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Silvester zu Hause! - Am bestellten Tisch im Adlon - Champagner und Schaumwein - An der Kranzlerecke - Der Bankabschluß einer Novembergröße - Pola Negri aus Pultusk - Die Theater - Maria Orskas Purzelbaum
Für die Harmlosigkeit der sogenannten "besseren" Großstadtbewohner ist Silvester der Stichtag. Man versteht es nicht mehr, daheim in Scherz und Ernst mit den Seinigen die Jahreswende zu begehen, man muß unbedingt sich für sein Geld amüsieren - lassen. Man beraubt sich des Köstlichsten, des "Bis hierher hat uns Gott geholfen!" in der eigenen Familie, der harmlosen Zukunftsneckerei der heranwachsenden Töchter, des fröhlichen Ulkes der Kleineren und des stillen Händedruckes zwischen Mann und Frau nach wieder einem harten, arbeitsreichen und doch schönen Jahr; man beraubt sich auch, wenn man in der großen fremden Masse der Unbekannten untertaucht, des Beisammenseins mit ein paar Gleichdenkenden und Gleichstrebenden, Vertrauten und Mitfühlenden. Man wird selbst Masse, brüllende, johlende Masse und streicht sich als Persönlichkeit aus.
Seit Jahren feiere ich mein Silvester zu Hause mit allen von nah und fern herbeieilenden Angehörigen und mit der Familie eines alten pommerschen Rittmeisters a.D. von Urwaldmaß, Bismarckmaß. Wenn dann kurz vor 12 Uhr für jeden einzelnen das Blei ins Wasser zischt: niemand vermag so herzerfrischend launig jedem einzelnen - er kennt uns ja alle - das Horoskop zu stellen wie dieser baumlange, breitbrüstige ehemalige Königin-Kürassier. Und kein bezahlter Vortragskünstler irgendeines Weinrestaurants vermag so schnurrig zu erzählen. Wie sich sieben griechische Städte um die Ehre streiten, Geburtsort Homers zu sein, so stritten sich einst sieben deutsche Gymnasien um die Ehre, diesen unbändigen Junker am schnellsten wieder abgeschoben zu haben. Von der Weichsel bis zur Elbe hallte alles von seinen Streichen wider. Auch in seinem Kürassierregiment bekam er schon als junger Leutnant in den siebziger Jahren seinen Abschied, freilich in allen Ehren. Dann verblüffte er unter fremdem Namen als Kunstreiter in Dresden, als Preisbillardspieler in Budapest, wurde unter dem Fürsten Alexander von Battenberg Reorganisator der bulgarischen Kavallerie, später Gutsbesitzer irgendwo auf der Balkanhalbinsel, dann Handelsagent in Konstantinopel, Schriftsteller von politischem Wurf in Berlin, um endlich im Weltkriege als Weißhaariger sich wieder den Pallasch umzuschnallen und nachher in einer mittleren Staatsstellung Tüchtiges zu leisten.
Stelle dich neben einen solchen Kerl, und Lebenskraft strömt auch dir durch die Adern. Aber du möchtest lieber zu Adlon? Bitte sehr. Einer von uns war auf ein gutes Stündchen da. Das trockene Gedeck zu 200 Mark; der Fußboden handhoch bedeckt mit Konfetti und Papierschlangen; zwischen den Tafeln geht anscheinend suchend der elegante Herr einher, der sicher vom Hotel dafür bezahlt wird, um die Lachmuskeln durch ein "heimlich" an seinen Rücken angestecktes Plakat zu reizen: "Ich suche einen Backfisch!" Da kann er lange suchen. Heute überspringt man den Backfisch. Ist das Hängezöpfchen erst aufgesteckt, dann ist man sofort Mondäne. Man "geht" mit einem Gentleman, man hat Beziehungen zu einem älteren Herrn mit guten Börsentips, man sitzt zu Silvester mit Papa und Mama und der wieder einmal entzückend schicken Großmama, die sich aber nur "Tantchen" nennen läßt, und etlichen Leuten in Frack und Smoking bei Adlon, macht ein mieses Gesicht und - wartet auf das Amüsement. Es kommt nicht. Nur der Alkohol täuscht es schließlich vor.
Schon acht Tage vorher rufen einem die Anzeigenseiten der Berliner Zeitungen das Wort entgegen: "Tischbestellung!" Hunderte von Berliner Gaststätten mahnen uns, diese Platzsicherung für Silvester nur ja nicht zu vergessen. Am Jahresschlußtage selbst erlebt man sonst überall Abweisung vor den überfüllten Lokalen und kann sich allenfalls vom Hausflur aus das Pfopfengeknalle anhören. Es ist diesmal wieder tüchtig geknallt worden. In Frankreich hat der Versand von Champagner im ersten Halbjahr 1921 nur 9½ Millionen Flaschen gegen 21 Millionen im gleichen Halbjahr 1920 betragen. Also ein "erschreckender" Rückgang. Dafür wird nun - umgekehrt - von den Valutastarken bei uns deutscher Schaumwein getrunken. Auch in Berlin von den hiesigen Mitgliedern der fremden Überwachungskommissionen, von denen ja schon der gemeine Soldat einen monatlichen Verpflegungs"zuschuß" von 84 000 Mark vom Deutschen Reiche erhält, während dieser Zuschuß bei den Offizieren je nach dem Range bis zu 570 000 Mark monatlich steigt. Dafür kann man schon knallen lassen - und durch diese Generosität dumme kleine deutsche Mädchen betören.
