußische Landtagsabgeordnete und Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion. Schon als Fräulein war sie Doktor und unterrichtete an einer Chemieschule für Damen. Ihr Mann, ein ehemaliger Schauspieler xten Ranges, löst sie im Ausschank ab, wenn sie mal um die Ecke zum Landtag muß, um schnell ein paar Gesetze zu machen. "Ich bin in höchstens einer Stunde wieder da, gib auf den Gulasch und den Kaffee acht; die zwei Korbflaschen Cognac stehen hinten." Nun sehe ich die sympathische Dame, um deren kurze Stempel sich ein paar halb herabgefallene dicke Wollstrümpfe ringeln, hinauswatscheln, das Portefeuille des Staatsmannes unter dem Arm. Ihre Konfession sieht man ihr auf zwanzig Meter an. Sie ist natürlich Dissidentin. Und trotz ihres roten Sozialismus so duldsam, daß sogar die "Deutsche Zeitung" in ihrem Lokale hängt. Es scheint, daß sie wie so viele andere in der akademischen Bildung, die heute den Mann nicht mehr nährt, ein Haar gefunden hat, und so hat sie noch rechtzeitig - sie blüht erst im vierzigsten Jahre - umgesattelt und den doppelten Beruf einer Kneipwirtin und Abgeordneten ergriffen; Da kann sie es noch zum Reichspräsidenten bringen. Man erlebt ja heute, wo wir zum Lande der unbeschränkten Möglichkeiten und der unmöglichsten Beschränktheit geworden sind, ganz merkwürdige Berufswechsel. Ich meine hier nicht den Aufstieg der Tüchtigen, etwa den eines ehemaligen Pferdediebes zum Polizeipräsidenten, sondern den umgekehrten Weg. Einer meiner Bekannten hat einen Sohn, der zuerst "auf Ingenieur studiert" hat und dann Schlosser geworden ist. Der Vater sagt: "Nun ist er theoretisch und praktisch gut vorgebildet, nun könnte er Einbrecher werden, denn das ist heute doch der lukrativste Beruf."
Sicherlich ist der alte Herr ein bißchen einseitig. Er übertreibt. Es gibt doch noch eine Menge anderer Menschen, die gut verdienen. Sonst könnten doch nicht alle unsere Theater allabendlich so überfüllt sein und vor einzelnen Kabaretts mit sündhaft teurem Wein immer eine ganze Autokette vorfahren. Überall ist auch die literarische Küche französisch. In Berlin haben wir den schlechtesten Spielplan ganz Deutschlands, weil die vielen herreisenden Berlinbummler aus dem Reiche das Gepfefferte wünschen. Der beste Beweis dafür, daß dies der Grund ist ist - München. Die Münchener Theater produzieren den zweitschlechtesten Fremdenschund, weil München eben als Fremdenstadt an nächster Stelle steht. Alle anderen großstädtischen Bühnen Deutschlands haben ein besseres Repertoire, obwohl auch sie gelegentlich durch Feydeau und ähnliche Sudelköche ihr Parkett mästen lassen. Es ist der alte deutsche Jammer, daß wir immer wieder der Fremdherrschaft unterliegen. Bei Beginn unserer Geschichte hämmern Germanenäxte an die Tore Roms. Die rauhen, reinen, keuschen Vandalen zertrümmern erbittert die "nackigen" Göttinnen aus Marmor und müssen es sich seither gefallen lassen, daß ihre eigenen Nachkommen an ganz falscher Stelle von Vandalismus sprechen. Die germanische Gegenwehr war zuzeiten stark. Trotzdem hat Rom dreimal die deutsche Welt unter sich gezwungen: durch das Schwert, durch die Kirche, durch das Recht. Noch schlimmer ist von jeher der französische Einfluß gewesen, ob es sich nun um einen Raub an deutschem Land oder an deutscher Seele handelte. Die Franzosen hatten stets einen starken Bundesgenossen, den "à-la-mode-Teufel", gegen den vergeblich unsere Besten aufbegehrten.
