"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 7 - 9
3. bis 17. November 1921


7

17 200 Schutzleute - Kellnerausstand, Liefersperre, Generalstreik - Aushilfsweise in der "Libelle" - Im Händlerviertel in der Grenadierstraße - Wie man zu Brillanten und Tausendmarkscheinen kommt - Gerhart Hauptmanns "Peter Brauer"

Die Reichshauptstadt hat nach der großen sittlichen Läuterung durch die Revolution ihre Schutzmannschaft vervielfältigen müssen. Es gibt jetzt 17 200 "Grüne" in Berlin. Das ist aber immer noch zu wenig. Es vergeht keine Nacht, wo nicht an mehreren Stellen das Wort "Überfall!" im Telephon eine Wache alarmiert; dazu kommen die vielen Razzien und das Eingreifen gegen Landfriedensbruch, so daß unsere eifrige Schutzpolizei wirklich alle Hände voll zu tun hat. Am meisten damit, die Republik vor den Republikanern zu schützen. Die verschiedenen Einbrechergilden, darunter die berüchtigte Weddingkolonne, rekrutieren sich nämlich nicht, wie naive Leser von Ministerreden annehmen könnten, aus Mitgliedern der Deutschnationalen oder der Deutschen Volkspartei, sondern durchweg aus roten Wählern. Jedenfalls haben die Grünen schon unter ganz gewöhnlichen Umständen genug Arbeit. Bei großen Streiks kann man mit den 17 200 Mann nicht einmal überall die Ruhe verbürgen; so ist es jetzt, wo der Ausstand der Gastwirtsangestellten vielfach tätlich wird, doch nicht möglich, vor jede Wirtschaft ein paar Schutzleute zu postieren.

Da zerklirren denn nächtlicherweile die großen Spiegelglasscheiben der Fenster. Das Weinhaus Traube und zahlreiche andere Lokale haben daher ihre ganze Straßenfront mit Bretterwänden vernagelt und brennen tagsüber auch in den vorderen Räumen elektrisches Licht. Es sieht nach Krieg aus. Es fehlen bloß noch die Sandsäcke hinter den Brettern. Die ganze Streitfrage zwischen Unternehmern und Angestellten im Gastwirtschaftsgewerbe dreht sich gar nicht mehr um die Bezahlung selbst, sondern lediglich um die Art der Ausschreibung von Rechnungen. Die Wirte wünschen, daß dem Gaste die 10 Prozent "für die Bedienung" deutlich notiert werden. Die Kellner verlangen, daß diese 10 Prozent zwar erhoben, aber in die Rechnung "einkalkuliert", also die Preise für Essen und Trinken durchweg erhöht werden, ohne daß irgendein Hundertsatz für Bedienung kenntlich wird. Daraufhin würde, sagen die Wirte, das Trinkgeld doch wieder einreißen. Und das Trinkgeld sei doch, wie die Kellner erklärten, menschenunwürdig. Kurz und gut, der Kampf währt schon vier Wochen, und die Einigung ist immer noch nicht da. Der Kampf wird sogar durch eine Liefersperre verschärft. Die Gastwirtsangestellten, deren Notgroschen allmählich zu Ende gehen, wollen den Sieg über die Gastwirte erzwingen, indem sie nicht nur die reichlich vorhandenen Arbeitswilligen - die Streikbrecher - verprügeln und gelegentlich auch die Gäste dazu, sondern auch jede Zufuhr der betriebsnotwendigen Dinge zu verhindern suchen. Vor den mit Brettern vernagelten Restaurants, die greulich in die Straßen starren, gibt es Aufläufe und Keilereien, wenn Kartoffeln oder Bier oder Kohlen abgeladen werden oder die Waschanstalt die frischen Mundtücher bringt. Manchmal schiebt ein herkulischer Kutscher mit einer leichten Armbewegung zwei oder drei Kellner, die Streikposten stehen, über den Haufen; manchmal genügt auch ein bloßes "Wat wollt a?" nebst Ärmelaufstreifen zur Freigabe des Verkehrs. Aber vielfach hilft das Publikum den Streikposten. Das ehrenwerte, klassenbewußte, republikanische Publikum. Es sieht die fetten Schweineviertel auf den Lieferwagen des Schlächters. Und wenn der mit den Streikposten debattiert, wird er bedrängt, umdrängt, abgedrängt - und im Handumdrehen finden die Karbonaden unerwarteten "Absatz".