Am ursprünglichsten, berlinischsten ist die Berliner Silvesterfeier immer noch an der Kranzlerecke Unter den Linden. Da strömt nach der häuslichen Punschbowlenfeier auch der schlichte Familienvater aus dem Volke hin. Da sprudelt wirklich echte Lebenslust, da zündet der dreiste Witz; zündet noch besser als die unzähligen Raketen, Bengalfeuer, Frösche und Kanonenschläge. Der Himmel ist rot, die Häuser sind grün, die Lustigkeit ist zum Quietschen - und wenn auch die Kaffeehäuser Kranzler, Viktoria, Bauer an diesem einzigen Tage im Jahr als die einzigen vorsichtshalber schon bei Anbruch der Dunkelheit schließen und die eisernen Rollläden herunterlassen, weil man aus früherer Zeit "Beispiele von Exempeln" hat, so läßt sich doch sagen, daß wirkliche Roheiten von Jahr zu Jahr mehr abnehmen. Alles pfeift, gröhlt, singt, alles verulkt einander und sich selbst und die ganze Welt, alles wartet mit spitzbübischen Gesichtern auf den Hauptjux: daß nämlich jemand mit einem Zylinderhut daherkommt. Es gehört zu den geheiligten Überlieferungen der Kranzlerecke, daß hier in der Neujahrsnacht die Zylinderhüte eingetrieben werden. Selbst der kleinste Dreikäsehoch läßt sich von Vatern extra auf den Arm heben, um auf den bereits völlig ramponierten, zur Harmonika zusammengedrückten hohen Hut eines Mitbürgers zu patschen. Es finden sich noch immer liebe Mitmenschen, die eigens zu diesem Zweck sich Silvester einen Zylinder aufsetzen. Gewiß, sie kaufen ihn sich nicht für 600 Mark bei Theodor Müller oder zu 750 Mark bei Habig, sondern sie gabeln daheim den Beerdigungs- oder Kriegervereinszylinder eines längst verstorbenen Onkels dazu auf, einen Zylinder, dessen Haare vor Sorgen schon größtenteils ausgegangen oder vor Entsetzen gesträubt sind. Und nun hin zur Kranzlerecke. Da "gibt es eins auf den Hut", aber das tut ja nicht weh, und man bekommt Witze als Zugabe und revanchiert sich mit Witzen.
Die Neujahrsfeier unserer Novembergrößen wurde diesmal meines Wissens überall im engsten Kreise abgehalten. Gewitzigt durch das unliebsame Aufsehen, das das Souper des sozialdemokratischen Berliner Polizeipräsidenten während des Kellnerstreiks im Hotel Bristol erregte, und das ebenso bekanntgewordene Interview Eberts junior, das dieser einem Amerikaner bei Austern und Sekt im Hotel Adlon gab, befolgte man die einander gegebene Parole, hinter verschlossenen Türen zu bleiben. Man hat ja jetzt genügend große Räume, braucht nicht mehr in Kammer und Küche zu hocken. Und dann gibt es ja ja auch sonst noch verschwiegene Winkel, so die Palastvilla auf Schwanenwerder, die immer noch Mittelpunkt der um Parvus-Helphand, Sklarz und Genossen ist. Und schließlich: wozu das schöne Geld unnütz für andere wegwerfen? Wer weiß, wie lange es dauert! Wie nett, wenn man am Jahresschluß hört: Dein Konto ist soundso hoch. Dann macht das Regieren noch einmal soviel Spaß. Hat doch die Darmstädter Bank in Berlin einem ihrer Kunden, einem früheren Volksbeauftragten, der nicht einmal mehr an der Hauptkrippe sitzt, die erfreuliche Silvestermitteilung machen können, daß sein Guthaben die Höhe von 1,25 Millionen Mark erreicht habe. Das ist für die Sparsamkeit eines ehemaligen Korbmachergesellen immerhin ein gutes Zeichen. Und was wird sich der Finanzminister über die Steuer von diesem Vermögenszuwachs freuen! Oder sollte ihm im Drange der Geschäfte davon noch nichts bekanntgeworden sein?
Übrigens ist Filmen doch noch ein besseres Geschäft als Regieren. Auch beim Film kann man sich ursprünglich in einem ganz anderen Zivilberuf die Sporen geholt haben. Im vorigen Jahr habe ich hier über den Prozeß des Filmstars Pola Negri berichtet, der jetzigen Frau eines sicheren Polengrafen, die darauf verzichtete, als Zeugin vor Gericht darüber auszusagen, wieso ihr ein Perlenkollier nachts in dem Zimmer eines Hotels gestohlen werden konnte, in dem sie - gar nicht wohnte. In der Silvesternummer einer Berliner illustrierten zeitung grinst das Prost-Neujahr-Gesicht dieser Pola Negri über die ganze erste Seite die Käufer an. Hatte man wirklich nichts Besseres? Ich will hier keinen nationalistischen Schimmel reiten, will nicht wiederholen, daß besagte Dame, die etliche Millionen von der deutschen Flimmerleinwand erntet, sich über "die deutschen Hunde" häufig recht offenherzig zu äußern pflegt und anti-deutsche Unternehmungen unterstützt. Aber da man nicht oft genug Material über den östlichen Menschenzufluß veröffentlichen kann, bis unseren Regierenden die Augen auf- und übergehen, sei hier die Tatsache registriert, daß die russische Untertanin Paula Schwarz, später Pola Negri genannt, noch 1915 in Pultusk mit dem bekannten "gelben Billet" der russischen Polizei- und Sanitätsbehörde in einem sehr öffentlichen Hause saß. Und das ist denn doch der Silvesterscherze ein wenig viel, wenn uns eine ehemalige russisch-polnische Dirne als Neujahrsgratulantin des deutschen Volkes vorgeführt wird.