Und doch können sich unsere Bühnen, wenn sie nur wollen, es leisten, ganz herzhaft altmodisch zu sein, ohne dadurch den Kassenrapport zu gefährden. Wenn - ihr Publikum danach ist. Die "Volksbühne" am Bülowplatz kann es. Sie ist, abgesehen von der Reinhardtschen Riesenscheune, das größte Theater Berlins und trotzdem mit ihrer durchgehenden Mahagonitäfelung behaglich und vornehm, außerdem dank ihrer vortrefflichen Anlage akustisch so günstig, daß auch der "meilenweit entfernte" Zuhörer im dritten Rang jedes Wort versteht. Sie ist ferner das relativ billigste Theater Berlins, in dem es noch für 51 Mark einen guten Parkettplatz gibt, so daß sie nicht auf die Schieber und ihre Freundinnen und die Geschäftsreisenden aus dem Reiche angewiesen ist, sondern von ihrem alten - zum Teil akademisch gebildeten - Stammpublikum aus dem Mittelstande leben kann. Und schließlich ist Friedrich Kayßler, der hochgemute, ihr Leiter, der nicht nur der Abgott aller Berliner ehrsamen Backfische ist, sondern es ebenso versteht, den schlichtesten Arbeiter und Gewerkschaftler zu begeistern. Man sieht hier keine Toiletten, kaum eine "Bluse mit Oberlicht" oder sonst ein durchbrochenes Kleidungsstück. Man kommt auch nicht hierher, um seine Brillantenboutons zur Schau zu tragen oder sich die neuesten Klatschgeschichten zuzuflüstern. Hier sucht und findet man Erhebung in der Kunst. Und sie ist von verschwenderischem Reichtum nach dem alten Grundsatz, daß für das "Volk" das Beste gerade gut genug ist: gute Stücke, hervorragende Inszenierung. Seit Jahren habe ich so etwas Aufwühlendes, so etwas Erschütterndes nicht gesehen wie jetzt in der Volksbühne Björnsons "Über unsere Kraft" - den ersten Teil, die Tragödie des Wunderpfarrers Sang. Kayßler selbst gibt den Sang; Helene Fehdmer, seine Gattin, spielt ergreifend die gelähmte Pfarrersfrau, die endlich, nachdem der glaubensstarke Pfarrer die Himmel niedergerungen, aufsteht und wandelt, um dann in der Erfüllung tot niederzubrechen - weil es über unsere Kraft geht, als armseliges Menschenwerkzeug das Wunder zu bewältigen. Donnernd gehen unterwaschene Berge zu Tal, sieghaft betet in der unberührt stehengebliebenen Kirche der Pfarrer, atemlos lauschen auf der Bühne Gläubige und Ungläubige, im Parkett und in den Rängen ein tausendköpfiges Publikum. Da ist fast nichts mehr Theater. Alles ist reine, herbe Schlichtheit angesichts der gewaltigen Bergriesen und des schimmerndes Fjordes, tief unten in der von der Mitternachtssonne und - den Strahlen Gottes durchleuchteten nordischen Pfarrstube. Man zweifelt mit den zur Begutachtung gekommenen Amtsbrüdern, man hofft mit den Kindern und mit dem Volk, man lächelt über Engigkeit und Spießbürgertum, man starrt schließlich mit weitaufgerissenen Augen auf das Wunder und auf die tragische Lösung der übermächtigen Spannung. Und das schlichteste Wunder ist schließlich doch dieses strahlende Gotteskind, dieser vom Zyklopen Björnson geformte Pfarrer, dieser Friedrich Kayßler, der in so unglaublicher Wahrheit durch die in ihrer Not erschütternden oder in ihrer Verknöcherung lächerlichen Menschlein dahinschreitet. Kein Schauspieler: ein Darsteller. Nein: ein Künder, ein Emporschweber, an dessen Mantelsaum man sich klammern möchte. Das ist tiefstes Erleben. Der Vorhang senkt sich. Wie die Träumenden gehen die Besucher von dannen. Vor mir schreitet ein junges Ehepaar; vielleicht sind's kleine Handwerker; er hält sie fest und innig an der Hand und neigt sich zu ihr und sagt ihr aus übervollem Herzen: "Wenn ich aus dem Theater komme, dann bin ich immer ein besserer Mensch!"
