Militärische Radler.

Humoreske aus dem Militärleben.
Von Freiherrn. v. Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 1.Sep. 1900,
in: „Haagsche courant” vom 25.11.1901
(unter dem Titel „Twee militaire schetsen - Militaire wielrijders”) und
in: „Der grobe Untergebene”.


Es ist große Garnisonübung.

Der commandirende General hat die zahlreichen Truppen, die mit ihm zusammen die Stadt bevölkern, für einundzwanzig Stunden mobil gemacht, er hat die Herren Officiere von ihren Sprungfeder­matratzen, die Unterofficiere und Mannschaften von ihren Strohsäcken, in denen zuweilen sehr wenig Stroh enthalten ist, aufgescheucht und ist mit ihnen in das Gelände gerückt.

Nur die Wenigsten wissen es(1) ihm Dank. Es ist ja nun einmal eine schlechte Angewohnheit der Untergebenen, daß sie für das Gute, das die Vorgesetzten ihnen erweisen, wenig oder gar kein Verständniß haben.

So wird denn auch während des Marsches ganz niederträchtig räsonnirt, man hört sogar Ausdrücke wie „ahnungsloser Böotier”.

Sollten diese Worte sich etwa auf Excellenz beziehen, der an der Spitze seiner Truppen mit einem Gesicht reitet, das da ganz deutlich sagt: „Suprema lex generalis voluntas?”

(Ich bitte für dieses schlechte Latein um Verzeihung. Daß der General lateinisch nicht general und daß „des Generals” nicht generalis heißt, ist mir wohl bewußt, aber in den Mienen Sr. Excellenz ist das Wort so zu lesen, wie ich es niederschrieb, und Excellenz braucht es nicht besser zu wissen, denn er hat seine lateinischen Kenntnisse „im Corps” erworben.)

Wagt man es wirklich, so über Excellenz zu sprechen? Oder sollten die Untergebenen in richtiger Erkenntniß sich selbst meinen, wenn sie von „ahnungslosen Böotiern” sprechen?

Im Interesse der Disciplin und der Subordination wollen wir es hoffen, — denn diese beiden Tugenden snd für das Militär, was für die Erde des Himmels Blau, was für die Blumen des Aethers Thau, was für die Menschen die Liebe(2).

„Ach ja, die Liebe,” sagte einmal ein Leutnant, „schön ist sie ja, sehr schön, nur schade, daß sie so viel Geld kostet.”

Sie Alle, die da die Straße entlang ziehen, fluchen: die Infanterie und die Cavallerie, die Artillerie und die Poniere, sie Alle sind sehr unzufrieden.

Aber unter den vielen schwarzen Raben mit der unpraktischen blitzenden Uniform, die ihnen Allen nach Ansicht der Sachverständigen für den Ernstfall einen sicheren Tod garantirt, befinden sich auch einige weiße Raben, die nicht mitkrähen.

Und diese edlen Jünglinge bilden das Radfahrer­detachement, das Excellenz für den heutigen Tag zusammengestellt hat, um seine Verwendbarkeit für den Kriegsfall zu erproben.

Daß die Radfahrer in geschlossenen Abtheilungen nichts leisten, weiß beim Militär Jeder — aber es könnte doch einmal sein, daß sie sich als brauchbar erwiesen, und hierauf hofft Excellenz.

Er hat seinem Radlercorps einen Specialauftrag gegeben, der Cavallerie weit voraus sollen sie aufklären und einen Flußübergang für das nachfolgende Detachement offen halten. Den Oberbefehl über die Radler hat er einem Oberleutnant übertragen, der nicht nur Zweirad, sondern, wenn er in einer Droschke sitzt, auch Vierrad fährt, der wird die Sache schon machen.

Dem Oberleutnant sind einige Leutnants, einige Unterofficiere und ungefähr hundert Radfahrer unterstellt und begleitet von dem Segenswunsch „All Heil”(3) und „Gut Luft” saust das Detachement davon. Die Parole lautet: „Zwanzig Kilometer in der Stunde”, aber bald zeigt sich die Unmöglichkeit, dieses Tempo innezuhalten — ein Theil der Fahrer ist zu wenig geschult, ein anderer Theil hat zu schlechte Räder, der eine fährt Brennabor, der andere Naumann & Seidel(4), der dritte, vierte, fünfte strampelt auf einem Dienstrad herum, der sechste fährt mit Vollreifen, der siebente mit einem geplatzten Luftreifen, und schon nach kurzer Zeit hat sich das Detachement ganz jämmerlich in die Länge gezogen.

Der Herr Ober muß seine Unterthanen sammeln, und unterdeß trabt die Cavallerie hohnlachend an ihnen vorbei.

„Wer zuletzt lacht, lacht am besten,” denkt der Ober, dann commandirt er „Aufgesessen” und bald hat er die Cavallerie wieder überholt. Aber nicht lange bleibt er an der Tête; ein scharfer Gegenwind kommt auf, das Tempo wird langsamer und wieder ist die Cavallerie vorn.