In unserer Ära der Relativität verschieben sich die Schranken. Damen und Herren "mit Vergangenheit" spielen ganz vorn auf der Weltbühne. Mancher junge Mensch faßt sich an den Kopf: lohnt sich überhaupt noch reines Streben? Die großstädtischen Theater - o du grundgütiger Schiller, diese "moralischen Anstalten" - predigen das Gegenteil. Man weiß gar nicht mehr, wohin man seine erwachsenen Mädels schicken soll, wenn sie theaterhungrig zu den Weihnachtsferien nach Berlin kommen. Immer noch, wohl bald zum 400. Male, unterrichtet der "Reigen" die Zuschauer über die kynologische Sexualität, immer noch erschallt das geile Gegacker des "Hühnerhofes" auf einer anderen Bühne, immer noch enthüllen an sieben Berliner Theatern französische Schwankautoren ihre schmutzigen Dessous. Ich bin wahrhaftig der letzte, der eine Dramatik nur für Mädchenpensionate verlangt; aber es wird einem doch allmählich übel, wenn es eine Dramatik nur für Lustgreise gibt. Nun bringt die Komödie zur Jahreswende noch ein "Karussel" heraus, in dem Maria Orska alles, was wir von ihr an Lulu-Gestalten gesehen haben, übertrumpfen muß. Nicht nur das Karussel dreht sich; es dreht sich auch in einem selber. Die Orska mit ihrem Gassenbubengesicht - solche Gesichter machen bei Männern immer mehr Furore als Puppengesichter - und ihren schlängelnden, züngelnden Gliedern wird von zwei Männern umdreht, von denen der eine Baissier, der andere Haussier an der Börse ist, so daß nach dem Börsianerausdruck bald der eine, bald der andere "richtig liegt", und die Heldin des Stückes bevorzugt mit ihrer Liebe immer den, der eigentlich - nicht richtig liegt, während der andere jeweils zahlen darf. Ist das nun zum Erbrechen oder nicht? Jedenfalls aber rast das Publikum vor Entzücken, wenn die Orska, die ja jetzt eine regelrechte Baronin Bleichröder ist, in einem ihrer hinreißendsten und offenherzigsten Kostüme auf der Bühne einen veritablen Purzelbaum schlägt.
Die ganze Welt ist heute nur noch ein einziger Purzelbaum.
5. Januar 1922 (Donnerstag).
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Der Zollernprinz als Banklehrling - Wo sind die Byzantiner? - Hochzeit im Hause Holstein - Ein Brief Traugott v. Jagows - Die Republik macht sich beliebt - Demokratische Ordenssehnsucht - 1500 Mark Monatslohn für Dienstmädchen - Wieder eine Berliner Bockbiersaison
Menschen, Menschen san mir alle, heißt es nachsichtig-verstehend im Wiener Geträller. Auch Erzherzöge sind Menschen, sind pschütt oder fad, und wenn sie im Kabarett auftreten, wie es der Leopold Wölfling getan hat, ist's eh' schon recht.
Wir Reichsdeutschen, sogar die abgebrühtesten Berliner, sehen das Königtum anders an. Verarmt ein Angehöriger des Herrscherhauses oder des ehemaligen Herrscherhauses, nun gut, so ziehen wir achtungsvoll den Hut, wenn er - so heute Prinz Günther Sizzo, der bisherige Thronfolger in den Fürstentümern Schwarzburg - sich auf eine kleine Klitsche zurückzieht und auf Eisenbahnreisen die 3. Klasse benutzt. Da bleibt er, was er ist. Nun haben wir unter den Hohenzollern einen, der "als Landrat gelernt" hat, den Dr. jur. Prinz August Wilhelm, daheim Auwi genannt. Er hätte es, wäre kein Umsturz gekommen, wohl noch mal bis zum Oberpräsidenten einer preußischen Provinz gebracht. Da kam der Umsturz. Und damit bei dem Neuruppiner Landrat Dr. August Wilhelm von Preußen eine ehrlich gemeinte, unter ähnlichen Umständen von Wienern sicher bejubelte, von den kühlen Berlinern aber als theatralisch empfundene Geste: er wurde Banklehrling. Wo verabschiedete aktive Offiziere Kofferträger oder Zeitungsverkäufer wurden, warum sollte der königliche Prinz da nicht am Pult bei Delbrück, Schickler & Co. sitzen? Sehr ehrenwert, gewiß, höchst ehrenwert. Und doch falsch. Denn für seine neue Umgebung, nicht nur für die Direktoren, sondern auch für den jüngsten Stift, Herrn Benno Stehkragen, bleibt der Prinz eben Prinz. Er lernt nichts, sondern man schwänzelt sich an ihn heran.
Die wirklichen Byzantiner hat es nie in der Junkerkaste oder in den anderen kasten der Rechten gegeben, sondern vom freisinnigen Oberbürgermeister angefangen auf der Linken bis in das kleinste Spießertum hinein. Ein schleswig-holsteinischer Rittergutsbesitzer, ein Graf Reventlow, prallte einmal mit dem Prinzen Heinrich zusammen und schrieb ihm daraufhin frank und frei: "Nächst dem Bürgerlichen sind mir die Fürsten die unsympathischste Menschenklasse." Natürlich, das war mehr als freier Mannesstolz, das war Dünkel. Aber es war Dienst, was ich selber einmal - vor nun dreißig Jahren - auf dem Bornstedter Felde erlebte, wo der Oberst und Kommandeur des Regiments der Garde du Corps, Freiherr von Bissing, den Major und Eskadronschef Prinzen Friedrich Leopold so andonnerte, daß die Erde zitterte:
"Königliche Hoheit, Sie haben keine Ahnung vom neuen Exerzier-Reglement! Königliche Hoheit, scheren Sie sich weg von der Front!"
