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Plünderungen - Die arbeitende Reichshauptstadt - Zwischen Spandau und Berlin - Theater-Unkultur - Totensonntag - Rollet auf Reisen - Am "Amazone"-Denkstein
Als wir Kinder waren,wollten wir immer wieder die Geschichte von dem spleenigen alten Engländer hören. Er verbrachte sein Leben damit, jeden Abend sich die Vorführungen dressierter Raubtiere anzusehen und jeden Morgen die Probe dazu. Er saß oft wochenlang in derselben Menagerie oder in demselben Zirkus. "Aoh, ich uill einmal sehen, wie ein Löwe frißt einen Bändiger!" Dreißig Jahre lang hatte er diesen Sport betrieben, ohne zu dem ersehnten Schauspiel gekommen zu sein. Da geschah es, während er wieder einmal in seiner Loge saß, in einer Nachbarstadt, in einer anderen Arena, und unser Engländer gab sich voll Verzweiflung über sein verfehltes Leben den Tod.
Wir Kinder konnten ihn einigermaßen verstehen, denn auch wir brannten nach einem schauerlichen großen Erlebnis: wir hätten gar zu gern einmal auf einem Kauffahrteischiff es mit angesehen, wie es von Seeräubern geentert und geplündert würde und wie dann die wilden Gesellen mit dem Krummschwert an der Seite sich aus den Schätzen bunte Gewänder aussuchten, Edelsteine an die Finger und auf den Turban steckten, ganze Fässer vol Malvasierwein austränken und schließlich einander an die Gurgel gerieten. Ein langes Leben hindurch habe ich nie solche Plünderung gesehen, soviel ich auch zur See fuhr, allerdings nie mit Schatzkammern an Bord, sondern nur mit Menschenfracht oder Getreide oder Holz oder Maschinen oder Kaffee oder - einmal - mit etlichen hunderttausend lebendigen Wachteln aus Zentralasien, die in Batum nach Neuyork für die Tafeln der dortigen Reichen verladen wurden. Überhaupt nur ein einziges Mal habe ich so etwas wie eine Plünderung gesehen. Im Jahre 1918 im November . Wir waren - 454 Mann und die zugehörigen Offiziere - einwaggoniert, der Zug auf einer kleinen Station. Auf dem übernächsten Geleise Güterwagen mit Sendungen aus Deutschland für eine Armeeintendantur und für Lazarette. Einige unserer Leute, wir Offiziere noch nicht, hatten von Eisenbahnern irgendwo am Ende des Zuges den erlogenen Funkspruch des Reichskanzlers Max von Baden mitgeteilt bekommen, daß der Kaiser abgedankt habe, abgedankt zugunsten einer deutschen Republik. Die unmittelbare Folge war nun, daß etliche Soldaten sich die schwarzweißrote Kokarde abrissen, über die Geleise liefen und den Güterzug erbrachen. Krachend flog eine Lazarett-Weinkiste heraus. Nun war kein Halten mehr. Alsbald kamen andere nach, schon mochten es hundert Plünderer sein, und jede Disziplin war zerrissen. In diesem Augenblick sprang ich mit einem Kameraden herzu, der erste Plünderer kriegte mit einer vollen Flasche einen Hieb vor den Schädel, daß er zusammenknickte, der nächste sah einen Pistolenlauf vor seiner Nase, vier herzugerufene treue Leute legten auf Befehl den schußfertigen Karabiner an - und in wenigen Sekunden war der Spuk zerstoben, stand auf "Antreten" die ganze Front, ging jedermann wieder in seinen Waggon und verließ ihn nicht mehr, denn davor patrouillierten Offiziere und Unteroffiziere mit entsicherter Pistole in der Hand. Wir trafen vier Wochen später als anständige Leute mit schwarzweißroten Kokarden und Fahnen in Deutschland ein.
Um den Anblick einer richtigen Plünderung war ich also wieder gekommen. Und nun bin ich in der großen Menagerie Berlin, habe oft genug das Raubtiergebrüll der Bestie Mensch gehört, Straßenkämpfe erlebt, noch stecken auch Infanteriegeschosse der Spartakisten in der Wand auf unserem Balkon, auf den meine Frau die Nase hinausgesteckt hatte, und jetzt lese ich täglich in der Zeitung von Überfällen des Mobs auf Warenhäuser und andere Läden und von den phantastischsten Plünderungen, bummele auch in den "duftesten" Gegenden - aber es geht mir wie dem Engländer: während ich am Alexanderplatz einer zusammengerotteten Menge zusehe, wohin sie sich wohl wälzen mag, kommt einer von der Schönhauser Allee gelaufen und erzählt, gerade eben hätten dort Hunderte in einem Konfektionshaus sich "neu eingekluftet". Ich möchte gern wissen, was das für Leute sind, ob sie etwa so aussehen, als seien sie eingeschriebene Mitglieder der Deutschen oder der Deutschnationalen Volkspartei. Aber ich komme wie die Polizei immer zu spät. Ich sehe nur herabgelassene Rollvorhänge und vergitterte Türen. Man ist in Berlin eben wieder zu der Erkenntnis durchgedrungen, daß die beste Einbruchsversicherung in einem Stahlgatter besteht, hinter dem ein Pförtner mit dem Browning in der Hand waltet.