„Ewig können eure alten Gäule auch nicht traben,” tröstet sich der Ober, „einmal muß euer Friedrich Wilhelm auch Schritt gehen.” Und er behält Recht, und wieder gelingt es ihm, nach vorn zu kommen.

Und so bleibt es; bald ist der Eine an der Tête, bald der Andere, meistens aber hat die Cavallerie das Prä.

Da faßt der Herr Ober einen genialen Entschluß: er ist der höhnenden Zurufe der Reiter müde, er biegt mit seinem Detachement, so weit es nicht schon irgendwo im Graben liegt, in einen Nebenweg ein, und der Erfolg ist ein überraschender: nach einer kleinen Stunde sieht er sich einem unpassirbaren Gelände gegenüber — weiter geht's nicht mehr.

Was nun? Umkehren und dem Commandirenden gerade zwischen die Pferdebeine radeln? Unmöglich. Rath- und hülflos blickt er sich um, er ruft seine Leutnants zu sich und berathschlagt mit ihnen, was zu thun sei.

„Können wir nicht frühstücken?” meint ein junger Dachs, „ich glaube, wir haben Alle einen mordsmäßigen Hunger, vielleicht wird der Weg inzwischen fahrbar.”

Sehr wahrscheinlich klingt das dem Herrn Ober nicht, aber mit dem Hunger hat der Jüngere Recht, auch sein Magen hängt schief, und er würde sich sehr gern das halbe Küken, das säuberlich in Papier gewickelt an der Lenkstange befestigt ist, zu Gemüthe führen, aber er muß den Befehl zum Frühstücken doch irgendwie dienstlich begründen können.

„Hier ganz in der Nähe ist ein Bahnwärterhaus,” fängt der junge Leutnant wieder an, „sicher hat der dort wohnende Beamte Bier, das er uns überläßt.”

Die Lust zum Frühstücken wird bei allen Zuhörern immer größer, aber noch zaudert der Herr Oberst(5); mit dem Fernglas sucht er das Gelände ab, vielleicht, daß sich noch ein anderer Ausweg findet.

Plötzlich stößt er einen leisen Freudenschrei aus — in weiter Ferne taucht ein einsamer feindlicher Reiter auf, aber wo einer ist, können auch noch mehr sein. So ruft er denn einen gewandten Gefreiten herbei: „Fahren Sie zurück zu Sr. Excellenz und melden Sie, die feindliche Cavallerie mache mir augenblicklich ein weiteres Vordringen unmöglich — sobald es ginge, führe ich weiter. Vorläufig bliebe ich bei dem Bahnwärter­häuschen.”

Der Gefreite radelt von dannen, und ein wenig später sitzt das ganze übrige Radfahrer–Detachement vor dem Bahnwärter­häuschen — die Hoffnungen sind in Erfüllung gegangen, der Beamte hat nicht nur Bier, sondern sogar sehr viel Bier. Eigentlich wollte er Alles allein austrinken, aber als ihm schließlich für die Flasche, die er selbst mit acht Pfennigen bezahlte, drei gute Silbergroschen geboten werden, ist er kein Unmensch und gibt von seinem Ueberfluß ab.

Das Detachement ist vom Feinde umringt, und es bleibt umzingelt, bis Hunger und Durst gestillt sind — dann macht es sich wieder auf die Beine und schiebt und trägt die Räder, bis man wieder auf einen fahrbaren Weg kommt.

Wenig später ertönt das Signal Halt! Die Uebung ist zu Ende, und bei der Kritik spricht Excellenz sich des Längeren und Breiteren über die Leistungen seiner Radfahrer aus — sie haben wieder versagt.

Excellenz ist darüber aber keineswegs entsetzt, im Gegentheil, er freut sich, er ist glücklich, von neuem die nur den wenigsten Menschen unbekannte Thatsache constatirt zu haben, daß die Leistungen der Radfahrer von der Beschaffenheit ihrer Räder und der Fahrbarkeit der Wege abhängig sind.

Excellenz nimmt sich vor, darüber demnächst einen ebenso interessanten wie geistreichen Artikel für das „Militärwochenblatt” zu schreiben. Die Zahl der federgewandten Officiere ist nicht groß, es soll sogar etliche geben, die nicht einmal wissen, wann man das Wortv „das” mit einem s, wann mit einem ß schreibt — vielleicht erregt sein Aufsatz Aufsehen, vielleicht wird ihm ein Orden dafür zu theil, vielleicht beauftragt man ihn mit der Neubearbeitung von veralteten und unmilitärischen Operntexten, wer kann Das wissen.

Auf jeden Fall ist er aber mit dem Führer des Radfahrer–Detachements sehr zufrieden, und er spricht ihm für seine Leistungen seine Anerkennung aus.

