"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 1 - 3
22. September bis 6. Oktober 1921


1

Saisonbeginn - Französischer Massenimport auf Berliner Bühnen - "Prinzessin Olala" - Die Massary und die Bernhardt - Was man alles trägt - Freie Bahn dem Unwissenden! - Professor Otto Otto - "Kaiserlich" - Jugendweihe der Arbeiterschaft

vDie letzten Sommerurlauber sind wieder da: nun hat Berlin seine Berliner wieder.

So manch einer, den der goldene Herbst draußen festhielt, riß sich los, sobald die ersten Postkartengrüße von der Saison kamen. Bildung ist Mitmachen, sagen diese Leute. Nur keine Première auslassen! Außerdem haben wir eine ganz kurze Vorsaison vor der Newyorker Saison, die uns unsere größten Großen entzieht, Richard Strauß hat noch einmal im Opernhause den Takstock geschwungen, Franz Vecsey noch einmal in der Scala seine Geige Abschied schluchzen lassen. Nun sind sie zu Schiff nach Dollarika. Die Fahrkarte kostet 24 000 Mark ohne Weinrechnung und ohne Pokerverluste; aber auch diese werden von den Spesen gedeckt.

Da kann Berlin freilich nicht mit. In jenem Lande der unbeschränkten Möglichkeiten, wo auf jeden 14. Einwohner ein Automobil kommt, liegt anscheinend das Geld auf der Straße. In Wirklichkeit werden natürlich auch dort Wassersuppen gekocht, arbeiten dort mehr Leute an der Statistik der Arbeitslosigkeit als an Fassadenputz oder Neubauten, sehen dem 14. Autofahrer dreizehn andere Leute nach, die mit geflickten Stiefeln umherlaufen. Nur werfen die Vierzehnten das Geld eben mit vollen Händen weg, und der Abfall ergibt immer noch nach unseren Begriffen ganze Vermögen für gastierende deutsche Künstler. Hier in Berlin, im Lande der unmöglichen Beschränktheit, wird derweil der alte Faden weitergesponnen; wir geben die bei uns aufgewachsenen Großen an das Ausland ab und importieren dafür die Kleinen aus dem Auslande zu uns. Unsere Bühnen sind mit französischen Schwänken überschwemmt. Bis 1914 war nur in einem einzigen, dem Residenztheater, das Pariser Ehebruchsstück heimisch, heute hat es schon fünf Schauhäuser erobert. Der richtige Berliner, der sich doch aus dem ganzen Reiche rekrutiert und nur zu einem winzigen Prozentsatz zur Amüsierwelt gehört, leidet unter diesem Spielplan. Er ist in den Ferien von Berlin ins Reich gefahren, um nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zu gesunden. Und siehe da, im Kurtheater wurde Schnitzlers "Reigen" und Ewers' "Alraune" gespielt. Aus Rücksicht und aus Spekulation - auf den Geschmack der Berliner! Es ist zum Dreinschlagen. Aber unentrinnbar.

Ganz nach leichtem französischem Vorbild ist das neue Kassenstück des Berliner Theaters gezimmert, die "Prinzessin Olala" von Bernauer und Schanzer mit der unverwüstlichen und immer wieder nett aufpolierten Musik von Gilbert. Die Verfasser haben unzweifelhaft die "Dame von Maxim" (Hoppla, Vater sieht's ja nicht!) und ähnliche Pariser Tollheiten in ihrem Unterbewußtsein verarbeitet. Genial verarbeitet. Denn Genie ist Gedächtnis, sagt Weininger. Und es galt, für das im Grunde ehrpusselige Berliner Theater in der stillen Charlottenstraße, die jetzt durch die Scheinwerfer des Autogewimmels allabendlich in eine Aufregung versetzt wird, wie sie sie früher in den Zeiten Prasch-Grevenbergs und Ferdinand Bonns nie kannte, eine Operette zu schreiben, in der erneut alle Vorzüge unserer Fritzi Massary aufleuchten können. Man hat leicht spotten, daß sie aus der oberbayerischen Fettlebe dieses Sommers magerer denn je zurückgekommen ist. Das macht nichts. Wenn auch die Sehnen und Adern ihren schlanken Hals allmählich immer härter stricheln, so verdeckt sie das nicht, denn sie weiß: noch heute würde manch einer ein Vermögen hergeben, um diesen schlanken Hals küssen zu dürfen.

Es mag etwa zwölf Jahre oder noch länger her sein, wahrscheinlich länger, als ich einmal den Kronprinzen ausrufen hörte: "Was, die Massary heiratet noch? Die hat ja schon eine vierzehnjährige Tochter!" Das macht nichts. Die Sarah Bernhardt in Paris war noch älter, als ich sie das erstemal in meinem Leben sah, und schon damals sagte man von ihr, auf den Bretter, die die Welt bedeuten, sei sie - das Brett, das die Welt bedeutet. Und doch war ihre Kameliendame hinreißend schön, und doch war der Glockenton ihrer Stimme so, daß ich entzückt die Augen schloß. Die Massary ist eine wahrhaft große Künstlerin. Man vergißt den ganzen gräßlichen Unsinn dieses Vaudevilles "Prinzessin Olala", man vergißt die Schlüpfrigkeit der Situationen und die Unzulänglichkeit der Mitglieder (unter denen der Darsteller des Prinzenerziehers Tiburtius allein sich emporsteilt), wenn jedes geträllerte und jedes gehauchte Wort von ihr glockenrein bis zum letzten Stehplatz im dritten Range dringt, man vergißt die ganze Umwelt, wenn ihre strahlenden Augen und ihr roter Kirschenmund leise und immer leiser locken: "So komm doch, so komm doch, so komm doch endlich schon!" Die abgegriffene Fabel des Stückes erzählt von einem Prinzen von Odolien, der an eine ihm völlig unbekannte Prinzessin der Umbraine verheiratet werden soll, aber vorher, da er noch "ganz unschuldig" ist, nach Paris geschickt wird, um dort in einem Schnellkursus bei einer Lebedame - die Liebe zu lernen, und die Prinzessin der Umbraine (Olala!) reist vorher hin, tritt als Zofe bei der Huldin ein und übernimmt selber die Erzieherrolle an dem Prinzen. Wenn dieser mit seinem langsträhnigen Professor Tiburtius in dem Salon erscheint und das erste Tanzduett klinglingt:

Es liegt hier so ein Duft in der Luft,
Duft in der Luft,
Der steigt uns in die Nase . . .

dann ist das Publikum schon elektrisiert, und wenn nun gar die Massary auftritt - "ihre Toiletten sind aus dem Atelier Klara Schultz", verkündet der Theaterzettel -, ist es ein Augen- und Ohrenschmaus, der die drei Akte hindurch alle im Bann hält. Diese kleine Frau Massary-Pallenberg ist berückend. Selbst die ernsthaftesten Hakenkreuzler werfen ihr, sofern sie von großer Kunst etwas verstehen, das Ghetto ihrer Altvordern nicht vor. Und die Mädels im Parkett, die fast noch lerneifriger sind als der Prinz auf der Bühne, hören mit glühenden Backen zu, daß bei den Männern der Grips "schon am Schlips" zu Ende sei und daß man sie am ehesten fange, wenn man nicht brav sei, sondern schon ein "kleines Kleckschen" habe. Das ist ja der Niederschlag aller dieser Operetten. Und fast tut es einem leid, daß ein solches Publikum in das so solide alte Berliner Theater geht: nur noch verschwindend die Schiebergesellschaft des vorigen Winters, statt dessen viel vierter Stand bis in den ersten Rang hinein; Meister aus irgendeiner Fabrik mit Frau und Tochter, Lackierer mit Braut und deren Freundin, überhaupt Leute mit großer Handschuhnummer, denen man etwas innerlich Erhebenderes gegönnt hätte. Aber sie alle, um derentwillen die Handschuhfabriken jetzt allesamt - das ist Tatsache - auf Nummer 8 bis 8½ im Durchschnitt sich haben einstellen müssen, wollen eben einen Blick in die "große Welt" erhaschen, und wenn es die Talmiwelt der Tanzprinzen aus Odolien ist, und sie alle wollen am lebenden Modell der Massary studieren, wie man Morgenroben, Abendkleider, Pelze, Brokatschleier und - Nachthemden mit verführerischer Grazie trägt.

Es gibt eigentlich nichts, was man nicht tragen könnte; nur auf die Grazie kommt es an. Auf dem ersten öffentlichen Ball der Saison im Marmorsaal des Zoo sah man Anklänge an das Directoire, an das Empire, an das Biedermeier bis zu dem allermodernsten langen Kleide, ohne daß irgend etwas gestört hätte. Nur um das Zeitalter der Krinoline geht alles in begreiflicher Scheu in weitem Bogen herum, weil man doch nicht gleich die Autodroschken daraufhin umbauen kann und weil in der Untergrundbahn der große Drahtkäfig dieser Krinolinen sofort zerdrückt werden würde. Bisher waren extrvagante Toiletten nur auf den Ballsaal oder andere Schaustellungen in geschlossenem Raume beschränkt, aber neuerdings wagen sie sich auch, mitten zwischen Dirndlkleidern und Mullhängerchen, auf die Straße. Taucht da am Nollendorfplatz plötzlich neben mir, erschreckend wie ein maskierter Hoteldieb, eine in stumpfes Schwarz vom Kopf bis zu den Füßen, vom Hut bis zu den Tuchschuhen gekleidete Persönlichkeit auf. Über die linke Brust ist aus blutroten Fäden ein Spinnennetz gestickt, und über der Herzgrube sitzt eine zwei Zoll große massiv goldene Spinne, und das war wirklich eine Dame der Gesellschaft. Die Grenzen verwischen sich eben immer mehr.

Derweil sitzt der Sohn des Generalobersten v.Kluck, des Führers unserer Ersten Armee im Kriege, jenseits des großen Wassers in Valparaiso als Küchenjunge in einem Hotel, während es ein Kamerad von ihm schon zum Portier im dortigen deutschen Krankenhaus gebracht hat. Man braucht das gar nicht tragisch zu nehmen, wenn irgendwelche jungen Leute das veränderte Leben energisch anpacken und buchstäblich von ihrer Hände Arbeit leben, weil die emporgekommenen Banausen die Kopfarbeit heute nicht mehr schätzen und die Parole "Freie Bahn dem Unwissenden!" heute in Deutschland gilt. Der Tüchtige, der wirklich Tüchtige, hatte schon früher freie Bahn. Der Vorgänger des alten Feldmarschalls Grafen von Moltke als Chef des Großen Generalstabes, Reyher, war von Herkunft ein Hütejunge vom Lande in Mecklenburg, hatte sich durch Tapferkeit in den Befreiungskriegen hervorgetan und holte die fehlende Bildung dann mit Hilfe wohlhabender Gönner nach. Der Urgroßvater des Herrn Krupp von Bohlen und Halbach war Schneidergeselle, der seiner Gattin Bertha Krupp war Schmied, so daß hier doppelt die handwerkliche Tüchtigkeit der Vorfahren zu Reichtum und Ehre gekommen ist. Der heutige Industriemagnat Hugo Stinnes stammt von einem schlichten, aber unermüdlich fleißigen Ruhrschiffer ab, der im Jahre 1810 für seine Ersparnisse von insgesamt 1240 Talern sich den ersten eigenen Kohlenkahn kaufte, ohne zu ahnen, daß sein Nachwuchs es zu Milliarden bringen werde. Der andere Weg, der jetzt unter der Republik so oft beliebt wird, ist mir viel unsympathischer, daß nämlich Maulaufreißen mit Tüchtigkeit verwechselt und gänzlich unvorgebildete Leute in den wichtigsten Ämtern auf die Menschheit losgelassen werden. Und zwar sofort mit hochtrabenden Titeln, obwohl sie laut Verfassung verboten sind.

