Das Gelände

Von Freiherr von Schlicht

in: „Kieler Zeitung” vom 14.11.1897,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 20.11.1897,
in: „General-Anzeiger für Bonn und Umgegend” vom 28.1.1898,
in: „Lippische Tages-Zeitung” vom 19.2.1898,
in: „Ein Adjutantenritt.” und
in: „Der Gefechtsesel.”

„Was für die Erde des Himmels Blau,
„Was für die Blumen des Himmels Tau,
„Das ist für die Menschen – die Liebe.”

Das stimmt – aber es stimmt doch nicht.

Stimmen tut die Wahrheit dieses schönen Verses, den ich leider nicht gedichtet habe, weil er schon gedichtet war, als ich geboren wurde, nur dann, wenn der Mensch poetisch veranlagt ist – für prosaische Leute stimmt er nicht.

Und wo auf der Welt gibt es prosaischere, wenn auch nicht gerade nüchternere Naturen, als in den Kasernen, wo so viel Soldaten schlummern, wo der Posten schildern tut. Es gibt keinen Soldaten, der keine Liebe hat, und wegen der Liebe tut der Posten schildern, damit keiner auf verbotenen Wegen die Kaserne verläßt und zu der Auserwählten seines Herzens kriecht – eine Liebe hat jeder, mancher deren sogar mehrere: eine für Wochentags, eine für Sonntags und eine für die hohen Fest- und Feiertage, eine Liebe hat jeder, aber verliebt ist keiner. I, wo wird sich der Soldat denn mit so etwas aufhalten, dazu hat er gar keine Zeit. Er geht mit ihr, und sie geht mit ihm, und wenn sie weit genug gegangen sind, dann sagen sie sich Adieu und suchen sich jemand anders, der sie auf ihren Spaziergängen begleitet.

Ohne Liebe kann der Soldat ganz gut leben, wenn auch nicht ohne Liebste – was für die Erde des Himmels Blau, was für die Blumen des Himmels Tau, das ist für den Soldaten: Kommißbrot, dicke Erbsen mit Speck und das Gelände.

Nicht nur die Kirche, sondern auch der Soldat hat einen guten Magen und kann verschiedenes vertragen. Ich erinnere mich aus meiner Dienstzeit, daß bei einer Besichtigung ein Rekrut von dem General gefragt wurde: „Nun, mein Sohn, essen Sie denn auch ordentlich? Schmeckts beim Kommiß? Haben Sie guten Appetit?”

„Zu Befehl, Herr General.”

„Nun, wie lange kommen Sie denn mit Ihrem Kommißbrot aus?”

„Einen halben Tag, Herr General.”

Allgemeines Entsetzen, und dann kam es an das Tageslicht, daß der Rekrut sich jeden Tag von seinem eignen Gelde zwei Kommißbrote zukaufte und verzehrte, so daß der Mann jeden Tag drei, sage und schreibe drei Kommißbrote, jedes zu vier Pfund, aß.(1) Das ist keine Übertreibung, sondern eine Tatsache, die ich zu beschwören bereit bin.

Außerdem aß der Jüngling noch eine Waschschüssel voll Erbsen mit Speck.

Und der Mensch ist nicht einmal tot geblieben.

Ganz soviel wie beschriebener Kommißbrotmann essen ja nun nicht alle, und die Steuerzahler können darüber nur hocherfreut sein. Viel aber essen sie alle, und wer viel ißt, muß sich auch viel Bewegung machen, damit er immer eine schlanke Taille behält.

Und diese Bewegung, deren der Soldat so notwendig gebraucht, findet er im Gelände.

Ich bitte um Erlaubnis, einen Augenblick die Feder aus der Hand legen zu dürfen, ich möchte mir gerne meinen Zylinder holen, mir denselben aufsetzen und ihn voller Hochachtung vor dem Wort „Gelände” abnehmen.

Ich habe es getan, zugleich aber auch einen heimlichen, aber tiefen Schluck aus der Kognakflasche genommen, denn mir wurde schwach bei dem Gedanken an die im Gelände verlebten „frohen” Stunden.

Ach ja.