Nun ist Berlin aber wirklich nicht ein ausgesprochenes Asyl von Räubern und Plünderern und sonstigen Verbrechern. Auch im Hamburger St. Pauli und in anderen Großstadtwinkeln erlebt man heute Dinge, an die man vor der Revolution nicht gewöhnt war. Berlin ist sogar eine ausgesprochene Arbeitsstadt. Der Berliner Arbeiter jeder Art - vom Geheimrat bis zum Pflasterer - arbeitet mit einer Wucht und einer Hingabe, wie man sie nicht überall findet. Weiche, verschlafene, schlaffe Gesellen erlebt man hier kaum. Auch was die Berlinerin - von der Ministerialrätin bis zur Gemüsefrau - anpackt, das "schafft" und das "flutscht". Aber wir haben leider Halbwüchsige hier, denen während des Krieges viereinhalb Jahre lang die väterliche Keile fehlte, und die stellen das Gros der Plünderer. Sie erzwingen Streiks. Sie organisieren Aufruhr. Sie kennen keinerlei Autorität. Die Masse der Alten und Gereiften ist nur zu feige gegenüber dieser Bande, sonst hätten wir schon längst Ordnung im Lande, und dazu kommt noch das ekelhafte Getue gewisser politischer Demagogen, die als Volksschranzen in Speichelleckerei jeden ehemaligen Hofschranzen übertreffen. Sie verdrehen unseren Halbwüchsigen vollends den Kopf. Die Folgen erleben wir jetzt. Jeder einzelne von uns kann Erlebnisse dieser Art erzählen.
Da kommt dieser Tage der lange westfälische Pastor nach Berlin, vierter natürlich, in einem Wagen, in dem zufällig nur Frauen und Mädchen sitzen, die zur Arbeit fahren.
Ein junger Mann steigt ein, angetrunken und etwas mehr als munter, ein Arbeiter.
Er macht blau und ist schon blau, er macht sich sofort an die Mädchen heran, wird zudringlich, wird handgreiflich, so daß sie in die Ecken flüchten. Schließlich packt er eine in ganz gemeiner Weise, die wehrt sich wütend und schreit, sie verbitte sich diese Unverschämtheit. Darauf die Antwort, die ein Erlebnis ist:
"Ich bin doch Arbeiter, wir Arbeiter sind doch jetzt die Herren, wir können machen, was wir wollen!"
In diesem Augenblick erhebt sich der lange westfälische Pastor, der schon als kaum achtzehnjähriger Fuchs auf der Hochschule mehr Kräfte als ein erwachsener Mann besaß und eine prachtvolle Klinge schlug, zu seiner vollen Größe, packt mit den zehn Eisenklammern seiner beiden Hände den jungen Mann und "stellt ihn in die Ecke", wo er nun vertattert und ganz manierlich stehenbleibt, bis alles in Berlin aussteigen muß. Auch die Mädchen. "Die haben sich", erzählt der Pastor, "sehr ordentlich bei mir bedankt; man fährt auch in der vierten Klasse oft genug in guter Gesellschaft, dazu gehören diese Mädchen, die doch auch dem Arbeiterstande angehören." Das ist richtig. Nur wird die böse Gesellschaft eben nicht immer wie hier im Zaume gehalten.
Mehr noch: an der Verwilderung der Sitten sind gerade diejenigen schuld, die sich selber zu der allerbesten Gesellschaft rechnen, aber fünfe stets gerade sein lassen. Warum wird von ihrem Zorne die ganze Theaterschweinerei Berlins noch nicht hinweggefegt? Das "Wir können machen, was wir wollen!" ist doch das A und O fast aller Stücke, die heute über die Bühnen der Reichshauptstadt gehen. Ich bin kein Eiferer. Ich will auch auf das freisprechende Urteil im Reigen-Prozeß nicht zurückkommen. Aber das eine sei doch festgestellt, daß nahezu jedes Schauspiel, auch im Kino, den jungen Arbeiter nur lehrt: "Wer Geld hat, kann den Teufel tanzen lassen." Und daß die sogenannte Liebe weiter nichts sei, als das rein körperliche Recht des Stärkeren oder Gerisseneren. Die Banden der jungen Rowdies sind gewiß sehr schlimm. Aber schlimmer noch ist der geistige Terror, den eine Sippe von gewissen Theaterkritikern ausübt, indem sie für "höchste Kunst" erklärt, was nur raffinierte Technik in der Aufmachung eben jener seelenlosen Fleischeslust ist. Man verliert alle Lust am Rezensententum. Auch Lautensacks Komödie - der Mann selbst ist in geistiger Umnachtung gestorben - im Berliner Lustspielhaus, die das Ereignis dieser Woche war, möchte ich deshalb weder nach Titel noch nach Inhalt anführen. Wo aber noch Stücke in altem Sinne aufgeführt werden, die erschüttern oder erheben, nachdenklich machen oder beseligen, da werden sie von den Berliner Bühnen so "primitiv" auf der berühmten schwarzen Treppe mit nur angedeuteten Dekorationen gebracht, daß die Wirkung der lebendigen Handlung verpufft: man hat den Eindruck nur einer dramatischen Vorlesung mit verteilten Rollen.
