"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 4 - 6
13. Oktober bis 27. Oktober 1921


4

Wie sich's regiert - Stadtverordnetenwahlen - Die Spucke langt nicht - Die Blechdosen-Lina - Preisreiten im Stadion

Vor langen Jahren, noch unter dem gesegneten Kaiserreich, fragte mich einmal ein Kanzler, ob ich nicht ins Auswärtige Amt eintreten wolle. Ich hätte ein für die damaligen Zeiten hohes Gehalt und einen wunderbaren Titel erhalten. Aber ich konnte mir bei dem Angebot ein Lächeln nicht verbeißen. Ich antwortete, das werde keine drei Wochen gut gehen. Irgendein noch geheimerer Geheimrat als ich, irgeneiner mit ein paar ersessenen Dienstjahren mehr werde eines schönen Tages ein Schriftstück von mir durchsehen und es, äh, ein bißchen kühn finden und, äh, mich bitten, hm äh, hm, daß ich, äh, doch diesen und jenen Satz etwas veränderte. Und dann würde ich ihm wahrscheinlich das Schriftstück um die Ohren schlagen und sagen: "Ich harfe gut und gern die deutsche Sprache, aber Sie Esel werden nie die Laute schlagen können!"

Also es war nichts mit der Aussicht auf den Wirklichen Geheimen Legationsrat und die künftige Pension der Räte erster Klasse. Aber inzwischen ist das Dasein der nachnovemberlichen Ministeriellen ganz erträglich geworden. Man schreibt und spricht das schlechteste Deutsch, man gibt leichtfertig schillernde Sinnlosigkeiten wie die von der "beginnenden Ära der Völkerversöhnung" von sich, man fährt den Reichskarren in den Dreck, und dann sagt man hoheitsvoll: "Ich trete zurück!" Also man läßt den Karren stehen, zieht sich den Sonntagsanzug über und geht weg. Für das "Opfer", das man zweimal (durch Kommen und Gehen) angeblich dem Vaterland gebracht, bekommt man eine gute Pension, bei deren reichlicher Bemessung die Lehrzeit oder die Parteisekretärzeit oder die Pennälerzeit angerechnet werden, und dann wartet man, bis man eines Tages erneut zur Regierung berufen wird. Es ist fast wie im Märchen. "Timpe, timpe, timpe te, Fischlein, Fischlein in der See, ich möchte gern Exzellenz werden!" Und schon ist man es. Da beginnt denn dieses Leben der vielgeschäftigen Untätigkeit und der eifrigen Ernte von Mißerfolgen. Und dabei ist man Halbgott. Also es regiert sich im allgemeinen nicht übel in der parlamentarischen Republik. Mag Deutschland verarmen, mag Deutschland immer wieder amputiert werden: die Regierenden haben immer den Beifall ihrer Sippe. Die alte Redensart: "Wie man's auch macht, es ist immer falsch" ist abgeschafft. Alles ist richtig. Die Völkerversöhnung wird schon kommen. Die Gerechtigkeit wird schon siegen. Früher hieß es, daß Männer die Geschichte machen. Heute zieht niemand die Männer zur Verantwortung; heute macht alles "die Entwicklung".

Dieser dumpfe Glaube an das "Irgendwie" ertötet auch in den sogenannten gutgesinnten Kreisen die Selbsttätigkeit. Es wird schon irgendwie werden. "Also lassen wir die dumme Wählerei!" Da soll an diesem Sonntag für das Berliner Vier-Millionen-Volk der neue Gemeinderat gekürt werden. Im vorigen Jahre blieben über 900 000 Wähler der Urne fern, und diesmal fürchten die Parteien ein ähnliches Ergebnis. Einstweilen rackern sie sich ab mit Volksversammlungen und bepappen ganz Berlin mit großen Aufrufen und kleinen Handzetteln. Wieder sind alle Laternenpfähle mit bunten Papierchen bestickt. Da steht ein Junge vor einem der eisernen Masten, die Faust voll mit den gummierten Handzetteln und seufzt. Was denn mit ihm sei, frage ich. "Och - ich kriege die nötige Spucke nicht mehr zusammen!" Dem Manne kann geholfen werden, sagt Karl Moor. Also ich gebe ihm den guten Rat, mal in Mutters Medizinschrank nach einem gewissen Etwas sich umzusehen. Am selben Abend pappen die Parteimarken in der ganzen Stadtgegend nicht nur an den Laternenpfählen, sondern auch an den Schaufenstern, an den Torbögen, in den Korridoren. Der Junge hat richtig die Klistierspritze mitgenommen. Aber auch diese reichliche und hitzige Reklame läßt viele Enttäuschte kalt. Mir scheint, daß die erschreckende Wahlmüdigkeit ( ein Zeugnis für das Verzweifeln am Parlamentarismus) durch alle Stände geht, bei sogenannten Kapitalisten sich ebenso findet wie bei sogenannten Proletariern.