Mit einigem Galgenhumor erklärt man mir im Hotel Fürstenhof am Potsdamer Platz: "Wegen der Wäsche haben wir keine Schwierigkeiten gehabt, weil unsere Gäste ihre Wäsche selbst halten." In vielen Hotels, Weinhäusern, Gastwirtschaften heißt es, bisher habe man noch alles bekommen, auch Lebensmittel und Getränke wie immer. Nur der Direktor des Hotels Alemannia, das unmittelbar neben dem Hauptquartier der Streikenden in der Anhaltstraße liegt, sieht natürlich sehr schwarz. Die Wäsche holt er sich handkofferweise im Privatauto, Lebensmittel schmuggelt er in Paketchen herein; er bezweifelt, daß sich der Betrieb so auf längere Zeit aufrechterhalten läßt. Andererseits wissen die Streikenden schon jetzt, daß auch die Liefersperre sie nicht zum Ziele bringt. Immer stärkere Artillerie wird ins Gefecht geführt. Nun droht die Berliner Arbeiterschaft bereits mit dem Generalstreik, falls nicht bis zum 7. November die Forderungen der Streikenden erfüllt seien. Also bis zum Jahrestage der russischen Revolution. Zwei Tage später haben wir die Gedenkfeier der deutschen Revolution. Es ist ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Nachdem ein "Streik der Arbeitslosen", die sich ihre Karten nicht mehr in den städtischen Arbeitsvermittlungen abstempeln lassen wollten, gescheitert ist, weil wir eben zu wenig Arbeitslose in Berlin haben, sucht der Umsturz andere Anlässe und benutzt jetzt den Streik der Gastwirtsangestellten als Sprungbrett. Daß es sich hier um eine der am besten gestellten "proletarischen" Klassen handelt, um eine schon ganz "bourgeoise" Klasse, schiert die Leute wenig. Ich habe noch vor drei Wochen, als die Bewegung in geordneten Bahnen war, sehr herzliche Worte an dieser Stelle für die Gastwirtsangestellten gefunden, die vielfach ein ein sehr strebsamer und sehr aufstrebender Stand sind, in ihrem wahrhaft schweren Beruf sich in zehn, in zwanzig Jahren schmerzhafte Plattfüße anlaufen und anstehen, aber bei Solidität und Sparsamkeit dafür auch zur Selbständigkeit gelangen und ein eigenes Hotel oder Restaurant später eröffnen können. Nun geht einem aber die Herzlichkeit aus, und die Bitterkeit kommt. In der "Libelle" und in "Wien-Berlin" wird auch gestreikt. Das sind zwei sogenannte Unterhaltungsrestaurants, in denen die Amüsierwelt beider Geschlechter verkehrt, des aktiven weiblichen und des passiven männlichen. Einer meiner Bekannten, ein junger Mann, der tagsüber ein ernsthafter Berufsarbeiter ist, bot sich für die Abende dort als Aushilfskellner an, eigentlich nur, um sich einen Jux zu machen. Er hat drei Wochen durchgehalten, bis ein großer Furunkel ihn zum Abschied zwang. Er hat in dieser Zeit zu seinem fassungslosen Erstaunen sich "gesund gemacht" - denn die Trinkgeldeinnahme jedes einzelnen Abends schwankte zwischen 210 und 512 Mark!

Leider kann ich es ihm nicht nachmachen. Ein Tablett balancieren, ja, das ginge schon, aber im flinken Addieren bin ich schwach, da würde ich mich immer zu meinen Ungunsten verrechnen und an jedem Abend ein Manko zu begleichen haben. Dafür will ich - in die Grenadierstraße gehen. Grenadierstraße, Münzstraße, Artilleriestraße, Gipsstraße und Umgegend bildeten einst das sogenannte lateinische Viertel Berlins, wo die Studenten wohnten. Heute sind diese Straßen zum hebräischen Viertel geworden, zur sogenannten ostjüdischen Kolonie der Reichshauptstadt. So sagt man. In Wirklichkeit habe ich dort auch sehr viele, wirklich sehr viele kräftige Germanengestalten in ehemaligem Soldatenmantel erblickt, die auch nicht säen und nicht ernten und doch recht wohlgenährt aussehen. Alle diese Leute stehen da den ganzen Tag in dichten Gruppen auf der Straße mit den Händen in den Taschen. Geht man da hindurch, so wird einem allerlei zugeflüstert. "Schicke Damenstiefel?" "Brillanten?" "Spitzenwäsche gefällig?" "Echte Samoware?" "Perserteppiche?" Nickt man, so gleitet der Anbieter voraus, und man landet in irgendeinem Hausflur, wo das Geschäft abgeschlossen wird, wobei es nicht sehr empfehlenswert ist, allein mit gefüllter Brieftasche hinzugehen. Ich habe noch nie genickt. Bin auch erst dreimal im Leben dort gewesen. Aber nun bin ich kaum mehr zu halten. Nämlich, es geschehen da Wunder. Kommt in der vorigen Woche ein Rittergutsbesitzer, ein Herr von Soundso, nach Berlin mit seiner Frau zu Einkäufen. Sagt ihr: "Ich will mal in die Grenadierstraße; das muß man gesehen haben, da muß man 'reingetreten sein, hat uns Rumpelstilzchen ja geschrieben." Geht also hin, steht im Gewühl, staunt Bauklötze. Plötzlich Pfiffe, Bewegung, Gerenne. Wie aus der Erde gewachsen stehen überall Grüne, alles ist eingekreist, große Lastautos rattern heran, und alles muß einsteigen. Mein Rittergutsbesitzer tobt. Er sei ein anständiger Mensch, er sei nur auf einen Bummel hier, er könne sich legitimieren! Schwupp, schon hat man ihn am Kragen, und er fliegt nach oben auf das Lastauto; da schimpft er, zwischen verschiedene sehr östliche Gentlemen eingekeilt, weiter. Erst auf dem Polizeipräsidium werden die Papiere geprüft. Man entläßt ihn sofort. Er kommt ins Hotel zurück, zieht den Mantel aus und sagt: "Da, Frau, gib den Mantel gleich dem Hausburschen zum Ausklopfen, da sind sicher Läuse drin!" Sie lächelt nachsichtig, geht selber mit dem Mantel auf den Balkon und schüttelt ihn dort aus. Plötzlich stürzt sie herein. Ganz verstört. In der Manteltasche steckt ein dickes Päckchen von 150 Tausend-Mark-Scheinen, liegen lose vier ungefaßte Brillanten von noch größerem Wert. Auf der Polizei, wohin unser Rittergutsbesitzer sich sofort begibt, wird ihm erklärt, er habe Anspruch auf Finderlohn, wenn der Eigentümer sich melde. Aber das sei kaum anzunehmen. Offenbar habe ein in der Grenadierstraße mitgefaßter schwerer Junge ihm die Schätze eingesteckt, um der sicheren Strafe zu entgehen, wenn sie bei ihm selber gefunden würden. Es werde sich wohl kaum je der Eigentümer melden; der Herr könne also, wenn die vorgeschriebene Frist von einem Jahre verstrichen sei, die Schätze als herrenlosen Fund behalten, so sei es Rechtens.