Ein wenig von dem Ernst, den der Totensonntag sonst überall in Deutschland hervorruft, zeigt sich diesmal auch in dem rastlosen Getriebe der Reichshauptstadt. Es gibt ja besonders viele Gräber zu schmücken. Die Kirchhöfe sahen gewaltige Prozessionen. Überall wurden auch junge Kriegerheimstätten bedacht. Auch Elsässer und Lothringer, die ihr Schicksal nach Berlin verschlagen hat, feierten ihre Toten und legten am Kriegerdenkmal einen Kranz mit rotweißer Schleife und der Inschrift nieder: "Unsere läewe Landslit zoer Ehr - vo heimettreie Elsasser und Lothrenger in Berlin." Gerade durch ihre Pietät erweisen sich diese Wackeren aus den ehemaligen Reichslanden als echte Deutsche. Der Franzose kennt keine Pietät. An den Franzosengräbern in Berlin - und die Lazarette und Gefangenenlager haben ja manchen welschen Soldaten und Offizier hiergelassen - zeigte sich kein Mensch, obwohl Berlin voll ist von französischem Militär. Die Gräber werden durch deutsche Arbeit in Ordnung gehalten; keine Spur von landsmannschaftlicher Liebe nimmt sich ihrer an. Die Herren der Überwachungskommission sind zu beschäftigt, sie müssen im Lande herumreisen, um deutsche Industriewerke niederzulegen, müssen dann Sonntags sich amüsieren und Montags - so wörtlich General Nollet - darüber klagen, "daß leider das Gefährlichste nicht niederzulegen sei, das deutsche Gehirn". Man hört es, und man wird elegisch. Wo ist denn noch dieses deustche Gehirn, abgesehen von dem der Industriemagnaten, der Techniker, der Universitätsprofessoren, der Lehrer, der wenigen sonstigen Leute mit deustschem Rückgrat? Die Gedankenlosigkeit herrscht. Gestern abend kommt General Nollet mit seinem Stabe von Erfurt, wo er ebenfalls ein paar hundert Arbeiter auf die Straße zu setzen gedenkt, nach Berlin zurück. Im Speisewagen sitzt ein Deutscher in Uniform und mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse mit einem Franzosen zusammen bei Tisch und trinkt mit ihm gemeinsam eine Flasche Wein. Wir sehen durchaus ein, daß die den Ententekommissionen als Begleiter zugeteilten deutschen Offiziere den außerdienstlichen Verkehr mit den Zwingherren nicht ganz vermeiden können; aber auch da sollte der Takt doch gewisse Grenzen ziehen.
Der nationale Takt kommt, scheint es, allen unseren Ständen allmählich abhanden. Im November 1861 ging auf fernem Ozean die preußische Kriegskorvette Amazone in einem Wirbelsturm unter. Im November eines jeden Jahres gehe ich einmal mit meinen Kindern in den Invalidenpark in Berlin, wo "Die trauernden Eltern ihren lieben Kindern" von diesem Schulschiff einen Obelisk als Denkmal errichtet haben. Unter den damals ertrunkenen Seekadetten befand sich ein junger Angehöriger unserer Familie. Also ich bin an diesem Sonntag im Invalidenpark. Auf den vier Seiten des Denkmals sind vier erzene Gedenktafeln mit den Namen angebracht. Die Matrosen; die Handwerker; die Schiffsjungen; die Seekadetten und Offiziere. Und ich traue diesmal kaum meinen Augen: diese vierte Bronzetafel ist abgerissen. Von wem? Auf wessen Befehl? Es handelt sich nicht um einen Metalldiebstahl. Die übrigen Tafeln sind mit ihren je vier Schrauben nach wie vor ungelockert. Nur daß in der jungen preußischen Marine auch Seekadetten und Offiziere im Dienste starben, das will der Haß nicht stehen lassen. Wirklich der Haß? Ach, es ist nur Dummheit, Taktlosigkeit, Würdelosigkeit. Falls Nollet auch an den Berliner roten Magistrat gedacht haben sollte: da sind keine Gehirne mehr niederzulegen.
24.November 1921 (Donnerstag)
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Man knipst - Wieder einmal Streik - "Wir lassen uns nicht provozieren!" - Ehrlichkeit macht arbeitslos - Bei Wertheim kein Wollstrumpf mehr - Nachmittags im Adlon - French ladies - Am Billard-Totalisator
Man knipst. Einmal, zweimal: an, ab. Merkwürdig, es bleibt dunkel. Man versucht es wieder und wieder: an, ab; an, ab. Kein Erfolg. Sollte die Sicherung durchgebrannt sein, sollte es am Ende Kurzschluß gegeben haben?
"Lotte, knips doch mal im Speisezimmer! Fritz! sieh doch mal im Badezimmer nach dem Licht!"