Ich habe die Blechbüchsen-Lina darüber interviewt.Ich habe nun einmal das Glück, daß mir bei meinen Streifzügen kein Berliner Original entgeht. Solange der Wurscht-Maxe lebte, stand ich mit ihm auf Du und Du, der nächtliche Rosen-Kavalier an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche nickte mir vertraut zu, der alten Harfen-Jule, die nach einem mißglückten Versuch, sie mitsamt ihrer zittrigen Stimme und ihrem klapprigen Instrument in einer Berliner Revue auf die Bühne zu verpflanzen, zufrieden auf ihrem bißchen Gelump im Keller gestorben ist, habe ich fast noch die Augen zudrücken können, und nun hat mir auch die Blechbüchsen-Lina ihr Herz erschlossen. Nur Sonntagskinder begegnen ihr. Man kann sie nicht aufsuchen, denn sie steht in keinem Adreßbuch. Im Sommer pennt sie meist auf irgendeinem Lastkahn im Nordhafen oder im Humboldthafen, im Winter meist in einem städtischen Asyl für Obdachlose, tagsüber aber ist sie rastlos unterwegs, obwohl sie nicht mehr gut zu Fuß ist. Immerhin, ihre 30 Kilometer macht sie wohl alltäglich. Von Knöpfen hält sie nicht viel. Sie hat keine. Aber auch nicht etwa Sicherheitsnadeln an deren Stelle. Die Bluse, die Strickweste, die Jacke (oder auch je zwei Exemplare davon oder wenigstens deren Reste) mit der ehrwürdig schimmernden Patina vieler Sonnen- und Regentage darauf sind schon so mürbe, daß man es ganz einfach haben kann: man sticht Haarnadeln durch, und es hält auch so. Unter dem rechten Arm trägt die Blechbüchsen-Lina, mit einem Bindfaden verschnürt, stets ihre ganze Habe, darunter ein altes Schirmgestell ohne Stock, einen linken Männer-Holzsohlenstiefel und sonstige Müllgrubenschätze. "Vielleicht gibt mir mal einer 10 Mark dafür!" sagt sie und ist glücklich in ihrer Hoffnung. In der linken Hand aber (und daher stammt der Spitzname) hält sie immer und ewig eine halb mit Wasser gefüllte alte Konservenbüchse, und immer baumeln da heraus ein paar Blumen mit ihren Köpfen. Ein zärtlicher Blick streift gelegentlich die Blüten. Die Blechbüchsen-Lina ist glücklich. Vor dreißig und etlichen Jahren war sie Dienstmädchen. Später Aufwärterin. "Jetzt nicht mehr; man hat doch nicht mehr die richtige Toilette für feine Häuser!" sagt sie schlicht und ergeben.

Also ich interviewte sie.

Ob sie auch wählen werde?

Nein.

Sie stehe in keiner Liste. Nun, und eigentlich müßte sie ja rot wählen, wenn sie wählte, aber das täte sie nicht, denn die Roten klauten so; der rechte Männer-Holzsohlenstiefel (sie habe wirklich ein richtiges Paar gehabt) sei ihr von einem Kommunisten in der Herberge stibitzt worden. Aber auch feine Leute seien da. Gute Leute. Die meisten Menschen seien überhaupt gut. Nur die Suppe, die man von der Stadt kriege, sei so dünn, da gebe es keine Kraft, da könne man nicht arbeiten, selbst wenn man wollte. Aber eben sei es schön. Eben habe ihr ein Bäcker acht Schrippen geschenkt, und die habe sie gleich hintereinander aufgegessen. Gleichmütig, fast herablassend nimmt die Blechbüchsen-Lina auch einen Zweimarkschein von mir an, wird dann aber einsilbig, ich möchte sagen, mißtrauisch; gibt mir keine Antwort mehr und schlurft zur nächsten Pumpe, um die alte Konservenbüchse mit frischem Wasser aufzufüllen. Nun ist sie wieder glücklich. Solange ihre Blumen zu trinken haben, hungert sie gern. Vielleicht regt sich in dem oder jenem nun die Sentimentalität, vielleicht will einer der Lina helfen. Nein, nur das nicht; sie trägt kein Begehren nach den Schätzen dieser Welt, sie würde ein eigenes helles Stübchen und regelmäßiges gutes Essen ebensowenig vertragen wie einst die Harfen-Jule. Sie will gar nicht "höher hinaus", will nur immer weiter so tippeln mit der Konservenbüchse und den Blumen in der Linken.

Man ruht sich bei diesem Gedanken förmlich aus. Man versteht einen Augenblick später kaum mehr das Hasten und Drängen der Großstadt. Da will jedermann höher, immer höher. Unter den Anzeigen eines Mittagsblattes finde ich eine, da sucht jemand - einen roten Jagdrock und eine weiße Reithose billig alt zu kaufen. Er träumt wohl von Springpferden, die er über die höchsten Hindernisse zum Siege steuern will, und beginnt in Ermangelung von Pferden mit dem Dreß statt mit der Dressur.