Die Kreise, in die jetzt Prinz August Wilhelm hineinkam, kriegen so etwas nicht fertig, wissen mit einer Königlichen Hoheit nichts anzufangen, selbst wenn sie dieses Wort gardemäßig in einer Silbe - "Köoeit" - herunterzuschnarren lernen oder sich des einfach-legeren "Prinz" bedienen. Also Delbrück, Schickler & Co. lobten ihren Zögling weg, zu dem Bankhaus von Krause & Co. hin. Da hatten wir dieselbe Geschichte. Nicht als ob es dem Prinzen an Eifer gefehlt hätte. Nein, seine Umgebung war daran schuld, daß die Situation unglücklich-verfahren blieb und daß dieser junge Hohenzoller sich linkisch-freundlich darauf beschränkte, an seine Pultnachbarn, die anderen Kommis, Bilder von sich mit eigenhändiger herzlicher Widmung und an die Laufburschen und Türsteher möglichst viel Zigaretten zu verteilen.
In den Kreisen der alten Gesellschaft und auch an der Börse ist das jetzt gerade wieder Tagesgespräch, weil die geschiedene Frau des Prinzen soeben eine neue Ehe eingeht. Alexandra Viktoria von Schleswig-Holstein war im kaiserhause die Lieblings-Schwiegertochter. Ein hübsches Ding, wie Milch und Blut, dabei drall und fest. Und ein allerliebster Bub, Alexander Ferdinand, ward 1912 geboren. Die etwas exzentrisch veranlagte Prinzessin vertrug sich aber mit ihrem Manne nicht gut. Nach dem Sturz der Monarchie wurden die Zerwürfnisse der Ehe noch durch Einwirkung von außen her vertieft. Nun gibt die geschiedene Prinzessin August Wilhelm dem Kapitänleutnant a.D. Rümann die Hand zu neuem Bunde. Ein stattlicher Mensch und tüchtiger Offizier, dieser Rümann; in seiner Flotille, die während des Krieges in der Türkei kämpfte, hörte ich, als ich 1918 hinunterging, seine besonnene Verwegenheit loben. Er ist nicht der erste Bürgerliche, der in das herzogliche Haus hineinkommt. Eine Tante der Kaiserin, die Prinzessin Henriette, heiratete 1872 den Dr. med. Esmarch, Professor in Kiel. Es war eine ungemein glückliche Ehe. Unser Kaiserpaar hat den Onkel Professor, einen in der wissenschaftlichen Welt hochangesehenen Sanitäter und geistigen Stammvater aller unserer öffentlichen Einrichtungen für "erste Hilfe", häufig besucht und liebe Stunden in dem Gelehrtenheim verbracht.
Es ging also auch früher, unter dem sogenannten verruchten alten System, recht menschlich in den oberen Rängen zu. Wo das Herz starken Impuls gab, da waren Standesrücksichten keine unübersteigliche Mauer. Daß der Märchenprinz ein Aschenbrödel oder der Hirtenbub eine Märchenprinzessin nimmt, war gar nicht nur märchenhaft. Aber den einen Unterschied gegen heute gab es doch, daß "die oben" ganz anders für das Volk und für die Ordnung im Lande sorgten, als die Leute, die heute oben sitzen.
Und das färbte natürlich auf die nachgeordneten Beamten ab. In der Erinnerung der Berliner ist einer der populärsten unter ihnen immer noch der Polizeipräsident Traugott v. Jagow, der mit seinen lapidaren Grundsätzen "Die Straße gehört dem Verkehr!" und "Ich warne Neugierige!" schnell durchdrang, als erster in das lebensgefährliche Gewirr auf dem Potsdamer Platz und in den Engpaß der Friedrichstraße Ordnung hineinbrachte, die Droschkenkutscher an Disziplin gewöhnte und die bärbeißig-verdrossensten Schutzleute zu jovialen Mitbürgern erzog. Ausgerechnet dieser Mensch, dessen ganzes Leben Arbeit für seine Deutschen und seine Berliner war, ein ehrenfester Mensch vom Scheitel bis zur Sohle, sitzt nun, zu fünf Jahren Festung verurteilt, in Gollnow in der Strafanstalt gefangen. Als Kapp kam, glaubte Jagow, nun käme die alte Ordnung. er stellte sich zur Verfügung und muß den Irrtum grausam büßen. Zu grausam. Man konnte wirklich mehr Rücksicht üben. Vor mir liegt ein Brief von ihm, in seiner charakteristisch-energischen deutschen Steilschrift, worin er u. a. schreibt:
"Wenn ich fliehen wollte, so wartete ich die Urteilsverkündigung auf sicherem Port ab, den aufzusuchen mir 94 Stunden zur Verfügung standen. So war die für meine sofortige Festnahme erforderliche Fluchtverdachtbehauptung eine Lüge. Obendrein haftete nach §122 Str.Pr.O. die von meinen Freunden aufgebrachte hohe Sicherheitsleistung von 500 000 Mark. Einen Stromer von der Landstraße kann man wohl ohne weiteres einsperren, aber wie kann man einen 56jährigen Herrn für fünf Jahre aus allem herausreißen, ohne ihm mindestens einige Wochen Zeit zu lassen, seine gesamten finanziellen, steuerlichen, häuslichen, wirtschaftlichen Verhältnisse entsprechend umzustellen! Nur Angst vor der Straße und schreiende Ungerechtigkeit. Die Prozeßkosten werden sicher mein Vermögen überschreiten. Stimmung: Fortiter adversis, daher Gesundheit in Ordnung, dazu körperliche Übungen. Anstaltshof natürlich überöde. Umgebung: Spartakisten, Kommunisten, Bolschewisten."
Seinen grimmigen Humor hat der Mann mit der Hakennase und den rosig-frischen Wangen über dem durchtrainierten Körper also behalten, ist immer noch fortiter adversis, stramm gegenüber feindlichem Schicksal; aber für die Republik ist der Fall Gollnow doch eigentlich eine Schande.