Hoffentlich erreicht meine Empfehlung der Volksbühne recht viele Freunde im Reich und führt sie zu Kayßler. Es kommen ja nicht nur Leute in die Reichshauptstadt, die das "dolle" Berlin bei Tag und Nacht sehen und nachher im Skatklub davon erzählen wollen, sondern auch solche, die sich nach geistiger Erfrischung im besten Sinne des Wortes sehnen. Auch ungezählte Kameraden der alten Armee treffen sich gerade im Winter, einmal im Jahre, in Berlin zum Divisionsabend oder in einer anderen Erinnerungsgemeinschaft. Bei manchen wird es freilich gerade nur noch zu einer Reise vierter Klasse und den übrigen kleinen Ausgaben reichen, und auch das nur, falls sie bei einem Berliner Bekannten nächtigen können, aber nicht zu Theaterbesuch. Da sitze ich am letzten Sonntag mit den lieben alten Freunden im Landwehrkasino zusammen. Der eine - mit dem "kleinen" Pour-le-Mérite, dem Hohenzollernorden mit Schwertern, im Knopfloch - hat jetzt ein kleines Bureau für Hagelversicherung in einem Provinzstädtchen, der andere, ein alter Stabsoffizier mit jungen Kindern, arbeitet auf dem Kontorschemel einer Filmgesellschaft, der dritte ernährt auch noch seine Eltern durch eine Agentur für vergrößerte Photographie; es sind nicht allzu viele, die das heutige Leben "in vollen Zügen" nehmen können. Aber ein schier unzerstörbarer Optimismus lebt in ihnen allen. Da kann man als flügellahmer Berliner, den das Novemberelend fast geknickt hat, wieder frischfröhliche Hoffnung lernen. Die Augen werden einem wieder jung, wenn man beispielsweise eine Visitenkarte sieht, wie sie mir auf dem letzten Divisionsabend überreicht wurde. Ich lasse nur den Familiennamen weg:
Hans . . . . . |
26. Januar 1922 (Donnerstag)
20
Die bronzierte Frau von Kühlmann - Ententegeselligkeit und deutsche Damen - Das Fest der "Sozialistischen Monatshefte" - Auf dem Presseball - Toiletten von heute - Fridericus Rex, unser König und Held! - Kaisers Geburtstag in Berlin N - Die monarchische Welle aus der Tiefe
Man schmollt. Welch eine Rücksichtslosigkeit von Papst Benedikt, mitten in der gesellschaftlichen Hochsaison zu sterben! Nun muß die offizielle Welt eine Zeitlang trauern. Die Diners wurden zwar nicht abgesagt; so konnten Wirth und Rathenau, dieser mit der ganzen ihm eigenen Liebenswürdigkeit, jener wegen seines mangelhaften Schulfranzösisch etwas einsilbiger, an dem großen diplomatischen Essen in der französischen Gesandtschaft in Berlin teilnehmen. Aber das lustige Fest mit Damen wurde verschoben. Erst gestern konnte das Kostümfest beim englischen Botschafter steigen. Die kostbarste Erscheinung, dank den hinterlassenen Millionen ihres Herrn Papas, war auf diesem Balle Frau von Kühlmann, geborene Friedländer-Fuld. Sie kam als Inderin, als Nabobtochter, in märchenhaftem Schmuck. Die Haut - sehr viel Haut - ganz bronziert, so daß man ihr augenzwinkernd etwas von "eigenartiger orientalischer Schönheit" zuflüstern konnte. Ob Wirth und Rathenau dies sagten, die auch hier mit von der Partie waren, weiß man nicht: vielleicht war es Theodor Wolff, aber bestimmt kein Engländer, wenn er aufrichtig war. Man hat für die Frauen der Friedländer-Sorte mit ihren Kühlmännern nicht allzuviel übrig. Man findet, daß sie etwas übereifrig die Gesellschaft der Entente suchen. Der Militärattaché einer fremden Macht in Berlin - ich brauche ihn nicht zu nennen, denn so wie er denken auch alle übrigen - erklärte neulich, der Verkehr mit diesen deutschen Damen mache gar keinen Spaß. Sie seien weder besonders geistvoll, noch verstünden sie besonders zu flirten. Man könne mit ihnen - und das gilt besonders für Berlin und für München - nur sehr eindeutig sprechen. Mit manchen ganz eindeutig zweideutig.
Eingeladen war bei Lord und Lady Albernon, bei der Vertretung seiner großbritannischen Majestät, auch unser Landesvater Fritz Ebert. Man hätte ihn gar zu gern dort gesehen. Einige junge Damen der internationalen Diplomatie zückten immer wieder ihre goldenen Stielbrillen und suchten die Reihen nach ihm ab. "So was muß man gesehen haben, da muß man reingetreten sein", sagt in solchen Fällen, indem er den Budenausrufer nachahmt, der Berliner. Aber Herr Fritz Ebert - das ist wirklich taktvoll von ihm - tat den Lästerzungen nicht den Gefallen, sondern schickte nur seinen Meißner hin, der in unserer Republik das ist, was man in Frankreich den "Chef des Protokolls" nennt, eine Art Hofmarschall. Ebert ist nicht für das Fremdländische und auch nicht für das Gehopse. Er meidet auch die feudalen Feste seiner eigenen Partei, wo "Arbeiterschweiß" vergossen wird zu 160 bis 800 Mark die Flasche, je nach Herkunft aus Freyburg und Geisenheim, aus Epernay und Reims. Die Genossen im Reiche haben wohl kaum eine Ahnung, wie ihre führende Intelligenz in Berlin Feste zu feiern pflegt. Ich meine den - Ball der "Sozialistischen Monatshefte". Man konstituierte sich da schließlich als Sektkonsumverein, und Konsumvereine sind ja schließlich unangreifbar.