Ich hoffe natürlich, daß ich nach Ablauf des Jahres zu einem solennen Fest eingeladen werde. Aber noch lieber möchte ich - na ja, also ich ziehe einen Mantel mit recht großen Taschen über und sage, ich wolle mal zur Grenadierstraße. Da kann man ja im Handumdrehen zu einem reichen Manne werden. Aber meine Frau hält mich zurück. Sie kennt mich. Sie sagt: "Wenn du, du Hans-guck-in-die-Luft, dahin gehst und zurückkommst, hast du, ja du, sicher nicht 150 000 Mark und vier Brillanten mehr, sondern höchstens 150 Mark weniger, die dir einer stibitzt, und wir brauchen so notwendig einen neuen Aluminiumkochtopf." Also nicht. Ich bin eben ein ganz Talentloser.

Es muß auch solche Käuze geben. Mit besonderer Liebe sucht sie sich Gerhart Hauptmann aus und bringt sie unserem Herzen näher als Maxim Gorki seine russischen Barfüßer von der Landstraße. Hauptmann selbst sitzt in seiner stolzen Burgvilla in Agnetendorf mit ihren hohen Hallen und ihren Sammlerschätzen, unter denen allein die altgriechischen vorchristlichen Gold- und Silbermünzen heute einen fabelhaften Wert besitzen. Aber für alle Enterbten des Glückes und sogar Enterbten des Geistes hat er eine kleine wehmühtig-schalkhafte Schwäche. Die Mutter Wolffen im "Biberpelz" wird so zu einer Prachtfigur, die uns das Herz unter dem Brustlatz ganz warm macht, und dabei ist sie doch weiter nichts als eine diebische Waschfrau, und wenn unsere Waschfrau - nicht auf der Bühne, sondern daheim bei uns - so was täte, so würden wir uns nicht den Bauch vor Lachen halten, sondern spornstreichs zur Polizei laufen. Nun hat Hauptmann 1911 ein Stück geschrieben, das bisher noch nicht aufgeführt war: "Peter Brauer". Das ist kein verlottertes Genie wie Kollege Crampton, sondern ein zum erlogenen Genialen aufgeplusterter Nichtskönner, ein spießbürgerlicher Lump, ein Fünf-Mark-Kopist, der seine Familie und seine Umgebung nur mit Phrasen von seiner großen Malkunst füttert. Frau und Tochter, zersorgt, zergrämt, glauben ihm kein Wort mehr. Auch der "Möbelhändler auf Abzahlung" nicht mehr. Sein Sohn freilich hofft noch. Und eine ganz hochgeborene Gesellschaft in dem Provinzstädtchen, in Ratibor, fällt auf ihn herein. Nun bekommt er, der angebliche Akademieprofessor, den Auftrag zu Freskogemälden in einem Pavillon auf dem Herrensitz. Statt dessen lebt er bene bei viel Waldmeisterbowle auf Vorschuß. Schließlich kommt - das ist eigentlich ganz unhauptmännisch - doch der Zusammenbruch. Aber man ist diesem Peter Brauer, diesem aufgesoffenen Schwadroneur, nicht böse, wenn man als Publikum im Parterre sitzt. Man ist richtig sentimental verliebt in den an seinen eigenen Worten sich berauschenden armen Lumpen. Besonders wenn er, wie jetzt im Berliner Lustspielhaus, von einem so großen Könner wie Jakob Tiedtke dargestellt wird. Eine unendliche Güte gegenüber allem Kleinen dieser Welt spricht auch aus dieser Tragikomödie Hauptmanns.

Daneben, wie auch bei Sudermann und anderen Tiergarten-Demokraten der Dichterei, eine ganz ungerecht bittere Beurteilung aller Hochstehenden. In dem Stück kommt auch ein aktiver Rittmeister vor. Selbstverständlich ein Trottel. Und er stottert. Alle aktiven Rittmeister sind Trottel und stottern. Das bringt so der Militarismus und das Kommandieren mit sich. Das Publikum lacht. Nur hier und da jammert es einen - um Hauptmann.
3. November 1921 (Donnerstag).


8

Eine Erinnerung an Professor v. Bergmann - Dr. med. Schnitzlers "Reigen" - Rund um die Anschlagsäule - Josef, kehre zurück! - Rudolf Hertzog fast ausverkauft - Der 9. November - Die Zehn-Minuten-Feier der Untergrundbahn

Mediziner sind Zyniker. So sagt man. Freilich sind es nicht alle. Der berühmte Berliner Chirurg Professor v. Bergmann, dessen Töchter mir aufgeblasen und unerträglich vorkamen, wenn sie einen fragten, ob sie zum Wohltätigkeitskonzert die von der Kaiserin Friedrich geschenkte Diamantbrosche oder lieber die Smaragden des Maharadscha anlegen sollten, war für seine Person ein kindlich schlichter Mensch, von dem man, wie Goethe von Schiller, sagen konnte: "Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine, lag, was uns alle bändigt, das Gemeine." Er legte sich in erschütternder Erhabenheit zum Sterben. Tausenden hatte sein Messer das Leben gerettet, Hunderte hatte er heimgehen sehen, Hohe und Niedere. Und nun lag er selber auf dem Operationstisch, wußte, was ihm bevorstand, und betete laut: "So nimm denn meine Hände - und führe mich . . ."