Was sie kann, versucht die Republik freilich, um liebenswert zu werden. Immer wieder schießen in Berlin neue Verbände auf, die den ausgesprochenen Zweck haben, uns zu guten Republikanern zu erziehen. Der allererste nannte sich Regiment Reichstag und brachte diesen und damit die Republik in so guten Geruch, daß erst nach seinem Verschwinden und nach mehrmonatiger Reinigung, Lüftung, Entlausung - und Fortschaffung der Exkremente aus den Telephonzellen - das Parlament wieder nutzbar ward. Der republikanische Führerbund wollte dann eine neue hervorragend demokratische Offizierskaste gründen, wobei sich zu seinem Leidwesen nur herausstellte, daß verschiedene seiner Mitglieder auf Grund gefälschter Papiere die Uniform trugen. Nacheinander wurde fast jeder Stand aufgerufen, die Republik beliebt zu machen; man rief einen republikanischen Lehrerbund, einen republikanischen Richterbund ins Leben, obwohl die alte Monarchie niemals einen monarchischen Lehrerbund oder einen monarchischen Richterbund gebraucht hatte. Da alles nichts hilft, wird neuerdings in den Kreisen der regierenden Koalition lebhaft die Frage besprochen, ob man nicht einen republikanischen Orden stiften solle, so daß Fritz Ebert mit dem Großkordon um die pralle Weste etwas dekorativer würde und selbst für den geringsten sozialdemokratischen Versammlungsredner noch ein Adlerchen vierter Klasse zur Verfügung stände. Das läßt sich alles hören, nur: das Volk will keinen Orden, sondern Ordnung.
Die Republik wäre auf einmal sehr beliebt, wenigstens bei den Regierten, wenn sie gleiches Recht für alle einführte und nicht immer nur die eigenen Nichtskönner an die Futterkrippe ließe und wenn sie weniger Reklame und mehr nützliche Arbeit leistete. In Berlin-Reinickendorf haben die rot-republikanischen Stadtväter - wie sie sagen, aus Sparsamkeitsrücksichten - die Mietpferde bei der Ortsfeuerwehr abgeschafft, so daß bei dem nächsten ersten Brande die Wehr viel zu spät an der Unglücksstelle erschien. Aber für ein Gemeindekino wurden 36 000 Mark bewilligt. Auch sonst wird wenig gespart. Die Dienstmädchen im städtischen Obdach, selbstverständlich waschechte Genossinnen, bekommen neben vollständig freier Station einen Monatslohn von - 1500 (eintausendfünfhundert) Mark! Das ging sogar einem unabhängigen Stadtrat über die Hutschnur. Aber die Freunde der beiden Mädchen - selbstverständlich die politischen Freunde, oder was dachten Sie sonst? - riefen den Schlichtungsausschuß an, und der entschied, daß die zwei Scheuerlappen-Aphroditen städtische Angestellte und tarifmäßig richtig bezahlt seien. Dagegen ist nun nichts zu machen. Alte, in Ehren und treuer Arbeit ergraute Beamte bekommen heute, wenn man den Wert der freien Station miteinschätzt, weit weniger. Glaubt man nun wirklich, daß bei ihnen die Republik und die republikanische Gemeinde Berlin-Reinickendorf sich ungeheuer beliebt macht? Oder hat jener Arbeiter recht, der einem scheu zuflüstert: "Wenn erst die Entente unsere Etats durchsieht, dann wird's Tag!"? Der deutsche Arbeiter hat heute vor den fremden Bajonetten noch mehr Achtung als vor der ganzen Verwaltungsarbeit seiner eigenen Genossen.
ber sonst kommt allmählich alles wieder ins alte Geleise. Man kann wieder die Aufschrift: "Hier können Familien Kaffee kochen!" in Ausflugsrestaurants lesen, was der Berliner in: "Hier können Kaffern Familien kochen!" überträgt. Man kann auch wieder Bockbier trinken. Nun erst ist wirklich Friede! Steinalte Flickschuster, die noch die Kriegsdenkmünze von 1870 am Sonntagspaletot tragen, lecken sich den Schnurrbart, wenn sie an die Herrlichkeit des Spandauer Bocks oder des Tempelhofer Bocks - beide auf einem "Berge" gelegen - denken, von wo man früher so oft selig wieder hinuntertorkelte, die Arme auf den Kinderwagen gestemmt, so daß man vorne Halt hatte, und seitlich und hinten gestützt von der Gattin und den größeren Gören, die übrigens - hupp - allesamt mehr oder weniger den Schluckauf hatten. Das Bockbier ist eigentlich Märzenbier. Wenn das Plakat mit dem stehenden Bock auf dem Faß in den Fenstern der Kneipen auftauchte, dann wußte der weniger auf Bier als auf Lenzespoesie gestimmte "bessere" Berliner, daß man jetzt vor die Stadt hinausgehen könne, um Weidenkätzchen und erste Veilchen zu pflücken. Aber die leidige Konkurrenz verrückt den Kalender. Wie jetzt, nur um als erstes auf die Straße zu kommen, ein Berliner Abendblatt nach dem anderen schon zu Mittag erscheint, so kommt auch der Bock in den Brauereien bereits in der zweiten Januarwoche heraus. Wir gehen "nach'n Bock", lautet da die Parole in allen echt Alt-Berliner Familien des Kleinbürgertums. Mit Kind und Kegel. Kann kosten, was es will. Das Bier ist an sich sehr süffig und zeigt seine Tücken erst, wenn man aufsteht; erst dann stößt der Bock, daß man ins Wackeln kommt. Aber von Bier allein kann man nicht leben. Im "vorigen Jahrhundert", so vor fünfundzwanzig Jahren, aß man im Laufe des Abends pro Person noch "Stücker sechs bis acht" harte Eier dazu, was man sich jetzt - jedes einzelne kostet heute 4,30 Mark im Berliner Handel, 4,50 Mark mindestens im Bockbierrestaurant - freilich nicht mehr leistet. Dafür gibt's "een Paar Heeße", Wiener oder Jauersche Würtschen. Nach Tempelhof oder nach Spandau zu pilgern heute noch die Traditionsfesten. Aber auch sonst überall gibt es ja Bockbier und dazu "Klimbim und Feez" - in einem der größten Lokale, in der "Neuen Welt" in der Hasenheide, drängen sich allabendlich fast achttausend Menschen, trinken, hören von allen Seiten das Tongewoge von vier verschiedenen Kapellen "in Älplertracht" und können, solange es noch geht, in einem der Säle sich durch Tanzen und Schwitzen zu neuem Trunk stärken. Der Bockbiertrubel hat auch seine Kehrseite. Er kostet mancher Familie genau so viel als dem Mainzer oder Münchner sein Karneval, und manchmal sogar noch eine Vorladung vor Gericht, wenn Vater, um die Olle und die Kinder "zu animieren", seinen Schoppen mal, statt auf den Tisch, auf den Kopf des Vordermannes schmettert. Aber diesmal, 1922, steht die erste Nachkriegs-Bockbier-Saison unter einem besonderen Stern: Osten und Westen Berlins treffen sich. Nicht nur zu Fuß strömt man in die altberühmten Brauereien. Auch feine Autos rollen heran, und Leute im Zobelpelz entsteigen ihnen.