An, ab; an, ab; an, ab. Nun ist in sämtlichen Räumen vergeblich geknipst worden. Da ist es klar: Streik. So ist es uns in dieser Woche wieder einmal gegangen. Vom dunklen Treppenhaus her hört man einen dumpfen Ton und ein "Himmelschockschwerenot!", denn ein Besucher ist mit dem Kopd gegen irgend etwas gestoßen oder hat leider seine Schienbein zu wattieren vergessen. Die Kerze der Altvordern steht auf dem Schreibtisch. Nun kann man die Zeitung lesen: also wirklich Streik. Die Augen tun einem beim Lesen weh. Drüben in der guten Stube, auch "kalte Pracht" genannt, sitzt der Besucher. Sein Gesicht scheint zu flackern. Lieschen hat Stearin auf seine gestreiften Hosen und auf unsere schöne Plüschdecke gekleckst. Irgendwo heult Willi. Er hat das Licht der Küchenfee zwar nicht "unter den Scheffel gestellt", aber der Katze, die er dazu festhielt, unter den Schwanz. Nun hat er eine dicke Backe. Ist der verdammte Streik noch nicht zu Ende? Vor dem Schlafengehen untersucht man noch einmal. Man knipst. Einmal, zweimal: an, ab. Nichts zu machen. "Sicherheitshalber" probiert man es auch anderswo. An, ab; an, ab. Ach, die Gattin ist's, die teure, die plötzlich, wie in einem Schreikrampf, hervorprustet: "Hat auch keiner falsch geknipst, nur an, oder zuerst an und ab, und dann wieder an?" Ein einmütiges "Nein!" des guten Gewissens erschallt in der Runde. Aber die gute Hausfrau kennt ihre Pappenheimer. Sicherheitshalber knipst sie überall noch einmal und sagt jedesmal, um ihre Sorgen zu übertäuben und den Streikteufel zu bannen, laut und energisch: "Ab!" Na ja, ab. Am nächsten Morgen früh um halb sieben Uhr gibt es überall erstaunte Gesichter. Überall brennt Licht. Sogar das neunflammige in der kalten Pracht. Es hat die ganze Nacht gebrannt. Die Rechnung kann gut werden. Der verdammte Streik - oh, wäre er doch noch da - hat um Mitternacht aufgehört. Mutter kriegt einen Schwächeanfall.
Und da soll einer gesund werden. Besonders bei den Margarinepreisen. Vielleicht wird der Margarinefabrikant gesund, wir nicht. Wir fallen aus einer Aufregung in die nächste. Wir ärgern uns über andere. Andere ärgern sich über uns. Unser Zweiter steckt mitten in einem "praktischen Jahr" und geht morgens in die Möbelfabrik, halb Wandervogel, halb Gott im Herzen, das schwarzweiße Bändchen am Kittel. Darauf tippt ein Arbeitskollege mit dem Finger. "Sie, junger Mann, wir lassen uns nicht provozieren!" Schon gut. Der Junge ist allmählich ungefähr bis zur Handschuhnummer 91/2 gediehen, und so leicht faßt ihn keiner an. Und wer fragt danach, wie wir provoziert werden? Aber das Rot ist natürlich nicht provozierend. Die Flagge der Gesetzlosen soll man sich gefallen lassen.
Allmählich kriegen auch die einfachen Leute aus dem Volke das ganze Treiben satt. Sie machen die unangenehmsten Erfahrungen mit der "neuen" Zeit und ihren Errungenschaften. Drüben in der Hofwohnung haust mit ihrer alten Mutter eine Zuschneiderin, die in einer Fabrik der Bekleidungsbranche in der Großen Frankfurter Straße angestellt ist. "Schneiden Sie möglichst genau zu; kein Millimeter darf verlorengehen!" sagt ihr die Direktrice. Wenige Tage später ertappt die neue Zuschneiderin eine Angestellte beim Stoffdiebstahl. Sie erteilt der Diebin vorerst nur eine Warnung. Diese braust auf: "Haben Sie sich man nich! Wir nehmen alle, was wir brauchen!" Die angebotene Beteiligung an den fortgesetzten Diebstählen lehnt die Zuschneiderin entrüstet ab und geht zum Chef. Der ertappt seinerseits die Diebin und entläßt sie. Alsbald wird eine "Betriebsversammlung" in die eine Ecke des großen Arbeitssaales einberufen, es wird gewispert, debattiert, gehetzt, die Aufregung steigt, und schließlich geht - die Arbeit in dem Riesengeschäft der Großen Frankfurter Straße stockt noch immer - eine Abordnung zum Chef und verlangt die sofortige Wiedereinstellung der Entlassenen. Der Chef weigert sich. Nun die zweite Forderung: sofortige Entlassung der Zuschneiderin. "Se is iebahaupt reakzionär, se provoziert uns, denn se hat de Revoluzionsfeier am 9. November ooch nich mitjemacht." Der Chef weigert sich abermals. Da wird der sofortige Streik proklamiert. Nun sind wiederum die Schneiderinnen, die jetzt in der Hochsaison vor Weihnachten ein Heidengeld verdienen, wütend; aber nicht auf den Betriebsrat, sondern auf die Zuschneiderin - "das Karnickel, wo anjefangen hat". Sie stürzen sich mit gezückter Schere auf sie, die so rückständig ist, ehrlich zu sein. Sie muß flüchten. Sie ist noch heute arbeitslos und findet nirgends Stellung - die schwarze Liste wirkt.