Aber recht hat er schon, wenn er sich auf diesen neuen Beruf vorbereitet, denn ganz Berlin spricht ja augenblicklich nur von Hürden und Mauern und Koppelricks, von Fehlern durch Anstoßen mit den Hinterbeinen, von Refüsieren und Ausbrechen, und sechs Tage lang hat sich eine kleine Völkerwanderung zum Stadion im Grunewald ergossen, wo das große Reit- und Fahrtunier stattfand. Auf einmal sah man wieder "alte Gesellschaft" beisammen. Jene Gesellschaft, die der sonst Unkundige daran erkennt, daß sie im Gespräch nicht "Herr Graf" sagt, sondern "Graf", wo der Zuhörer sich noch überlegt, ob man "Fräulein Komtesse" sagen müsse. Diese Gesellschaft saß nicht in den teuren Logen an der Südseite, sondern auf den einfachen Bänken gegenüber, neben der in die Arena führenden Rampe. Da gab es von Publikum zu Reiter und wieder zurück ein Grüßen, ein Winken, ein Rufen. Da war man endlich einmal wieder bei ritterlichem Sport unter sich, soweit man nicht inzwischen durch die Verringerung aller Einkünfte überhaupt zum Verzicht gezwungen ist. Auf den Stehplätzen aber drängte sich jene Menge, die früher bei Radrennen "Schieba! Schieba!" zu brüllen pflegte und nun bei Pferderennen sämtliche Ränge übervölkert. Zum ersten Male nämlich gab es mit hoher obrigkeitlicher Genehmmigung bei solch einem Preisreiten Totalisatorbetrieb. Das zog. Wer bei Köhn und Klante sein Geld verloren hat, der versucht jetzt plötzlich an Ort und Stelle sein Glück. Ich will mich selber auch nicht besser machen, als ich bin. Ich habe auch am Toto gewettet. Oder vielmehr meine Frau. Während ich mit brennenden Augen dasaß und von alten Zeiten träumte, wackere Freunde wiedererkannte und mich an dem schönen Pferdematerial erfreute, war sie nicht ganz so mit dem Herzen dabei. Da verleitete ich sie, zum erstenmal in ihrem Leben, am Toto zu wetten. Sofort war die Lage verändert. Also Oberleutnant von Sydow, der als Nr. 2 in die Bahn reitet, ist unser Mann. Wir drücken den Daumen für ihn. Der Gaul macht einen Rumpler? Das ist, als ob meine Frau einen Hufschlag vor die Brust erhält. Ist der Balkensprung neben dem Wassergraben gestreift worden? Hilfe, uns wird dunkel vor den Augen! Nun hat Sydow in guter Form mit wenigen Fehlern alle Hindernisse absolviert. Man atmet auf und krallt die Finger um das Ticket. Aber da kommen, einer nach dem anderen, die Mitbewerber geritten. Die Pest über sie! Frauen sind unglaublich stark in Liebe und Haß, ihre Telepathie wirkt Wunder, ich sehe lächelnd zu, wie sich unsichtbare Balken vor den Pferden aufbäumen. Das eine bricht zweimal aus und wird abgeklingelt, das zweite verliert einen Huf und stolpert beim nächsten Hindernis. Zum erstenmal in ihrem Leben versteht meine Frau, was die Leidenschaft des Spielers bedeutet, und zum letztenmal in meinem Leben habe ich hier ein Totalisatorticket für sie gekauft. Nun ist uns freilich warm geworden.

Aber nicht nur wegen der materiellen Beteiligung, sondern aus reiner Freude an dem Erschauten. Es gab Zeiten, wo Kaiser Wilhelm II. von Wettrennen und Preisspringen nichts wissen wollte, weil er es für unwürdig hielt, wenn ein Offizier in Uniform vor einer tausendköpfigen Menge vom Gaul fiel oder ihn nicht über den Irenwall bracht. Mit unseren bescheidenen Mitteln konnten wir nicht zu dem hervorragenden Pferdematerial kommen, mit dem das Ausland ein leichtes Spiel hatte. Ich habe einmal in der Michaelmanege in Petersburg die Vorführungen des kaiserlich russischen Kavallerieinstituts gesehen, ganz verblüffende Leistungen, die noch die gute Schule von James Fillis aufwiesen - aber es waren auch durchweg eigens dafür gezüchtete 6000-Mark-Pferde. Ein andermal in Turin brillierten in internationaler Konkurrenz vor allem die Italiener, gegen die sich nur mit Mühe, aber in Ehren unser badischer Dragoner Freiherr v. Holzing behauptete, von dem dann das ganze Preisspringen in Deutschland neue Impulse erhalten hat. Nun sind wir erheblich vorangekommen. Im Stadion bestanden wir gut gegenüber der gefürchteten Konkurrenz. Die alte Gesellschaft wird über kurz oder lang nur noch Pferde reiten, keine mehr besitzen; aber der neue Reichtum wirft immerhin einiges hinein, und so ist die weitere Aufzucht des Halbblutjagdpferdes gesichert, auch wenn das Jagdreiten selbst, hinter der Meute her, die mit hellem Geläut auf der Fährte abgeht, allmählich zur Sage aus verklungenen ritterlichen Zeiten bei uns wird. Wir sind ein armes Volk geworden.
13. Oktober 1921 (Donnerstag).