(Seufzer eines Erlösten – ist noch nicht komponiert.)

Unter „Gelände” versteht der Soldat, was der Zivilist unter „Natur” versteht – nur daß die schönste Natur das schlechteste Gelände und das beste Gelände die häßlichste Natur ist.

Ich hoffe, mich so klar ausgedrückt zu haben, daß jeder mich verstanden hat. Sollte dies wider Erwarten nicht der Fall sein, so bitte ich, sich freundlichst zu melden – ich bin dann gern bereit, die obige Erklärung nochmals zu wiederholen.

Das Gelände bei jeder Garnison bleibt sich stets vollständig gleich – die Wiese bleibt immer dieselbe, einerlei ob es schönes oder schlechtes Wetter ist, ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter, einerlei, ob eine Kuh oder mehrere Kühe auf ihr weiden, einerlei ob diese Wiederkäuer von einem jungen Jungen oder von einer alten Alten behütet und bewacht werden.

Und wie es der Wiese geht, so geht es dem Wald, den Wegen, den Brücken, den Wasserflächen und all den andern Dingen, die das Gelände bilden. Sie sind streng konservativ, sie kümmern sich nicht um das, was in der Welt vorgeht, und wenn dem Gelände das Treiben der Welt einmal gar zu bunt wird, dann schüttelt es die auf seinem Kopfe stehende Eiche und schickt seinen Boten, den kleinen Waldbach aus. Der läuft denn hurtig von einem zum andern, von der Wiese zum Wald, vom Wald bis zur Eisenbahnbrücke, und überall wo er hinkommt, sagt er: „Ich soll euch vielmals grüßen und wir blieben(2) die Alten.”

Das ist zum Verzagen – besonders für die Truppen, die in dem Gelände Übungen abhalten müssen, und der Herr Oberst hat viele schlaflose Nächte, um eine neue Idee auszudenken, und er bittet und fleht, daß doch endlich einmal ein Erdbeben kommen möge, auf daß das Gelände etwas durcheinandergewürfelt würde, damit die Wiese dahin käme, wo jetzt der Wald ist, damit der Bach sich umdrehte und in der entgegengesetzten Richtung flösse, damit die Eiche, die die Übersicht behindert, endlich einmal zwanzig Meter mehr nach rechts käme.

Aber kein Erdbeben kommt, und alles bleibt wie es ist.

Ich hatte einmal Besuch von einem lieben(3) Verwandten. Nachdem wir uns mittags an Speise und Trank gesättigt, ließ ich mir meinen Schimmel-Viererzug, den ich mir als armer homo scribens nicht halten kann, anspannen, bestellte mir eine Mietsdroschke und fuhr mit meinem Gast in die Umgegend. Ich zeigte ihm alle Herrlichkeiten der Welt, und als wir genug gesehen hatten, fuhren wir auf der Chaussee dem heimatlichen Herde wieder entgegen. Als wir an dem Wegweiser vorbeikamen, der mit seinem rechten Arm (es kann aber auch der linke sein, denn er hat nur einen) in ein Loch der Natur zeigt, wandte ich mich mehrmals um, und unwillkürlich sprach ich: „Das ist doch sonderbar.”

„Was hast du denn nur?” fragte mich mein Begleiter. „Nichts, nichts,” gab ich zurück „ach, Kutscher, machen Sie doch noch einmal Kehrt, versuchen Sie, dabei nicht umzuwerfen, und fahren Sie bis zum Wegweiser, dort halten Sie.”

Es geschah, und ich entstieg dem Vehikel, mein Begleiter folgte mir.

Ich ließ meine Blicke neugierig und verwundert umherschweifen, dann fragte ich: „Sieh dir diesen Fleck Erde einmal ganz genau an, fällt dir gar nichts an ihm auf?”

Er streckte seinen Kopf weit vor und sagte dann nach einer kleinen Pause: „Ich sehe nichts, doch wittere ich etwas, wenn auch gerade keine Morgenluft.”