Da kommen jetzt einzelne Berliner ganz verpfuscht aus Schierke am Harz zurück, die dort in dem tropisch emporgewucherten Riesenbetriebe des "Professors" Otto Otto mit Hypnose und anderen Dingen behandelt worden sind. Sie wußten nicht, daß Herr Otto Otto den Professortitel von Herrn Sepp Oerter, dem Schneidermeister und Ministerpräsidenten von Braunschweig, erhalten hat, und daß er überhaupt nie Mediziner gewesen ist, sondern Kabarettsänger, und daß er gar nicht Otto Otto heißt, sondern Schlesinger.

Doch was ein Ministerpräsident tut, das ist immer wohlgetan, so befiehlt es die allerhöchste Verordnung dem zweifelnden Untertan, der beileibe nicht in Wort und Schrift, die nur früher einmal frei waren, das Gegenteil äußern darf. In tiefer Ehrfurcht begrüßen wir daher auch die erzieherische Arbeit der hohen Obrigkeit, die jetzt das verpönte Wort "kaiserlich" überall entfernt, damit lüsterne Augen sich nicht daran versehen. In Berlin-Tempelhof ist gerade ein hohes Gerüst aufgebaut, um dem Schilde des ehedem Kaiserlichen Postamts das Kaiserliche zu nehmen. Der Gerüstaufbau allein kostet 3000 Mark. Wo das verruchte Wort nicht überpinselt werden kann, sondern aus Sandstein weggemeißelt werden muß, könnte von den Kosten dafür das Jahreseinkommen eines Privatdozenten an der Universität um das Doppelte erhöht werden. Doch es gibt noch schlimmere Dinge. Man gehe in das erste beste Dorf vor Berlin. Da ist am Eingang eine Tafel mit dem Namen der Gemeinde, des Kreises, der Provinz und des Landwehrbezirkes überall säuberlich angebracht. Man denke: Landwehrbezirk! Wir haben doch gar keine mehr. Der Militarismus ist tot, ist gemeuchelt, die Entente hat einen Grabstein auf ihn gewälzt. Und nun röchelt er noch in mindestens 30 000 preußischen Gemeinden! Wenn das bekannt wird, gibt es eine Hausse in Aktien der Pinsel- und Ölfarbenfabriken, gibt es bald keinen arbeitslosen Anstreicher mehr. Schon haben ja auch die verflossenen Berliner Stadtverordneten beschlossen, daß die Straßennamen umgepinselt werden müssen, weil das Wort Wilhelmstraße agitatorisch-monarchistisch wirke, die Leipziger Straße an den verruchten Sieg über Napoleon erinnere, der Kurfürstendamm geradezu in Absolutismus und Mittelalter hineinführe. Ebenso müssen die Namen - und es sind hunderte - aus allen amtlichen Listen verschwinden, aus den Einwohnermeldeämtern, aus dem Verbrecheralbum, aus den Telephonbüchern: Kostenpunkt insgesamt 40 Millionen Mark; aber wir haben es ja. Was der Mensch nicht sieht, das ist nicht. Wenn die alten Offiziere an Festtagen ihre Uniform nicht mehr anlegen dürfen, dann gibt es keine alten königstreuen Offiziere mehr. Wenn man seinen Kopf in den Sand steckt, existiert die Welt nicht mehr.

Nach der gleichen Methode ist ja der liebe Gott glatt abgeschafft worden. Bei der "Jugendweihe", die die Groß-Berliner Arbeiterschaft wirklich schön und stimmungsvoll und gut deutsch sentimental statt der früheren Konfirmation für ihre vierzehnjährigen Gören veranstaltet, wird das ganz nett auseinandergesetzt. Am letzten Sonntag habe ich mir das in den Kammersälen am Halleschen Tor angesehen. Es war rührend. Die Mädels alle in weißen Kleidern, mit getolltem Haar, weiße Nelken oder Rosen in den Händen, die Väter - die Männer der schwieligen Faust - meist mit Zylinder oder Klapphut, die Mütter bei der Weihe schluchzend und nachher beim Abküssen der Geweihten sehr innig, kurz, ich war selber tief ergriffen. Nur das Politische bei der Weihe gefiel mir nicht, so schön der Saal auch mit Lorbeerbäumen geschmückt war, in denen rote Schleifen hingen. Die jungen Kinder wurden sozusagen zum Klassenkampf geweiht. Auch wurde ihnen erzählt, da sie den sogenannten lieben Gott nicht sähen, habe auch nicht er die Welt erschaffen; sie sei von selbst entstanden. Kopfschüttelnd ziehe ich meine Uhr. Ich sehe den Uhrmacher nicht. Vielleicht ist die Uhr auch von selbst entstanden.
22. September 1921 (Donnerstag)


2

Brüllende Autos - Das Gewimmel der Valutastarken - Ein Sieg deutscher Technik - Sportsmann und Schauspielerin - Moderne Geheimratstöchter - Woher haben die jungen Mädchen ihre Toiletten?

Man geht spät nachts gemächlich nach Hause. Es ist still, und bei der heutzutage spärlichen Beleuchtung glaubt man durch Kleinstadtgassen zu trappen.

Plötzlich zerreißt ein tierisch wilder Schrei die Lüfte.

Noch einer.

Als wenn ein Mammut, dem von dem Stoßzahn des Nebenbuhlers der Leib aufgerissen wird, in Todesnot brüllt.