Mußte man hier mehr oder weniger als überzeugter Republikaner legitimiert sein, so wurde auf dem Presseball, der für Berlin immer einen Scheitelpunkt der Berliner Saison bedeutet, nach dergleichen nicht gefragt, sondern lediglich nach der Einführung durch irgendein Mitglied des Vereins Berliner Presse. Weist man eine solche Unterschrift vor, so ist man zugelassen und darf die 200 Mark für die Eintrittskarte entrichten. Der Name des Bürgen wird auch auf der Eintrittskarte vermerkt. So hat man auf dem Presseball, dieser größten aller öffentlichen Tanzveranstaltungen, die anderswo nicht vorhandene Gewähr, daß jegliche Halbwelt ferngehalten wird. Es ist ein "durchaus anständiger" Ball. Natürlich kann man nicht bei jeder Begleiterin, etwa eines tschechoslowakischen Gesandtschaftsattachés, feststellen, ob sie für Legitimität geschaffen ist oder nicht. Aber so was verschwindet. Die große Masse der Besucher ist guter, behäbiger Mittelstand, der mal die Großen dieser Erde sehen will, die in ihren Logen sozusagen Defilierkur abhalten. Von den annähernd 5000 Festteilnehmern tanzen natürlich die wenigsten. Die übrigen werden sofort im Trommelfeuer knallender Korken seßhaft und unterbrechen diese Tätigkeit eben nur, um sich durch die Masse an den Logen vorüberzuschieben wie Sonntags das Publikum im Zoologischen Garten an den Raubtierkäfigen. Alles will natürlich gern Herrn Ebert sehen. Auch hier tut er, und das ist wieder nett von ihm, den Leuten nicht den Gefallen. Die verdammten Landeskinder haben heutzutage ja so wenig Ehrfurcht vor Größe.
Aber dafür steht auf dem Schnittpunkt der beiden Diagonalen der großen Loge des Marmorsaales im Zoo ein patenter, schlanker, hübscher, rotbäckiger Oberlehrer der Mathematik und teilt fortgesetzt diagonale Händedrücke aus, Herr Josef Wirth. Das Herz lacht einem im Leibe, wenn man ihn da in seiner unverbrauchten Frische so sieht. Warum in aller Welt ist er aber Reichskanzler geworden? Ein so prächtiger Oberlehrer. Schade: denn nun zieht man unwillkürlich Vergleiche, denkt an frühere Reichskanzler auf dem Presseballe und findet, daß dieser Wirth noch nicht einmal Bülowformat hat, und das tut einem leid auf einem solchen Feste, wo man aufgeräumter ist denn je, wo man die Politik und alles sonstige Mißbehagen weggesteckt hat, wo man nach dem Motiv: "Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!" selbst dem präsidierenden Herrn Schorsch Bernhard von der Tante Voß an die blauschwarzen Bartstoppeln sinken könnte. Ich bin mit meinen Damen oben im ersten Rang an einem Tisch untergekommen, an dem unser lieber vaterländischer Dichter Paul Warncke sitzt, dieser feurige Jüngling in schlohweißem Haar, und da ist gut weilen. Unten im Saale und in den vielen anderen Sälen wird getanzt, schiebt das Publikum sich einher.
Aber es ist nicht mehr das farbige Bild von ehedem. Es fehlen die vielen jungen Gardeoffiziere, es fehlen die alten Herren der früheren oberen Zehntausend mit ihren glitzernden Sternen, und auch die Damenwelt selbst ist nicht mehr so schmetterlingsbunt.
Die Toiletten? Nun ja, alles, was zu Film oder Bühne gehört, fällt durch Extravaganzen auf. Am meisten vielleicht Lil Dagover, die königlich schöne, deren Robe über und über mit hängenden Pleureusen benäht ist, der gesamte entblößte Rücken aber mit nichts, nicht einmal einem Ausschnitt. Noch eigenartiger und doch nicht so auffällig sah eine junge Russin aus, die von der Schulter bis zum halben Oberschenkel ein eng anliegendes Prinzeßkleid aus weißen Taubenfedern trug. Im Anschluß daran, unten abstehend wie ein Ballettröckchen, ein weißes Tüllgewoge, aus dem Taubenköpfe lugten. Im übrigen trug man buchstäblich alles, was in den letzten fünf Jahren Mode gewesen ist, bis zu dem bloß gesteckten Kleid aus Brokat. Im allgemeinen ist man dezenter geworden. Die Damen, die doch nicht allesamt junonische Figuren haben, sehen endlich ein, daß man nicht immer um so anziehender ist, je ausgezogener man ist. Leider ist die Stirnbandseuche noch nicht ausgestanden. Jede zweite Dame preßt sich, auch wenn sie eine wundervoll klare Stirn zu zeigen hat, solch Band aus Brokat oder Jett oder Metall oder Schwarzglas um die Schläfen. Es wird wohl das letztemal sein. Ebenso unstreitig ist es aber auch, daß der nur fußfreie dem wadenfreien Rock wieder Boden abgewinnt. Das alte Schnadahüpfel: "Pepita hat ein kurzes Kleid, kurzes Kleid, und wenn sie einen Hopser tut, Hopser tut ..." wird allmählich wieder nur für Sonderfälle vorkommen.