"Gucke da, der Orje aus die Ackerstraße!"
"Herrjeh nochmal, der Maxe mit die Plattbeene!"
Alte Freundschaften, seit Jahren zerrissen, werden erneuert. Der eine ist über Konservenbüchsen zu seinem Auto gekommen, der andere über lang genug zurückgehaltene Hufnägel. Aber heute, beim Bock, da ist der Emporkömmlingsstolz wie weggeweht: "Ick bin ja jarnich so!" Und wenn dann spät nachts die Freunde vor dem Lokal stehen und die Pflasterer in den Trambahngeleisen bei wehendem Gasfeuer werken sehen, dann sagen sie wohl: "Arbeet is - hupp - wunnerscheen; da könnt' ick - hupp - stunnenlang bei zuseh'n!"
12. Januar 1922 (Donnerstag)
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Orpheus in der Unterwelt - "Der" Pallenberg - Lustige-Blätter-Ball - Auf dem Tanzturnier um die Wintermeisterschaft - Im Sportpalast - Keine "Meinung" für Pazifismus - Robinson Crusoe - Bauer und Scheidemann im Heilbade - Admiral Scheer und seine Egeria
Die Reinhardtsche Gipstropfsteinriesenhöhle, das Große Schauspielhaus, ist allabendlich vollgepfropft bis unter das Dach. Einige Leute "nehmen Anstoß", zischeln etwas von unerhörter Blasphemie und machen saure Gesichter; einige andere Leute schürzen verächtlich die Lippen, rutschen mißmutig hin und her und erklären das Ganze für einen blöden Quatsch; die übrigen dreitausend Besucher aber lachen sich krank und wieder gesund, wischen sich prustend die Tränen aus den Augen und trommeln vor Vergnügen. Diese verschiedene Aufnahme liegt offenbar an der verschiedenen Vorbereitung. Wer mißmutig sein Antlitz verzieht, der hat vorher bestenfalls eine Flasche Pomril getrunken, aber eine Flasche Pomerol oder Pommery oder Pommard muß man im Leibe haben, um diesen grandiosen Bierulk des modernen Offenbachschen "Orpheus in der Unterwelt" richtig am Zwerchfell zu empfinden. Selbstverständlich ist das Ding eine Sammlung von Frivolitäten und Banalitäten. Auf nüchternen Magen kann man Jakob Offenbachs rheinisch-jüdisch-pariserische Witzeleien - nur "Hoffmanns Erzählungen" stehen hoch darüber - ebensowenig vertragen wie etwa Blumauers Parodien oder Saphirs Wortspiele oder Stettenheims Sprachverrenkungen. Man muß schon vorher in Stimmung sein. Außerdem ist aber im Großen Schauspielhaus die Verulkung aus der Zeit des zweiten französischen Kaiserreichs in die unsrige transponiert, mit allerneuester Telephonmisère und Dollarstand 187½ aufgefrischt, ganz berlinisch-schnoddrig umgearbeitet und zu einer großen Ausstattungsposse mit Gesang und Tanz geworden. Eine Schwelgerei für Auge und Ohr. Fabelhafte Toiletten, märchenhafte Balletts - und Darsteller von Rang. Pallenberg als Schwerenöter Zeus ist natürlich wie immer zum Piepen. Er hat mir mal sein Leid geklagt:
"Immer muß ich den Pallenberg spielen! Ich sehne mich nach der Hamlet-Rolle und so was; ich habe die besten Klassiker hingelegt. Aber das Publikum will nur immer seinen Pallenberg! So bin ich lebenslänglich zum Komiker verurteilt!"
Das ist allerdings sehr traurig, zum Totlachen traurig; auch der Alte Fritz wollte durchaus als Versemacher und Flötenspieler unsterblich werden und mußte statt dessen sein Lebtag ein großer König und Feldherr sein. Immerhin bringt unserem Pallenberg sein "verfehlter Beruf" so viel ein, daß er mit seiner Frau, der auch sehr tüchtigen Geldverdienerin Massary, jahraus, jahrein wie ein Milliardär dauernd im Hotel Adlon wohnen und speisen kann. Bekanntlich suchte der Göttervater Zeus seine Schönen als Schwan oder als Goldregen oder als Stier oder als Wolke heim. Wie nun Pallenberg-Zeus seine Eurydike als - Fliege besummt, das muß man wirklich gesehen und gehört haben, ehe man behaupten will, daß man das Lachen verlernt habe.