Unter den wahrhaft großen Ärzten, unter den wahrhaft großen Naturforschern findet man manchen Mann dieser Art. Die Kleinen sind häufig Zyniker. Besonders die, denen deutsches Gemüt etwas Fremdes ist. Auch die feinsten unter ihnen führen alles auf die einfachen Formeln des Trieblebens zurück. Die Wiener Arzt Dr. Schnitzler ist so einer. Seinen "Reigen" von zehn sehr eindeutigen Bildern hat er seinerzeit wohl selber als unanständiges Buch empfunden und nur als Privatdruck unter Ausschluß öffentlichen Verkaufes erscheinen lassen. Jetzt, unter der glorreichen Republik, werden diese Dialoge viele hundert Male hintereinander auf der Bühne gegeben, und es ist noch nicht möglich gewesen, eine Einstellung der Vorführungen behördlich zu erzwingen. Der Stabsarzt Schnitzler ist um seiner Sudeleien willen schon vor dem Kriege aus dem österreichischen Offizierkorps ausgeschlossen worden, und dieses Offizierkorps war doch wahrhaftig weitherzig und "pschütt" genug, um derartige Leute, wenn sie nicht ganz auffallend ausfallend wurden, zu ertragen.

Vor einem Berliner Gericht wird jetzt um die moralische Möglichkeit der Schnitzlerschen Aufführungen gestritten. Um solch einen Prozeß überhaupt in Gang zu bringen, muß es Leute geben, die an dem Stück Anstoß genommen haben. Die stehen jetzt an dem Marterpfahl. Von den "Sachverständigen", die im Namen der - Kultur für Schnitzler zeugen, werden sie mit ätzender Lauge übergossen. Banausen! Frömmler! Rückschrittler! Analphabeten! Den Richtern wird ganz dumm im Kopf; sie fragen wohl ängstlich sich selber, ob sie am Ende auch nur ungebildet seien und deshalb nicht verstünden, daß der Zeitgeist es nun einmal verlange, daß solche Stücke über die Bretter gingen. Und die Zeugen stehen da mit hochrotem Kopf und lassen sich beschimpfen. Darunter eine Offizierswitwe, deren Mann im Felde gefallen ist und die in ehrlichem Freimut ihre beiden jungen, aber schon erwachsenen Söhne in den "Reigen" mitgenommen hat, um auch sie für den Kampf gegen die Gemeinheit zu entflammen, für den Kampf um die sittliche Gesundung unseres Volkes. Das Theater wird zur Kupplerin. Da sitzen zahlungsfähige alte Wüstlinge mit jungen Mädchen, um ihnen beizubringen, was nun einmal der Welt Lauf und in allen Ständen gang und gäbe sei. Und die jungen Mädchen bekommen heiße, wirre Köpfe. Es mag etwa zwanzig Jahre her sein, daß Schnitzlers Buch gedruckt wurde. Es wurde mir eingeschrieben von dem Verfasser zugeschickt. Das hat mir alles übrige von ihm, auch das Unverfängliche, verekelt, und ich selber habe es nicht mehr nötig gehabt, jetzt auch noch in die Aufführung als Kritiker alles Neuesten-Allerneuesten hinzugehen.

Man hat manchmal Theater genug auf der Straße. Eine einzige Anschlagsäule, langsam rundum genossen, hat den Wert einer Vorlesung über zeitgenössische Kulturgeschichte. Da melden sich die vielen Theater mit französischen Schwänken. Da wird der Eisenkönig Breitbart oder irgendein Boxerpaar in greller Reklame ausgeschrien, weil der Sport aus einer Leibesübung immer mehr zu einem Schaustück bei uns wird. Da locken Anthroposophen, Hypnotiseure, Monistenprediger, Handliniendeuter. Da werden Renntips und Börsentips empfohlen, da läßt Heinrich Sklarz seine Leitartikel über Wettkonzerne ankleben, da lädt der Reichsbund der Vorbestraften zum Beitritt ein. Alles aber wird übertönt durch die Auslobung hoher Belohnungen für gestohlenes Gut: 10 000, 20 000, 40 000 Mark in einer Reihe. Junge, Junge, was kann man da heute verdienen! Und selbstverständlich wird überall Diskretion zugesichert. Namentlich gewisse Ausländer fühlen sich in diesem Neu-Berliner Milieu sehr wohl. Da lese ich an der Anschlagsäule, daß ein junger Mann, aus Konstantinopel gebürtig, gesucht wird. Vielleicht sei er nach Einkassieren der 64 000 Mark verunglückt. Aber die besorgte Firma scheint selber nicht recht daran zu glauben, denn sie läßt darunter in Fettdruck setzten:

Josef!
Kehre zurück, liefere das Geld, soweit noch in
Deinem Besitz, an mich ab, und ich werde
Strafantrag nicht stellen.
Cohen & Lehar,
Charlottenburg.