Das übrige Drum und Dran, die Tombola, die Damenspende, ist auch auf diesem Presseball wie sonst, nur daß der früher so nette Almanach mit seinen sentimentalen oder kernigen Originalbeiträgen deutscher Dichter diesmal eine Anzeigenbeilage enthält, in der Füllfederhalter, Jupons, Herrenanzüge, Zigaretten, Leibträger, Liköre und Seidenstrümpfe empfohlen werden. Das ist für einen wirklich vornehmen Ball eine Geschmacklosigkeit. Die Welt wird popliger.
Am Sonnabend Presseball, am Sonntag Ufa-Première. "Man" muß dort gewesen sein, hier wie dort. Einst vor hundert und etlichen Jahren war man gebildet, wenn man in der schönen Literatur Bescheid wußte. Man ergriff Partei im Xenienstreit. Leutnants auf den Wachstuben drechselten Verse. Dann mußte man über Politik, später über Sport, schließlich über Technik mitzureden wissen. Heute gehöre ich zu den Ungebildetsten, weil ich jährlich höchstens zweimal in ein Kino gehe. Aber solch eine Première hat es in sich. Schon das gesellschaftliche Bild: Trotz der Bärenkälte sitzen im ersten Rang, gewärmt bloß durch Lorbeerkränze und anderes Ruhmesgemüse, die weiblichen Filmstars in luftiger Balltoilette. Auch im Parkett unwahrscheinlich blaß geschminkte Damen, neben ihnen berufsmäßig blasse Filmdirektoren von auswärts. Und die erleben nun ihr blaues Wunder. Fridericus Rex. Man sieht Bilder von auserlesener Güte, besonders schön die des Einzuges Friedrich Wilhelms I., die wie Scherenschnitte wirken. Man erlebt grausige Sensationen, wie die Szene der Hinrichtung Kattes. Man kann als Northcliffe-Agent auch mit dem Eindruck, den die "Brutalität" des preußischen Königtums hervorruft, sehr zufrieden sein. Ein Franzose im Parkett wird ganz giftig vergnügt. "Klatsch doch, du Affe!" raunt er seinem Jungen zu. Aber nun das Wunder, das große Wunder in diesem abgebrühten Publikum. Die friderizianische Garde marschiert auf. Stürmischer Beifall. Die alten Preußenfahnen werden in den Weißen Saal gebracht. Das Volk huldigt dem auf dem Balkon des Schlosses stehenden König. Minutenlanges Händeklatschen. Die Musik spielt "Fridericus Rex, unser König und Held". Man rast vor Begeisterung. Man schluchzt, man springt von den Sitzen. Echt oder nicht echt? Ist die große Stimmungswende im Anzug?
Sie ist schon da. Wie es im Reiche steht, weiß ich nicht, in Berlin aber sieht jeder Helläugige, daß auch Ausnahmegesetze die Autorität des Staates nicht mehr halten. Irgendwoher erklingen die Glocken der versunkenen Vineta. Man weiß nicht, von wannen der Klang kommt, aber jedenfalls aus der tiefsten Tiefe, aus dem "Volk", in jeder gewünschten Bedeutung. Der Ruf nach dem König wird in den Herzen laut, bis er alles andere überbraust; mag es noch Jahre dauern, aber er reißt nicht mehr ab. Ich meine nicht etwa jetzt, zufällig jetzt, wo jeder zweite Mensch über den Eisenbahnerstreik flucht, der früher undenkbar war, wo selbst bei kargem Gehalt die Lokomotivführer als die Treuesten der Treuen durchhielten. Nein, solch ein Anstoß ist gar nicht nötig. Man freut sich nur über jede Veranlassung, um es einander sagen zu können. Zuerst leise und heimlich, dann laut und offen, wenn man entdeckt, daß alle Nachbarn ebenso denken. Ich meine auch nicht die "feinen Leute", die am 27. Januar den Smoking anzogen, in irgendein Schlemmerlokal Unter den Linden gingen, Schaumwein tranken, die Musik patriotische Lieder spielen ließen und "Aufstehen! Austehen!" zu den Nebentischen hinüberbrüllten. Es mag viele solche Grüppchen gegeben haben. Der Teufel hole sie lotweise! Nein, ich war oben im Norden Berlins, in dem Riesensaal an der Chausseestraße, wo der Jugendbund Bismarck seine Feier abhielt. Gewiß, es sind auch "sowieso" schwarzweißrote Primaner darunter. Aber zu vier Fünfteln besteht der Bund doch aus jungen Arbeitern, Handlungsgehilfen, Gesellen, Lehrlingen. Sie und ihre Angehörigen waren da. Eine vieltausendköpfige Versammlung. Einfache Leute, ganz einfache. Neben mir ein junger Mann im abgetragenen ehemaligen Soldatenmantel, sein Kind auf dem Arm, daneben die Frau im Umschlagtuch. Ihrund dem Mann laufen die hellen Tränen über die Wangen. Schon das erscheinen der alten deutschen Flagge begeistert. Jede Erwähnung des "Früher" löst Stürme aus. Man will nicht aufhören, man will nicht fortgehen. Das wäre eben vorbereitet, das wäre gemacht gewesen? Gut denn, gehen Sie in irgendein Variété fürs Volk, in die Reichshallen oder zum Moritzplatz - da werden auch Ihnen die Augen übergehen. Alle Vortragenden haben umgelernt. Das Volk verlangt es. Eine nationale, eine monarchische Woge geht durch das Land und spült es rein: halte sich fest, wem davor grauen muß.