Nicht einmal an den Sonnabenden, wo überall Tanzturniere, Bälle, Kostümfeste locken, bleibt auch nur ein Platz im Großen Schauspielhause unverkauft. Der Vergnügungsandrang hat immer noch nicht nachgelassen. Natürlich gibt es einige Stände, die, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, sich enthalten: Hausbesitzer, festbesoldete Akademiker, verabschiedete Offiziere, Kleinrentner. Sie können wehmütig mit Wilhelm Busch bekennen: "Enthaltsamkeit ist das Vergnügen an Dingen, welche wir nicht kriegen." Aber die verschiedenen Gesellschaftsschichten berühren sich, und ihre Angehörigen - ergänzen sich: die eine hat das hübsche Gesichtel, und der andere hat die dicke Geldtasche, und so kann man gemeinsam tanzen gehen. Die Bösen-Buben- und Schlimme-Mädchen-Bälle sind Legion, die Bühnen-, Presse-, Filmbälle mehren sich wie die Wohltätigkeitsfeste überhaupt, und einzelne Theater oder Blätter veranstalten noch ihren Sonderklimbim. Man muß da einander übertrumpfen. Der dekorative Umbau der Säle wird immer futuristischer, und jede Veranstaltung schreit: "Mensch, amüsiere dich, es kostet ja einen Haufen Geld!"
Der Lustige-Blätter-Ball nannte seine Veranstaltung Sodom und Humorra. Es war aber nicht besonders sodomitisch oder besonders humoristisch, sondern einfach Klamauk, wie der Berliner sagt. Der Hauptwitz war der Ballontanz. Jeder Herr band seiner Dame einen Kinderballon an die zarte Fußfessel. Beim Tanz mußte man sich bemühen, anderen Damen den Ballon auszutreten. Knall, Gelächter, Musiktusch, Abtreten des besiegten Paares. Siegerin die Dame, die zuletzt als einzige noch die geblähte bunte Blase am Bein hatte. Auf gut deutsch: man tanzte eine Art Cancan. Wer immer rechtzeitig das Ballonbein hochwarf, der hatte Chancen, die sogenannte Lustigkeit stieg mit den emporstrebenden Röcken, und wem ein Blick auf seidene Dessous schon Sodom und Humorra bedeutet, der war eben in Sodom und Humorra.
Ernster wird die Sache auf den Tanzturnieren genommen. Wir sind ja im Grunde überhaupt so blutig ernst, und deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun, hat sogar Richard Wagner gesagt. Also ist auch das Tanzen, ursprünglich aus dem taktmäßigen Pulsen jungen Blutes geboren, aus selbstvergessenem Sichwiegen zu einem ernsthaften Sport geworden, der von Preisrichtern nach Punkten gewertet wird. Natürlich haben wir schon längst ein Tanz-Derby (freilich nicht die Dreijährigen) und allerlei sonstige "Titelkämpfe"; dieser Tage wurde in Berlin die - Wintermeisterschaft für Deutschland im Tanzen ausgefochten. Der Derbysieger, Herr Schäfer, wurde nicht, wie erwartet, Meister, sondern erhielt nur den zweiten Preis, weil seine unerhörten rhythmischen Verrenkungen schon "reiner Variétéstil" gewesen seien. Das enttäuschte "feine" Publikum pfiff, schrie, stieg auf die Stühle und hielt ein Dutzend Volksreden gleichzeitig. Es gab einen Skandal wie ehedem bisweilen nur auf Radrennbahnen. Die Preisrichter haben es wirklich nicht leicht, über gewisse neue Tänze zu urteilen, weil diesen Tänzen doch die musikalische Seele fehlt. Der Jazz verhält sich zu einem symphonischen Orchester wie ein Hund zum Chorgesang. Und den Shimmy - den "Hemdentanz" in der Sprache der chinesischhen Wäscher - kann man eigentlich ganz richtig erst dann exekutieren, wenn einem die Hosenträger zerrissen sind, sonst kriegt man die verzweifelten Beinzuckungen nicht so gut heraus.
Richtigen Sport im alten Sinne haben wir trotz Tanz und Feez immer noch genug, besonders seit der große Sportpalast in der Potsdamer Straße mit seiner vortrefflichen Bahn und dem riesigen Zuschauerraum in drei Rängen übereinander wieder seinem ursprünglichen Zweck dienstbar gemacht worden ist. Da hat der Verein der Sportpresse dem Publikum ein Schaufest gegeben, wo in schönen Aufführungen und Wettkämpfen jeglicher Saalsport geboten wurde. Sogar die vom grünen Rasen, die Jockeilehrlinge aus Karlshorst und Hoppegarten, mußten herhalten, allerdings nicht zum Pferderennen, sondern zum Tauziehen, wobei die Karlshorster Hindernisjungens sich als um einige Pfund besser herausstellten. Das war natürlich nur ein farbenbunter Scherz als Zwischengericht. Im übrigen wurde Kürturnen, Radfahren, Laufen, Fechten, Boxen vorgeführt, und das Publikum konnte seine "Lieblingskanonen" als Wettkämpfer oder wenigstens als Ehrengäste beäugen. Wenn ich zu dergleichen Veranstaltungen gehe und mir durch einen Boten vorher die Eintrittskarten besorgen lasse, habe ich immer ein etwas unbehagliches Gefühl. Ich denke, der Junge sage sich sicher: "Für so etwas gibt dieser Burschewa nun das viele Geld aus, pfui Teufel, und wir Proletarier kriegen nur einen Hungerlohn." Also nur zögernd erkläre ich dem jungen Radfahrer, er möge mir einen Platz besorgen, nicht zu teuer natürlich, aber immerhin einen Platz, von dem aus man gut sehen kann. Un da sagt er ganz gleichmütig: "Ich jehe in 'n Sportpalast imma for 65 Emm, da kenn' Se ooch hin, da kenn' Se alles jut sehen!" Donnerwetter! Nächstens gibt mir der Junge vielleicht ein Trinkgeld. Aber recht hat er. Ich habe vortrefflich gesehen. An sich ist es mir freilich ganz gleichgültig, ob Lorenz Stabe oder Stabe Lorenz überrundet, ich habe gar keine "Lieblingskanone", sondern freue mich völlig unpersönlich an dem Bilde, an der Kraft, an der Disziplin, an dem Willen zum Siege. Und manchmal sehe ich sogar mehr auf das Publikum als auf den Ring der Boxer, in dem gerade Naujocks in der Visage seines Gegners Murphy mit einem harten Kinnhaken landet. Dieses Publikum ist mißgestimmt, weil nicht mit 4-Unzen-Handschuhen, sondern mit 6-Unzen-Handschuhen gefochten wird, deren dicke Polsterung die Stöße mildert, so daß "Knockout" - Niederschlag zur Bewußtlosigkeit - kaum zu erwarten ist. Die Augen der Zuschauer glimmen. Man will Blut sehen. Es soll einer zusammenstürzen wie der Schlachtochse, der mit dem Beil vor den Kopf zusammengehauen wird. Da lesen diese Leute, die zu neun Zehnteln dem Kleinbürger- und dem Arbeiterstande angehören, täglich in ihrer Presse die pazifistischen Leitartikel, aber sie lechzen nach Kampf und Niederschlag.