5

Skandalblätter - Eine Verhaftung - Die Piräusmauer wiedererstanden - Zeitungsstreik - Trinkgeld: 23½ Prozent - Im Hauptquartier der Gastwirtsangestellten

An der langen Mauer vom Piräus nach Athen, an der vom Hafen zur Stadt die Schiffskapitäne und Matrosen des klassischen Altertums mit Goldstücken in der Tasche entlangklimperten, standen allerhand verfängliche Anzeigen. Da gaben die leichtfertigen Schönen von Athen ihre Adresse an. Das ist sehr unterhaltsam in einem französischen Roman - von Pierre Louys - zu lesen, den der alte Fürst Hohenlohe, scheinbar in Akten vertieft, im Reichstage zu schmökern pflegte,wenn irgendein langweiliger Peter von Abgeordnetem über Schutzzoll oder Reaktion oder Staffeltarif oder Branntweinkontingent sprach. Die Anzeigen der Piräusmauer erlebten in den letzten Jahrzehnten in Paris und in Brüssel, nur diesmal auf Zeitungspapier, ihr zweites Dasein; da konnte man in gewissen Blättern spaltenlang die kleinen Angebote für ein dauerndes Beisammensein lesen, die etwa "une situation de 400 frs. par mois, excursions, théâtres" verlangten oder verhießen. Nach der Revolution wurde die gleiche Schamlosigkeit in Berlin heimisch. Mehrere Skandalblätter lebten von solchen Anzeigen und machten im Text andere Skandale auf. Solange Sitte und Anstand unter der neuen "Freiheit" noch wie gelähmt waren, geschah nichts gegen sie, aber schließlich legte sich die Staatsanwaltschaft doch ins Mittel und verdarb ihnen gründlich das Geschäft. Nur noch ganz versteckt, so daß harmlose Leser nichts davon merken, wird jetzt die Gelegenheitsmacherei betrieben. Ein gewissenhafter Kulturhistoriker, der ein Bild unserer Zeit aus lauter echten Mosaiksteinchen zusammensetzen will, darf dabei nicht unerwähnt lassen, daß alle diese Wochenblätter, soweit sie im Text politisch werden, politisch rot sind. Die rein politische Arbeiterpresse regt sich seit jeher - so wie Adolf Hoffmann, der Besitzer und Schwerenöter, über "Die zehn Gebote und die besitzenden Klassen" - über den moralischen Sumpf bei uns auf. Hier hat man ihn. Und es sind waschechte Genossen aller drei roten Fakultäten bei der Anschlammung in leitender Stellung tätig. Einen hat man jetzt verhaftet. Seine Spezialität war die nachträgliche Zusammenstellung von Skandalgeschichten aus der Etappe Gent. Wenn auch die schmutzigen Anzeigen auf der letzten Seite mit der angeblichen sittlichen Entrüstung auf der zweiten Seite nicht gut stimmen, wenn auch diese angebliche sittliche Entrüstung im Grunde nur den Zweck einer Besudelung des ganzen deutschen "Militarismus" hatte, so sei doch von vornherein zugegeben, daß sehr viel von dem Erzählten auf Wahrheit beruhen mag. Wackere wirkliche Frontkämpfer haben zuerst auf das Luderleben dort hinten hingewiesen; die Bezeichnung "Etappenschweine" ist aus deutschem Zorn geboren. Manchmal kam man aber an den Unrechten. Ein Prinz Reuß, der sich rein erhalten hat, zitierte den Verleumder vor Gericht. Der war in der letzten Zeit unauffindbar, wie es hieß, ins Ausland verreist. Aber ein Beauftragter von ihm wurde im Potsdamer Reichsarchiv dabei ertappt, wie er verschiedene Akten offenbar für die Entente zu kopieren versuchte, und gleich darauf kriegte man den Skandalmacher selbst beim Kragen.

So wird allmählich wohl die Unratquelle verstopft werden. Aber die großstädtischen Skandalblätter heulen auf: dies sei nur eine Geschäftsschädigung zugunsten anderer Unternehmer. Auch denen muß es an den Kragen gehen. Gemeint ist der "öffentliche Briefaushang", die Bauzaun- und Schaukastenanzeige. Wir kommen wieder zu den primitiven Zuständen der Piräusmauer zurück. Einmal wegen der Billigkeit. Es kostet keine Inseratengebühr, wenn Frau Schulze einen Zettel an den Zaun heftet, auf dem sie den Sonntagsanzug ihres Seligen anzeigt, oder wenn Fräulein Müller, eingetretener Umstände halber, einen billigen Kinderwagen alt zu kaufen sucht. Jeden Morgen sieht man lange Reihen zur Arbeit wandernder Leute diese Anzeigen studieren. Dagegen wäre nichts zu sagen. Das gleiche wird aber schon geschäftsmäßig, gegen Gebühr, betrieben. Vielfach hängen Unternehmer Schaukästen mit "öffentlichem Briefaushang" auf, in dem selbstgeschriebene Heiratsgesuche und ähnliches Platz finden; bis zu dem kräftigen jungen Mann herunter, der Anschluß an wohlhabende ältere Damen sucht. In der neuen deutschen Republik hat sich die Zahl der Augiasställe unglaublich vermehrt. Ein Herkules zu ihrer Reinigung wäre dringend nötig. Hier könnte einmal die Sozialdemokratie sich als starker Mann erweisen, wenn es ihr wirklich um die Gesundung des Volkes zu tun wäre, nicht nur um die parteipolitische Ernte aus der Skandalchronik einer morschen Welt.