Im nächsten Augenblick sticht grelles Scheinwerferlicht mir ins Auge, und ein überweltliches Autoungetüm donnert vorbei. Gerade habe ich noch zur Seite springen können. Ich liebe Getümmel, Gelärm, Gefahr. Ich halte es mit Bismarcks Köchin, die, als ihr Herr aus der Stadt auf das Land übersiedelte, ihm gestand: "An allem kann ich mir gewöhnen, nur an dem Einsamen nich!" Also fühle ich mich sehr wohl, wenn ich umso weltverlorener und nachdenklicher und ruhiger, ganz instinktiv, durch die Verkehrsbrandung des Potsdamer Platzes steuere, je toller das mittägliche Getriebe ist, und nie war mir innerlich so jauchzend friedlich und gesammelt zumut als an jenem sonnigen Tage im Kriege, wo mich alten Knaben in mehr als viertausend Meter Höhe plötzlich fünf Nieuports auf einmal attackierten. Aber die vielen fremden Autos jetzt auf den Straßen von Berlin, das geht wirklich wider die Gemütlichkeit. Die Ausstellung und das Rennen hatten sie hergelockt. In sieben Meilen Umkreis war am vorletzten Sonnabend, Sonntag, Montag kein Schuppen und kein Hotelzimmer frei. Und die Ausländer in ihren Riesenwagen, die über die Alpen, über die Pyrenäen, ja über den Atlantischen Ozean gekommen sind, brauchen sich um die Polizeivorschriften der "Eingeborenen" dieses Landes und dieser Stadt Berlin nicht zu kümmern, sie rasen mit 80 Kilometer Geschwindigkeit den Kaiserdamm entlang, sie benutzen die hierzulande nur auf den Landstraßen erlaubten, den Wanderer völlig blendenden, vielhundertkerzigen Scheinwerfer, und statt des ruhig-tiefen Hupentons, der bei uns vorgeschrieben ist, haben sie dieses nervenzerreißende, tierische Krächzen oder Heulen oder Brüllen. Der großstädtische Gleichmut kommt ins Wanken. Alles springt entsetzt auf den Bürgersteig zurück.

Aber in der Tauentzien- und in der Leipziger und in anderen Kaufstraßen strahlten in diesen Tagen die Geschäftsleute. Wie ein Wall standen die Fremden an den Ladentischen. Ganze Lager wurden geräumt. Höchst nonchalant zogen die Herren Valutastarken ganze Packen von Tausendmarkscheinen lose aus der Brusttasche, wurden dann aber fast ungeduldig bei dem langen Hinzählen dieser "viel zu kleinen" Banknoten - denn 1000 Mark sind heute in amerikanischer Währung ja bloß noch 8 Dollar. Wenn die Dienerschaft der Fremden auf der Straßenbahn 15 Kilometer weit durch ganz Berlin fährt, so kostet das in ihrem Gelde 3 Pfennige. Ein fertiges Damenkostüm aus trefflichem Gabardine 52 Mark. "Aoh, uas kostet Deutschalnd?" Es ist um ein Lumpengeld zu haben, solange wir die berühmte Politik der Erfüllung treiben und dauernd fremde vollwertige Zahlungsmittel aufkaufen müssen, ganze Bevölkerungsschichten darob ins Elend versinken lassen. Nur wer etwas zu verkaufen hat, entweder Ware für Fremde oder Arbeit, letzten Endes auch für Fremde, der erlebt noch eine Spanne fieberhaften Aufschwungs.

Aber die anmaßenden Fremden sind schließlich doch still, ganz still. Draußen auf der Rennstrecke ist ihnen die große Offenbarung gekommen. Alles hat man uns genommen, Wehr und Waffen, Geld und Gut, und auch die eigene Ehre warf dieses phrasenbetrunkene, umeinandergedrehte deutsche Volk hinterdrein - nur eines blieb unverlierbar, der deutsche Kopf, die deutsche Intelligenz, die deutsche streng wissenschaftliche Arbeit in der Technik. In Rußland hat man die Intelligenz geköpft, und der Leib, die Masse Mensch (in Deutschland sagt man: das klassenbewußte Proletariat) stirbt ab und verhungert zu Millionen. Bei uns ist der Irrsinn noch nicht allgemein geworden. Zwar ist es heute schon schwer, in Berlin einen Sohn aus gutem Hause der oberen Stände an Schraubstock oder Hobelbank unterzubringen, weil die Masse Mensch sich wider das Eindringen der Gebildeten empört und es darob womöglich auf Arbeitseinstellung ankommen läßt. Aber wo Großes erreicht wird, beugt sich doch auch heute noch der vernünftige Arbeiter willig unter die überragende Intelligenz und modelliert kühne Kopfgedanken mit fleißiger Hand. Das Ergebnis auf der neu eröffneten Autostraße zwischen Berlin und Wannsee hat dafür den Erfolg gebracht. Das letzte große Straßenrennen dieses Jahres auf dem Kontinent, bei Le Mans in Frankreich, sah einen hundertpferdigen Amerikaner als Sieger, der eine Geschwindigkeit von 125  Kilometern erreichte. In Berlin sind unsere kleinen Achtpferdigen auf 130 Kilometer gekommen und die großen Rennwagen auf 180 Kilometer in der Stunde! Fast andächtig erleben die Fremden das Wunder, daß dieses zertretene deutsche Volk wieder wie ein Pfeil dahinschnellt, und schon am zweiten Tage der Automobilausstellung am Kaiserdamm konnte eines unserer größten Werke feststellen: "Die Erzeugung eines ganzen Jahres im voraus ausverkauft!" Für die Hunderttausende deutscher Zuschauer draußen bei den Rennen war dies alles freilich mehr Nervenreiz, Sport, Gesellschaft als Technik und Nationalökonomie. So etwas Ungeheures wie das donnernde Einherrasen der Maschinen, die mitunter, wenn eine winzige Unebenheit der Rennstraße in die Fahrt kam, Sprünge bis zu zehn Metern durch die freie Luft machten, konnte doch sensationelle Unfälle bringen. "Man rechnet mit 24 Toten!", sagte mir altklug und kaltschnäuzig am Tage davor das neunzehnjährige Geheimratstöchterchen. Auch der Verkehr der Hundertausende, auch das Daherbrausen, auf dem Wagenplatz Münden, nach Schluß wieder Auseinanderspritzen der annähernd 12 000 Autos mit Besuchern hat sich glatt und geräuschlos abgewickelt, dank den deutschen Köpfen in der militärischen Organisation der Auffahrt. An der Spitze der ganzen Schöpfung, an der Spitze der Aktiengesellschaft, die die Straße und das Rennen gemacht hat, steht ein ehemaliger Major unserer Luftwaffe. Und dem haben sie im November 1918 auch die Achselstücke abreißen wollen! Ein einziger Unfall ist in den beiden Tagen bekannt geworden. Das glühende lange Auspuffrohr eines Rennwagens an der einen Seite war lose geworden und schleuderte. Da packte es der Mitfahrer mit der Linken und hielt es fest. Vier rasende Stunden hindurch. Bis zum Zielband. Und dann erst ließ sich dieser deutsche Mucius Scävola den schwarzgebrannten Handteller verbinden.