Josef wird sich hüten. Für die 64 000 Mark hat er sicherlich Dollars oder Hirsch Kupfer oder Otavi gekauft. Und wenn uns nicht alles täuscht, wird er eines Tages wohl seinem Chef (oder Onkel) Cohen & Lehar mit herablassender Miene die ganzen 64 000 Mark zurückerstatten, aber erst, wenn er in einem eigenen Auto vorfahren kann. Alle Welt spekuliert, und jedermann lechzt nach dem ersten Betriebskapital. Es sind nicht nur "Schieber", die ständig Wertpapiere kaufen und verkaufen, nicht nur junge Handlungsbeflissene aus Konstantinopel, sondern auch sogenannte solide Leute. "Per saldo", wie der Kaufamnn sagt, fallen sie doch herein. So etwas muß eben im Blute liegen oder in einem langen kaufmännischen Berufsleben anerzogen sein, wenn man Erfolg haben will.

Da ist es schließlich noch praktischer, seine Ersparnisse in Waren anzulegen. Der Ausverkauf ist ja in ganz Deutschland eine bekannte Erscheinung, aber in Berlin nimmt er besonders groteke Formen an, weil hier aus dem Reiche und dem Auslande besonders viele Käufer zusammenströmen. In keinem einzigen größeren Gasthof ist zu Zeit auch nur ein Zimmer frei. Vor den Warenverteilungsstellen des Allgemeinen deutschen Gewerkschaftsbundes stehen die Kauflustigen stundenlang geduldig bis über die nächste Straße hinweg vier Glieder tief. Engrosgeschäfte schließen immer wieder auf einige Tage, um immer wieder Inventur zu machen und sämtliche Preise umzuschreiben. Bei Rudolf Hertzog sieht man in den Regalen, in denen sonst 40 oder 80 Tuchballen lagen, heute noch zwei oder drei Reste. Alle Lager veröden vollständig. Es sieht ganz so aus, als kämen wir noch vor Weihnachten zu polnischen Zuständen, - wo man froh sein wird, wenn einem ein Verwandter in England oder Amerika im Brief ein paar Nähnadeln oder Bleistifte schickt, weil sie im Lande selbst nur noch zu Schleichhandelspreisen zu haben sind. Schon jetzt fahren Berliner hinaus in kleinere Städte und kaufen besinnungslos, was sie noch kriegen können, auch wenn sie gar keinen Bedarf dafür haben: Zahnbürsten, Fleischkonserven, Nachtgeschirre, Hutfedern, Kakao, Olivenöl, Schnürsenkel, Briefwagen, Suppenwürfel, Stiefelwichse, Schraubenzieher, Kalzium-Karbid, Wäscheleinen, Aspirintabletten, Kaffee, Nudeln, Fahrradklingeln, Unterhosen - uff, ich weiß nicht, was noch sonst; aber alles könnte doch mal "ausgehen", und alles könnte man doch mal tauschen. Wenn man nur die Papiermark los wird.

Am Bord der Königgrätzer Straße steht ein Mann und verkauft wie rasend allerlei Toilettensachen. Seine Arme fuchteln wie Pleuelstangen einer Maschine. "Kinder, kauft Kämme, es kommt eine lausige Zeit!" Ach Gott, wir sind ja schon mitten darin. Die immer noch rote Verwaltung der Stadt Berlin ist plötzlich vom Sparsamkeitsfimmel an falscher Stelle befallen. Sie hat einen großen Teil der Kosten für Reinigung der Schulen und sonstigen öffentlichen Anstalten gestrichen. Da ist es denn kein Wunder, wenn wir allmählich Schützengrabenzustände bekommen. Die Kinder kommen mit Kleiderläusen heim.

Aber trotzdem müssen die "Errungenschaften" dieser neuen Zeit natürlich gefeiert werden. Wenn es nicht zum Schieflachen gewesen wäre, dieses Fest des 9. November, so wäre es zum Heulen gewesen. Da zogen, nach Betrieben geordnet, die Leute mit Plakattafeln und roten Fahnen zu den Feiern, alle bitterlich ernst, viel Kleinvolk darunter, vierzehnjährige Auslaufmädchen mit kalten Tröpfchen an der Nase. Kein Jauchzen und Gröhlen wie ehedem, kein "Hoch!" und "Nieder!", nur überall sichtliche Betretenheit. Etwas ganz Feines hatten sich die Angestellten der Hoch- und Untergrundbahn ausgedacht. Sie hatten dekretiert: von 3 Uhr 15 bis 3 Uhr 25 stehen zur Feier der Revolution alle Züge still. Gesagt, getan. Die Räder winseln, die Räder kreischen - krrr...., und alles steht, auf freier Strecke oder halb im Bahnhof.

Es ist am Nürnberger Platz. Zunächst Schweigen. Keine Bemerkung. Kein Laut.

Plötzlich durchbricht eine kräftige Männerkehle die von Ungewißheit und Befangenheit schwere Stimmung. "Deutschland, Deutschland über alles" ertönt, die Nachbarn fallen ein, der ganze Wagen singt mit, selbst ein paar Kurfürstendammer werden mitgerissen, ein paar jungen Mädchen laufen Freudentränen über die Backen, schon tost die Begeisterungswelle durch den ganzen Zug: so sah und hörte das verdutzte Personal hier "die Revolution feiern".

Ein junger Mann, ein einziger, versuchte die Marseillaise anzustimmen. Es gab Tumult. Der Versuch war schnell erstickt.