Erntezeit ist wieder einmal für die rote Presse angebrochen. In den Zeitungsdruckereien, aber nur in den nichtroten, wird gestreikt. Da rasen die Rotationsmaschinen des "Vorwärts" und speien die dreifache Auflage aus, denn da jedermann wenigsten wissen will, wie der Dollar steht, nimmt man, wenn sonst nichts da ist, vom Straßenhändler eben den "Vorwärts". Die Schriftleitung gibt sich in solchen Tagen die blutigste Mühe, einigermaßen den bürgerlichen Ton zu treffen; vielleicht, so denkt man, bleibt der und jener Zufallsleser doch Abonnent. Eitles Hoffen! Die rote Presse ist doch sozusagen Streikbrecher, und ein klassenbewußter Zeitgenosse, auch wenn er ein Bourgeois ist, darf so etwas doch nicht unterstützen. Im Ernst: der Zeitungsstreik erbittert die Leser der nichtsozialdemokratischen Blätter nicht gegen diese, nicht gegen ihre Verleger und Schriftleiter, sondern gegen ganz andere Leute. Und im übrigen sind die Streiks überhaupt zu häufig, als daß man noch über seine eigenen Sympathien oder Antipathien sich Rechenschaft zu geben Lust hätte.

An den Streik ist man allmählich so gewöhnt, daß man morgens nur noch fragt: "Was für einer?" Straßenbahn? Gas? Wasser? Elektrizität? Nun, das ist alles im Betrieb, Gott sei Dank. Nur der Streik der Gastwirtsangestellten floriert noch. Aber die guten Leutchen, die uns nähren und tränken, sind auf dem besten Wege, sich alles Wohlwollen zu verscherzen. Sie machen zuviel Krach. Mit Steinwürfen auf die Fensterscheiben, was nur dem Wirt oder der Glasversicherung weh tut, und mit Faustschlägen auf die Köpfe von Restaurantbesuchern, was diese sehr übel vermerken. Also man vergrämt sich so seine guten Freunde. Früher gaben beispielsweise in Berlin die meisten Leute auf der Straßenbahn dem Schaffner ein kleines Trinkgeld; jetzt findet man nach dem Ärger mit den vielen Streiks einen solchen Menschen ungefähr ebenso selten wie einen Margarinefabrikanten, der selber seine Margarine und nicht Butter ißt. Die Stubenmädchen, die Kellner, die Pförtner, die Fahrstuhljungen werden das gleiche erleben. In Hotels und in einigen anderen Gaststätten haben sie - endlich wieder einmal - ihre Forderung durchgesetzt, daß sie keine Trinkgelder, sondern ein festes Gehalt und eine prozentuale Tantième vom Umsatz erhalten. Und trotzdem nehmen sie Trinkgelder! Sogar trotz aller Beschwörung durch ihren Betriebsrat. Sie nehmen. Aber bald wird sich niemand mehr finden, der gibt.

Mein alter spießbürgerlicher Freund Justus Giesecke, irgendwo hinten aus der Mark Brandenburg her, kommt alle Jahre mit Frau und Schwägerin auf acht Tage nach Berlin. Diesmal läutet er mich schon sehr bald nach Eintreffen an. "Hilf Himmel, man will doch mal gut essen, wenn man hier ist, ich kenn ja auch alle unsere guten Weinrestaurants, aber alle sind zu, wir telephonieren eben aus einem Zigarrenladen, wollen bei euch nicht ins Haus fallen, also los, du oller Berliner Alleswisser, nenne uns sofort das nächste feine Lokal, in dem wir was Ordentliches bekommen!"

Bitte sehr. Dutzende zur Auswahl. Also gleich um die Ecke ein paar Häuser weiter die "Astoria".

Schön. Gieseckes walzen hin. Vater Giesecke fragt vorsichtshalber den Ober, ob er ihm einen Tausendmarkschein wechseln können; der Ober meckert vor Vergnügen und verneigt sich zustimmend. "Speisekarte? Ja, die gilt nicht. Befehlen die Herrschaften einen Vorschlag? Also etwas Vorspeise, Gänseleber, Schwedenplatte und so. Dann vielleicht Kraftbrühe mit Rindermark, ein garniertes Filet, etwas Nachspeise, für die Damen vielleicht Windbeutel mit Schlagsahne. Einen Curaçao vielleicht zur Vorspeise? Oder erst zum Mokka? Gut, hier bitte die Weinkarte." Also Gieseckes essen und trinken, der Tausendmarkschein wird hingelegt, und schon ist er fast hin, denn es gibt nur ein paar Mark heraus. Nun wird mit großen Augen die Rechnung studiert. Am Schlusse ist eine runde, sehr runde Summe für Bedienung liquidiert. Donnerwetter. Für dieses Bedienungsgeld allein könnten Gieseckes zu Hause ein Essen für zehn Personen geben. Sie rechnen nach: Es sind 23½ Prozent. Ha, welche Lust, Garçon zu sein!