Der Streik in dieser Firma ist freilich dadurch beendet. Es wird fieberhaft, mit Überstunden gearbeitet, denn die beste und teuerste Ware wird einem ja aus den Händen gerissen. Im ganzen Kaufhaus Wertheim in der Leipziger Straße, dessen Größe und dessen Lagervorrat einem klar wird, wenn man weiß, daß es über 7000 Angestellte hat, war vorgestern nicht ein einziger wollener Strumpf zu haben. Ganze Stapel werden schlankweg an Ausländer verkauft, nicht nur Gegenstände des täglichen Bedarfs, sondern vor allem kostbare Luxuswaren. Wenn man glaubt, daß die Ausfuhr unmöglich gemacht wird, so irrt man sich. Es gibt nicht nur eine illegitime, sondern auch eine seit Versailles ganz legitime ungeheure Ausfuhr.
Wollen Sie wissen, wie? Hören Sie zu.
In den Tagen, da die "Reparationskommission" uns beehrte, nahm ich hin und wieder meinen Kaffee im Hotel Adlon. Ein paar kleine Kuchen dazu. Macht 66 Mark, bittääh, sagt der Ober. Bittääh, machts nichts, sage ich. Und studiere weiter die verbotenen Visagen der Schieber aus aller Welt, der offiziellen und der nichtoffiziellen. Neben mir sitzt ein Grieche, zwei Engländer, ein Deutscher und verhandeln über eine Riesenlieferung von deutscher Kohle in die Türkei, die in Wirklichkeit Waleskohle ist, aber über Hamburg geschoben wird. "Da ist noch der Bruder des Großveziers, dem müßten wir doch auch von den 2 Prozent . . .," sagt der Grieche. Weiter links wird über die Verfrachtung des freigegebenen Eigentums der aus England ausgewiesenen Deutschen debattiert: "Aber, Herr Direktor, bei Ihren sogenannten Selbstkosten cif Hamburg haben Sie doch schon 12½ Prozent draufgeschlagen und . . .," deduziert ein Spaniole. Der Kaffeedunst, das Tellergeklapper, der Wind reißen flatternde Sätze auseinander, man versteht nichts Zusammenhängendes, jede Gruppe ist ganz unter sich, obwohl alle ganz ungeniert sprechen. Dazwischen bewegt sich viel Weibliches, auch aus aller Herren Länder, Typen von gewagtester Toilette und gewagtester Moral. Mein Gott, was ist aus dem alten gräflichen Palais Redern, das früher auf dem Grundstück Adlon stand, jetzt geworden!
Aber ich wollte ja von der Reparationskommission erzählen.
Sie bestand aus je zwei Engländern, Franzosen, Italienern; jeder hatte einen Stab von Unterbeamten und dazu noch einen offiziell nicht beschäftigten Anhang. Diese Kommission kostet uns 400 Millionen Mark. Viehundert Millionen Mark! Alle Hoffnungen auf ihre "Studienreise" waren aber eitel. Zunächst war überhaupt keine gemeinsame Sitzung zusammenzubringen. Als die englischen Vertreter sich im Hotel Adlon, wo die Franzosen auf deutsche Reichskosten einquartiert waren, nach diesen erkundigten, hieß es, die Franzosen seien mit ihren Damen auf einem Spaziergang begriffen. "What is the matter with those ladies?" fragte der lange Engländer erstaunt den Empfangschef im Vestibül und erfuhr zur Überraschung auch seiner Begleiter, daß die Franzosen mit einer ganzen Horde von Frauen, "Nichten", Sekretärinnen ins Hotel eingefallen waren und sich sofort auf Einkäufe begeben hatten.
Die Engländer warteten. Warteten sehr lange.
Da kamen endlich, laut schwatzend und gestikulierend, die Franzosen nebst Anhang an. Alle in neuen Kostümen, in neuen kostbaren Pelzen. Die 400 Millionen Mark langen ja noch eine Weile. Am nächsten Tage das gleiche Bild. Nur kamen diesmal schon ganze Wagenladungen von Teppichen, Wäscheausstattungen, Porzellan ins Hotel. So alle Tage. In Deutschland bleibt nur das Papiergeld zurück, das wir selber den Herren zu geben haben, unsere gute Ware aber zerstiebt ins Ausland.
Selbstverständlich als zollfreies Kuriergepäck. Als Bagage mit großem diplomatischem Paß. Das ist ganz legitime Riesenausfuhr, gegen die sich nichts machen läßt.