Aber es gibt nicht nur radelnde Untergebene, die zwar zuweilen unnütz, aber doch harmlos sind, es gibt leider Gottes auch radelnde Vorgesetzte — die Leute radeln, ohne ein Rad zu besitzen, und sie sind traurigerweise niemals harmlos — im Gegentheil, sie sind ganz niederträchtige Canarienvöge und sie verdienten in den großen militärischen Wurstkessel hinein zu wandern, der für Gerechte und Ungerechte bereit steht.

Leider wird auf Erden nicht Jeder nach Gebühr behandelt.

Der Herr Major hielt auf höheren Befehl mit seinem Bataillon auf dem Casernenhof große Lumpenparade ab. Die verschiedenen Garnituren werden vorgezeigt und auf ihre Stempelung und auf ihre Beschaffenheit untersucht.

Der Herr Bataillons­commandeur ist dafür bekannt, daß er seine fehlenden Kenntnisse durch eine maßlose Derbheit ersetzt. Jeden, der auch nur den Versuch macht, ihm zu widersprechen, der es wagt, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß er sich im Unrecht befindet, daß er sich irrt, den fährt er an, daß dem Betreffenden die Augen für die nächsten zweiundsiebzig Stunden übergehen. Er schilt nicht nur, sondern er schimpft, tobt und schreit, er behandelt die ihm unterstellten Officiere wie Schulbuben und ist nicht nur grob, sondern sogar höhnisch, sarkastisch.

Auch jetzt hat er sich einen Hauptmann angebunden, noch dazu einen, den er auf den Tod nicht leiden kann, denn der Häuptling hat im Casino in der Sectstimmung einmal geäußert, wenn er nicht verheiratet wäre und an Weib und Kind denken müßte, hätte er dem Major schon lange . . . und so weiter. Das hat der Vorgesetzte dem Untergebenen persönlich übel genommen, und er ist glücklich, wenn er seinem Unterthanen den Standpunct klar machen kann. Auch jetzt strahlt er; in einem Rock vierter Garnitur befindet sich auf dem rothen Aermelaufschlag ein Fettfleck.

Woher kommt der Fleck? Wie ist er entstanden? Wie lange ist er schon da? Warum ist er da? Warum ist er nicht mit Fleckwasser beseitigt? Warum sind die Aufschläge nicht ausgewaschen? Wußte der Herr Hauptmann, daß der Fleck da war, und wenn er es wußte, woher nimmt er dann den Muth, einen solchen Rock dem Herrn Major vorzustellen, und wenn er es nicht wußte, warum wußte er es nicht? Warum kümmerte er sich nicht um seine Sachen, warum hielt er sich nicht mehr in der Caserne und auf der Kammer auf, warum vernachlässigte er seinen Dienst?

Dem armen Häuptling wird schwarz vor den Augen, so etwas von einem Anpfiff ist ihm denn doch in seinem Leben noch nicht vorgekommen; er fühlt, wie er vor Empörung blaß wird. Der Vorgesetzte sieht dies auch, aber es kümmert ihn nicht: „I wo,” denkt er, „ich will ihn schon wieder roth bekommen,” und er tobt weiter, vor versammelter Mannschaft kanzelt er den Hauptmann herunter, daß selbst die Leute denken: „Gott sei Dank, daß ich kein Häuptling bin.”

Da ertönt plötzlich eine Stimme: „Der Herr Oberst kommt.”

„Wo? Wo?”

Erschrocken dreht der Herr Major sich um, läßt dann stillstehen und eilt auf den Commandeur zu. Schon während des Gehens wird er immer kleiner, er senkt den Kopf, und als der Oberst mit ihm spricht, beugt er sichtbar den Rücken.

Aber kaum ist der Herr Oberst verschwunden, da richtet der Major sich in seiner ganzen Größe wieder auf. Nun ist er wieder Herr der Situation, nun hat er nur Untergebene vor sich, die sich zwar nicht alles, aber doch eine ganz gehörige Dosis von ihm gefallen lassen müssen.

Denn manche militärischen Radler in den höheren Chargen machen es genau so wie die wirklichen Radler: nach oben machen sie sich krumm, nach unten aber treten sie mit Füßen.


Fußnote:

(1) In der Buchfassung heißt es hier: „wissen ihm Dank”. (zurück)

(2) Siehe auch: „Das Gelände” in: „Ein Adjutantenritt”. (zurück)

(3) „All Heil” war das Motto der deutschen Radfahr-Bewegung.
Siehe dazu auch den Brief von Schlicht-Baudissin an Geheimrat Kürschner vom 24.3.1897 und die Erzählung „Des Herrn Gefreiten alte Postkutsche”. (zurück)

(4) „Seidel &: Naumann”, Dresden-Friedrichstadt, Hersteller von Schreib- und Rechenmaschinen und Fahrrädern (der Marke „Germania”). (zurück)

(5) In der Buchfassung heißt es hier: „der Herr Ober”. (zurück)


„Haagsche courant” vom 25.11.1901:


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