Im Streiklokal der Gastwirtsangestellten, also an ganz unverdächtiger Stelle, lese ich einen Anschlag, der sich nicht gegen die Prinzipale, sondern gegen einen Kollegen richtet. Was wird da nicht alles aus der Schule geplaudert! Also der da genannte Ober verdiene monatlich 6000 Mark und verlange trotzdem noch wöchentlich ein "Benefiz", nämlich Ablieferung aller Trinkgelder durch die Kollegen an diesem Tage an ihn. Schade, daß ich nicht ein paar Gymnasialdirektoren, ein paar alte Oberstudienräte, auf diesem Bummel in den Garten des "Alten Askanier" in der Anhaltstraße bei mir habe. Sie könnten hier trotz ihres früheren langjährigen Studiums noch allerlei lernen. Zunächst, daß es sich heute empfiehlt, die Söhne nicht studieren, sondern Pikkolo werden zu lassen. Da bringt man es jedenfalls weiter. Ein Zahlkellner ist heute etwas geradezu Majestätisches im Vergleich zu einem Gymnasialdirektor. Und dessen Töchter werden, wenn sie "auf Oberlehrerin studieren", niemals die Einnahmen eines Hotelstubenmädchens erreichen. Doch auch der Beruf der Gastwirtsangestellten ist sozial zerklüftet. Auch unter diesen "Proletariern" gibt es ungezählte Klassen. Mitten unter den Elegants im Streikgarten steht mit rotgeränderten, aber harten und tränenlosen Augen eine alte Tellerwäscherin. Das ist die unterste Kaste. Hochmütig sehen die Frack-Brahmanen über solche Parias hinweg.
20. Oktober 1921 (Donnerstag).


6

Die zerbrochene Scheibe - Dienstautos - Der Reichskanzler und der Möbelspediteur - Hermes bei Salomonsohn - Buchstabensprache - Tidschi oder Gentleman? - Unruhs "Prinz Louis Ferdinand"

In entschwundenen Zeiten wurden die Füchse eine studentischen Verbindung einmal dahin belehrt, sie sollten es sich nicht einfallen lassen, gewissen zweifelhaften Kommilitonen eine Backpfeife herunterzuhauen. Erstens sei das unstudentisch und gemein. Und zweitens erscheine besagter Kommilitone dann nach einer Weile vielleicht wieder in der Tür und rufe: "Sie haben meinen Kneifer kaputt gemacht; ich werde Sie wegen Schadenersatzes verklagen." Ganz ähnlich hat sich jetzt die Regierung benommen. Sie hat einen kleinen Beamten in einem Berliner Vorort, einen Herrn v.Hirschfeld, auf Zahlung von 80 Mark für eine zerbrochene Fensterscheibe verklagt. Die Fensterscheibe befand sich in einem Auto. In dem Auto befand sich Erzberger. Auf Erzberger schoß der anscheinend schwachsinnige Hirschfeld junior aus einem vorsintflutlichen Revolver. Aber das Gericht hat entschieden, daß hirschfeld senior für die Taten seines erwachsenen Sohnes nicht haftpflichtig sei, und so hat denn die Regierung die Kosten für die Fensterscheibe, die Kosten für die Gerichtsverhandlung und die Kosten für die allgemeine Heiterkeit zu tragen.

Man ist so herzlos, ihr zuzurufen: "Fahrt nicht soviel im Auto!" Früher gingen die Minister zu Fuß oder bezahlten, wenn sie es eilig hatten, aus eigener Tasche eine Droschke. Heute haben sie alle ihr Dienstauto, und im Etat werden die Gelder für den Lenker, für die Unterbringung, für den Betriebsstoff bewilligt: das geht bis zu buchstäblich 100 000 Mark für ein Auto jährlich. Da kann man wahrhaftig auch die Reparaturen noch bezahlen. In ganz alten Zeiten pflegten in Berlin - wie die Fürsten - auch die Staatsmänner zu reiten. Das war nicht ganz ungefährlich, denn die Straßen hatten Löcher und Misthaufen. Der Große Kurfürst stürzte einmal in der Dämmerstunde beinahe über eine fette Sau, die nach der damaligen Gewohnheit sich vor dem Hause ihres Besitzers sielte, und er verbot deshalb den Berlinern die Schweinehaltung an der Vorderfront ihrer Häuser. Mit der allmählichen Verbesserung der Straßen kam dann auch die Kutsche auf. Schon seit etwa 1500 waren die Wagenbauer in Kocsi bei Raab in Ungarn als die besten bekannt; daher stammt das Wort Kutsche. Man kannte damals aber noch keine Federung. Selbst in der Zeit Goethes hingen die Kutschkasten noch in Riemen, kamen bei dem kleinsten Stoß ins Schaukeln, und so wurde man denn damals auch bei Landreisen seekrank. Es führt wirklich ein sehr langer Weg der Entwicklung bis zu den Dienstautos unserer heutigen Minister mit ihren Stahlfedern und ihrer Klubsesselpolsterung.
Item: Minister sein, das ist fein. Es mag Deutsche gegeben haben, denen in diesen Tagen das Herz schier brechen wollte, weil wieder - mit dem Stück Oberschlesien - einige hunderttausend Deutsche von dem Vaterlande losgerissen werden. In der Öffentlichkeit kam dies aber nicht so sehr zum Ausdruck. Da sprach man weniger von den armen Landsleuten, als von Kohle und Eisen und Zink, und weniger von Kohle und Eisen und Zink, als - von dem Schicksal Wirths und seiner Minister. Lieb Vaterland, magst ruhig sein, wir haben sie ja wieder. Sie behalten ihre Dienstautos. Die ganze Aufregung war also unnütz. Von Wirths Kollegen aber hat manch einer wirklich an die Krise geglaubt. Für alle Fälle hatte der Ernährungsminister Hermes erklärt, wenn er mit ausscheiden müsse, dann würde er gern deutscher Botschafter in Amerika werden. Und alsbald bereitete er sich auf die neue Laufbahn vor. Er ging zu Herrn Salomonsohn, dem Direktor der Diskontogesellschaft, und bat, er möge ihn ein bißchen über Amerika informieren. Der aber zog die Achseln hoch und sagte: "Weiß ich etwas von Amerika?"