2. Februar 1922 (Donnerstag)
21
Der Lokomotivführer - Vor dem Achtstundengötzen - Streikwelle und Teuerungswelle - Schluß auf dem Wohltätigkeitsball - Kein Licht, keine Heizung, kein Wasser, kein Verkehr - Auch die Arbeitslosenfürsorge streikt - Aus der Piefke-Perspektive.
Das erste Eiserne Kreuz, das ich zu Beginn des Krieges beantragte und von der Division auch erhielt, wurde einem Lokomotivführer verliehen. Der Mann hatte ununterbrochen dreiunddreißig Stunden auf seiner Maschine Dienst getan und den großen Transport, mal schnell in kurzen Stößen, mal langsam Schritt vor Schritt, endlich nach Belgien hineingebracht, um dort in einer schicksalsschweren Viertelsekunde der 34. Stunde dazu berufen zu sein, durch seine Geistesgegenwart und das Emporreißen der letzten Kraft einen furchtbaren Zusammenstoß zu verhüten. Ohne diesen Lokomotivführer wären wohl zahlreich deutsche Männer getötet und zwei wichtige Bahnstrecken für einige Zeit gesperrt worden; wenn jemand überhaupt mit Stolz sein Eisernes Kreuz tragen kann, dann ist es dieser pflichtgetreue Eisenbahner. Leute seines Schlages habe ich während des Krieges zu Hunderten kennengelernt. Aschgrau im Gesicht von unerhörten Mühsalen, gaben sie alles freudig her für Kaiser und Reich, und wenn der Feldeisenbahnchef im Großen Hauptquartier auf den Knopf drückte, dann vollzog sich das große deutsche Wunder, daß plötzlich ganze Armeekorps an irgendeiner Front auftauchten, die der Feind einige 500 Kilometer weit wähnte. Das Herz wird mir noch heute hell und freudig, wenn ich an diese Lokomotivführer denke. Und zur Ehre der jetzt viel Geschmähten darf ich nur feststellen, daß über 70 Prozent von ihnen noch heute zum alten Bestand gehören, also noch dieselben prächtigen Menschen sein müssen. Denn so von Grund auf kann sich eine ganze Klasse doch nicht ändern.
Ein anderes hat sich geändert, obwohl auch der heutige Eisenbahnerchef derselbe Gröner ist; eben nur mit dem kleinen Unterschiede, daß er damals General des Kaisers war und heute Minister der Republik ist. Wir haben nicht mehr den alten Staat, wir haben überhaupt keinen Staat mehr, sondern eine Horde von Einzelwesen in gegeneinander kämpfenden Lagern, nachdem endlich die sozialdemokratische Lehre offiziell geworden ist, daß es keine Deutschen und Franzosen, keine Obrigkeit und Untertanen, keine Nationalehre und Berufspflicht mehr gibt, sondern nur tarifliche Auseinandersetzungen, Gewährungen, Erpressungen zwischen Arbeiterschaft und Unternehmerschaft. Und wenn der "Staat" selber Unternehmer ist: ein Narr, der ihn nicht auspreßt, denn gutwillig gibt auch dieser Unternehmer nichts her. Solch ein Lokomotivführer, der meist sorgender Familienvater ist, hat zu Weihnachten einen Vorschuß von 1000 Mark bekommen, damit ihm der Mund gestopft würde, wofür er den Seinen vielleicht die schon lange nötigen zwei oder drei Paar Stiefel gekauft hat, und nun im Januar wird ihm der Vorschuß wieder prompt abgezogen, und von dem Gehaltsrest kann er Hungerpfoten saugen. Ist es da ein Wunder, daß die Leute anfangs Februar ihren wilden Streik begannen? Es wäre ganz unverantwortlich, wenn unsereins, wie die Regierung es tat, von den Beamten die nötige "Rücksicht auf die außenpolitische Lage" verlangte, wo wir doch alle wissen, daß sie insgesamt - die Lokomotivführer nicht etwa allein - angesichts der heutigen Teuerung viel zu schlecht bezahlt werden.