Auch der Berliner kommt bei solchen Erfahrungen nachgerade zu der Lebensphilosophie des Wieners: man geht halt ins Kaffeehaus und wartet bessere Zeiten ab. Aber wenn man glaubt, dort Ruhe zu finden, so irrt man sich. Nicht nur an der Börse, nicht nur in den Spielklubs, sondern sogar im alten ehrlichen Billardcafé wird heute gewettet und spekuliert. Da sieht man sich bei Zielka, Ecke Leipziger und Friedrichstraße, zuerst eine schöne Cadrepartie an. Immer wieder laufen die Bälle gehorsam zu neuer guter Stellung zusammen. Der Unparteiische zählt monoton die gelungenen Stöße, die der Marqueur dann an der großen Tafel in Nummern aufstellt: "32 für Herrn Andlauer, 33 für Herrn Andlauer, 34 für Herr Andlauer." Da, ein "Kickser"; der andere Spieler kommt heran, hat 37, 38 oder noch mehr Treffer. Es ist reinste, absoluteste Mathematik, nach deren Gesetzen die Bälle rollen, eine wahre Herzensfreude; unsere Damen wissen gar nicht, wie töricht sie sind, wenn sie erklären, sie hätten "Pech" beim Billardspiel. Das gibt es da gar nicht. Also man sieht mit Wonne den kurzen, leichten Masséstößen zu, den eleganten Rückläufern und dem Immer-wieder-Zusammenhalten der beiden anderen Kugeln. Man seufzt, wenn das Spiel bei 300 zu Ende ist.
Da aber kommt Leben in die Bude. Vier Kämpfer auf einmal treten an. Nicht so überlegte, bedachtsame, leichtfingerige Herren wie die Cadrespieler, die linkshändig wie rechtshändig gleich sicher waren und - wenn auch kein Kerkau mit 7300 Points hintereinander - sehr achtbare Leistungen boten, sondern ganz mittelmäßige Spieler. Auf sie wird gesetzt. Es gibt wie beim Pferderennen Tickets von 10 Mark an. Sieger ist der, der zuerst, aber immer mit Anstoß an den roten Ball, 8 Points gemacht hat. Dann wird ausbezahlt. Wir kennen niemand. Aber wir nehmen ein Ticket auf Herrn Schweinböck, weil wir Schwein haben wollen. Nachher siegt Herr Rothschild, und es wird, knapp 12 Minuten nach Beginn des Kampfes, 63:10 ausbezahlt. Es gibt Leute in Berlin, die täglich von 3 Uhr nachmittags an hier sitzen und zusehen und Tickets nehmen und - ihren Lebensunterhalt davon bestreiten. Sie gehen täglich mit 150-300 Mark davon. Weil sie Dusel haben? Weil sie die Spieler kennen? Weil alles Schiebung ist? "Is eh' schon egal," sagt der Wiener.
1. Dezember 1921 (Donnerstag)
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Pressefest im Reichstage - Wirth schreibt Spruchweisheit - Eine Bismarckerinnerung - "Kein Bedarf für vaterländische Schauspiele" - Halbwelt vor und auf der Bühne - Franzosen-Mädis - Aus der Berliner Russenkolonie - Die Germanowa in Tschechows "Onkel Wanja" - Landrat und Chauffeur
Er ist Junggeselle. Mein Gott, wie interessant! Und wie entzückend er das gesagt hat, dieser Dr. Josef Wirth: er sei Junggeselle, brauche also bei einem etwaigen Auszug aus der Reichskanzlei keinen Möbelwagen, denn seine gesamten Habseligkeiten könne er in einem Koffer in einer Droschke mitnehmen. Auch hierbei wirft Wirth, der in jeder Lebenslage der Volksversammlungsredner bleibt, mit der Wurst nach der Speckseite oder vielmehr mit dem Gummikragen nach der Sozialdemokratie. Selbst der Handarbeiter kann doch heute sein ganzes Krämchen einschließlich Sonntagskluft und Extrastiefeln nicht mehr in einem einzigen Koffer unterbringen. Und hat denn dieser Dr. Wirth wirklich gar keine geistigen Bedürfnisse? Hat er nicht wenigstens, sagen wir einmal, ein halbes Dutzend Bände von Karl May? Es hält schwer, sich einen bücherlosen deutschen Reichskanzler vorzustellen. Immerhin: er ist Junggesell. Grund genug für unsere nachnovemberliche Damenwelt, Damen bis einschließlich zweieinhalb Zentner Lebendgewicht, öffentlich-gesellschaftliche Veranstaltungen aufzusuchen, wo man diesen Mann für Eintrittsgeld sehen und sich womöglich an ihn herankristallisieren kann. So etwas hat also die Berliner Presse dieser Tage im Reichstagsgebäude veranstaltet. "Fahr' mer hin, was es kost', is egal!" Da drängt sich nun die neue Hautevolée beim Steh-Tee in der großen Wandelhalle. Kinder, es ist zum Piepen! Alles scharwenzelt um ihn. Er verzieht sein Gesicht so liebenswürdig wie vor etlichen Wochen auf dem Bilde des Kladderadatsch, wo der bayerische Löwe ihm schmunzelnd die Wange leckt. Und schreibt unentwegt Autogrammkärtchen. Er, der Junggesell. Er, der Erfüller. Er, der bücherlose Reichskanzler, der "alles von sich selbst gelernt hat" und daher auch von Aphorismen trieft. Was schreibt er denn da? Laßt mal sehen! Immer dasselbe: "Nicht auf Reichkanzler und Finanzminister schimpfen! Dr. Wirth." Mein Gott, wie interessant. Wie süß. Wie bedeutend. Wie werden Lehmanns, denken Veilchentals, sich ärgern, daß sie nicht auch ein Billet für diesen Wohltätigkeitstee genommen haben! Unsereins aber hält es nur noch der Pflicht gehorchend ein halbes Stündchen bei solcher Geselligkeit aus. Man mokiert sich; auch das ist gesund für die Verdauung.