Das große Publikum hat so etwas gar nicht bemerkt. Es hat mit sich selbst genug zu tun. Es mustert kritisch die Toiletten, die diesmal, dem Charakter der Veranstaltung entsprechend, viel Leder und viel Pelz aufweisen. Hochmütige oder neidische Blicke fliegen zwischen Rivalinnen hin und her, während die Männer höchst uninteressiert zwischen den Kostbarkeiten sitzen: in der Tat, nicht für die Männer, sondern - gegen die Frauen ziehen die Frauen sich an. Man sieht manche Extravagaz unter den weiblichen und auch unter den männlichen Besuchern der kilometerlangen Tribünen. Aber auch Typen von bekanntem Zuschnitt. Der wohlkonservierte Herr, der die emaillierten Klubabzeichen sämtlicher Rennvereine, denen er angehört, wie Orden auf den breiten Tragriemen seines Feldstechers gereiht hat. Die überelegante Dame, die einen sehr alleinstehenden Eindruck macht und im Telephonbuch als Schauspielerin verzeichnet, aber in keinem Theateralmanach zu finden ist. Dazu das sonstige Gewühl und Geschiebe. Kurz, auch gesellschaftlich eine "große Sache".

Am Abend des zweiten Renntages sind alle Amüsierstätten Berlins von Fremden und Einheimischen überfüllt. Auch das Tanzpalais im Lunapark. Sieh mal einer an, da ist ja auch das Geheimratstöchterchen aus Berlin W.! In wirklich feenhafter Aufmachung; dazu ein paar Freundinnen und ein paar junge, anscheinend gutsituierte Herren. Auch so gegen ein Uhr nachts ist noch keine Ballmutter oder Ehrendame oder Abholmamsell zu entdecken. Der Papa Geheimrat ist das Urbild eines korrekten alten Beamten. Erhebliches Vermögen hat er, schätze ich, auch nicht. Er selber kann seine Tochter unmöglich so als Paradiesvogel ausstatten. Sollte wirklich irgendein "Freund" dieses junge, blütenfrische Mädchen . . . nein, nein, nur das nicht; das Mädel bezahlt von selbstverdientem Gelde die Toiletten. Und wie man verdient, das erfahre ich jetzt. Da wiegt sich die Kleine, rhythmisch wackelnd und schiebend, mit ihrem Partner im Tanze, ist in angeregter Unterhaltung begriffen, die aber anscheinend kaum Koseworte enthält. Vielleicht eine volle Minute wackeln die beiden fast auf demselben Fleck, dicht vor meinem Standpunkt. Ich traue meinen Ohren nicht: sie sprechen über Becker-Stahl-Aktien, Petroleumhausse, gestriges Kabel Newyork, Memeler Sprit. Er ist trotz seiner noch nicht dreißig Jahre in hervorragender Stellung an einer Bank. Er gibt ihr Tips. Sie gibt sie ihrem Onkel. Der zahlt ihr Provision. Und das ist, so erfahre ich nachher von dem Geheimratstöchterchen, das demnächst heiraten will, aber nicht den jungen Bankkaufmann, eine ganz alltägliche Sache. Das ganze Betriebskapital besteht aus dem Gutangezogensein, dem Frohsinn und der Herkunft aus guter Familie.

"Sehen Sie, wir nehmen doch die Autofahrt hin und zurück und den Tanzabend nicht ohne richtige, aber ganz harmlose Gegenleistung. Die jungen Männer sind des schlechten Weibsvolks müde, sie möchten sich mit ebenso eleganten jungen Damen der wirklichen Gesellschaft amüsieren, und da ziehen wir uns eben an und lachen und scherzen und tollen. Mutti kann vollkommen unbesorgt sein, sie erzählt mir auch gar nicht mehr, daß ein anständiges Mädchen sich früher höchstens von einem alten verheirateten Herrn traktieren lassen durfte, und nebenbei erwerbe ich mir, da ich intelligent genug bin, meine Toiletten selbst. Selbstverständlich haben alle die jungen Herren unseres Kreises hier Besuch bei meinen Eltern gemacht, kommen auch gelegentlich zu einer Kaffeevisite oder nach dem Abendbrot zu uns. Auf die Tanzdiele des Lunaparks gehen wir nur, weil sie das beste und glatteste Parkett von ganz Berlin hat, und was sich hier an gemischter Gesellschaft herumtreibt, das sehen wir überhaupt nicht, wir sind mitten im Trubel ganz unter uns."