Und nun ein Lied nach dem anderen in diesen historischen zehn Minuten, zuletzt sogar "Heil Dir im Siegerkranz", und alle sangen mit, Monarchisten und Nichtmonarchisten, einfach aus dem inneren Zwange heraus, gegen diese elende Novemberei zu demonstrieren. Auf einzelnen Bahnhöfen versuchten Zugführer und Schaffner so etwas wie eine Volksrede zu halten. Sie kamen sehr schnell zum Schweigen. Merkten sehr schnell den Umschwung der Dinge von 1918 bis 1921, vom Rausch bis zum Katzenjammer. Sonst kommt der Kater immer erst nach dem Feiern. Aber in so verkaterter Stimmung hat noch nie ein Fest begonnen wie diese Feier des 9. November in Berlin.
10. November 1921 (Donnerstag).


9

Bei Battistini - Henny Porten und ihr neuer Gemahl - Frack und Gehrock sterben aus - In der Handarbeitsstunde - "Sport und Mode" - Tiergarten-Lachkabinett - Die Duncan im Neuen Palais

Als anständiger Mensch darf ich eigentlich gar nicht erzählen, wo ich am vorigen Sonntag gewesen bin.

Nämlich bei Battistini.

Was sagen Sie?

Nein, Sie irren sich. Battistini ist weder eine italienische Kneipe noch gar etwas Schlimmeres, sondern ein berühmter Bariton, der am Sonntag in der "Tosca" an der Staatsoper gesungen hat. Aber man mußte seine Berühmtheit mit 531,50 Mark für den Parkettplatz bezahlen. Deshalb schäme ich mich, denn man könnte mich für einen Schieber halten.

Ich habe den Platz aber gar nicht bezahlt. Ein valutastärlerer Verwandter aus dem Auslande hat mich mitgenommen, für ihn bedeutet das genau 10 Schillinge, knapp soviel wie ihn ein einfaches eiliges Frühstück in der City kostet. Aus der Musik macht er sich nicht viel. Die "Tosca" ist ein greuliches Schauer-Opus, und Battistini ist zwar ein Meister des bel canto, hat trotz seiner hohen Jahre immer noch Schmelz, besitzt aber kein Spur etwa von der Darstellerkunst des heimgegangenen Caruso. Man soll sich diesen Battistini im Konzertsaal anhören, dann hat man noch mehr von ihm als auf der Bühne. Um seinetwillen sind wir auch gar nicht hingegangen, sondern ich sollte meinem Besucher die hiesige heutige Gesellschaft zeigen, das, was der Eckensteher "det janze Tuh-Berläng" nennt.

Man bemerkte unter anderen ..., so pflegen Lokalreporter ihre Berichte über gesellschaftliche Ereignisse bei dem Absatz zu beginnen, der dem Publikum gewidmet ist. Diesmal bei Battistini war fast nichts zu bemerken. Sonst versammelt sich bei dergleichen alles, was was ist, und alles, was was hat. Nun ist leider, wie mir scheint, die erste dieser beiden Gruppen ausgestorben. Wenigstens kann sie 531,50 Mark für einen Parkettplatz nicht bezahlen. Das, was sich zum geistigen Berlin rechnet, hockt zu Hause und denkt darüber nach, ob man sich ein Pfund Margarine zu 37 Mark leisten kann. Ich kenne eine Nichte von Gustav Freytag, die ehedem zur wohlhabenden Gesellschaft gehörte; heute ist sie Mitglied der Gewerkschaft der Heimarbeiterinnen und näht für Geschäfte, flickt für Familien. Also das war mir von vornherein klar: solche Leute würden wir bei Battistini nicht treffen. Aber alles, was was hat, das war natürlich da. Und da in der Hauptsache - neben einigen inländischen Großverdienern - das Ausland schon fast alles hat, schwirrten Dutzende verschiedener Fremdsprachen durch das Parkett und die Logen und im Foyer. Kaum ein bekanntes Gesicht. Hier und da ein alter Finanzier mit Familie. Aber da - halt! - da ist was. An die Brüstung gelehnt stehen Henny Porten und ihr neuer Gemahl Reklame. Richtig, vom Film, der neuen neunten Großmacht, ist doch allerlei erschienen. Aber alle Blicke konzentrieren sich auf diese blonde, madonnengescheitelte Frau v. Kaufmann-Asser-Porten. Ihr erster Mann, der Filmregisseur, fiel als Reserveoffizier im Kriege. Die wundervoll gepflegte junge Witwe, die auf sämtlichen Reisen ihre Privatmasseuse mitnimmt, mimte in diesem Winter die "Geier-Wally" hoch oben in den bayerischen Bergen. Sie wohnte in Wiggerts Sanatorium in Partenkirchen, diesem mächtigen Palastbau, der dem Dr. v. Kaufmann-Asser gehört. Der war damals noch nicht geschieden, hatte eine entzückende kleine Frau und drei nette Kinder, duzte sich in deren Gegenwart aber bereits mit Henny Porten. Dieses Puppenköpfchen mit dem seelenvollen Augenauf- und -niederschlag ist recht hohl. Wer in den Wintertagen in Wiggerts Sanatorium am selben Tische saß, der war erschüttert über die puppenhafte Nichtigkeit ihrer Unterhaltung. "Sag' mir doch ein süßes Wort! Ich habe den ganzen Tag noch kein süßes Wort gehört!"