„Dein Geruchsinn gereicht dir zur Ehre,” gab ich zur Antwort, „du witterst es, hier haben Soldaten gestanden. Du hast recht, mich wundert nur, daß hier augenblicklich keine stehen, denn dies ist der ständige Platz für die Feldwache Nr. 2.”

„Feldwache Nr. 2?” fragte er erstaunt.

„Jawohl,” erwiderte ich, „Feldwache Nr. 1 steht dort,” und ich zeigte ihm den Punkt, „und die Feldwache Nr. 3 steht dort halblinks auf der Anhöhe – jawohl, ganz richtig, auf der dort. Und wenn ich nun spazieren fahre, wie heute, und sehe die Wachen und Posten nicht auf ihrem Platz, dann fehlt mir etwas, mir ist dann so, als wenn die Natur, als wenn die Szenerie nicht stimmt. Mir ist dann zumut, wie einem Regisseur, der vor dem Aufgehen des Vorhangs noch einmal die Bühne überblickt und dann ruft: ,Herr Gott, dort in der Ecke fehlt ja noch eine Statue!'”

„Du bist verrückt,” gab er mir zur Antwort.

„Mag sein,” entgegnete ich, „da du aber nicht Soldat warst, hättest du etwas milder über meinen Geisteszustand urteilen können.”

Bei dem nächsten Wirtshaus tranken wir einen Versöhnungsschluck und fuhren dann heimwärts.

Schlimmer noch als diejenigen Garnisonen, die stets dasselbe Gelände haben, sind diejenigen daran, die gar keins haben. Auch solche himmlischen Orte gibt es im Deutschen Reich, wie es überhaupt Garnisonen gibt, in denen ich nicht begraben sein möchte.

Gelände haben muß aber der Soldat – blanke Felder genügen zum Exerzieren, aber nicht zum Fechten – hat man kein Gelände, so muß man eben welches schaffen. Das ist viel einfacher, als es aussieht; es werden keine Waldungen angepflanzt, keine Berge aufgeworfen, keine Kanäle angebohrt und keine Wasserläufe hergestellt, es werden keine Eisenbahnlinien aufgeschüttet und keine Brücken gebaut – so etwas gibt es nicht, dazu fehlt es an Zeit und an Ping-Ping, alias Moneten genannt. Man macht die Sache viel einfacher; das Gelände wird einfach „markiert”.

Eine geraume Zeit vor dem Bataillon oder dem Regiment marschieren die Flaggenträger ab, und diese werden dann vom Adjutanten nach näherer Anweisung des Leitenden irgendwo „aufgebaut”.

Natürlich muß der Leitende seinen Unterfeldherrn dann vor Beginn des Gefechtes Bescheid sagen: „Meine Herren, ich nehme an, daß wir eine schmale, über einen unpassierbaren Bach führende Brücke zu überschreiten haben, – die Brücke ist durch zwei weiße Flaggen markiert. Jenseits des Wassers sehen Sie zwei gelbe Flaggen, das ist ein Wald, und die roten Flaggen dort halblinks ist eine Anhöhe, die Deckung gegen Sicht bildet, die weißen Flaggen dort bedeuten nasse Wiesen, die für uns nicht gangbar sind, dort ganz hinten sehen Sie noch eine gelbe Flagge, das ist der Kirchturm des Dorfes, das wir erreichen sollen. Und nun los, meine Herren, die Gefechtsidee ist Ihnen ja allen bekannt. Bitte, geben Sie Ihre Befehle aus.”

Natürlich kommen bei solchen Gefechten die unglaublichsten Sachen vor. Keiner weiß schließlich mehr, was die einzelnen Flaggen bedeuten, und weiß er es, so kümmert er sich doch nur so viel um dieselben, wie es ihm gerade paßt.

Ein Vorwurf kann ihn so leicht bei der Kritik nicht treffen, da er immer die Ausrede hat: „Ich bitte sehr um Verzeihung, ich habe die Sache verwechselt, ich glaubte, die rote Flagge wäre die Spitze des Kirchturms und die eine gelbe Flagge die Anhöhe.”

Dagegen ist der Leitende machtlos, er kann weiter nichts tun, als seine Herren bitten, das nächste Mal etwas besser aufzupassen und zu fragen, wenn ihnen die Situation nicht klar ist.