Schuld an dem ganzen Elend dieser Tage ist nicht der einzelne Beamte, der vergaß, daß Beamtenrecht und Streikrecht naturgemäß nicht miteinander vereinbar sind, sondern schuld ist der sozialdemokratische 8-Stunden-Götze, der seit dem unglücklichen November zur allgemeinen Anbetung von Staats wegen aufgestellt worden ist. Gewiß müssen die Eisenbahner besser bezahlt werden. Das ist zu erreichen, wenn überflüssige Kräfte entlassen werden und die verbleibenden mehr arbeiten. Es ist Wahnsinn, anzunehmen, daß wir, nachdem wir in den Zeiten der Freiheit und der Herrlichkeit 10½ Stunden gearbeitet haben, jetzt als tributpflichtiges Knechtvolk mit weniger als 8 Stunden auskommen könnten. Ohne ein Reichsnotopfer in Arbeitsstunden kommen wir nicht aus, geraten wir immer tiefer ins Verhängnis.
Dank der Revolution und dank den regierenden Gewerkschaften ist der sittliche Begriff der Arbeit überhaupt verlorengegangen, sind wir offiziell demoralisiert worden - Freude an der leistung, Freude an erfüllter Pflicht hat kaum ein Mensch mehr, auch der Stolz auf die Berufsehre ist dahin, nur das nackte Kaufgeschäft geblieben: für möglichst wenig Arbeit möglichst viel Entlohnung einzuhandeln. Das geht durch alle Schichten. Da drüben an der Ecke führt die Witwe unseres langjährigen Tapezierermeisters mit ihrem Altgesellen das Geschäft brav weiter und hält auf ihr Renommée, schilt auf den Gesellen, wenn er, wie ich ihr zeige, unsere aufgefrischten Matratzen nachlässig ausgebessert hat; er aber dreht sich verächtlich ab und sagt:
"Die Meestern hat mir nötiger als ick ihr, mir braucht sie alle Dage und ick ihr bloß Sonnamts bei die Lohnzahlung!"
Das ist heute auch der Standpunkt vieler Staatsarbeiter, die sich rühmen, dem Staat jederzeit die Hand an die Gurgel legen zu können, weil er eben kein Staat mehr ist, sondern ein sozialisierter Schwitzmeister im Dienste des Entente-Unternehmens. Nun besteht der Staat aber doch aus der Gesamtheit seiner Einwohner. Man legt sich also schließlich selbst die Hand an die Gurgel. Die Folge des Eisenbahnerstreiks ist, ganz abgesehen von dem Lohnausfall einer ganzen Woche für die Streikenden, ganz abgesehen auch davon, daß zahlreiche private Fabriken wegen Kohlenmangels ihren Betrieb einstellen und die Arbeiter entlassen mußten, doch eine neue Teuerungswelle. In Berlin kostet seit einigen Tagen ein Ei 6 Mark, und entsprechende Aufschläge gibt es auch für industrielle "Gegenstände des täglichen Bedarfs". Briketts erzielten unter der Hand Rekordpreise. Reich und arm wird in gleicher Weise gerupft. Das Sauerkraut im Grünkramkeller schlug um 50 Prozent auf. Vor dem Hotel "Kaiserhof" stand das Privatauto eines Kurfürstendamm-Kavaliers, der wohl gerade in der Klemme war, und bot Holländern, die dem deutschen Ordnungsstaat unbedingt entfliehen wollten, die Fahrt bis Köln für 25 000 Mark an und machte sie auch. Die Schuhpreise ziehen an. Gutes Hemdentuch ist in der eine Woche von 35 auf 47 Mark für den Meter im Preise gestiegen. Also die Lokomotivführer haben nichts von dem Streik, und wir alle mit ihnen haben an den Folgen zu tragen.