Nun kann Dr. v. Kaufmann-Asser ihr alle Tage süße Wort sagen. Er hat sie geheiratet und hat sein vieles Geld zu ihrem vielen Gelde in das Filmgeschäft gelegt. In seiner rundlichen Behaglichkeit sieht er, wie er da so Pose steht, nicht gerade bedeutend aus, eben nur wie, nun, wie eben der glückliche Besitzer einer sehr gepflegten und von aller Welt bewunderten und verhätschelten Frau, aber er macht doch ganz gute Figur. Seine Familie, der unter anderem auch die schöne Privatgemäldegalerie in der Maaßenstraße in Berlin gehört, hat schon viele kluge Köpfe gezählt, und seine Großmutter, Frau Karoline Itzig-Asser, würde, wenn sie noch lebte, ihren Stolz auf diesen ihren Nachkommen kaum verbergen.

Selbstverständlich steht Herr v. Kaufmann-Asser in Frack und weißer Weste da. Zum ersten Male seit 1914 sehe ich wieder einen ganzen Saal voll Fracks. Aber auch der Frack steht für das Gros der Gesellschaft auf dem Aussterbeetat; man wird ihm bald so selten begegnen wie vor 1914 den Eskarpins und langen weißseidenen Strümpfen für Herren. Die Vereinfachung der Herrenkleidung ist nicht etwa nur Kriegsfolge bei uns, sondern setzt sich in allen Ländern durch. Auch in England gilt bereits das, was wir Smoking nennen, schon als vollwertiger "evening dreß", während der Smoking früher jeden unmöglich machte, der darin etwa zu einem festlichen Mahle erschien; man trug ihn nur "unter sich" im Klub, allenfalls im Theater, aber nie in Gesellschaft mit Damen. Überwundene Zeiten! Auch das, was wir Cutaway nennen, der frühere "morning coat" des Engländers von Welt, ist drüben dahin. Der Herr der Gesellschaft - falls es kein Fatzke ist - begnügt sich mit zwei Anzügen, dem Jackett für den Arbeitstag und dem Smoking für den Feierabend, sofern dieser gesellig begangen wird. Bei uns in Deutschland sind wir, obwohl wir den Frieden verloren haben, noch nicht so weit. Viele vorurteilslose Leute gerade aus den besten Kreisen machen freilich schon heute Besuche in der blauen zweireihigen Jacke. Irgendwo im Kleiderschrank hängt auch wohl noch der schwarze Gehrock, aber man zieht ihn im allgemeinen nur noch zu Beerdigungen an oder zu Antrittsvisiten bei einem Vorgesetzten. Philipp Scheidemann kaufte sich einen (und seiner Frau ein braunseidenes Kleid), als er, schon etliche Zeit vor dem Kriege, Vizepräsident des Reichstages wurde. Die Generation der siebziger Jahre sprach etwas pietätlos vom "Bratenrock", wenn sie Vaters schwarzen Gehrock meinte; den zog er ja immer Sonntags vor Tisch an, erhob sich dann zu majestätischer Größe und zerlegte vor aller hungrigen Kinder Augen den ebenso majestätischen Sonntagsbraten. Schade um den schönen, langen, schwarzen Rock. Er war so recht die deutsche Tracht, und er stand jedem leicht Angedickten so gut, weil er ihn schlanker erscheinen ließ. Nun hat er noch das Gnadenbrot und wird aufgetragen. Neue werden kaum mehr gemacht. Und wer einen wohlerhaltenen alten erbt, der läßt ihn meist vorne gleich rund abschneiden, damit ein Cutaway daraus wird - aber auch dem läutet ja schon das Sterbeglöcklein.

Man atmet auf, wenn wirklich die Vereinfachung kommt. Ein Arbeitsanzug, ein Sonntagsanzug. Das muß für den Mann genügen, und das entspricht auch der heutigen finanziellen Angleichung der "oberen" Stände und der Arbeiterwelt. Jenseits stehen dann nur noch die Großverdiener. Allenfalls beim weiblichen Geschlecht könnte die allgemeine Vereinfachung vorkäufig noch scheitern. Aber auch hier gibt es schon Ansätze zu der vernünftigen Auffassung, daß man zur Arbeit nicht wie ein Paradiesvogel zu kommen braucht. Dieser Tage habe ich - ich traute meinen Augen kaum - eine Stenotypistin in einer ganz schlichten grauweißgestreiften Hemdbluse aus Flanell gesehen. Mir wurde ganz warm ums Herz. Noch vor zwei Jahren wäre kein Mädchen "so" ins Bureau gekommen. Über kurz oder lang wird uns nun sowieso der Stoffmangel zur Einschränkung zwingen.

Das Ausverkauftsein merkt der Berliner sogar noch früher als der Mittel- und Kleinstädter. In unseren Volksschulen geht es in der Handarbeitsstunde schon fast so zu, wie in den letzten Kriegsjahren. Da sollen, lehrplanmäßig, in einer Klasse Hemden geschneidert werden. Aber von 23 Kindern haben nur zwei den dazu nötigen Stoff. Es wird wieder das Unmöglichste zusammengeflickt. Und eine Klasse höher kommt ein kleines Mädchen zur Lehrerin und sagt: "Frollein, hier ha' ick Vaterns alte Unterhose, kann ick eene Kimonobluse daraus machen?"