Zur Zeit des großen Shakespeare gab es bekanntlich noch keine Bühnendekorationen und ein Zettel, mit der Aufschrift: „Dies stellt einen Garten vor” mußte genügen, um die Zuschauer glauben zu machen, vor sich hätten sie einen Park, in dem die Liebespaare nach den Klängen der Nachtigall lustwandelten.

Ähnlich verfährt man auch beim Militär, auch da bekommen die Flaggenträger zuweilen Schilder umgehängt, auf denen zu lesen ist, was die Leute vorstellen.

Manchmal baut man solche Zettel tragende Jünglinge aber auch im wirklichen Gelände auf. So erinnere ich mich, daß ich einmal als Patrouillenführer wohl eine halbe Stunde nach einer Brücke suchte, um mit meinen Leuten über einen breiten Graben mit sehr nassen Ufern herüberzukommen. Endlich hatte ich gefunden, was ich suchte, aber mein Herz frohlockte zu früh, auf der Brücke stand ein Bleisoldat, der ein Schild um den Hals trug, und auf diesem Schild war zu lesen:

„Diese Brücke ist unpassierbar.”

Das war scheußlich, was tun?

„Gut,” sagte ich schließlich, „wenn die Brücke unpassierbar ist, warten wir einfach, bis sie wieder hergestellt ist.”

„Die lebende abgebrochene Brücke” hörte das mit Erstaunen.

„Ach was, Herr Fähnrich,” sagte er da, „gehen Sie man ruhig hinüber – ich habe schon so viele durchgelassen, daß es auf drei mehr oder weniger nicht ankommt.”

Und trocknen Fußes gingen wir über die „unpassierbare” Brücke.

Mit dem Gelände wird manchmal viel Unfug getrieben.

In einer kleinen Garnison, die mitten in einer Sandbüchse lag, hatte der Herr Major in seiner Verzweiflung sich wirkliches Gelände aus Holz und aus Pappe anfertigen lassen, und wenn eine Bataillonsübung stattfinden sollte, hieß es mittags bei Parole: „Das Gelände fährt morgen früh um die und die Zeit unter Führung des Herrn Leutnant A. ab. Nähere Anweisung über den Aufbau des Geländes werden dem Führer rechtzeitig zugehen.”

Am nächsten Morgen wurde das Gelände denn auf einem Handwagen verladen, und wohlgemut zog der Herr Leutnant dann mit seinem Karren von dannen.

Auch die Kompagnien durften bei ihren Übungen das Gelände benutzen, sie mußten es dann schriftlich beim Bataillone beantragen und erhielten es nur gegen schriftliche Quittung. Wer etwas verlor und zerbrach, mußte es aus eigenen Mitteln neu anfertigen lassen.

Kamen die Truppen von einer Übung zurück, so hieß es mittags bei Parole: „Zum Reinigen des Geländes stellt jede Kompagnie heute mittag drei Mann.”

Und mit Schrubber und grüner Seife wurde dann das „Gelände” neugestrichen oder geölt.

Natürlich war dies eine Spielerei, die wie alles auf Erden ein Ende nahm. Die eine Kompagnie hatte sich zu einer Übung einen Baum und eine Brücke geliehen, infolge plötzlich eingetretenen strömenden Regens hatte der Pappbaum aber seine Fasson verloren und glich schließlich eher einem eingetriebenen Hut als einem Baum.

Der Herr Major verlangte Schadenersatz, der Häuptling weigerte sich aber, weil nicht er, sondern höhere Gewalten den Baum vernichtet hätten, es kam zu einer Beschwerde, und dabei wurde die Sache aufgedeckt.

Und fortan manöverierten die Truppen nur noch in dem natürlichen und nicht mehr in dem künstlichen Gelände.


Fußnoten:

(1) Siehe dazu auch die gleiche Erwähnung in „Kaisers Geburtstag” (zurück)

(2) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „bleiben” (zurück)

(3) In der Fassung der „Kieler Zeitung” fehlt das Wort „lieben”(zurück)


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© Karlheinz Everts