Unter etlichen Reichskanzlern habe ich ja schon etliches erlebt. Eine Erinnerung huscht vorüber: Bismarck. Und sofort versinken die Schemen von heute. Von dem Hochragenden pflegte man keine Autogramme zu erbitten. Aber eine Stunde mit ihm - das grub sich ein in Herz und Hirn. Wir waren einmal ein paar Tage in Varzin. Meine Frau machte befangen einen großen Hofknix vor ihm, als er zu uns trat. Sie war damals, wie Bismarck sagte, in dem für Damen "sehr empfehlenswerten" Alter von zwanzig Jahren. Der ritterliche alte Herr - die Fürstin und die Rantzaus und Schweninger und andere waren übrigens zugegen - gab meiner Frau nicht etwa ein Autogramm, sondern einen Kuß, einen veritablen Kuß auf den Mund. Da drehte sie sich, strahlend vor Glück, wie der Blitz zu mir herum und rief:
"In meinem ganzen Leben wasche ich mir nicht mehr den Mund!"
Da lachte alles über die Begeisterte. Und die Fürstin lächelte stolz und gütig zu ihrem "Ottochen" hinüber. Vorbei, vorbei. Es fröstelt einen, wenn man die heutigen Amtsnachfolger sieht.
Die Regierenden von heute sind am sonderbarsten, wenn sie sich als Kulturpäpste haben. Der verdiente Unternehmer der Freilichtaufführungen von Kleists "Hermannsschlacht", Ulrich Haupt,bewarb sich um die Genehmigung zu einem vierzehntägigen Gastspiel in einem bereits konzessionierten ständigen Berliner Theater. Er hat die Genehmigung ja schließlich bekommen, und was er da jetzt aufführt ("Das deutsche Leid"), das ist, offen gestanden, mehr gut gemeint als gut gegeben. Aber welche Schwierigkeiten waren zu überwinden! Das Wort des sozialdemokratischen Wirtschaftsministers Schmidt, "die deutschnationale Bewegung hat sowieso schon einen Umfang angenommen, der uns wenig angenehm ist", ist noch unvergessen; aber noch deutlicher hat sich im Falle Ulrich Haupt die preußisch-republikanische Behörde des sozialdemokratischen Innenministers Severing geäußert:
"Gesuch wird abgelehnt, da für vaterländische Schauspiele ein Bedürfnis nicht vorhanden!"
Dieser Bescheid, der erst nach langem Mühen abgeändert wurde, verdient es, mit einem Erzstift in die Herzen der Zeitgenossen und in die Tafeln der Geschichte eingeritzt zu werden. Die Herren haben ja so recht. Wozu etwas Vaterländisches? Besser etwas "fürs Herz", so, wie ganz Berlin zur Zeit es singt:
Hedy, |
Das paßt doch viel besser in unsere Zeit der Halben, wo Halbwelt auf der Bühne triumphiert, Halbwelt die Ränge füllt. Ja, wozu etwas Vaterländisches, wie etwa der für Berlin gänzlich verschollene "Wilhelm Tell", wenn Französisches überall serviert wird? Jetzt sind es schon sieben Berliner Theater, die täglich französische Schwänke und Eindeutigkeiten spielen. Das geschieht zur größeren Bequemlichkeit unserer Überwacher, der französischen Offiziere und Soldaten, die ihre Berliner Mädis doch mal abends ausführen müssen und bei der Theaterwahl dann gleich im Bilde sind, wenn auf den Anschlagsäulen "Die Dame im Bett" irgendeines französischen Autors angezeigt wird. Viel kosten läßt man sich sein Berliner Mädi sowieso nicht. Der Bosch zahlt alles. Neuerdings fordern unsere Überwacher nur noch Geldsummen, ohne irgendeine spezifizierte Rechnung einzureichen. Wofür man das Geld ausgeben will, geht die Deutschen nichts an. Und unsere Ämter knicken zusammen und schreiben Zahlungsanweisungen bis zum Schreibkrampf.