Irgend etwas steigt einem in die Kehle, irgendeine wehe Müdigkeit überkommt einen, wenn man die grellen Riesenplakate an den Mauern sieht, die zu einer neuen Modenschau locken. "Sport und Mode." Unter diesem Titel zeigen jetzt in der größten gedeckten Arena Berlins die rotberockten Reiter ihre Künste im Hindernisnehmen und gleichzeitig die Mannequins der großen Modefirmen ihre Künste im Schwänzeln mit kostbaren Toiletten. Nein, ich gehe nicht hin! Das ist doch kein Sport mehr, sondern nur eine Vorstellung für Mister Ausländer und Frau Knallprotz. Da war das Preisreiten im Hippodrom draußen im Grunewald doch etwas ganz anderes. Auch das Reiten kommt jetzt auf den Hund. Und doch hat auch das heutige Reiten seine guten, nämlich seine erheiternden Seiten. Ich kaufe mir keine Witzblätter mehr. Sie sind teuer und schal; man kann ja gar nicht mehr herzlich lachen, sondern höchstens mal die Mundwinkel verziehen, wenn man sie liest. Aber ich weiß einen großartigen Ersatz. Im westlichen Tiergarten, dort hinten, wo der große Wasserturm steht, abseits vom Verkehr, liegt der weite Reitplatz. Sand, Büsche, Balken, Hürden. Hier tummelten sich früher frühmorgens um sechs, zwei Stunden vor Beginn der Vorlesungen in der Kriegsakademie, neben Berliner guter Gesellschaft die aus dem ganzen Reich hierher kommandierten Kavallerieoffiziere. Heute reiten sie nicht mehr. Heute sitzen sie morgens in Zivil auf den Bänken im Tiergarten, ehe sie an ihre Arbeit im Geschäft gehen, und sehen zu, wie Frau Knallprotz und Herr Großverdiener und Fräulein Neureich reiten. Oder auch mal ein sozialdemokratischer Minister. Alle diese Leute wollen ergründen, was es mit dem Worte

"Höchstes Glück der Erde
Liegt auf dem Rücken der Pferde"

für eine Bewandtnis habe, aber sie kriegen es nicht heraus. Und die Zuschauer lachen sich schief.

Ganz Berlin und Umgebung ist von der neuen Gesellschaft voll. Nur in Potsdam merkt man von ihr noch nicht viel. Wenn man jetzt, wo der Ausflugsverkehr aufgehört hat, dorthin geht, ist es ruhig und vornehm und still. Draußen in Sanssouci begegnet einem nur gelegentlich ein verabschiedeter Offizier oder ein Geheimer Rechnungsrat. Zum Antiken-Tempel, der letzten Ruhestätte der Kaiserin, pilgern täglich, einzeln und in Gruppen, schlichte Leute aus dem Volke. Einige hundert Meter weiter liegt wie im Dornröschenschlaf das Neue Palais, die ehemalige Residenz des Kaiserpaares. Parallel mit ihm, auch ganz schloßähnlich, die schon vom Alten Fritz erbauten "Communs", die Kavalier- und Beamtenhausung früherer Zeiten. Da ist Leben. Da dringt Musik und Lachen und Scherzen heraus. Da ist nämlich mit Bewilligung der preußischen Regierung - die amerikanische Tanzschule der Elizabeth Duncan eingezogen. Sie ist seit September da, in den hohen und weiten Räumen des Commun I untergebracht. Die schwedische Gymnastik und amerikanische Beinschwenkerei wird hier von vorläufig 22 jungen Mädchen, zumeist im Backfischalter, betrieben, auch deutschen darunter. Miß Elizabeth hat - nicht mit der Regierung, aber mit alten Potsdamern - viel Ärger gehabt. Immer wieder schellte es am Hause. Immer wieder kamen Herren und Damen zu ihr und fragten, ob es wirklich wahr sei, daß hier im alten Königspalast eine amerikanische Tanzschule sich installiert habe. Seitdem hat der Portier, ein Amerikaner natürlich, den Auftrag, keinen unlegitimierten Fremden mehr zuzulassen, sondern sie alle an den deutschen Geschäftsführer, Herrn Nerz, zu verweisen.

Von Elizabeth Duncan weiß man nicht viel mehr, als daß sie vor 2½ Jahren aus Newyork, wo man sie keineswegs für eine Berühmtheit hält, wieder nach Europa gekommen ist und bis zu diesem Herbst in Wien eine Tanzschule geleitet hat. Desto mehr weiß man aber von ihrer Schwester, der "eigentlichen" Berühmtheit, nämlich von Isadora Duncan. Die hatte lange vor dem Kriege zuerst in Deutschland den Tanz mit kahlen Beinen (und was für Beinen!) eingeführt, die außer der Trikotlosigkeit keinerlei Verdienste um die künstlerische Entwicklung der Menschheit besaßen. Während des Krieges hetzte sie dann gegen ihr deutsches Brotland. Namentlich versuchte sie auch die Griechen gegen uns zu entflammen. Bei dem öffentlichen Einzuge Venizelos' in Athen tanzte sie vor ihm her wie David vor der Bundeslade. Wie das auf Griechisch heißt, weiß ich nicht, aber auf Berlinisch hat er sicher gedacht: "Bringt die alte Schaute doch endlich weg!" Aber da die preußische Regierung so dafür ist, wird es wohl schon stimmen, daß Preußen zur Zeit nichts nötiger hat, als Duncansche Tanzkunst. Während ich gestern zwischen Neuem Palais und Communs entlang ging, brachte gerade ein junger Schlächtergeselle eine Mulde voll Fleisch, wohl an die 30 Pfund, zur Tanzschule. Er ging an einer Gärtnersfrau vorüber, zeigte mit dem Daumen hinüber zum Neuen Palais und sagte: "Ja, Mutterken, wenn ich erst wieder drüben mit meiner Mulde abliefere, das werden wieder andere Zeiten; passen Sie auf, keine drei Jahre, dann sitzt wieder einer drin!"
17. November 1921 (Donnerstag).



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© Karlheinz Everts