Das muß doch tief in der menschlichen Natur begründet sein. In der Natur überhaupt, die nirgendwo so friedlich ist, wie die Nachbeter Rousseaus behaupten. Auf der Dresdner Hygieneausstellung sah ich vor langen Jahren einen Berliner sozialistischen Abgeordneten tiefsinnig vor der Leinwand stehen, auf die ein fauliger Wassertropfen in zweitausendfacher Vergrößerung projiziert war. Es lebte in dem Bilde. "Leben heißt ein Kämpfer sein." Da rammten sich die Bakterien, überkugelten sich, hieben sich, fraßen sich in wildem Ingrimm auf. Genau dasselbe wie in der höheren Tierwelt. Heute wird den "verderblichen, militaristischen Jugendbüchern", den Kindertrommeln und Trompeten Fehde angesagt und mit Befriedigung festgestellt, daß vor Weihnachten in den Spielwarenläden weniger Uniformen und Bleisoldaten ausgestellt waren als früher. Hat aber dafür nicht der Tomahawk und der Federschmuck des Indianers überhandgenommen, spielen die Vorstadtkinder nicht wieder überall Marterpfahl und Skalpieren? Naturam expellas furca, tamen usque recurret, lernten wir schon in unserer Lateinfibel: treib' die Natur mit der Mistgabel aus, so kehrt sie doch stets wieder! Mit großem Kummer stellt selbst der "Vorwärts" fest, wie begeistert die Kinder im Zirkus Busch sind, wenn es dort Kampfszenen gibt. In den Nachmittagsvorstellungen. Im Robinson Crusoe. Wie der liebe Indianer Freitag von Robinson erlöst wird, wie Robinson ihn unterrichtet, wie beide gemeinsam die Hauswirtschaft betreiben, alle diese eminent wichtigen Sachen bekommt man nicht zu sehen. Sondern etwas ganz anderes. Und den "Vorwärts" überläuft's, wenn er einen Jungen, einen richtigen proletarischen Jungen erzählen hört: "Richtige Wilde sah man mit Tomahawk und Spießen. Richtig geschossen haben sie. Und dann, wie die Wilden schrien und hinfielen und tot waren! Und wie der eine so hinschlug, gerade an dem Baum, die Zunge hing aus dem Halse. Und der Häuptling, wie ihm der Kapitän das Messer in den Hals stach! Und wie der letzte von einem Matrosen mit dem Kolben erschlagen wurde!"
In der Morgennummer vom 3. Januar war das zu lesen, voll Grauen und Abscheu. Und seither ist es in den Vorstellungen des Robinson Crusoe voller denn je. Die armen Pazifisten! Noch ein paar Jahre weiter, dann erscheinen auf dem Spielwarenmarkt am Ende wieder dicke Bertas.
Es ist zum Krankwerden. Man wird auch wirklich krank. Sonst hieß es, wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Das hat der liebe Gott, falls er mit unseren Kabinettsbildungen überhaupt noch etwas zu tun hat, in den letzten Jahren anscheinend unterlassen. Wem er ein Amt gibt, dem gibt er heute auch eine vornehme Krankheit. Unsere Novembergrößen sind in allen Heilbädern und an den schönsten Winterkurorten zu finden. Einige von ihnen, so der Schatzminister Bauer, beschweren sich schon darüber, daß einem der Aufenthalt dort dadurch verleidet würde, daß sich auch so viele Deutschnationale da einfänden. Bauer war in Kissingen. Mit zwei von der ihm untergebenen Reichsverwertungsstelle München gestellten Dienstautos. Im zweiten machten Herr Scheidemann nebst Fräulein Tochter ihre Ausflüge. Hübsch zu Fuß gingen dagegen Männer wie der Admiral Scheer. Von ihm ist in der Berliner Gesellschaft jetzt viel die Rede, weil er mit Aufsätzen in die Öffentlichkeit tritt, die den ungeteilten Beifall der gesamten demokratischen Presse finden. An den Quellen von Kissingen hat er seine Egeria gefunden, die Abgeordnete v. Oheimb. Die altklassische Quellnymphe Egeria gab dem König Numa Pompilius bekanntlich die besten Ratschläge. Er heiratete die Jungfrau zum Dank dafür. Wie man sieht, stimmt also der Vergleich nicht ganz, denn Admiral Scheer will nicht König, sondern höchstens Reichspräsident werden, und seine Kissinger quellende Nymphe ist verheiratet, also zur Zeit nicht zu haben.
19. Januar 1922 (Donnerstag).
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