Lachend hat es der Herr Salomonsohn selber einem M.d.R. wiedererzählt. Einem Mitgliede des Reichstages. Oder Abgeordneten, wie wir kurz zu sagen pflegen. Hier sagen wir es noch. Aber auf den Visitenkarten steht immer: M.d.R. das ist die greuliche englische Sitte, die bei uns immer mehr überhandnimmt. Das Englische teilt mit dem Chinesischen die Eigenschaft, daß es - in der Aussprache - fast durchweg einsilbig ist. Aber das genügt noch nicht. Die wahre Einheit ist nicht die Silbe, sondern der Buchstabe. Das englische Unterhausmitglied, Member of Parliament, nennt sich also M.P., Em Pi. Es fährt mit der Pi  and  O, wie wir mit der Hapag. Ich habe meine Jungens bei den Ohren gekriegt, wenn sie erzählten, daß sie mit dem D.N.I. einen Ausflug machten. Ich habe auch nie O.H.L. oder A.O.K. gesagt oder auch nur geschrieben. Die Stenographie in allen Ehren; das hat Sinn und Zweck. Aber nur seelenlose Menschen zerhacken die lebendige Sprache zu Buchstaben. Mir steigt Übelkeit auf, wenn Gymnasiasten sich darüber unterhalten, ob sie auf der Universität Eß-Zäher oder Ade-Zäher werden wollen. Sie meinen: Korpsstudenten oder Burschenschafter; Mitglieder des Senioren-Convents (S.C.) oder des Allgemeinen Deputierten-Convents (A.D.C.). In allem Elend unserer Tage bleibt uns die Schönheit und Reinheit der Muttersprache. Sie ist das stärkste, das wir zu vererben haben. Dafür sind wir aber auch verantwortlich. Neben der Buchstabenafferei macht sich in de´n Großstädten auch schon hebräisches Rotwelsch breit, seit der Revolution mehr denn je. Man will sich das Geschäft nicht vermasseln lassen, man spricht von Tinnef und Gannef, und als sich mir mal ein Handlanger der neuen Republik in Weimar vorstellen lassen wollte, und ich den Überbringer der Botschaft fragte, was der Mann eigentlich sei, erhielt ich die Antwort: "Ach, das ist der Meschores von Erzberger!" Man muß wieder einmal ein paar Seiten Treitschke oder Bismarck lesen, um zu wissen, wie wundervoll ein gutes Deutsch klingt. Unser erster Kanzler war ein wirklicher Künstler der Sprache. Ich denke da an eine Stelle aus seinen Briefen. Es ist spät am Abend, und er schreibt: "Das alte Uhrchen auf dem Kamin räuspert sich und hebt an, elf zu schlagen." Räuspert sich und hebt an: das ist Bild und Tonmalerei zugleich zum Entzücken. Dafür haben die auf der Tauentzienstraße Dahinhastenden kein Verständnis. "War't ihr im Kadewe? Ich komme aus der Ufa. Es waren noch zwei Vaude-Esteher da. Ihr wollt jetzt zum Zehweh? Emweh, emweh!" Ein Mensch von Geschmack kann so nicht sprechen. Das ist nur die Art der gedankenlosen neuen Talmigesellschaft von heute, der Ti-dschi, wie der Engländer sie nennt, der Temporary gentlemen, der "zur Zeit" feinen Leute. Mit solchen t.g. ist Berlin übervölkert. Aber auch in anderen deutschen Städten mehren sie sich. Es ist eine Zeitseuche. Wir müssen ihrer Herr werden, wenn wir kulturell gesunden wollen.

Schade, daß wir aus der Fremde, auch aus England, nur das Unsinnige nehmen, nicht das Gute in Sitte und Gebrauch. Deutschland wäre nie zusammengebrochen, wenn es sich selbst geehrt hätte, wie es England tut. Wir haben immer gemäkelt, immer geschimpft. Für den Engländer aber ist das Heimische immer das Höchste. Auch den ersten Gentleman der Nation, selbst wenn es ein übler Eduard VII. war, hat kein Engländer geschmäht. Im Gegenteil. Es giltdort als einfache Forderung des Anstandes, bei jeder passenden Gelegenheit die Nationalhymne anzuhören. Wenn die Theatervorstellung schließt, stürzt man nicht zu den Garderoben, sondern die Musik spielt "God save the king", und das hört man sich stehend und bewegungslos an. Jedes Theater hat ja seine Kapelle, weil in England überall Zwischenaktsmusik Mode ist. Den gleichen feierlichen Schluß haben Konzerte, Variétéabende, Kinovorführungen. Auch der letzte Proletarier im Vorstadtkino steht entblößten Hauptes still. Er ehrt England. Es gibt noch heute zahlreiche Analphabeten in Großbritannien, ja, sogar Leute, die die Uhrziffern nicht zu lesen vermögen, aber einmütig stehen sie mit den Gebildeten für alles Englische ein. Ein beliebiger Dockarbeiter weiß mehr von der Geschichte seines Vaterlandes als der deutsche Genosse von der des seinigen.