Da Berlin vor der Provinz immer etwas voraus haben muß, gab es hier obendrein noch einen "städtischen" Streik neben dem der Reichseisenbahn. Der Innerberliner, der nicht weit weg im Vorort wohnt, merkte vom Bahnstreik zu wenig, und das ging natürlich nicht. Daß die Briefe von außerhalb ausfielen, daß keine Gelder beim Postscheckamt eingingen, daß Tante Malchen in Ostpreußen sitzen blieb, das war ja noch zu ertragen, also ging man am Sonnabend abend fröhlich wie immer der Saison nach. Man ist in einem Riesensaal auf einem der üblichen wohltätigen Bälle. Mitternacht ist längst vorüber. Die Musik lockt mit dem elektrisierenden Londoner Onestep von Ruby und Jessel, dessen Text uns von den Erlebnissen eines alten Tommy während des Krieges in Paris berichtet:
She said: "Comprenez-vous, papa?" |
Es ist ja schon mal so, daß wir Deutschen, nächst den Zigeunern das musikalischste Volk der Erde, uns auf dem Tanzboden mit dem Abfall der musikärmsten Nation, der englischen, füttern lassen müssen. Tschingtarabum und Nuddelnuddelnutnutnut. Pauke, Xylophon und Kuhglocken, Leierkasten, Becken, Teufelsgeige. Und alles klingt und klirrt, alles tanzt und torkelt, bis urplötzlich, allen unerwartet, mit einem Schlage die Beleuchtung erlischt. Die Musik spielt auswendig weiter, um eine Panik zu verhüten. Die tanzenden Paare rempeln sich und bleiben dann stehen, um das Wiederaufflammen zu erwarten - je nun, man kennt doch solche Situationen von den Bahnfahrten durch Tunnels her, und man nutzt sie aus.
Ein Moment Stille. Eine Stimme zirpt: "Karl, bist du das wirklich?"
Unterdrücktes Kichern rundum. Da ein Tenoristenschrei: "Meine Uhr ist weg!"
Und nun ist kein Halten mehr, nun drängt alles entsetzt nach den Ausgängen, in der dunklen Garderobe aber kreischen die Hüteweiber, sie gäben nichts heraus, und es dauert anderthalb Stunden, bis bei herbeigeschafftem Notlicht alles entwirrt ist.
Man steht endlich draußen auf knirschendem Schnee. Alles dunkel. Keine Laterne leuchtet. Keine Trambahn fährt. Nun weiß man also, daß gestreikt wird. Man stolpert nach Hause. Kein Tropfen Wasser fließt. Kein Gas brennt.
Der so überraschend in der Nacht zum Sonntag hereingebrochene Streik hatte in den Haushaltungen viel Ungemach, in den Krankenhäusern manchen Todesfall zur Folge, legte einen großen Teil des Berliner Geschäftslebens lahm, bedeutete Erntezeit für Taschendiebe und Wegelagerer. An sich ist es ja hochpoetisch, wenn man abends in dem endlich stillen Berlin über den endlich weißen Schnee heimwandert, zwischen den mächtigen dunklen Häuserwänden hindurch, aus denen nur hier und da ein karges Lichtlein blinkt. Ganz wie in den Meistersingern in der Oper, sagt man sich; man ist ganz in den Zauber eingesponnen, und siehe da, drüben flitzt ja auch Beckmesser um die Ecke auf mich zu.
Aber er verlangsamt seinen Schritt.
Ich auch.
Er denkt: "Der Kerl da will mir wohl die Uhr klauen!"
Ich auch.
Scheu drücken wir uns aneinander vorbei, die Poesie ist zerstoben. Und bei Tage ist der Ansturm auf die beiden einzigen noch verbliebenen Verkehrsmittel, Untergrundbahn und Autobus, entsetzlich. In der Untergrundbahn werden die Scheiben von der gepreßten, quellenden Menge eingedrückt, Pakete zertreten, Kleider zerrissen, Finger gequetscht. In dem Autobus ist es ähnlich, auf dem Autobus noch trister. Auf dem Dache sitzt ein Greis, der sich nicht zu helfen weiß: in dem eisigen Winde ist ein Nasentröpfchen zum Stalaktiten geworden, aber die frostklammen Finger können das Schnupftuch nicht angeln. Schön, darüber kann man lachen, wenn man fern von Berlin ein Berliner Allerlei vorgesetzt bekommt. Wer aber nichts zu lachen hatte, das waren die Berliner Proletarier selbst. Überall hatte die Technische Nothilfe nach einigen Tagen schon wieder für den Betrieb der Wasserleitung gesorgt. Nur in Lichtenberg wurde sie von den Kommunisten daran gehindert - und so blieb es allein in den östlichen Arbeitervororten dabei, daß frierende kleine Kinder und zitternde alte Weiblein mit Eimern in der Hand viele Straßen weit zu irgendeinem noch nicht vereisten Brunnen trippeln mußten.
Das sei ja heller Wahnsinn, sagen Sie? Wahnsinn - gewiß. Aber auch Methode, jene Methode, wie man am schnellsten ein ganzes Volk dem Ruin ausliefern kann.
9. Februar 1922 (Donnerstag)
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