Und schon stürzt sie ihr Glas Champagner herunter und eilt leichtfüßig zum Tanze mit einem anderen der jungen Herren. Heiter ist das Leben, ernst ist die Kunst. Die Großmütter daheim staunen Bauklötze. Tatsächlich sind diese jungen Mädchen in medizinischem Sinne allesamt noch "unschuldig", haben auch nichts etwa von dem Typ Nixchen der Hans v. Kahlenberg, sondern genießen auf sozusagen völlig unanfechtbare Art ihr bißchen Jugend. Nur kalt sind diese Großstadtpflanzen des neuen Berlin. Kalt und wissend. Nie wird solch eine zarte hingebende Kinderwärme von ihnen ausströmen wie von unseren Müttern in deren Jugendzeit, die klopfenden Herzens dreimal im Jahre in demselben Mullkleidchen den Ball in der "Museumsgesellschaft", den "Bürgerball" und das "Hauskränzchen" mitmachten.
29. September 1921 (Donnerstag)


3

Gottfried Benn - Die neue Wild-West-Pantomime bei Reinhardt - Gasthausstreik - Aus Diegelmanns und Burgstallers Jugend - Der Weinfund im Reichspostministerium - Zentrumspoesie - Der Anthroposoph Steiner und Moltkes Memoiren

Wer als zartes Jungchen, noch mit Veilchenduft aus dem Taschentuch seiner Angebeteten in der Nase, zum Studium der Heilkunde in die Anatomie kommt, der muß sich abgebrühte Nerven zulegen. Sonst hält er es nicht aus. Er muß krampfhaft alles Gräßliche, das mit dem Handwerklichen des Berufes zusammenhängt, um sich und in sich durch erst recht wüste Redensarten übertäuben. Daher das bekannte und viel mißgedeutete Scherzwort: "Er war ein Mediziner und sie - war auch ein Schwein."

Solch ein Jungchen von holdem Gemüt und herzlicher Hilfsbereitschaft, das sich von dem Druck des Grausigen durch gespielte Kaltschnäuzigkeit befreien mußte, war der Gottfried Benn, der etliche Jahre vor dem Kriege die sogenannte Pepinière in Berlin, das militärärztliche Bildungsinstitut, besuchte. Ein begabter Jüngling, dem eine große Zukunft vorausgesagt wurde. Er wollte aus der Uniform heraus, wollte seiner Kapitulation mit dem Staate ledig sein, und da veröffentlichte er ein Bändchen Lieder - "Aus dem Leichenschauhause". Also man bekreuzigte sich prompt und ließ den Zyniker laufen. Inzwischen hat Dr. Benn sich längst als Spezialarzt in der Belle-Alliance-Straße in Berlin niedergelassen und denkt kaum mehr an seine vor zehn Jahren begangenen Keckheiten. Demnächst kommt aus seiner Feder im Verlag von Erich Reiß ein stattlicher Band Gesammeltes heraus, Gesammeltes in ursprünglichem und in übertragenem Sinn, auch ganz reife Sachen, Essays, Novellen, Dramatik; nur wenige Gedichte darunter. Aber es gibt noch Leute, die ihn aus seiner Sturm- und Drangperiode kennen. Das muß jetzt, gerade jetzt ausgeschlachtet werden. Hält da dieser Tage Else Lasker-Schüler, das vor Jahren so bräunlich-heiße Weib vom Berge Sinai,, das nun gern zum Blocksberg reitet, eine Vorlesung, und um den Hexensabbath vollzumachen, deklamiert nachher ein anderer, ohne daß man Gottfried Benn vorher einen Ton davon gesagt hat, Gedichte aus Gottfried Benns Morgue. Selbst die verkalktesten Holzböcke unter den Rezensenten schüttelten sich und und wagen es nicht, in ihrer Besprechung auch nur eine Zeile zu zitieren; nicht einmal die Harmlosigkeit von der kleinen lila Aster, die nach der Sektion des ertrunkenen Bierfahrers mit vernäht wird, um von den wirklichen Zynismen ganz zu schweigen. Auch ich werde mich hüten. Ich kann nur feststellen, daß selbst Aristide Bruant in Paris sein Lebtag ein Waisenknabe im Vergleiche zu Gottfried Benns ausgekochter Frechheit war, und ein ganz ungebildeter Waisenknabe dazu.

Ja, es ist ein Kreuz mit diesen Medizinern, wenn sie dichten. Am tollsten im Film. Da ist ein junger langaufgeschossener Unterarzt von den Stuttgarter Grenadieren, ein erstaunlicher Kerl, noch keine 21 Jahre alt, dem es zu Schinken und Kartoffelsalat, zu Tabak und halber Maß Wein nicht langt, wenn er sich nicht etwas dazu verdient. Also auf zum Film! Schon als Pennäler hat er seinen neuen Riesenmonumentalfilm begonnen: "Der Räuberkönig in der Tschecho-Slowakei." Freilich, Bewegung ist darin. Schmiß ist darin. Besonders die Räuberquadrille im 3. Akt, wo nicht weniger als ihrer 240, daß die Erde dröhnt, aus der Waldkluft links und rechts hervortrippeln, in zwei breiten Strömen in den Vordergrund eilen, sich da vereinigen, dann zurückfluten, auf neue Scharen stoßen, aneinander vorbeigleiten und doch die ganze Quadrille nicht in Unordnung bringen, das ist einfach großartig. Den Sturm auf das Grafenschloß im letzten Akt hätte der junge Filmdichter allerdings noch etwas besser herausarbeiten sollen, vielleicht hat auch die Materialteuerung die Filmgesellschaft davon abgehalten, den ganzen Kulissenzauber wirklich abbrennen zu lassen, wodurch eine phänomenale Wirkung sich hätte erzielen lassen; so rutscht nur im Vordergrunde der Überfallene ängstlich auf den Knien herum und bewegt blasse Lippen in einem verzerrten Gesicht - was er eigentlich sagt, das versteht man nicht, denn dafür ist es ja ein Film, aber der gänzlich routinelose Unterarzt von erst 21 Jahren hat gerade von dieser Szene merkwürdigerweise sich den erschütterndsten Eindruck versprochen, obwohl sie völlig verpufft.