Das kommt unsereinem niederschmetternd zu Bewußtsein, wenn einmal in Berlin eine Theaterpremière national Emporreißendes bringt. Das war schon immer so. Irre ich nicht, ist es schon Kleist so gegangen; ich meine nicht den bekannten Durchfall mit seinem "Zerbrochenen Krug" in Goethes Weimar, sondern gerade die verständnislose erste Aufnahme seines "Prinzen von Homburg". Nach hundert Jahren ist ihm jetzt ein Nachfolger erstanden. Fritz v. Unruh heißt er. Offizier, Feuerkopf, Dichter. Im Kriege hat er sozusagen seinen leichten Klaps bekommen, ist eine Art demokratischer Pazifist geworden, weil das Grauen über den Zusammenbruch trotz übermenschlicher Leistung ihn offenbar an seiner ganzen Weltanschauung hat irrewerden lassen; es ist manchem innerlich leicht verletzlichen Hochfliegenden so gegangen, nur sehr harte Tatsachenmenschen haben sich durchgerungen. Jedenfalls 1913 hat Unruh noch anders gedacht. Er hatte damals schon seine "Offiziere" geschrieben, dieses abgerissen und glühend stammelnde, von lauter überschießender Kraft eruptive Werk, und nun gab er uns seinen "Prinz Louis Ferdinand", ein immer noch vulkanisch-kraftgenialisch brodelndes Drama, das aber doch schon mehr Zügelung zeigt. Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der Künstler, der Weiberjäger, der Held, dieser glänzende Komet an dem trüben Preußenhimmel von 1806, hat schon seit jeher unsere besten Federn gelockt. Er hat ja auch selber sein Blut vererbt. Der Dichter Ernst v. Wildenbruch ist sein Enkel aus einer wilden Ehe gewesen. Nun hat Unruh den verwöhnten Liebling des Volkes von 1806 zum Helden eines Dramas gemacht, das unverkennbar Parallelen zu 1913 zieht. Es gärt in Unruh. Der junge Leutnant erstickt im Dienst. Er sieht furchtbar prächtig den großen Krieg der Zukunft heraufziehen, er ahnt ihn als Soldat und als Dichter, aber er reißt sich den Waffenrock auf, um in dieser Luft überhaupt atmen zu können: in der Luft eines Friedenskaisers und eines Durchschnittskanzlers. Da haut er seinen "Prinz Louis Ferdinand" hin. Bilder von einer hinreißenden Theatralik. Das Hoffest bei Friedrich Wilhelm III., die Szene zwischen diesem und dem Prinzen Louis Ferdinand, die Künstlerkneipe im Weinkeller, der Kriegsrat mit den beiden friderizianischen Generalen in Erfurt, dazwischen die heiße Tändelei mit dem Luderchen, der Wiesel, und dann das Hingerissensein von der sittlichen Hoheit der Königin Luise. Und zuletzt, anders als in der Weltgeschichte, die nur einen Angriff voll genialen Leichtsinns kennt, der Pflichttod des Prinzen bei Saalfeld, weil er sich nicht in offene Auflehnung gegen den König verstricken lassen wollte.

Das Deutsche Theater bringt das in einer wundervollen Aufführung heraus. Freilich mit ein bißchen zuviel Kinodramatik. Vor allem ist dieser Friedrich Wilhelm III. nicht pedantisch trocken genug. Aber Haugwitz, aber Wiesel, aber die Königin, aber die Generale, aber der Prinz selbst, seine versoffenen Kunstgenossen, das Luderchen, die Pagen! Man sieht, man starrt, man ist hingerissen. Diese Luise, wie aus Richters bekanntem Bilde niedergestiegen, brauchte kein Wort zu sprechen, nur wie eine Erscheinung dazustehen, und schon möchte man wie der Prinz zusammenstürzen und ihr die Hände küssen.

Und im nächsten Augenblick - das Publikum abwürgen. Einen nach dem anderen aus dieser schwarzbunten Herde von Hornvieh, die schillernden Frauen und die Männer im Smoking vom Berliner Boulevard. Sie gaffen. Sie verstehen nichts, denn sie wissen nichts. Keine Ahnung von deutscher Geschichte. Geht der Vorhang nieder, so rauscht kein Beifall empor. Denn alle diese Leute denken dann erst angestrengt darüber nach, was das kuriose Zeug da vorn auf der Bühne überhaupt bedeuten solle. Ich habe die Berliner Theaterdirektoren schon vor Monaten gescholten, weil sie in dieser Zeit keine Tell-Aufführung, nach der das deutsche Volk doch lechzen müßte, veranstalten. Ich bitte alles ab. Für diese geistigen Analphabeten, die sich heute in Berlin einen Parkettplatz im Theater noch leisten können, ist das alles Verschwendung. Geh in den Kientopp, Ophelia!
27. Oktober 1921 (Donnerstag).



Glossen 1 - 3

Jahresinhalt

Glossen 7 - 9

© Karlheinz Everts