Die Fremdenkolonien in Berlin lassen sich im Gegensatz zu uns ihr kulturelles Eigenleben nicht verkümmern. Besonders die Russen schwelgen darin. Einst gab es in Petersburg über 90 000 Deutsche, namentlich im Stadtteil Wassilij Ostrow, auf der Basiliusinsel, wohnten sie in den hohen Mietskasernen dicht beieinander. Jeder zehnte Mensch sprach in Petersburg Deutsch, zum Teil überhaupt nur Deutsch, allenfalls mit einzelnen russischen Lehnwörtern, so "Bulke" für Semmel und "Konke" für Pferdebahn. Jetzt gibt es umgekehrt in Berlin ganze russische Viertel. Nicht weniger als vier große russische Buchhandlungen, drei russische Zeitungen, zwölf russische Restaurants und verschiedene russische Bäckereien, russische Kunstwerkstätten, russische Feinkostgeschäfte dienen der Kolonie. Ich meine der rein russischen. Nicht der polnischen oder jüdischen - die hier z.B. ein eigenes jiddisches Theater hat - oder tatarischen. Es gibt künstlerisch hervorragende russische Sängerchöre in Berlin, russische Professoren halten Vorlesungen ab, ein Gymnasium hat nur russische Schüler. Das alles berührt die deutsche Öffentlichkeit nur wenig. Aber nun spielt seit einer Reihe von Tagen das Moskauer Künstlertheater hier in der Königgrätzer Straße, und das ist für uns wieder eine große Offenbarung. Vielleicht sagt man besser: der gerettete Teil des früheren Moskauer Künstlertheaters. Mit dem berühmten Stanislawskij als Regisseur, der unserem Reinhardt zum mindesten ebenbürtig ist. Es lohnt sich schon, irgendeine deutsche Ausgabe eines russischen Stückes, etwa Tschechows "Onkel Wanja", vorher so genau zu studieren, fünf-, sechsmal hintereinander durchzulesen, daß man nachher der Vorstellung in der Fremdsprache gut folgen kann. Es ist eine künstlerische Erhebung. Es ist ein sorgsam abgetöntes Zusammenspiel, so unaufdringlich echt in jedem Augenblick, daß selbst der alte Kritiker die Umwelt vergißt, nicht mehr als Zuschauer im Parkett zu sitzen vermeint, sondern da oben russische Gesellschaftsgeschichte mit zu erleben. Es ist ein Protest der Tat gegen unser greuliches Berliner Star-System, wo ein Theater sich einen Star, einen "Stern", für ein Stück mietet und die Szene im übrigen mit Bruch besetzt: bei Stanislawskijs Russen im Theater in der Königgrätzer Straße ist das Ensemblespiel so, wie man es heute in ganz Deutschland vergeblich suchen würde. Die russische Dramenliteratur, die uns hier geboten wird, stammt natürlich noch aus der kaiserlichen Ära. Aus dem Kreise jener, die die kränkelnde russische Gesellschaft sozusagen hauchzart mit ein paar Pastellstiften auf die Leinwand bannen - von einer leisen Traurigkeit überweht, von einem leisen "Warum das alles?" begleitet. Fragen ohne Antwort. Tolstoi gab eine; der Bolschewismus gab eine. Beide haben zerstört. Aufzubauen wußten auch die Tschechow und die übrigen um die Jahrhundertwende nicht, aber sie kannten auch nicht den Fanatikerhaß gegen das Bestehende. Sie konnten über ihre Figuren wehmütig lächeln, und wir lächeln mit ihnen und verschlucken verstohlen eine Träne. Ich habe mir den "Onkel Wanja" angesehen. Der karge Zauber der russischen Landschaft, der gemütliche Reiz des Teetisches, die fliegengeschützte leinenverdeckte kalte Pracht des Herrenhauses umfängt uns - und gleich nach den ersten Worten fangen wir an, zu leben; zu leben, zu leiden, zu zagen, zu hoffen mit den Menschen da oben. Meisterlich jeder einzelne. Ein Wunder vor allem diese Frau, die Germanowa, deren Kunst, ja deren Antlitz zum ersten Male wieder an Eleonora Duse, die Unvergessene, gemahnt. Es lohnt sich. Ja, es lohnt sich. Erst nach dem letzten Fallen des Vorhanges braust der Beifall los. Vorher, bei den einzelnen Aktschlüssen, verhält das gute russische Publikum, das das Theater füllt, sich mäuschenstill. Davon können wir lernen, wie man Eindrücke vertieft, statt sie zu stören. Hier und da sitzt ein deutscher Regisseur und trinkt mit Auge und Ohr. Den Ausklang vergißt man für Jahre nicht. In der Verwalterstube des Gutshofes. Sonja und Onkel Wanja, die vom Leben Enttäuschten, um Liebe Betrogenen, in Arbeit Alternden, haben sich wieder an die Wirtschaftsbücher gesetzt. "Einmal kommt der Tag . . . ach einmal werden wir ausruhen . . ." Der Rechenschieber klappert. Das Heimchen zirpt. Der alte Telegin greift müde in die Gitarre. Von ferne Schlittengeläute.
Nun ist wieder Licht im Zuschauerraum. "So'n Quatsch!" sagt die tiefdekolletierte, weiß Gott wieso hierher geratene deutsche Schieberdame vor mir, lächelt mir vertrauenerweckend zu und leckt sich die Finger, an denen die Reste warmgewordener Pralinees kleben. Nun bin ich wieder im Deutschland von 1921. Heißa, juchheißa. Aber die Welt hat sich ja nicht nur in Berlin verändert; überall im Reiche erlebt man heute die wunderlichsten Dinge. Ein nachnovemberlicher Landrat, Sozialdemokrat selbstverständlich, bekam dieser Tage den Besuch seines Regierungspräsidenten - ich will ruhig sagen woher: aus Merseburg - und holte ihn im Dienstauto vom Bahnhof ab. Und wollte gleich imponieren und rief hintenübergelehnt:
"Schaffehr, immer orntlich rechts fahren!"
Der aber stoppte, sah sich um und sagte:
"Halt doch deine Klappe, ich versteh doch vom Fahren mehr als du von deine Landratsgeschäfte!"
8.Dezember 1921 (Donnerstag)
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