Der junge Mann heißt Friedrich Schiller. Die Aufnahmen finden im Atelier (Großes Schauspielhaus oder Theater der Dreitausend genannt) des Reinhardt-Konzern statt. Dieser Schiller sollte lieber weiter seine Pferdekuren an typhuskranken Soldaten in Stuttgart machen. Zum Filmdramaturgen taugt er nicht. Nun behaupten zwar einige Besucher der großen Stalaktitenscheune Reinhardt-Holländers, es handle sich nur um ein verfilmtes Bühnendrama. Es hieße einfach "Die Räuber" und habe mit seinem heißen Atem schon unzählige Herzen entflammt, sei schon vor weit über hundert Jahren auf allen deutschen Theatern hinreißend gespielt worden, und die prasselnde Wortpracht und die aufwühlende Moralforderung seien an ihm das schönste. Das kann jeder sagen. Oben im 4. Ring der Dreitausend bestreitet man es jedenfalls. Ich selber kann mich an die Aufführungen im Königlichen Schauspielhause und anderswo sehr wohl erinnern, aber ich finde keine Ähnlichkeit zwischen jenem Drama und dem Wild-West-Spiel bei Reinhardt.

Manchmal scheint es, als werde überall in Berlin dazu geprobt. Hier und da gibt es einen Sturmangriff; zwar nicht auf ein Grafenschloß, aber auf irgendein Hotel, auf ein Weinrestaurant, auf Mampes "Gute Stube" oder sonst eine Stätte, an der Trank und Atzung gereicht wird. Die Angestellten des Gasthausgewerbes streiken. Daneben verhauen sie Streikbrecher und gelegentlich auch Gäste. Mir sind Köche und Kellner, Liftboys und Zimmermädchen - diese letzteren brauchen das kanonische Alter dabei nicht erst erreicht zu haben - eine außerordentlich sympathische Menschenklasse, denn erstens sind das im Durchschnitt die liebenswürdigsten und zuvorkommendsten Deutschen, die ich kenne, zweitens habe ich mit ihnen meist nur dann zu tun, wenn ich mich bei gefüllter Brieftasche in angenehmster Stimmung befinde, und drittens habe ich Verständnis für die besondere Tragik im Leben gerade unserer Ganymeds. Also da servieren sie ein Dutzendmal getrüffelte Gänseleber und kriegen selber nachher nur ein Stück Landleberwurst, in dem sich eigentlich nur gehackte Lunge befindet, oder sie beugen sich in Anmut und Selbstbeherrschung mit gut ausbalanciertem Tablett über den Ausschnitt einer mondänen Schönheit, die Herzlose beachtet sie aber überhaupt nicht, sondern lächelt nachher höchstens dem Chauffeur zu. Also ich gebe gern und freudigen Herzens Trinkgeld, selbst wenn es "abgeschafft" ist und meine Freunde mich charakterlos nennen; ich gebe es auch nicht protzig, sondern mit einer gewinnenden Höflichkeit, etwa so, wie einem lieben Besucher eine gute Zigarre. Ich muß immer an die müden Füße der armen Frackträger denken. Meist sind die Gasthausangestellten solide Leute, die auf die Selbständigkeit hin sparen und auf die treulich irgendein Mädchen wartet; bis sie die eigene Wirtschaft haben, laufen sie sicher eine Strecke ab, die dem Äquatorumfang der Erde entspricht. Ich fühle mich immer wie geborgen, wenn ich mit der imposanten Würde eines Hotelportiers in Berührung komme, der ein vielsprachiges und nie versagendes Auskunftsbuch ist. Vor Hausknechten lüfte ich immer zuerst den Hut.

Denn man kann nie wissen. Diegelmann, der Berliner komische Heldenvater, und Burgstaller, der Bayreuther große Tenor, trugen als junge Dachse auch die grüne Schürze und putzten Stiefel. Vor dem Kriege gab es in aller Herren Ländern deutsche Gastwirtschaften und auch in den fremden deutsche Kellner. Selbst wenn man den langen Weg bis zum weltverlorenen Tipperary in Irland zurückgelegt hatte, stieß man auf deutsche Bedienung, auch wenn sie sich durch kein deutsches Wort und kein Lippenzucken verriet, sondern die Schüssel nur beim Reichen so drehte, daß der Deutsche das beste Fleischstück bekam. Dann, bei der Mobilmachung, gaben alle diese jungen Leute Stellung und Erspartes gern her, um nur irgendwie zu den deutschen Fahnen eilen zu können.

Also, wenn mein Verstand mir auch sagt, daß die Prinzipale vielleicht recht haben: mein Herz ist im Gasthausstreik bei den Angestellten, und da will ich weiter nicht Partei ergreifen. Mögen die beiden es unter sich ausmachen. Bezahlen muß doch, wie es auch komme, das Publikum, und ich glaube weder der einen noch der anderen Partei, daß sie nur für das Publikum kämpfe. Die Meldung, daß eine Massenflucht aus Berlin eingesetzt habe, ist jedenfalls ebenso falsch wie die, daß nun die Feinkostgeschäfte überlaufen würden, weil jeder Junggeselle selber sich ein kaltes Mahl bereite. Die erste Behauptung habe ich in dem größten Hotel Berlins nachgeprüft, im Exzelsior am Anhalter Bahnhof. An den Fenstern des Erdgeschosses und des geschlossenen Cafés kleben zwar die roten Zettel der Streikleitung, und vor dem Portal stehen in finsterer Entschlossenheit vier Streikposten. Aber das Haus ist voll, und gestern haben sich 130 neue Gäste angemeldet, während von den alten nur die abgefahren sind, die es sowieso mußten. Man behilft sich. Man sucht sich im Vestibül selber seine Post heraus, man macht sich selber das Bett, man gießt selber das Geschirr aus. Die großen Restaurants sind geschlossen, aber man wandert eben in die kleinen ab, in denen die Familie bedient. Der junge Architekt, der am vorigen Sonntag bei uns zum Abendessen war und um die Erlaubnis bat, gestern abend unserer aus dem Auslande zu Besuch gekommenen Nichte das Haus Kempinski zeigen zu dürfen, ist mit ihr statt dessen in eine Berliner Weißbierstube gegangen, in der Mutter Lehmann tüchtige Rumpsteaks brät und Vater Lehmann das nötige Getränk dazu kredenzt. Also jedenfalls wird Berlin den Streik überstehen. Den inzwischen entgangenen Gewinn beider Parteien und die hier und da zerschlagenen Fensterscheiben werden wir nachher schon irgendwie auf die Rechnung bekommen

Gelegentlich hat mnan die guten Gaben Gottes auch sozusagen umsonst, besonders wenn man zu den regierenden Parteien gehört. Es ist schon eine Weile her, nämlich vor den Parlamentsferien, daß sich plötzlich, wie es in der eigens angefertigten Ulkzeitung heißt, ein "verstecktes Depot von gutem Weine" im Postministerium fand. Es erquickte die Zentrumsfraktion, die alsbald zu fröhlichem Umtrunk vom Kollegen Postminister Giesberts eingeladen worden war. Erst mach' dein Sach', dann trink' und lach' - nach dieser Parole ist es dann auch hoch hergegangen. In der Festzeitung, die mir von befreundeter Seite zugeschickt worden ist, kommt es herzerfrischend zum Ausdruck, daß Politik den Humor nicht verdirbt. In einem langen Gedicht veralbern sich die Herren gegenseitig; kein einziger der Abgeordneten entgeht der vergnügten Persiflage. Man war unter sich. Es war Herrenabend. Man schonte weder Kanzel noch Erzpriester, weder Professor noch Bibliothekar, und selbst ein so unauffälliger Mensch wie der Abgeordnete Lange-Hegermann mußte sich wie folgt angeprangert sehen:

Hegermann, der Mittelständler,
Ein gewandter Kuxenhändler,
Einstens Commis voyageur,
Ist er heute Millionär,
Trägt in dem Wappen eine Scher'.
Weltgewandt, galant, gerissen,
Hat er gar manchen schon be-lehrt,
Daß man nur erreichet Großes,
Wenn man kennt die Bücher Moses.

Also es muß ungemein lustig bei diesem Umtrunk zugegangen sein, und daß die ernsten Politiker in der ernsten Zeit auch noch so viel für die deutsche Poesie übrighaben, verdient besondere Anerkennung. Literaturhistorikern stelle ich gern die weiteren Verse zur Verfügung. Auch in dem Reichstagsalmanach würden sie sich als Ergänzung der autobiographischen Notizen aller der Herren nicht übel machen. Jedenfalls können die Wähler und auch die Familienangehörigen der Abgeordneten aus der Ulkzeitung entnehmen, daß es sich in Berlin immerhin ganz gut leben läßt, solange es noch "herrenlose" Weindepots gibt.

Im übrigen ist diese Metropole gerade um ihrer Politik willen so unerfreulich wie nur möglich, und wenn gar berufsmäßige Weisheitslehrer sich in sie mischen, dann überkommt mich ein leichtes Grausen. Es ist zurzeit sehr modisch und sehr ungefährlich, nach dem stillen Mann in Haus Doorn mit Steinen zu werfen. Tut dies ein Zyklop wie Bismarck aus dem Grabe heraus mit Felsblöcken, nun gut; obwohl ich nicht glaube, daß es den Riesen freuen würde, just deshalb heute von allen Rötlichen und Roten auf die Schultern gehoben zu werden. Nun kommt aber ein Männlein wie der "Anthroposoph" Rudolf Steiner, läßt sich von einem Pariser Blatte ausfragen und gibt ihm Enthüllungen über den Kaiser. Der habe alles, was Moltke gut gemacht habe, schlecht gemacht, habe ihn zuletzt "in Unterhose und Schlafrock" empfangen und dem Kriegsunheil zu spät und unsicher seinen Lauf gelassen. An dieser Äußerlichkeit kommt der ganze Mordsschwindel zutage. In der geamten Königlichen Kleiderkammer hat sich nie ein Schlafrock gefunden. Ein solches Kleidungsstück kannte Wilhelm II. ebensowenig als etwa einen bequemen Schreibsessel: vor seinem Arbeitstisch im Neuen Palais saß er immer - im Sattel, die Füße im Bügel, um sich durch keine Lehne zu verweichlichen. Steiner will alles aus den Memoiren seines "Freundes" Moltke haben, die dieser kurz vor seinem Tode ihm übergeben habe. Das mag eine Warnung für Steiners noch lebende Freunde sein, zu denen meines Wissens auch unser ehemaliger Außenminister Simons gehört. Es ist nicht angenehm sich vorzustellen, daß man noch nach seinem Tode so blamiert werden kann. Moltke war schon Ende September 1914 körperlich und geistig völlig zusammengebrochen. Am 5. Oktober kam ich von der Antwerpenfront auf einige Stunden hinüber nach Brüssel, wo ich den General im Hotel Astoria traf. Er erkannte mich trotz der Uniform, obwohl er mich früher nur in Zivil gesehen hatte, zog mich ins Gespräch, plauderte fahrig und nervös, und ich hatte den erschütternden Eindruck eines zerfallenden Menschen. Er wurde heimgeschickt und starb. Nun ist er als Steiners Schwurzeuge eine Sensation für den Matin geworden. Von der berühmten "Dreigliederung" dieses Berliner Anthroposophen weiß ich so viel, daß alle diejenigen meiner Bekannten, die leicht überfahren sind, sich dafür begeistern, und Steiner selbst hat auf mich, als ich vor Jahren einmal einen Vortrag von ihm hörte, durchaus den Eindruck eines etwas beschränkten und etwas verhungerten Menschen gemacht, der inzwischen freilich sehr "gesund" geworden ist. Von dieser Sorte gibt es viele in Berlin. Und sie lassen sich alle von den Matin-Leuten interviewen.
6. Oktober 1921. (Donnerstag)



Jahresinhalt

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Glossen 4 - 6

© Karlheinz Everts